'Wo ist Gott?'
Wo ist Gott?" von HeinerGeißler
LESEEPROBE
Drittes Gespräch
Über das Recht des Stärkeren, den Übermenschen und den TodGottes
Der Vater von Nelli hat einmal gesagt, die Frage, ob Gott existiert,interessiere ihn viel weniger, fast überhaupt nicht, auf jeden Fall viel wenigerals die Frage, ob es grüne Männchen vom Mars oder fliegende Untertassen gibt.
Ich finde, das ist ziemlich kurzsichtig, was der Vater von Nellida gesagt hat. Natürlich würde unser Leben sich ändern, wenn wir plötzlicheine Invasion aus dem Weltall bekämen. Aber wenn Gott tatsächlich nichtexistierte, wenn die meisten Menschen nicht mehr an einen Gott glaubten, könntedas nicht auch Folgen, vielleicht sogar schlimme Folgen, für unsereGesellschaft haben?
Welche?
Nur langsam! Es gab im 19. Jahrhundert einen berühmten Philosophen,Friedrich Nietzsche, einen sprachgewaltigen großen Denker, der genau das zuEnde gedacht hat. Er sagte nicht nur, Gott ist eine Erfindung, ist Opium, istInfantilismus, also: Gott ist tot, sondern er sagte: Gott bleibt tot - undmeinte damit, dass auch die Folgen des Gottesglaubens beseitigt werden müssen.
Also die Zehn Gebote zum Beispiel oder die Peterskirche undder Dalai-Lama?
Zum Beispiel. Aber so genau hat er es auch nicht gesagt. Er erzählteeinmal die Geschichte von Buddha. Nach seinem Tod hätten seine Anhänger nochjahrhundertelang in einer Höhle seinen ungeheueren schauerlichen Schattengezeigt. Gott sei tot, sagt Nietzsche. Aber wir müssten auch noch seinenSchatten beseitigen!
Kann man denn einfach alles beseitigen, was mit Gott in Zusammenhanggebracht wird, zum Beispiel, dass man nicht töten, dass man den Nächstenlieben, dass man nicht stehlen soll, dass man schwächeren Menschen helfen muss?
Es gibt einen tollen Schlager, der die Melodie einer symphonischenDichtung hat, die der Komponist Richard Strauß komponiert hat: «Also sprachZarathustra.» Dieser Zarathustra ist für Nietzsche das Antibild Gottes, einÜbermensch, der stärker und mächtiger als alle anderen Menschen ist und dermacht, was er will.
Wenn der Übermensch sein Ideal ist, gilt dann für Nietzscheüberall nur und ausschließlich das Recht des Stärkeren?
Ja. Diese Philosophie nennt man auch Nihilismus. Er nennt Gutund Böse einen alten Wahn, lobt den gesunden Menschen, den Krieg, den Kampf,den Hass, die Härte und den Gehorsam. Er hebt die Aristokratie in den Himmelund verdammt die Demokratie.
Also ein richtiger Rambo?
Ja, der Wille zur Macht ist das eigentliche Ziel des Lebens.Für diesen Übermenschen, der Gott ersetzen soll, zählen nur die körperlich undgeistig Starken, die Vornehmen, die Privilegierten. Er ist schonungslos gegensich selbst. Er will vernichten, was mittelmäßig ist. Er propagiert Härte und Grausamkeit.Er verfolgt ohne Rücksicht auf Opfer seine Interessen, wenn dies seiner Machtnützt.
Hat sich denn diese Philosophie durchgesetzt?
Das kann man wohl sagen. Adolf Hitler zum Beispiel, der MillionenJuden umgebracht hat, war ein Anhänger von Nietzsche und hat in seinem Buch«Mein Kampf» ausdrücklich dieses Recht des Stärkeren gegenüber den Schwachenpropagiert.
Aber hat das nicht auch Darwin behauptet?
Der hat was anderes gesagt. Nach meinem Verständnis behauptetDarwin nicht, dass in jedem Fall der Stärkere überlebt. Sonst wären ja die Dinosauch nicht ausgestorben. Vielmehr überlebt derjenige, der am besten an dieBedingungen seiner Umwelt angepasst ist. Er redet vom «survival of the fittest». Und wahrscheinlich bringensoziales Verhalten und ein freundlicher Umgang miteinander bessere Überlebensbedingungenals der totale Kampf eines jeden gegen jeden. Und das ist auch kein schlechtesArgument, dass der weltweite Siegeszug des Menschen zu einem Gutteil seinenhoch entwickelten sozialen Fähigkeiten zu verdanken ist. Das bringen manche Verhaltensforscherdurcheinander und kriegen es nicht auf eine Reihe.
Richtig! Du hast ja wegen der Ausländerfrage schon oft mitVerhaltensforschern gestritten, zum Beispiel mit Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dieder Auffassung sind, dass sich die Menschen im Grunde genauso verhielten wiedie Tiere. Das heißt, diese Verhaltensforscher geben doch den Nihilisten geradezuRecht?
Jedenfalls werden sie leicht missverstanden, wenn sie behaupten,die Menschen seien nichts anderes als gesellige Säugetiere, sie sicherten sichwie Braunbären und Wölfe ihre Territorien und seien gegenüber anderen Menschen scharfeKonkurrenten. Deshalb reagierten bereits Säuglinge freundlich oder abweisend,je nachdem, ob es sich um Fremde oder Bekannte handelt.
Das haben wir auch schon gemerkt, dass die Merle angefangenhat zu brüllen, wenn sie dich gesehen hat.
Das tut sie höchstens, wenn sie euch sieht; zu mir ist sieimmer lieb. Und die Hannah, die ein Jahr älter ist, hat keine Angst mehr underst recht nicht die Helena, die schon fünf ist. Und sogar der Paul, der so altist wie Merle, freut sich und lacht, wenn jemand kommt. Also, was da behauptetwird, stimmt schon in unserer Familie nicht immer.
(...)
© 2000 by Rowohlt - Berlin Verlag GmbH, Berlin
- Autor: Heiner Geißler
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2002, Neuausg., 144 Seiten, Maße: 14 x 21,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499212137
- ISBN-13: 9783499212130
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