Wohin das Glück dich führt
"Zoe Barnes schreibt wunderbar verträumte Romane, die trotzdem wie aus dem Leben gegriffen wirken."
Express
Holly ist ein Adoptivkind. Als ihre Patenkinder getauft werden, beschließt sie, nach ihren Wurzeln...
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Produktinformationen zu „Wohin das Glück dich führt “
"Zoe Barnes schreibt wunderbar verträumte Romane, die trotzdem wie aus dem Leben gegriffen wirken."
Express
Holly ist ein Adoptivkind. Als ihre Patenkinder getauft werden, beschließt sie, nach ihren Wurzeln zu forschen. Sie zieht in ihre Heimatstadt Cheltenham, um dort über ihre Herkunft zu recherchieren. Als sie nicht weiter kommt, bittet sie einen Privatdetektiv um Hilfe. Doch dass dieser unglaublich attraktiv und charmant ist, macht für Holly die Sache nicht unbedingt leichter.
Lese-Probe zu „Wohin das Glück dich führt “
Wohin das Glück dich führt von Zoe BarnesProlog
London im Büro von Payne, Rackstraw und Bynt
Ein Champagnerkorken flog gegen die Decke, und alle jubelten. Alle außer Holly Bennett, die an ihrem Schreibtisch saß und abwesend aufs Telefon starrte. Mechanisch legte sie den Hörer auf die Gabel, während sie innerlich schrie: Das passiert nicht wirklich. Ich glaube es nicht! Das ist alles nicht wahr! Eine leere Konfettiröhre segelte herunter und überzog Hollys Computermonitor mit blauen Fäden. Sie merkte es kaum.
Sie war in Gedanken im hundertfünfzig Kilometer entfernten Cheltenham, wo ihre Mutter langsam und fast unmerklich starb. Es war einfach nicht fair. Maureen Bennett war doch erst fünfundsechzig! Mit fünfundsechzig starben die Leute heutzutage nicht mehr! Verlass uns nicht, Mum. Bitte, du kannst uns nicht verlassen! Holly ballte die Hände zu Fäusten. Motorneuronenerkrankung. Wenn sie die Diagnose nicht von ihrer Mutter selbst gehört hätte, hätte sie es nicht geglaubt, dass einer so lebensfrohen Frau nur noch so wenig Zeit bleiben sollte. Wie lange hatte der Arzt ihr noch gegeben?
Ein Jahr, vielleicht achtzehn Monate, und mit jedem Tag, der verging, würde es ihr ein bisschen schwererfallen zu gehen, zu sprechen, ihre lebhafte Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, die Holly, ihr Dad und ihre Schwestern immer so geliebt hatten. Am Ende, sagten die Ärzte, würde sie nicht einmal mehr selbstständig atmen können. Und dann müsste ihre Familie die Entscheidung treffen, ob ... ob ... Holly traten die Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit dem Ärmel weg.
Sie hatte keine Zeit, sich gehen zu lassen. Obwohl sich in ihrem Kopf alles drehte, zwang sie sich, an praktische Dinge zu denken. Natürlich hatte Mum ihr erklärt, sie solle sich keine Sorgen machen, als sie gefragt hatte,
... mehr
ob sie sich nicht eine Hilfe nehmen wollte.
Sie und Dad kämen gut alleine zurecht, hatte sie gemeint. Aber das war typisch Maureen. Sie wollte niemandem zur Last fallen. Holly wusste, dass ihre Mutter Hilfe brauchen würde, aber woher sollte sie kommen? Dad war ein wundervoller Ehemann und Vater, aber er stand kurz vor der Pensionierung und konnte nicht alles allein bewerkstelligen. Und von seiner Pension als Briefträger konnte er es sich vor allem nicht leisten, einen Pflegedienst rund um die Uhr zu bezahlen.
