Wintergewölbe
Sie begegnen einander in einem Fluss ohne Wasser. Jean durchstreift das verwaiste Bett des St.-Lorenz-Stroms,...
Sie begegnen einander in einem Fluss ohne Wasser. Jean durchstreift das verwaiste Bett des St.-Lorenz-Stroms, sammelt Pflanzen, letzte Zeugnisse einer Landschaft, die es so nicht mehr geben wird. Niemand weiß das besser als Avery, der als Ingenieur maßgeblich an der Flussbegradigung beteiligt war, und nun erst schuld bewusst die Tragweite des Eingriffs ermisst. Sie begegnen sich – es ist Liebe auf den ersten Blick. Und als Avery zu einem neuen Auftrag gerufen wird, gehen sie gemeinsam nach Ägypten, leben in einem Hausboot auf dem Nil, der hier bald zum gewaltigen Nassansee gestaut werden soll. Averys Aufgabe ist es, den Abu Simbel Tempel zu versetzen, zu bewahren vor dem Versinken in der künstlichen Flut, der ganze Dörfer zum Opfer fallen werden. Die Fragwürdigkeit dieses Rettungsaktes im Angesicht von Zerstörung und Vertreibung wird beiden mit jedem Tag deutlicher, doch Jean und Avery finden keine Sprache für ihr Unbehagen. Sie flüchten sich in die Beschwörung ihrer Nähe, ihrer Liebe. Nacht für Nacht erzählen sie einander die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Familien und kommen sich dabei abhanden, noch bevor sie selbst ein schwerer Verlust trifft, der alles verändert. In einer Sprache, deren poetische Intensität ihr Debüt zum Bestseller machte, erzählt Anne Michaels von Vertreibung und Neuanfang, von Trauer und Verlust und der einzig rettenden Macht der Liebe.
Sie begegnen einander in einem Fluss ohne Wasser. Jean durchstreift das verwaiste Bett des St.-Lorenz-Stroms, sammelt Pflanzen, letzte Zeugnisse einer Landschaft, die es so nicht mehr geben wird. Niemand weiß das besser als Avery, der als Ingenieur maßgeblich an der Flussbegradigung beteiligt war, und nun erst schuld bewusst die Tragweite des Eingriffs ermisst. Sie begegnen sich - es ist Liebe auf den ersten Blick. Und als Avery zu einem neuen Auftrag gerufen wird, gehen sie gemeinsam nach Ägypten, leben in einem Hausboot auf dem Nil, der hier bald zum gewaltigen Nassansee gestaut werden soll. Averys Aufgabe ist es, den Abu Simbel Tempel zu versetzen, zu bewahren vor dem Versinken in der künstlichen Flut, der ganze Dörfer zum Opfer fallen werden. Die Fragwürdigkeit dieses Rettungsaktes im Angesicht von Zerstörung und Vertreibung wird beiden mit jedem Tag deutlicher, doch Jean und Avery finden keine Sprache für ihr Unbehagen. Sie flüchten sich in die Beschwörung ihrer Nähe, ihrer Liebe. Nacht für Nacht erzählen sie einander die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Familien und kommen sich dabei abhanden, noch bevor sie selbst ein schwerer Verlust trifft, der alles verändert. In einer Sprache, deren poetische Intensität ihr Debüt zum Bestseller machte, erzählt Anne Michaels von Vertreibung und Neuanfang, von Trauer und Verlust und der einzig rettenden Macht der Liebe.
