Wilde Akazien

Eine Woge von so etwas wie Liebe durchfuhr Marmaduke Gamble, als er die vulgäre Mätresse seines Heimatlandes betrachtete.
Du wirst nie eine Dame sein, Sydney. Aber du bist meine Art von Frau. Urwüchsig, sinnlich, mutig, geldgierig - und trotzdem grundehrlich.
Das Marineblau von Port Jacksons riesigem Hafen, in dem es von Sträflingstransportern und Handelsschiffen mit aufgesetzten Segeln wimmelte, spiegelte das metallische Blau eines Sommerhimmels, der so hoch und so wolkenlos war, dass Marmaduke erschrak, als ihm die Wahrheit bewusst wurde. Nach nur vier Jahren Reisen durch die nördliche Hemisphäre hatte er den Zauber des australischen Himmels vergessen.
Er stand auf dem Dach des neuen Luxushotels Princess Alexandrina, und die steife Brise des Hafens zerrte an seinem langen Haar und dem seidenen Morgenmantel. Sydney Town lag zu seinen Füßen und wartete darauf, dass er die Stadt wiederentdeckte. Als er nach England aufbrach, war er ein naiver junger Kerl von zwanzig gewesen, gedemütigt und entschlossen, nie wieder zurückzukommen. Das Sydney, das er hinter sich ließ, wurde von vielen als »Hure von Ozeanien« abgetan wie ein verführerisches, raues Straßenmädchen, das gezwungen war, mit jedermann zu schlafen. Jetzt sah er Sydney mit anderen Augen, verändert wie eine Frau, die sich aus der Gosse erhoben hatte, um eine schöne Kurtisane zu werden und Huldigungen von all ihren Bewunderern entgegenzunehmen - Sträflingen, freien Siedlern, Militäroffizieren und ehrbaren Männern bis hinauf zu dem neuen angloirischen Gouverneur Sir Richard Bourke.
Vor ihm lag das Panorama der Stadt, deren Uferland im Norden dicht mit verschiedenen Eukalyptusgattungen bestanden war. Südlich des Hafens machte der wilde Kontrast der Architektur auf eine Schlacht um die Vorherrschaft aufmerksam. Imposante öffentliche Gebäude aus weichem Sandstein und Kirchtürme, die sich mit denen des georgianischen London messen konnten, standen in unmittelbarer Nachbarschaft des berüchtigten Viertels The Rocks, wo sich schäbige Wohnungen und unzählige Kneipen aneinanderreihten. Sie waren eine unwillkommene Erinnerung daran, wie sein Vater, der ehemalige Sträfling Garnet Gamble, begonnen hatte, sein Vermögen anzuhäufen.
Sydneys höchstes Gebäude, während seiner Abwesenheit fertiggestellt, war ein ungewöhnlicher fünfstöckiger Komplex, der ein großes Kaufhaus beherbergte, von einer Windmühle gekrönt war und zur George Street hin die Fassade des eleganten Royal Hotels zeigte, in dem auch das Theatre Royal untergebracht war.
Marmaduke stieß einen Freudenschrei aus. Mein Gott! Barnett Levey hat es wirklich geschafft! Entgegen allen Erwartungen hat er seinen Traum verwirklicht und unser erstes professionelles Theater gebaut!
Er erinnerte sich an seine Aufregung als Jugendlicher an einem Junitag im Jahr 1827, als er Zeuge der Feier war, die eine noch größere Menschenmenge anlockte als eine öffentliche Hinrichtung - die Grundsteinlegung für Barnett Leveys unternehmerische Vision, ein aufwändiges Theater mit tausend Plätzen.
Heute sah Marmaduke die Windmühle auf dem Dach von Sydneys höchstem Gebäude als Symbol für den wachsenden Wohlstand und Stil in der Sträflingskolonie. Er wusste, dass Sydneys erstes speziell errichtetes Theater nur der liberalen Politik Gouverneur Bourkes zu verdanken war, der das Veto seines auto kratischen Vorgängers gegen Leveys Theaterlizenz wieder aufgehoben hatte. Alle Schichten von Sydneys Gesellschaft hungerten nach Kultur und freuten sich über den Triumph des jungen Schauspielers und Intendanten. Doch es hatte Leveys Gesundheit und seinem Vermögen einen hohen Tribut abverlangt.