Hollys beide jüngere Schwestern lebten in Cheltenham, aber Grace erholte sich gerade von einer Fehlgeburt, und Jess ... na ja, Jess war siebzehn und hatte selbst genug Probleme, da sie ständig kurz davor stand, aus der Friseurschule herausgeworfen zu werden. Es gab also nur eine Lösung. Holly war so tief in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Hey, du bist ja so still geworden«, sagte Murdo mit seinem weichen schottischen Akzent. »Alles in Ordnung?« Holly drehte sich auf dem Stuhl zu ihm um. In seinem schmalen, attraktiven Gesicht stand echte Sorge geschrieben. Groß, dunkelhaarig und fürsorglich war Murdo Mackay der Traum jeder jungen Frau. Er und Holly waren schon seit drei Jahren zusammen buchstäblich vom ersten Tag an, an dem sie nach London gekommen war, um ihr Glück in der Werbung zu versuchen. In ihrer Beziehung gab es Höhen und Tiefen wie bei jedem Paar, aber er hatte sie nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Er war immer für sie da.
»Nein, nichts ist in Ordnung«, gestand sie. »Es gibt schlechte Nachrichten. Wirklich schlechte. Mum ist ...« Sie brachte die Worte nicht über die Lippen und begann zu schluchzen.
»Holly, was ist mit Maureen passiert?«
»Kann ich es dir später erklären?« Sie schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden.
»Meinst du, ich bekomme heute Nachmittag noch einen Termin bei Bill Rackstraw? Ich glaube, ich muss mir Urlaub nehmen. Ziemlich lange sogar.«
Murdo zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie verständnisvoll er ist. Zwei Wochen dürften sicher kein Problem sein.«
»Ich rede nicht von zwei Wochen, Murdo.« Holly schüttelte traurig den Kopf. »Ich rede von einem Jahr. Mindestens.«
1
»Achtzehn Monate später: St Mungo's Church auf dem Bluebell Estate, Cheltenham, an einem windigen Sonntagnachmittag im März. s hat einen ziemlich spitz zulaufenden Kopf«, zischte Tante Gladys aus der zweiten Reihe rechts. Sie lehnte sich in den Gang, um den einen Star der Taufe besser betrachten zu können.
»Ist das ... normal?« Holly stand am Taufbecken, eine brennende Kerze in der Hand. Sie wandte die Augen von Tante Gladys' hohem, violetten Hut mit der wippenden Pfauenfeder ab und bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Schließlich konnte sie nicht während der Taufe aus der Rolle fallen.
Zum Glück war die achtzehnjährige Jess, Hollys Schwester und die Mutter von Baby Aimee, viel zu beschäftigt mit dem schreienden Kind, sodass sie die Bemerkungen ihrer Tante nicht gehört hatte. Kev Hopkins, ihr Freund, sah so aus, als benötigte er seine ganze Konzentration, um von dem unbequemen neuen Anzug nicht bei lebendigem Leib verschluckt zu werden.
Als angehender Sänger und Songschreiber war Kev es nicht gewöhnt, Anzüge zu tragen. Ich liebe meine Familie, dachte Holly, und eine Welle der Zuneigung schlug über ihr zusammen. Sogar Tante Gladys, und das will schon etwas heißen. Streng genommen waren die Bennetts eigentlich nicht Hollys wirkliche Familie, beziehungsweise sie waren es dem Gesetz nach, aber nicht in biologischer Hinsicht. Holly war als winziges Baby auf der Treppe eines Krankenhauses ausgesetzt und dann von den Bennetts adoptiert worden.
Für sie stellte das allerdings keinen Unterschied dar sie waren und blieben ihre Familie. Wenn überhaupt, machte die Tatsache, dass sie adoptiert worden war, alles noch besonderer, denn ihre Eltern hatten sie schließlich ausgesucht. Beim Gedanken an ihre Eltern Harry und Maureen zog sich Hollys Herz vor Schmerz und Trauer zusammen. Wenn doch Mum heute hätte hier sein können, dachte sie.
Sie wäre so stolz auf Jess und Grace ihre zwei jüngeren Töchter gewesen, weil sie ihre Babys in der Kirche taufen ließen. Stolz und ein wenig überrascht, dachte Holly lächelnd und warf ihre kastanienbraunen Haare zurück.
Noch vor Jahren hatte es einen mächtigen Familienstreit gegeben, als Grace und Steve geheiratet hatten. Es war typisch für ihre Schwester gewesen, dass sie sich geweigert hatte, kirchlich zu heiraten, »weil es ein Schweinegeld kostet und nichts bedeutet, wenn man nicht an Gott glaubt«.