Sie begegnen einander in einem Fluss ohne Wasser. Jean durchstreift das verwaiste Bett des St.-Lorenz-Stroms, sammelt Pflanzen, letzte Zeugnisse einer Landschaft, die es so nicht mehr geben wird. Niemand weiß das besser als Avery, der als Ingenieur maßgeblich an der Flussbegradigung beteiligt war, und nun erst schuld bewusst die Tragweite des Eingriffs ermisst. Sie begegnen sich - es ist Liebe auf den ersten Blick. Und als Avery zu einem neuen Auftrag gerufen wird, gehen sie gemeinsam nach Ägypten, leben in einem Hausboot auf dem Nil, der hier bald zum gewaltigen Nassansee gestaut werden soll. Averys Aufgabe ist es, den Abu Simbel Tempel zu versetzen, zu bewahren vor dem Versinken in der künstlichen Flut, der ganze Dörfer zum Opfer fallen werden. Die Fragwürdigkeit dieses Rettungsaktes im Angesicht von Zerstörung und Vertreibung wird beiden mit jedem Tag deutlicher, doch Jean und Avery finden keine Sprache für ihr Unbehagen. Sie flüchten sich in die Beschwörung ihrer Nähe, ihrer Liebe. Nacht für Nacht erzählen sie einander die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Familien und kommen sich dabei abhanden, noch bevor sie selbst ein schwerer Verlust trifft, der alles verändert. In einer Sprache, deren poetische Intensität ihr Debüt zum Bestseller machte, erzählt Anne Michaels von Vertreibung und Neuanfang, von Trauer und Verlust und der einzig rettenden Macht der Liebe.
Lange bevor wir auf Stein malten, haben wir wohl mit Ocker und Kohle auf unsere eigene Haut gemalt. Jedenfalls hinterließen wir vor vierzigtausend Jahren farbige Handabdrücke an den Höhlenwänden von Lascaux, Chauvet und in den Ardennen.
Das schwarze Pigment, das in Lascaux zum Malen der Tiere verwendet wurde, bestand aus Mangandioxid und gemahlenem Quarz und außerdem fast zur Hälfte aus Kalziumphosphat. Kalziumphosphat gewinnt man, indem man Knochen auf vierhundert Grad erhitzt und sie dann zermahlt.
Wir stellten unsere Farbe aus den gemahlenen Knochen der Tiere her, die wir malten.Kein Bild vergisst diesen Ursprung.
Die Zukunft wirft ihren Schatten auf die Vergangenheit. In diesem Sinne enthalten die ersten menschlichen Zeichnungen bereits alles: sie sind eine Art Landkarte. Die ersten Tage militärischer Besatzung; die Empfängnis eines Kindes; Saat und Boden.
Leid ist Begehren in seiner reinsten Form. Mit dem ersten Grab – dem ersten Mal, dass ein Name in die Erde gesät wurde – mit der Erfindung der Erinnerung.
Generatoren beleuchteten den Tempel mit Flutlicht. Ein grausiges Bild der Verwüstung. Tote lagen offen herum, dazwischen verstreut Glieder in grässlich verrenkten Stellungen. Alle Könige waren enthauptet, die hochherrschaftlichen Hälse mit einer Diamantsäge durchschnitten, die stolzen Körper verstümmelt von Kettensägen, Drillbohrern und Drahtzangen. Die breiten Stirnen aus Stein wurden von Stahlträgern gehalten, mit denen sie durch Kunstharz verbunden waren. Den ganzen Tag über sah Avery immer wieder Männer in den Windungen eines Königsohrs verschwinden, einen Schuh in einem königlichen Nasenloch verlieren oder im Schatten eines königlichen Schmollmunds einschlafen.
Jeder Arbeiter hatte pro Tag eine Schicht von acht Stunden, und jeder Tag war in drei Schichten eingeteilt. Nachts saß Avery an Deck des Hausboots und berechnete immer wieder den wachsenden Druck auf das verbleibende Felsgestein, prüfte bei jedem Schnitt immer wieder, ob er an der richtigen Stelle ausgeführt worden war, wo Schwachstellen lagen und neue Belastungspunkte entstanden, während der Tempel Tonne für Tonne verschwand.
Noch von seinem Bett auf dem Fluss aus sah er die abgetrennten Köpfe, die gliedlosen Günstlinge des Hofes, die aufgestapelt und sauber nummeriert im Flutlicht auf ihren Abtransport warteten. Eintausendzweiundvierzig Sandsteinblöcke, deren kleinster zwanzig Tonnen wog. Das wunderbar schöne Deckengewölbe aus Stein, an dem Vögel zwischen Sternen flogen, lag im Freien, unter den echten Sternen, und die echte Dunkelheit jenseits des Flutlichts war so dicht, dass diese Decke sich darin aufzulösen schien wie nasses Papier. Als Erstes hatten die Arbeiter sich an das Felsgestein gemacht, das dieses Deckengewölbe umgab, hatten einhunderttausend Kubikmeter sorgfältig abgezeichnet und beschriftet und dann mit den Kräften der Hydraulik fortbewegt. Und bald würden daraus künstliche Berge aufgetürmt werden.