Gott sei Dank können sich die ehemaligen Sträflinge nun unter demselben Dach an Shakespeare erfreuen wie die obere Gesellschaft und werden nicht länger von Darlings Verbot sozialer Kontakte zwischen Gefangenen und Freien voneinander getrennt. Ich nehme an, dass der Dichter aus Avon im Himmel sitzt und grinst, wenn er sieht, wie die Leute auf den billigen Plätzen Richard III. ausbuhen und bei Romeo und Julia in Tränen ausbrechen.
Marmaduke beschloss, das neue Theater zu unterstützen, indem er sich eine Privatloge für die aktuelle Saison mietete. Doch er war nicht nur in die Kolonie zurückgekehrt, um seiner Vorliebe für Vergnügen und Abenteuer zu frönen.
Er eilte hinab in seine Gemächer, um sich angemessen gekleidet in die Gesellschaft der Kolonie zu stürzen. Heute war ein besonderer Tag. Der Hauptgrund für seine Rückkehr nach New South Wales war, dass er Anspruch auf das Erbe erheben wollte, welches sein Vater ihm bis heute vorenthalten hatte.
Marmaduke überprüfte sein Äußeres in dem Standspiegel und war zufrieden mit dem tadellosen Schnitt des maßgeschneiderten Fracks aus der Savile Road, aber auch frustriert von seinem täglichen Kampf - der Kunst, die Enden seines Kläppchenkragens hoch genug halten, um modisch zu sein, aber trotzdem tief genug, um ungehindert den Kopf bewegen zu können.
Was für eine selten dämliche Mode. Ich würde Beau Brummel den Hals umdrehen, wenn er nicht schon vor langer Zeit das Zeitliche gesegnet hätte!
Er band sein schwarzes Haar im Nacken zusammen, sodass er wie ein Pirat aus dem achtzehnten Jahrhundert aussah, ein Stil, der seinen Vater immer furchtbar geärgert hatte. Das allein war für Marmaduke Grund genug gewesen, es nicht abschneiden zu lassen und in den Augen seines Vaters zu einem »richtigen Mann« zu werden. Er trug das Haar lang wie ein Currency Lad - einer von hier -; es war ein unzerstörbarer Teil seiner Identität.
Du bist bei dem Versuch gescheitert, einen Mann nach deinem eigenen Vorbild aus mir zu machen, Vater, aber ich bin inzwischen ich selbst geworden. Ein Mischling. Nach außen hin dank der Londoner Schneider ein englischer Gentleman, aber die Züge des hier geborenen Currency , die du mir austreiben wolltest, habe ich behalten.
Marmaduke warf einen kritischen Blick auf sein Spiegelbild, während er eine schnelle Folge von Posen einnahm, die unterschiedliche Typen von Engländern darstellten - einen verweichlichten Regency-Dandy, einen aufgeblasenen Regierungsbeamten, einen hitzigen Whigs-Sprecher bei seiner Antrittsrede, einen übersättigten Wüstling, der auf seine Verführungskunst baute, und schließlich die lässige Haltung eines Currency Lads.
In Europa hatte er keinen englischen Gentleman spielen müssen. Bei seiner Ankunft als naiver Bewohner der Kolonie hatte er seinen beschämend jungfräulichen Status hinter einem gespielten Selbstbewusstsein versteckt, ohne auch nur den Versuch zu machen, seinen australischen Akzent zu verbergen, wenn er wie ein Abenteurer in die Salons der Oberschicht stolzierte. Zu seiner großen Überraschung hatte er einen sehr angenehmen Zug der Briten entdeckt - ihren Respekt gegenüber jeder Art von Spleenigkeit. Wo auch immer er hinkam, überall wurde er als Neuheit gefeiert wie eine seltene australische Pflanze, die man in einem Gewächshaus in den Kew Gardens gepflückt hatte. Wenn er auf einem Landsitz eingeladen war, ritt und jagte er mit dem Hausherrn, achtete darauf, unschuldigen jungen Dingern aus dem Weg zu gehen, bezirzte aber ältere Damen und Witwen unweigerlich mit seinem Charme und betrat die Gesellschaft diskret durch die Schlafzimmertür.