Und jetzt standen sie heute alle hier und sahen zu, wie Grace' und Jess' Kinder in die Kirche von England aufgenommen wurden. Als Eltern sieht man offensichtlich vieles anders, dachte Holly. Vielleicht werde ich das eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft selbst herausfinden.
Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihre Mutter noch die Chance gehabt hätte, ihre Enkelkinder im Arm zu halten. Wenn es Gott gibt und ich ihm je begegnen werde, dachte Holly grimmig, dann wird er mir ein paar unangenehme Fragen beantworten müssen. Es war ein typischer, unbeständiger Märztag auf dem Bluebell Estate.
Der Regen prasselte auf das Betondach der Kirche, und der Wind war so stark, dass er Bonbonpapiere und anderen Abfall durch die Luft wirbelte. Die beiden gesunden Babys brachten ihren Unmut so laut zum Ausdruck, dass wenigstens das metallische Geräusch des Müllabfuhrwagens übertönt wurde.
Holly lächelte unwillkürlich, als sie daran dachte, dass Grace und Steve ihr Kind an einem so unschönen Ort taufen ließen. Sie hätten ohne Weiteres eine pittoreske alte Kirche in einer schickeren Gegend wählen können, aber Mum und Dad hatten hier vor Jahren geheiratet. Und wenn die Kirche gut genug für sie gewesen war, dann war sie heute auch gut genug für ihre Enkel. Also fand die Taufe in dem hässlichen Betonbau statt.
Als sich die Zeremonie dem Ende entgegenneigte und der Regen draußen sich zum Hagel steigerte, wurde Holly durch einen Rippenstoß aus ihren Gedanken gerissen.
»Psst. Tante Holly.«
»Hä?« Jess drückte ihr etwas Weiches und ungewohnt Feuchtes in die Arme. »Nimm sie mal einen Moment, ja?«
»W-was?«
»Ich muss dringend aufs Klo. Bin gleich wieder da. Du musst sie nur einen Moment lang halten.« Jess rannte den Gang entlang zu den Toiletten, die sich hinten im Kirchenschiff befanden, und ließ Tante Holly mit ihrer drei Monate alten Nichte allein. Holly rümpfte die Nase. »Puh, du stinkst«, meinte sie grinsend zu ihrem Patenkind.
»Hast du etwa in deine Windel gemacht? Es muss wirklich toll sein, wenn man ein Baby ist«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Du kannst tun, was du willst, und alle lieben dich trotzdem.«
Während Holly noch über das Wunder des Lebens nachdachte, tauchte Grace neben ihr auf. Sie wirkte unglaublich schlank in ihrem eng sitzenden Designeroutfit.
»Hast du es gemerkt?«, fragte sie.
»Was gemerkt?«
»Deine arme kleine Schwester kann sich noch nicht einmal einen Hut leisten. Ich wette, sie hat alles im Katalog bestellt. Sie und Kev kommen kaum klar.«
Es war nicht der erste Wink mit dem Zaunpfahl von Grace.
»Willst du damit etwa sagen, ich sollte ihnen aushelfen?«
»Nun, es könnte nicht schaden.« Grace nahm nie ein Blatt vor den Mund.
»Ich weiß, dass du das Geld, das Mutter dir hinterlassen hat, noch nicht angerührt hast.« »Nur weil du alles ausgegeben hast ...«, begann Holly.
»Wir haben auch eine Familie zu versorgen«, unterbrach Grace sie.
»Grace, du und Steve, ihr habt wirklich genug Geld. Ich helfe Jess gerne, aber ich finde, du solltest auch deinen Teil dazu beitragen. Ich bin nur eine kleine Postangestellte, während du und Steve an eurer ersten Milliarde arbeitet!«
Grace wandte verlegen den Blick ab.
»Ja, aber das Geschäft läuft nicht jede Woche gleich gut, und Steve muss genug Rücklagen haben, um reinvestieren zu können. Und was dich angeht wie lange willst du eigentlich noch die Post austragen?« Holly wurde rot.