Den Kopf gegen die Bordwand gelehnt, lauschte Avery dem Fluss, der an ihrem Bett vorüberfloss, und versuchte sich damit vom Lärm der Maschinen abzulenken. Im Geiste folgte er dem dunklen Wind auf seinem Weg und stellte sich die Stadt vor, die fast fünfhundert Kilometer weiter nördlich lag, lauschte dem gleichmäßigen Pusten der Glasbläser, den Rufen der Wasserverkäufer und Safthändler, den Schreien der Eisvögel im Brausen der alten Palmen, und glaubte zu hören, wie alle diese Klänge im Wüstenwind verschwebten, ohne je ganz zu verschwinden.
Der Nil war bereits bei Sadd El Aali eingeschnürt worden, und auch zuvor schon hatte man den mächtigen Strom umgeleitet, um den Ertrag der Delta-Baumwolle zu steigern und damit die Produktion der unvorstellbar weit entfernten Fabriken in Lancashire anzukurbeln.
Avery wusste, dass ein Fluss, der kanalisiert worden ist, nicht mehr derselbe Fluss ist. Nicht mehr dasselbe Ufer, nicht einmal mehr dasselbe Wasser.
Und obwohl der Einfallswinkel der aufgehenden Sonne im Großen Tempel weiterhin derselbe sein und auch jeden Morgen weiterhin dieselbe Sonne in das Heiligtum scheinen würde, wusste Avery doch: sobald der letzte Tempelstein ausgesägt und sechzig Meter nach oben gehievt, sobald jeder Block neu eingesetzt und jede Fuge mit Sand aufgefüllt wäre, so dass nicht ein Millimeter Abstand zwischen den Blöcken mehr verraten würde, wo sie zerschnitten worden waren, sobald jedes Königsgesicht wieder am richtigen Ort säße, würde die Vollkommenheit dieser Illusion – gerade die Vollkommenheit – den Verrat offenbaren.
Wenn jemand dazu gebracht werden konnte, zu glauben, dass er an der echten historischen Stätte stehe, die ja zu diesem Zeitpunkt schon von den Wassern des Staudamms verschlungen wäre, dann wäre tatsächlich der gesamte Tempel zu einer einzigen Täuschung geworden.
Und wenn Avery schließlich – nach viereinhalb Jahren voller Überarbeitung, in denen er oft krank war wegen der extremen Temperaturschwankungen und wegen der ständigen Angst vor einer falschen statischen Berechnung –, wenn er also schließlich zusammen mit den Kultusministern, den fünfzig Botschaftern, seinen Ingenieurkollegen und den eintausendsiebenhundert Arbeitern dastehen und ihr gemeinsames Werk bestaunen würde, dann, so fürchtete er, könnte es sein, dass er zusammenbrach – nicht vor Triumph oder Erschöpfung, sondern vor Scham.
Einzig seine Frau verstand das: dass irgendwie unter den Presslufthämmern die Heiligkeit entschwand, dass sie im ständigen Abpumpen des Grundwassers mit abgepumpt wurde, dass sie unter den gewaltigen Betonkuppeln bald zermalmt sein würde; dass Abu Simbel, wenn es schließlich wieder aufgebaut wäre, gar kein Tempel mehr sein würde.
Der Fluss, erfüllt von Leben, bewegte sich langsam durch den Sand, eine blaue Vene an einem blassen Unterarm, die vom Handgelenk zum Ellbogen floss. Avery hatte seinen Schreibtisch an Deck; wenn er bis spät in die Nacht arbeitete, wachte Jean manchmal auf und kam zu ihm. Er stand auf, und da sie ihre Umarmung nicht löste, hing sie in der Luft.
– Berechne doch lieber mich, sagte sie.