Ein Schwarm von Gelbhaubenkakadus ließ sich auf dem Balkon nieder und krächzte lärmend im Chor. Marmaduke erinnerte sich lebhaft an das boshafte Lächeln seiner schönen Mutter, wenn sie ihrem zahmen Kakadu Amaru Sprüche beibrachte, von denen sie genau wusste, dass sie Garnet zur Weißglut brachten.
Er lächelte über dieses seltene, glückliche Bild aus seiner Kindheit, griff nach seinem Zylinder, Handschuhen und Stock und ging zur Tür, in der Absicht, die einzigen beiden Freunde zu besuchen, die er in der Kolonie hatte. Einer war Josiah Mendoza, ein älterer Uhrmacher, der ihn kopflos und ohne einen Penny in der Tasche aufgelesen hatte, nachdem er vom Anwesen der Gambles, Bloodwood Hall, geflohen war, ihm ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen angeboten und ihm ein paar Tricks aus der Schmuckbranche beigebracht hatte.
Dank sei Gott für das Glück in dieser Nacht im Kasino, die mich zum stillen Teilhaber seines Juweliergeschäfts gemacht hat.
Marmadukes anderer alter Freund, Edwin Bentleigh, gehörte zwar zwei Spezies an, denen er das größte Misstrauen entgegenbrachte, Anwälten und Engländern, trotzdem war er ein Mann, dem Marmaduke sein Leben anvertraut hätte.
Mit gutem Grund. Edwin hat mich schon einmal vor dem Galgen gerettet.
In der George Street wimmelte es von Vertretern aller Gesellschaftsschichten. Elegante Kutschen kämpften sich zwischen rumpelnden Ochsenkarren, Einspännern und mit Obst und Gemüse beladenen Karren vorwärts. Als Marmaduke die Straße überquerte, um sich das Äußere des Royal Hotels genauer anzusehen, wurde ihm der Weg von einer Menschenmenge versperrt, die zu einem Umzug wollte. Hinter einer Militärkapelle, an deren roten Uniformen er das 17. Leicestershire Regiment erkannte, kam eine Gruppe von Freimaurern in vollem Ornat, mit goldenen Tressen, Orden und bemalten Freimaurerschurzen. Doch der eigentliche Auslöser für die Karnevalsstimmung der Menge war ein offener, von zwei Schimmeln gezogener Landauer.
Der einzige weibliche Passagier winkte mit der behandschuhten Hand wie eine Königin einer bunten Mischung von Untertanen zu, die neben ihrer Kutsche herrannten und sie mit Lobhudeleien und Rosenblüten überschütteten.
Wer ist das? Eine europäische Aristokratin, die von einer Revolution vom Thron verjagt wurde? Wer weiß? Nach fast drei Monaten auf See habe ich keine Ahnung mehr, was in der Welt geschehen ist.
Die Antwort kam, als Marmaduke einzelne Bravorufe erkannte und dann eine kecke Stimme mit starkem Cockney-Akzent: »Sing für uns, Schätzchen!«
Marmaduke drängte sich näher an die Kutsche heran, die in der Menge stecken geblieben war. Er konzentrierte sich auf das Gesicht und das beeindruckend blasse Dekolletee, das mit Edelsteinen geschmückt war, aufgeschreckt von der exotischen, dunklen Schönheit der Frau, in der er eine legendäre Sängerin und Kurtisane wiedererkannte.
Josepha St. John. Die »amerikanische Nachtigall«! Es muss Barnett Levey ein Auge gekostet haben, sie in die Kolonie zu locken. So kann ich sie endlich einmal auf der Bühne sehen. Und mit ein bisschen Glück vielleicht noch aus größerer Nähe.