»Du weißt genau, warum ich das tue. Ich bin nach Hause gekommen, um mich um Mum zu kümmern, und dann hat Dad den Job im lokalen Postzentrum für mich gefunden.«
»Mum ist vor über einem Jahr gestorben, Holly. Vor einem ganzen Jahr. Warum bist du immer noch hier? Warum sitzt du nicht schon längst wieder an deinem Schreibtisch in London und entwirfst kreative Werbung, statt dich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten?«
Grace blickte auf das schlafende Baby in Hollys Armen. »Und wenn du es leid bist, Karriere zu machen, könntest du auch Murdo heiraten und Mutter werden. So oder so, du kannst nicht den Rest deines Lebens Post austragen.«
»Ich ... ich bin einfach noch nicht so weit, um wieder nach London zu gehen«, stammelte Holly, der das Gespräch zunehmend unangenehmer wurde.
»Noch nicht.«
»Wie ich schon sagte, du kannst nicht dein ganzes Leben lang Postbotin spielen.«
»Ich weiß.« Holly streichelte Aimees winzige Hand, und die kleinen Fingerchen schlossen sich automatisch um die ihren. Wärme und Liebe stiegen in ihr auf.
Du bist mein Patenkind und meine Nichte, dachte sie, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit du ein glückliches Leben führst. Zumindest darüber bin ich mir sicher.
»Weißt du«, Grace zwinkerte ihr zu, »ein Baby im Arm steht dir wirklich gut. Anscheinend passt Muttersein zu dir. Ich wette, Murdo findet das auch, nicht wahr, Murdo?«
Holly war so vertieft in ihr Gespräch mit Grace gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie Murdo sich dazugesellt hatte.
»Was finde ich auch?«, fragte er und legte Holly den Arm um die Schultern. »Ich glaube, sie würde eine tolle Mutter abgeben, meinst du nicht auch?«
Holly schluckte, als Murdo ihr tief in die Augen blickte und antwortete: »Oh, absolut.«
»Na, dann lasst euch mal nicht zu viel Zeit.« Lachend machte Grace sich auf die Suche nach Steve. »Ihr werdet auch nicht jünger.«
Aber ich bin doch noch nicht einmal dreißig, protestierte Holly im Stillen, als sie am Büfett in der Eingangshalle der Kirche stand. Okay, Ende des Jahres werde ich die magische Grenze knacken, aber bis jetzt bin ich immer noch neunundzwanzig, und es wird noch Jahre dauern, bis ich an tickende biologische Uhren denken muss.
Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie schrecklich gerne ein Baby bekommen würde. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber bald. Die Frage ist nur, dachte sie, möchte ich es mit Murdo haben? Eine schwierige Frage, dachte sie, und eigentlich weiß ich die Antwort darauf nicht. Noch nicht. Jedenfalls werde ich ganz bestimmt nicht zu den Leuten gehören, die ein Kind bekommen und erst anschließend über die Zukunft nachdenken.
Während sie ein Cocktailwürstchen aufspießte, betrachtete sie gedankenverloren ihr Spiegelbild in der Glasscheibe der Vitrine, in der die Fußballmannschaft der Kirche ihre einzige Trophäe aufbewahrte. Die junge Frau, die sie anblickte, war zwar keine strahlende Schönheit, konnte aber durchaus als hübsch gelten, auch wenn die Nase ein wenig zu lang geraten war.
Sie hatte große, dunkle Augen mit langen Wimpern; ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare glänzten. Sie war nicht groß und auch nicht gertenschlank, aber sie bewegte sich mit einer gewissen Anmut. Kurz fragte sich Holly, ob sie ihren Gang wohl von ihrer Mutter hatte. Und wenn ja, von welcher? Von ihrer Adoptivmutter, die so gerne getanzt hatte ... oder von ihrer biologischen, die bisher ein komplettes Geheimnis geblieben war?
Nicht zum ersten Mal machte sich Holly Gedanken darüber, woher sie kam. Nach der Geburt von Adam und Aimee dachte sie mehr und mehr darüber nach, selber ein Kind zu bekommen, und je konkreter der Wunsch wurde, desto stärker sehnte sie sich danach, etwas über ihre eigene Herkunft zu erfahren.
Es hatte nichts damit zu tun, dass sie ihre Adoptiveltern nicht liebte; im Gegenteil, sie vergötterte sie. Aber die Tatsache, dass eine unbekannte Frau ihr das Leben geschenkt und sie dann aus ebenso unbekannten Gründen auf der Krankenhaustreppe zurückgelassen hatte, blieb für immer bestehen. Ich muss es wissen, dachte sie. Wer auch immer diese Frau ist, sie ist ein Teil von dem Menschen, der ich wirklich bin.