In der Abenddämmerung war das Licht wie feiner Puder, wie goldener Staub, der sich auf der Wasserfläche des Nil absetzte. Wenn Avery seine Malfarben aus der Holzschachtel nahm, die kompakten Aquarellfarben in dicken Scheiben, legte seine Frau sich auf das noch warme Deck. Wie in einer zeremoniellen Handlung streifte er ihr dann die Baumwollbluse von den Schultern, und dabei stellte er jedes Mal eine tiefere Bräune ihrer Haut fest: Sandstein, Ocker, Terrakotta. Ein kurzes Aufscheinen der geheimen weißen Streifen unter den Trägern und der blassen Ovale, wie Feuchtigkeit unter Steinen, die von der Sonne nicht berührt wird. Diese geheime Blässe würde er später im Dunkeln berühren. Dann schlüpfte Jean aus den Ärmeln und drehte sich in dem samtigen Licht auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm. In diesem Licht der nahenden Dunkelheit, das eher wie Abend- als wie Tageslicht wirkte.
Avery beugte sich über Bord, tauchte seine Teetasse in den Fluss, stellte sie mit Wasser gefüllt neben sich. Er wählte eine Farbe aus und ließ sie, durchtränkt mit Flusswasser, tief in das weiche Pinselhaar eindringen. Sanft strich er dann mit dem Pinsel über Jeans kräftigen Rücken. Manchmal malte er die Szenerie, die sie vor sich hatten, das Flussufer, die mörderische Arbeit, die niemals endete, den wachsenden Haufen von Steingesichtern. Manchmal auch malte er aus dem Gedächtnis, die Chiltern Hills zum Beispiel, bis er in der abklingenden Hitze die Lavendelseife seiner Mutter zu riechen meinte. Er malte, angefangen bei seiner Kindheit, bis er wieder in seinem Erwachsenenalter ankam. Dann tauchte er, kaum dass er fertig war, die Tasse wieder in den Fluss und führte den nassen Pinsel mit reinem Wasser über die Felder, über die Bäume, bis die Szenerie auf ihrer Haut sich auflöste und weggewaschen wurde. Ein bisschen Farbe blieb noch in Jeans Poren haften, bis sie badete und der ägyptische Strom in seiner alles auslöschenden Umarmung den letzten Rest der buckinghamschen Erde in sich aufnahm. Diese Landschaften sah Jean natürlich nie, und so konnte sie sich jede Szenerie vorstellen, die sie wollte. Allmählich kam ihm die Duldsamkeit seiner Frau zu dieser Dämmerstunde – jeden Abend in jenen ersten Monaten des Jahres 1964 – wie eine Art Hochzeitsgeschenk für ihn vor; und umgekehrt spürte sie, wie sie sich unter seinem Pinsel öffnete, als würde er eine Strömung unter ihrer Haut nachzeichnen. In diesen Dämmerstunden schenkten sie einander eine geheime Landschaft. In beiden stieg eine neue Vertrautheit auf. In diesem ersten Jahr ihrer Ehe dachte Avery jeden Abend an Buckinghamshire, an den Geruch seiner Mutter, an die Zeit, die zwischen dem feuchten Buchenwald und dieser Wüste lag, an Belastungspunkte, Risse und Spannkraft, an die Druckpunktskizze der demnächst entstehenden Betonkuppeln und an die schwere, sterbliche Schönheit seiner Frau, deren Körper er gerade erst zu entdecken begann. Er dachte an Pharao Ramses, dessen Körper oberhalb der Knie vor kurzem verschwunden war und jetzt zerlegt im Sand lag, in einem anderen Areal gelagert als die Gliedmaßen seiner Gemahlin und seiner Töchter. Es würde viele Monate dauern, bis sie wieder vereint wäre, diese Familie, die seit mehr als dreitausendzweihundert Jahren niemals getrennt gewesen war.
Er dachte, dass nur die Liebe den Menschen seinen Tod lehren könne; dass wir nur in der Einsamkeit der Liebe das Ertrinken lernen.