Marmaduke war nie zur rechten Zeit im rechten Land gewesen, um sie auftreten zu sehen. Doch er hatte ihr umstrittenes Porträt als Göttin Juno gesehen, ein Gemälde, das die National Gallery in London wegen seines berüchtigten Modells abgelehnt hatte. Zusammen mit einer Gruppe wohlhabender Londoner Gentlemen, die sich im Atelier des Künstlers in Hampstead versammelten, hatte er sich von der üppigen Schönheit faszinieren lassen, doch das Gemälde war unverkäuflich gewesen. Der Künstler war unübersehbar hingerissen von der Diva, die ihn angeblich wegen eines britischen Herzogs und eines europäischen Prinzen, die beide um ihre Gunst wetteiferten, als Liebhaber abgewiesen hatte. Marmaduke hatte eine Reihe von freizügigen Karikaturen gesehen, die sie und die beiden Verehrer auf skandalöse Weise porträtierten und in den Straßen von London reißenden Absatz fanden.
Es gelang ihm, den Blick der Diva zu kreuzen, als sie aus dem Landauer stieg und das Royal Hotel betrat.
Wir sehen uns wieder, süße Dame - entweder auf der Bühne oder woanders.
Als Marmaduke eine Droschke herbeiwinken wollte, um zu Edwins Kanzlei zu fahren, versperrte ihm eine protzige Kutsche den Weg, von der ein livrierter Kutscher heruntersprang und ihn ansprach.
»Sie sind Mr Marmaduke Gamble, nicht wahr? Ich habe versucht, Sie einzuholen. Ich bin Ihr Fahrer, mein Herr, und habe den Auftrag, Sie Tag und Nacht überall hinzubringen.«
»Auftrag? Das muss ein Irrtum sein. Ich habe keine Kutsche bestellt.«
»Es ist kein Irrtum, mein Herr. Sie sind doch der Sohn meines Masters, Garnet Gamble? Die Kutsche hier ist ein Willkommensgeschenk Ihres Vaters.«
Marmaduke schaffte es nur mit Mühe, seinen Zorn zurückzuhalten. Seit dem Tag, an dem er von Bloodwood Hall davongaloppiert war, mit der Drohung, nie wieder zurückzukehren, hatte er keinen Penny mehr von seinem Vater angenommen. Er hatte ausschließlich von seinen eigenen Einkünften gelebt und seine Reisen mit seinem Anteil an den vierteljährlichen Gewinnen aus Mendozas Geschäft bezahlt.
Mein Vater glaubt also, ich würde seine lächerlich teure Kutsche annehmen: typisch für seine Selbstherrlichkeit! Er will mich immer noch manipulieren, nichts hat sich verändert. Marmaduke wollte sich schon abwenden, als er das Gesicht des Kutschers sah.
»Ich heiße Thomas, Sir, bitte um Verzeihung. Wenn Sie nicht wollen, verliere ich meinen Job.«
Es hat keinen Sinn, sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Ich muss so schnell wie möglich dafür sorgen, dass Mingaletta auf mich überschrieben wird. Sobald es juristisch abgesichert ist, bekommt Garnet die Kutsche zurück. Was für eine verdammte Dreistigkeit zu glauben, er könne sich mit einer Kutsche und einem Gespann meine Vergebung erkaufen.
Trotz seines Ärgers musste Marmaduke die elegante Form, die üppigen Polster und die beiden wunderschönen Grauschimmel bewundern.
»Noch eine Spur luxuriöser, und sie könnte die vizekönigliche Staatskarosse von Gouverneur Bourke in den Schatten stellen.« Thomas warf ihm einen nervösen Blick zu. »Gefällt sie Ihnen nicht, Sir?«
Die Livree mit den Goldtressen, Kniehose, Schnallenschuhe, Dreispitz, alles war in tadellosem Zustand - nur das Gesicht nicht. Den deutlich mitgenommenen, vorzeitig gealterten Zügen nach handelte es sich um einen ehemaligen Sträfling, der einiges hinter sich hatte.