Aber ... was ist mit Maureen? Was ist mit der wundervollen Frau, die mich aufgezogen hat? Wie wäre ihr zumute gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich meine leibliche Mutter finden will? Ist es vielleicht nur Selbsttäuschung, wenn ich mir einrede, dass sie mir ihren Segen gegeben hätte?
»Was ist los, Liebes?«, fragte eine vertraute Stimme neben ihr. »Warum stehst du hier so ganz alleine?«
Holly drehte sich um. »Alles in Ordnung, Dad. Ich denke nur ein bisschen nach.«
»Über Mum?« Sie nickte. »Die Taufe hätte ihr gefallen. Sie wäre so stolz auf Grace und Jess gewesen.«
Ihr Vater wuschelte ihr durch die Haare, wie er es immer getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Sie wäre auf euch alle stolz gewesen. Aber das war sie immer. Und jetzt komm wieder zu den anderen. Ich habe gerne alle meine Mädchen um mich herum.« Auf der anderen Seite der Halle unterhielten sich Hollys Schwestern.
»... und deshalb mache ich mir Sorgen«, vertraute Jess ihrer Schwester gerade flüsternd an. »Meinst du etwa, ich nicht?«
Grace strich Adam, der an ihrer Schulter schlief, über die weichen Löckchen.
»Jedes Mal, wenn ich meinen Kleinen ansehe, dann denke ich, was wäre wenn ...« In diesem Augenblick gesellte sich Harry Bennett mit Holly im Schlepptau zu ihnen.
»Na, wenn das mal nicht meine beiden anderen Lieblingstöchter sind!« Unsicher blickte er sie an. »Wir stören doch nicht, oder?«
»Nein, Dad.« Grace' Stimme ließ das Gegenteil vermuten.
»Natürlich nicht.« »Ist alles in Ordnung?«, fragte Holly.
»Selbstverständlich.« Jess rang sich ein Lächeln ab. »Und, amüsiert ihr euch auch? Das Fest ist nicht übel, was?«
»Du hast alles toll arrangiert«, stimmte Holly zu.
»Ja, klar.« Jess seufzte. »Aber ich will in meinem ganzen Leben kein einziges blödes Meeresfrüchte-Canapé mehr sehen.«
»Wo ist Aimee?«, fragte Holly.
»Kev ist mit ihr zur Toilette gegangen, um ihr die Windel zu wechseln«, erklärte Jess. »Er ist an der Reihe.«
Harry schmunzelte. »Den Jungen hast du dir gut erzogen.«
»Natürlich«, erwiderte Jess selbstgefällig. »Damit kann man gar nicht früh genug anfangen habe ich nicht recht, Grace?«
»Absolut. Und wenn alles andere nicht hilft, gibt es eine Woche lang keinen Sex.« Grace grinste. »Den Trick hat mir Mum verraten.« Harry wurde rot.
»Schaut mal, ist das da drüben nicht eure Tante Gladys?«, wechselte er das Thema. »Mit ihr habe ich mich heute noch gar nicht unterhalten.«
Und damit floh er. »Grace, du bist schrecklich! Du hast ihn ganz verlegen gemacht«, bemerkte Holly. »Entschuldigung, ich konnte einfach nicht widerstehen.«
Grace gähnte. »Es ist so leicht, ihn in Verlegenheit zu bringen.«
»Ja. Das hat Mum auch immer gesagt«, erinnerte sich Holly.
»Einmal hat sie mir erzählt, dass er, als sie sich gerade erst kannten, zufällig in die Frauenumkleide im Schwimmbad geplatzt ist. Die Schreie hat man meilenweit gehört nicht die der Frauen, sondern die von Dad!« Die drei lachten, dann sagte Grace: »Die Geschichte hat mir Mum nie erzählt.«
Es klang anklagend.