Wenn Avery kurz vor dem Einschlafen neben seiner Frau lag und dem Fluss lauschte, dann war es, als wäre der ganze endlos lange Nil selbst ihrer beider Bett. Jeden Abend ließ Avery sich in Gedanken von Alexandria aus durch das Delta mit den Dattelpalmen treiben; an den vereinzelten Hausbooten mit ihren losen Segeln vorbei, die am Ufer vertäut lagen. Jeden Abend vor dem Einschlafen machte er im Geiste diese Reise, um die Berechnungen und Diagramme des Tages aus dem Kopf zu bekommen. Manchmal, wenn Jean wach war, fasste er diese Reise auch in Worte, bis er merkte, dass sie in jenen Halbschlaf sank, wo man glaubt, noch wach zu sein, aber nichts mehr wirklich aufnimmt. Avery jedoch flüsterte ihr dann weiterhin ins Ohr, schmückte die Fahrt mit tausend Einzelheiten aus, dankbar für das Gewicht ihres Schenkels, der über dem seinen lag. Der Fluss, das spürte er, hörte jedes Wort, webte jeden Seufzer in sich ein, bis er von Träumen erfüllt war, geschwellt von dem letzten Atemzug von Königen, von dem Keuchen der Arbeiter, vor dreitausend Jahren genauso wie heute. Er sprach zum Fluss, und er lauschte dem Fluss, die Hand auf seiner Frau, an jener Stelle, an der eines Tages ihr gemeinsames Kind sie öffnen würde, an der sein Mund schon so oft mit ihr gesprochen hatte, als ob er den Namen des Kindes aus ihrem Körper in seinen Mund aufnehmen könnte. Rebecca, Kleopatra, Sarah und alle die Wüstenfrauen, die den Wert des Wassers kannten.
Während er auf Jeans Rücken malte, erinnerte sie sich an das erste Mal, dass sie zusammen im Dunkeln gesessen hatten – in einem Kino in Morrisburg. Avery hatte sie einzig am Handgelenk berührt, dort, wo die kleinen Adern zusammenlaufen. Sie spürte den Druck ihren Arm hinauflaufen, obwohl seine Fingerspitzen nur einen Zentimeter von ihr berührten, und sie fasste ihren Entschluss. Nachher, im hellen Foyer, fühlte sie sich bloßgestellt und verwirrt, ohne dass es jemand gemerkt hätte; es war, als hätte er unter ihrer Kleidung eine Lunte gelegt. Und sie begriff zum ersten Mal, dass einem jemand an einem einzigen Abend die Haut unter Strom setzen kann und dass die Liebe nicht auftaucht, indem sie sich zu einem Augenblick verdichtet, wie ein Wassertropfen an der Spitze eines Zweiges – es geht nicht um den Augenblick, in dem man sein ganzes Leben einem anderen entgegenbringt, sondern vielmehr darum, dass man alles hinter sich lässt. In genau diesem Augenblick.
Schon an diesem Abend, dem Abend, an dem er im Dunkeln gerade mal einen Zentimeter von ihr berührte, wie selbstverständlich schien Avery da die Tatsachen zu akzeptieren – nämlich dass sie unmittelbar vor einem lebenslangen Glück und einem untrennbar damit verbundenen Leid standen. Es war, als hätte bereits vor langer Zeit ein Teil in seinem Innern sich selbständig gemacht, und erst jetzt würde er dieses gefährliche Teil erkennen, das schon jahrelang in ihm herumvagabundiert und ihn immer wieder gequält hatte. Als könnte er jetzt zu diesem Schmerz sagen: »Aha. Du warst das also.«-
Avery verlor sich oft in Gedanken an die mathematischen Regeln, durch die ein Tempel seinen Raum definiert, mit dem er nichts Geringeres als Heiligkeit zu umschließen versucht. Mit dem er eine Ebene schafft, auf der sich Himmel und Erde berühren können. Jean behauptete, dass sich eine solche Berührung am besten im Freien abspielen sollte und dass die eigent liche Ebene, in der der Himmel diese Welt vertikal durchdringe, ganz einfach der Mensch in aufrechter Haltung sei. Doch für Avery war der Körper das eine und das Formen des Raums – wie der Mensch den Raum proportioniert, um ihm Spiritualität zu verleihen – etwas ganz anderes.
– Aber wir formen doch auch unseren inneren Raum, wandte Jean ein. Wir entschließen uns fortwährend zu irgendetwas und ändern unseren Beschluss dann gleich wieder. Und wenn wir gläubig sind, dann wahrscheinlich auch, weil wir uns dafür entschieden haben.