»Die Kutsche entspricht mehr dem Geschmack meines Vaters, aber demjenigen, der die Pferde ausgesucht hat, kann man nur gratulieren.«
Thomas' Mund öffnete sich zu einem überraschten Grinsen. »Vielen Dank, Sir. Der Herr meinte, Sie wär'n ein hervorragender Pferdekenner, deshalb sollte ich das beste Gespann aussuchen, das ich kriegen könnte.«
Marmaduke wunderte sich über dieses seltene, aus zweiter Hand stammende Kompliment seines Vaters, doch im Augenblick interessierte er sich mehr für die Vergangenheit des Kutschers.
»Ihr Gesicht scheint mir bekannt. Ihr ganzer Name?«
»Thomas Thomas, Sir.« Er stockte. »Ich bin mit der Fortune gekommen.«
Marmaduke wusste, dass dies das Sträflingsboot war, mit dem auch Garnet 1806 in die Kolonie gekommen war, daher bemühte er sich, den Mann zu beruhigen. »Ach richtig, der Schiffskamerad meines Vaters. Er erzählte, Sie hätten seine Wunden gepflegt, nachdem der Kapitän ihn hatte auspeitschen lassen.«
Der Kutscher wirkte beinahe erschrocken, als Marmaduke ihm die Hand entgegenstreckte.
»Sie werden mit Sicherheit Geschichten über meine schmutzige Vergangenheit hören, Thomas. Die meisten sind wahr. Aber ich gehöre nicht zu den Söhnchen begnadigter Strafgefangener, die die Engländer nachäffen und sich der Männer schämen, die geholfen haben, diese Kolonie aufzubauen. Ich bin hier geboren und stolz darauf.«
Resigniert fand sich Marmaduke damit ab, dass Garnet ihn ausmanövriert hatte, und nahm in der Kutsche Platz.
»Seien Sie aber trotz der Anweisungen meines Vaters so nett und sparen Sie sich das Sir für ihn auf, Thomas. Ich ziehe Marma duke vor.«
»Ja, Sir - Marmaduke!« Thomas sprang auf den Kutschbock und lenkte das Gespann im raschen Trab quer durch die Stadt zu dem Viertel, wo die meisten Rechtsvertreter ihre Kanzleien hatten.
Die Kutsche bog auf den eleganten Platz vor der modernen Kirche St. James ab, entworfen von Gouverneur Macquaries einstigem Lieblingsarchitekten Francis Greenway, einem Emanzipisten, der im selben Jahr begnadigt worden war wie Garnet. Greenway war während der Herrschaft von Macquaries Nachfolger in Ungnade gefallen und lebte jetzt zurückgezogen.
Typisches Muster für die Kolonie. Je schneller man aufsteigt, umso heftiger ist der Sturz.
Edwin Bentleighs Kanzlei befand sich im zweiten Stock eines Gebäudes, das in der Anfangszeit der Kolonie von Sträflingen mit selbst gebrannten Ziegelsteinen gebaut worden war.
Man führte Marmaduke ins Arbeitszimmer seines Freundes, wo er ihn so heftig umarmte, dass der zurückhaltende Engländer verlegen errötete.
»Edwin, bin ich froh, dich wiederzusehen! Immer wieder habe ich mir gewünscht, du könntest mich auf meinen Abenteuern begleiten, Kumpel!«
Edwin murmelte ein paar Begrüßungsfloskeln und rief nach Tee, doch Marmaduke war insgeheim betroffen über das von Sorgen gezeichnete Äußere seines Freundes. Der ohnehin vorhandene Gegensatz zwischen seinem kraftvollen Auftreten im Gerichtssaal und seinem verschlossenen Gesicht als Privatmensch hatte sich noch verstärkt. Edwin war ein unauffälliger Mann, schmal mit einem hageren Gesicht und sandfarbenem, dünnem Haar. Im Gerichtssaal jedoch ließ er sich von seiner Redekunst und seinem Glauben an die Unschuld seines Klienten derart mitreißen, dass er sich in eine Figur von Shakespeare'scher Größe verwandelte, wenn er darum kämpfte, den Geist des britischen Gesetzes aufrechtzuerhalten.