»Das war kurz, nachdem ich aus London zurückgekommen war«, erklärte Holly. »Damals konnte sie noch reden.«
»Auf jeden Fall mit dir.«
»Ich habe ja auch am meisten Zeit mit ihr verbracht«, erwiderte Holly leicht gereizt. Vor ihrem inneren Auge liefen die letzten Monate mit ihrer Mutter noch einmal wie ein Film ab. Anfangs hatten sie noch viel geredet, aber am Ende hatte nur noch Schweigen geherrscht, weil die Krankheit ihr alles nahm, sogar die Stimme.
Alles, bis auf das Licht in ihren Augen, das erst der Tod ausgelöscht hatte. Holly wartete, bis der Schmerz in der Brust nachließ, dann fuhr sie fort: »Sie hätte die Taufe genossen.«
17
Grace blickte sich um, betrachtete die Onkel und Tanten mit ihren großen Hüten und der eleganten Kleidung und seufzte. »Ja. Und ich muss daran denken, dass ich damals so einen Aufstand gemacht habe, weil ich nicht in der Kirche heiraten wollte. Wenn ich Mum dadurch zurückbringen könnte, würde ich Westminster Abbey mieten und eine Märchenhochzeit feiern.« Holly streichelte über Aimees pfirsichweiche Wange. »Mum hätte sie hinreißend gefunden«, sagte sie zu Jess. »Sie ist wirklich schön; ein vollkommenes kleines Geschöpf.« »Na ja, sie ... sie sieht zumindest so aus«, erwiderte Jess. Hollys Herz sank. »Warum? Stimmt etwas nicht mit ihr? Das hast du noch gar nicht erwähnt.« Grace legte Holly die Hand auf den Arm. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Bei Adam auch. Jess meint nur ... wegen Mums Krankheit. Wir können eben nicht sicher sein, oder? Wir wissen nicht, ob sie sich vererbt hat. Und selbst wenn wir es wüssten, könnten wir doch nichts dagegen tun, weil die Motorneuronenkrankheit nicht heilbar ist.« Holly lief es kalt den Rücken herunter. »Aber ich dachte, Mums Spezialist hätte gesagt, sie sei nicht erblich?« »In acht oder neun von zehn Fällen wird sie nicht vererbt«, korrigierte Jess sie. »Aber ein kleines Risiko besteht trotzdem. Und das bereitet uns Sorgen.« »Aber es ist verschwindend gering«, sagte Holly. »Nicht wenn du der zehnte Fall bist«, erwiderte Grace. »Entschuldigung, ich wollte nicht ...« »Natürlich nicht«, sagte Grace. »Aber Jess und ich wissen wahrscheinlich erst, ob wir die Krankheit bekommen, wenn wir über vierzig sind, und bis dahin könnten Aimee und Adam schon eigene Kinder haben es sei denn, sie haben zu viel Angst, welche zu bekommen, weil sie nicht wissen können, was sie ihnen möglicherweise vererben.« »Kev und ich hatten schon über Spendereier nachgedacht«, offenbarte ihr Jess.
»Aber dann bin ich zufällig schwanger geworden. Es war ein ziemlicher Schock, nicht wahr, Grace?« »Spendereier! Davon hast du mir nie etwas gesagt ...«
Hollys Gedanken überschlugen sich. Ihr war, als sei plötzlich all ihre familiäre Sicherheit zerstört worden. »Mein Gott, ja, du hast recht; ich hatte ja keine Ahnung ...« Verwirrt schwieg sie. Es tat weh, dass Jess sich ihr nicht anvertraut hatte. Warum nicht?
Sie hatte vermutlich mit Grace darüber geredet. All das ist in meiner eigenen Familie vor sich gegangen, dachte sie, und ich habe nichts davon gewusst. Ich hatte keinen Schimmer. Bin ich vielleicht besonders dumm? Oder haben sie auf einmal das Gefühl, sich mir nicht mehr anvertrauen zu können? Bin ich zu einer Außenseiterin geworden?
Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie eine unsichtbare Kluft zwischen sich und ihren Schwestern. Es war kein gutes Gefühl.
»Was ist mit dir und Steve?«, fragte sie Grace. »Du hast doch bestimmt auch Angst gehabt, als du schwanger warst.«
»Wir haben beschlossen, dass es das Risiko wert ist. Aber es war nicht leicht.«
Holly dachte an den Morgen vor der Beerdigung ihrer Mutter. Graue Gesichter und ein Himmel, der dazu passte. Holly war so in ihrer Trauer gefangen gewesen, dass sie kaum mitbekommen hatte, wie Grace sich übergeben musste. Erst später hatte sie zugegeben, dass sie keine Magenverstimmung gehabt hatte, sondern schwanger gewesen war.