– Natürlich, sagte Avery, aber der Körper ist uns bereits gegeben; wenn wir hier ankommen, sind wir schon … vorgeformt. Ein Tempel war das erste Kraftwerk. Denk nur an die Gesetzmäßigkeiten, die gefunden werden mussten, und an die körperliche Leistung von Tausenden von Männern: tonnenweise Steine zu schlagen und sie dann oft Hunderte von Kilometern weit an einen genau berechneten Ort zu schleppen – und das alles nur, um Spiritualität einzufangen.
Um den Raum zu definieren, fuhr Avery fort, und dann unterbrach er sich. Nein. Nicht um den Raum zu formen, sondern um … Leere zu formen.
Bei diesen Worten wurde Jean zärtlich und griff nach der Hand ihres Mannes. Vom Deck des Hausboots aus beobachteten sie, wie die Arbeiter in dem neu gebauten stählernen Durchgang verschwanden, der Ramses’ Zehen mit den inneren Räumen des Großen Tempels verband. Dieser Durchgang grub sich seinen Weg durch fünftausend Lastwagenladungen Sand, die aus der Wüste herangeschafft worden waren, um die Fassaden zu schützen und an der Steilhangseite zusätzlich zu stützen. Hundert Jahre zuvor hatte der Entdecker von Abu Simbel, Giovanni Belzoni, viele Tage dazu gebraucht, sich durch die Wanderdünen einen Weg zum Tempel hinabzugraben; und jetzt hatten ihn Avery und seine Männer wieder zugeschüttet.
– Mit dir ist es, als würde man einem Menschen von Weitem zusehen und denken, er wolle sich gerade die Schuhe zubinden, sagte Jean, dabei kniet er sich in Wirklichkeit hin, um zu beten.
– Uns müssen schon erst die Schuhbänder aufgehen, sagte Avery, bevor wir auf die Idee kommen, uns hinzuknien.-
Nördlich von Bujumbura in Burundi sprudelt ein kleiner Bach – der Kasumo – aus dem Boden hervor. Diese Quelle vereinigt sich mit anderen Bächen – dem Mukasenyi, dem Ruvironza, dem Ruvubu – zum Kagera, der seinerseits in den Viktoriasee fließt. Dieser Oberlauf des Kagera ist eine der Quellen des Nil. Eine weitere ist der Rwindi, der eiszeitliches Schmelzwasser aus der großen Ruwenzori-Bergkette – den Mondbergen – heranführt. Von unten, vom Urwald aus gesehen, wurden die schneebedeckten Bergspitzen lange Zeit entweder für Salz gehalten oder für eingefangenen Mondschein oder für Nebel. Niemand hätte sich mitten im tropischen Regenwald Schnee vorstellen können, in einer Gegend, die so grün ist, dass sie magischen Riesenwuchs ausschwitzt.
Erdwürmer von fast einem Meter Länge wühlen sich durch den Boden, weißes Heidekraut schwankt fast zehn Meter über dem Kopf einer Frau. Blüten mit einem Durchmesser von über drei Metern versüßen den Sonnenschein, wenn sich ihr Duft mit dem der Gewürznelken über dem Meer vor Sansibar vermischt. Gras wird mannshoch; Moos erreicht die Größe eines Kindes. Bambus steigt wie im Zeitraffer gen Himmel – mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Zentimetern pro Tag. Das ist der Lebensraum des Berggorillas, eines Tieres, das dem Menschen mit einem Arm den Kopf abreißen kann, aber Angst vor Wasser hat und niemals einen Fluss durchquert.
Der Schnee am Äquator – dieser eingefrorene Mondschein, dieses Salz, dieser Nebelschleier – zerschmilzt und strömt dann nach den Gesetzen der Schwerkraft mehr als sechstausend Kilometer weit durch Dschungel, Sümpfe und Wüsten; er schwellt den Nil und färbt seine brennenden Ufer leuchtend grün. Dieser Schnee fließt durch eine Landschaft, die so heiß ist, dass sie einem Menschen die Träume aus dem Kopf zieht, bis sie als Fata Morgana in der Luft schimmern; so heiß, dass der Mensch keine Sekunde lang seinen eigenen Schatten oder seinen eigenen Schweiß loswird; so heiß, dass der Sand davon träumt, zu Glas zu schmelzen; so heiß, dass so mancher daran stirbt. Durch eine Landschaft, die so trocken ist, dass ihre jährliche Niederschlagsmenge insgesamt gerade mal vier Teelöffel füllt.