Marmaduke wusste, dass er viele Sträflinge verteidigte, die in die Grauzone von Schuld und Unschuld geraten waren und ihn nicht bezahlen konnten; trotzdem setzte Edwin sich mit demselben Eifer für sie ein, mit dem er auch seinen Herrscher, König William IV., verteidigt hätte.
Außerhalb des Gerichts aber schrumpfte er zu einem schüchternen, ewigen Junggesellen zusammen, der sich seinem Schicksal ergeben hatte und unter der Fuchtel seiner verwitweten Mutter in einem kleinen Haus in Woolloomooloo Hill wohnte. Marmaduke hatte ihn noch nie in Begleitung einer Dame gesehen und war sich nicht sicher, ob dies mit mangelndem Mut oder entsprechenden Neigungen zu tun hatte.
Die nächste halbe Stunde verging mit Lachen und Scherzen, während sie versuchten, die Lücke der letzten vier Jahre zu schließen, in der sie sich nur Briefe geschrieben hatten. Im Stillen genoss Edwin Marmadukes Geschichten über seine verlorene Unschuld in der Ferne.
»Scheint, als hättest du zu Hause ganz schön für Aufruhr gesorgt, alter Freund!«
»Das Komische ist, dass ich tatsächlich in die Alte Welt reisen musste, um mich als echter Australier zu fühlen. Doch hier in meinem eigenen Revier bedeutet es das Ende, ein Gamble zu sein. Garnet ist möglicherweise der zweitreichste Mann in der Kolonie; er kann alle möglichen Geschäfte mit den hohen Tieren machen, aber du weißt so gut wie ich, dass der Sohn eines begnadigten Sträflings niemals die Klassenschranken überwinden und in ihre Kreise einheiraten kann. Diese Strafkolonie hat in fünfundvierzig Jahren mehr Gesellschaftsebenen erfunden als Europa in zehn Jahrhunderten.«
Edwin schlüpfte unmerklich in seine Rolle als Anwalt beim Verhör und vergewisserte sich scheinbar beiläufig, dass Marmaduke nicht etwa mit einem »gebrochenen Herzen« in die Kolonie zurückgekehrt war.
»Bist du nie in Versuchung gewesen, um die Hand einer Dame anzuhalten?«
»Hey, wofür hältst du mich - einen Vollidioten?«, gab Marmaduke leichthin zurück. »Ein Mal hat mir gereicht. Wenn man mit neunzehn vor dem Altar sitzen gelassen wird, hat man kein Verlangen mehr danach, sich von einer Frau zur Ehe überreden zu lassen.«
»Die Braut war ein gebrochenes Herz nicht wert, alter Freund«, sagte Edwin leise. »Ich hoffe, das ist dir mittlerweile klar.«
»Ich hatte Glück und kam noch einmal davon«, antwortete Marmaduke eine Spur zu schnell. »Du warst der bestmögliche Trauzeuge, den man sich wünschen kann, Kumpel. Aber die Chancen, dass es zu einem zweiten derartigen Auftritt für uns beide kommt, stehen schlecht.«
»Ich hoffe, du hast dein Interesse am schönen Geschlecht nicht verloren«, meinte Edwin nervös.
»Ganz im Gegenteil, ich liebe Frauen. Aber als diskreter Mensch genieße ich meinen gerechten Anteil an ›Frauen in einem bestimmten Alter‹, wie der galante Franzose sagt, und rede nicht groß darüber. Jungfrauen sind vor mir sicher. Voltaire hat es auf einen kurzen Nenner gebracht. ›Es ist ein infantiler Aberglaube des menschlichen Verstandes, Jungfräulichkeit für eine Tugend zu halten.‹ Das würde ich sofort unterschreiben.«
»Aber du bist noch jung, Marmaduke; eines Tages möchtest du vielleicht Kinder haben.«
Marmaduke fuhr sich energisch durchs Haar.
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Edwin. Du bist so darauf aus, mich zum Familienvater zu machen, dass du mich sogar mit einer bärtigen Zirkusdame verheiraten würdest. Eins möchte ich jedenfalls klarstellen: Ich werde auf keinen Fall Kinder haben. Die Gamble-Dynastie begann mit Garnet und endet mit mir.«
Bekümmert stieß Edwin einen Seufzer aus, der besser zu einem alten Mann gepasst hätte.
»Und da wir gerade beim Thema sind«, setzte Marmaduke beiläufig hinzu, »haben sich die psychischen Probleme meines Vaters verschärft, während ich weg war?«
»Er führt nach wie vor das Regiment über sein Imperium und schikaniert seine finanziellen Berater wie eh und je. Er hat riesige Summen ausgegeben, ohne dass irgendwer genau weiß, wofür.«
Marmaduke zuckte die Achseln und wandte sich dem Thema zu, das ihm am meisten auf der Seele lag. »Kommen wir zur Sache. Mutters Land rechtmäßig in Besitz zu nehmen, bedeutet mir mehr, als einen Berg aus Gold zu erben. Ich werde das Versprechen einlösen, das ich ihr mit sechzehn gegeben habe.« Die Worte, die er voller Verzweiflung am Totenbett seiner Mutter gesprochen hatte, wiederholte er jetzt unbewegt. »›Ich gebe dir mein feierliches Versprechen, Mutter. Ich werde dein Land zurückfordern, Herr von Mingaletta werden und Garnet Gamble für alles bezahlen lassen, was er dir angetan hat.‹«
Marmadukes Blick war wie eine stille Herausforderung.
Edwin hielt ihm stand. »Verstehe. Miranda Gambles letzter Wille hat dir mehr als nur einen Besitz hinterlassen. Sie hat dir auch aufgetragen, Rache an deinem Vater zu nehmen.«
Marmaduke zuckte die Achseln. »Ich habe entdeckt, dass Hass ein Gefühl ist, das sich leichter aufrechterhalten lässt als Liebe. Wo soll ich unterschreiben, damit Mingaletta auf mich übertragen wird?«
»So einfach ist es leider nicht, Marmaduke. Erst vor Kurzem hat sich dein Vater einverstanden erklärt, dir das Testament deiner Mutter auszuhändigen. Es gibt ein Problem. Bitte lies es erst einmal, dann unterhalten wir uns darüber, wie wir vorgehen wollen. «
Das Dokument war auf ein Stück vom Alter vergilbtes Pergament geschrieben. Marmaduke überflog es hastig und las es dann noch einmal, bis er jedes Wort verstanden hatte.
»Es ist völlig eindeutig. Ich soll Mingaletta entweder bei meiner Eheschließung oder an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag übernehmen, je nachdem was früher eintritt. Mutter hat mehrere Familienschmuckstücke und eine bestimmte Geldsumme an meine Kinderfrau Queenie vermacht, die sie als ›meine treue Freundin und Dienerin, die ich liebe wie meine eigene Schwester‹ bezeichnet. Garnet hat sie nichts hinterlassen, bis auf Amaru, ihren Kakadu, der Vater auf die Palme brachte. Diese Beleidigung durch meine Mutter erinnert mich an Shakespeares Testament - er hinterließ seiner Frau Anne Hathaway auch nur sein zweitbestes Bett.«
Marmaduke warf das Dokument auf den Schreibtisch. »Wo ist also das Problem, Kumpel?«
Edwin seufzte. »Das Testament ist nicht unterschrieben, Marma duke.«
»Aber ich habe gehört, wie sie es diktierte. Wir fordern Garnet auf, uns das Original auszuhändigen.«
»Das ist das Original. Es wurde von Garnets Verwalter sofort aufgeschrieben und noch in derselben Stunde zurückgebracht, damit sie es unterschreiben konnte. Deine Mutter war wenige Minuten zuvor verstorben.«