Die Wüste lässt jeden im Stich, der sich niederlegt. Von dem Augenblick an, wo eine Leiche mit Sand bedeckt ist, beginnt der Wind, genau wie die Erinnerung, sie zu exhumieren. Deshalb graben Wüstenvölker wie die Beduinen tiefere Gräber für ihre Frauen, aus Respekt.
Vielleicht ist das mit ein Grund für die gewaltige Größe der Königsgräber in der Wüste, die allein schon durch schieres Gewicht imponieren und durch die Masse der Felsblöcke, die herbeigeschleppt und aufgetürmt werden mussten – kunstvoll aufgetürmt natürlich, aber eben doch aufgetürmt – an den Grabstätten der Könige.
In der Wüste bleiben wir reglos, und die Erde bewegt sich unter uns.-
Jede Nacht fiel die Temperatur bis auf den Gefrierpunkt, und die Arbeiter begannen ihren Tag am Feuer. Schon früh am Morgen kostete selbst die kleinste Anstrengung Überwindung. Man sah nie jemanden schwitzen, weil jede Feuchtigkeit sofort verdunstete. Die Männer steckten den Kopf in jeden schattigen Fleck, der zu finden war, quetschten sich in den Schatten von Holzkisten und Lastwagen. Sehnsüchtig blickten sie über den Nil in das Dunkel von Dom- und Dattelpalmen, Akazien, Tamarisken und Maulbeerfeigenbäumen. Sie hielten das Gesicht in den Nordwind.
Jeden Morgen sah Jean vom Hausboot aus Avery in der Menge der Arbeiter verschwinden. Rings um ihn Männer mit einer Hautfarbe wie nasse Erde; Avery bleich wie der Sand. Bald würde sie zu dem Plateau hinaufsteigen, auf dem ein Garten angelegt worden war, der durch dieselben Rohre bewässert wurde, die auch den Swimmingpool des Lagers mit Wasser versorgten, und würde sich dort über Wüstenfrüchte unterrichten lassen von der Frau eines der Ingenieure aus Kairo, einer äußerst anmutigen Informationsquelle – deren Wissen von Kochrezepten über Pflanzenheilkunde bis hin zur Kosmetik reichte –, einer Frau, die im Garten ein elegantes weißes Hemdblusenkleid trug, dazu weiße Sandalen, und das Haar kunstvoll unter einem weißen Strohhut aufgesteckt hatte. Sie leitete Jean an, die glücklich war, mit Knien und Händen in der Arbeit zu versinken.
Den ganzen Tag über sog der Tempelfelsen die Sonne in sich auf; jede Lücke zwischen den Steinblöcken speicherte die Hitze wie ein Backofen. Am Abend kühlte der Stein dann allmählich ab. Manche Besucher kamen, um Abu Simbel bei Tages anbruch zu erleben. Doch Jean wusste, dass sich das eigent liche Wunder des Tempels erst in der Abenddämmerung offenbarte, wenn für eine einzige kurze Stunde die gewaltigen Riesenstandbilder im Zwielicht zum Leben erwachten und ihre steinernen Lippen und Gliedmaßen sich genau auf Körpertemperatur abgekühlt hatten.
- Autor: Anne Michaels
- 2009, 349 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Matocza, Nora; Falkner, Gerhard
- Übersetzer: Gerhard Falkner, Nora Matocza
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827005345
- ISBN-13: 9783827005342
"Ein großer Roman über Liebe und Verlust und die Sehnsucht nach einem Ort, an dem sich Geborgenheit doch noch finden ließe. Erzählt mit einer poetischen Kraft, die sich tief einprägt." -- BRIGITTE, Angela Wittmann
"In eindringlichen Bildern erzählt Michaels von Zerstörung und Wiederaufbau, von Verlust und Annäherung. Es ist die anrührende Geschichte einer großen, widerstandsfähigen Liebe. Ein Buch zum heulen schön!" -- FOCUS, Jobst-Ulrich Brand
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