Marmaduke hob vor lauter Frustration die Stimme. »Aber ich war dabei. Und Garnet auch - er war in diesem Augenblick betrunken und hatte einen seiner verrückten Anfälle. Er schleppte einen verdammten irischen Fiedler an, der fröhliche irische Tanzlieder spielen sollte, um meine sterbende Mutter aufzuheitern. Aber Garnet hatte zehn Jahre Zeit, um sich an diese Nacht zu erinnern und den Wunsch meiner Mutter zu respektieren!«
»Es tut mir leid, aber in diesem Fall muss ich als Diener der Justiz zwei Herren dienen, Marmaduke. Trotzdem kannst du dich auf mich als Freund verlassen. Dein Vater besteht darauf, den Buchstaben des Gesetzes bis ins kleinste Detail zu folgen. Mach ihm den Prozess, wenn du willst, aber ich glaube, jeder Anwalt in Sydney würde dir denselben Rat geben. Garnet Gamble hat das Gesetz definitiv auf seiner Seite.«
»Willst du damit sagen, dass der Mistkerl gar nicht daran denkt, mir Mutters Anwesen zu überschreiben?«
»Doch, er wird es tun ... vorausgesetzt, du kehrst nach Bloodwood Hall zurück, um die Urkunde in seinem Beisein zu unterschreiben. «
»In seinem Beisein? Eher bringe ich den hinterhältigen Hund eigenhändig um.«
Edwin trommelte in einem untypischen Anfall von Aggressivität auf die Schreibtischplatte. »Sei nicht so ein verdammter Idiot, Marmaduke. Du bist sein einziger Sohn und Erbe. Du kannst damit rechnen, sein gesamtes Imperium zu erben - solange du nicht den Kopf verlierst und dein eigenes Todesurteil unterzeichnest.«
»Wenn ich Garnet Gamble in einem Duell tötete, würde mir halb Sydney Beifall klatschen!«
»Einmal ist es mir gelungen, dich vom Mordvorwurf reinzuwaschen, nachdem du einen Mann im Duell getötet hattest, weil du ein Grünschnabel von gerade mal sechzehn Jahren warst. Aber rechne nicht mit mir oder dem Gesetz, wenn du deinen eigenen Vater umbringst. Dann wirst du baumeln, so wahr ich hier sitze!«
Marmaduke ließ diese Worte sacken, bis sich seine Erregung in eisige Kälte verwandelt hatte.
»Ich glaubte, ich hätte das ganze Ausmaß des Hasses schon kennen gelernt. Meinem Vater gegenüber und dem Schuft, den ich getötet habe. Doch jetzt sehe ich, dass Garnets üble Machenschaften genauso grenzenlos sind wie mein Hass.«
Edwin fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schien in der letzten Stunde noch mehr gealtert zu sein. Marmaduke empfand einen Anflug von Mitleid mit seinem Freund und besann sich hastig auf seine Manieren.
»Verzeih mir, dass ich den Boten für die schlechte Nachricht verantwortlich mache, Kumpel. Ich verstehe, dass es eine höllische Rolle sein muss, Anwalt für den Vater und den Sohn gleichermaßen zu spielen. Mach dir keine Sorgen. Morgen kehre ich nach Bloodwood Hall zurück und schlage Garnet auf seinem eigenen Feld. Ich rede ihn ins Grab.«
Marmaduke griff nach Edwins Hut und setzte ihn seinem Freund auf den Kopf.
»Genug Sturm und Drang für heute. Im Princess Alexandrina gibt es einen französischen Koch. Zur Feier des Tages lade ich dich zum Essen ein. Und wenn wir genügend neue Hunter-Valley-Weine probiert haben, von denen ich so viel gelesen habe, begeben wir uns in die Loge, die ich im Theatre Royal gemietet habe. Keine Einwände! Heute Abend geben sie Szenen aus Hamlet.«
Er führte den schwach protestierenden Edwin zur Tür hinaus und bugsierte ihn in die Kutsche, wobei er beiläufig zitierte: »Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe.«
Unter der Fassade seines Stimmungsumschwungs überschlug er seine Optionen.
Anders als der Prinz von Dänemark bin ich nicht unentschlossen. Sollte es hart auf hart kommen, werde ich vor Mord nicht zurückschrecken. Wenn man zum zweiten Mal tötet, so heißt es, ist es viel einfacher als beim ersten Mal.

Übersetzung: Pociao
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