Sie hatte es schon vorher sagen wollen, aber das Krematorium schien ihr nicht der passende Ort zu sein, um ein neues Leben anzukündigen. Rückblickend passte alles zusammen. Oder wie ihr Großonkel Bill es mit seinem üblichen Taktgefühl formuliert hatte: »Einer rein, der andere raus so ist das Leben. Ich bin bestimmt der Nächste.«
»Es tut mir leid. Ich ... ich habe einfach nicht nachgedacht«, stammelte Holly. »Wahrscheinlich war ich viel zu sehr damit beschäftigt, Mum zu vermissen.«
»Na, zumindest brauchst du dir über das Problem nie Sorgen zu machen«, bemerkte Grace kühl. Holly verstand nicht sofort.
»Wieso?«
»Ich meine, wenn du ein Baby bekommst.«
Grace warf ungeduldig ihre Locken zurück. »Schließlich bist du nicht mit Mum verwandt.«
Für einen kurzen Moment hätte Holly sie ohrfeigen können.
»Sie war genauso meine Mum wie deine!«, protestierte sie. Jess griff ein.
»Natürlich war sie das, Holly. Grace hat es sicher nicht so gemeint.« Sie blickte ihre Schwester an. »Stimmt's?«
Grace zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann lächelte sie und sagte: »Nein, natürlich nicht, Hol. Sei doch nicht so empfindlich. Ich meinte doch nur, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, die Krankheit zu vererben, weil du mit Mum nicht biologisch verwandt warst. Und ganz egal, wie du dazu stehst«, fuhr sie fort, bevor Holly noch etwas erwidern konnte, »es ist eben doch etwas anderes, oder?«
Sie und Dad kämen gut alleine zurecht, hatte sie gemeint. Aber das war typisch Maureen. Sie wollte niemandem zur Last fallen. Holly wusste, dass ihre Mutter Hilfe brauchen würde, aber woher sollte sie kommen? Dad war ein wundervoller Ehemann und Vater, aber er stand kurz vor der Pensionierung und konnte nicht alles allein bewerkstelligen. Und von seiner Pension als Briefträger konnte er es sich vor allem nicht leisten, einen Pflegedienst rund um die Uhr zu bezahlen.
Hollys beide jüngere Schwestern lebten in Cheltenham, aber Grace erholte sich gerade von einer Fehlgeburt, und Jess ... na ja, Jess war siebzehn und hatte selbst genug Probleme, da sie ständig kurz davor stand, aus der Friseurschule herausgeworfen zu werden. Es gab also nur eine Lösung. Holly war so tief in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Hey, du bist ja so still geworden«, sagte Murdo mit seinem weichen schottischen Akzent. »Alles in Ordnung?« Holly drehte sich auf dem Stuhl zu ihm um. In seinem schmalen, attraktiven Gesicht stand echte Sorge geschrieben. Groß, dunkelhaarig und fürsorglich war Murdo Mackay der Traum jeder jungen Frau. Er und Holly waren schon seit drei Jahren zusammen buchstäblich vom ersten Tag an, an dem sie nach London gekommen war, um ihr Glück in der Werbung zu versuchen. In ihrer Beziehung gab es Höhen und Tiefen wie bei jedem Paar, aber er hatte sie nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Er war immer für sie da.
»Nein, nichts ist in Ordnung«, gestand sie. »Es gibt schlechte Nachrichten. Wirklich schlechte. Mum ist ...« Sie brachte die Worte nicht über die Lippen und begann zu schluchzen.
»Holly, was ist mit Maureen passiert?«
»Kann ich es dir später erklären?« Sie schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden.
»Meinst du, ich bekomme heute Nachmittag noch einen Termin bei Bill Rackstraw? Ich glaube, ich muss mir Urlaub nehmen. Ziemlich lange sogar.«
Murdo zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie verständnisvoll er ist. Zwei Wochen dürften sicher kein Problem sein.«
»Ich rede nicht von zwei Wochen, Murdo.« Holly schüttelte traurig den Kopf. »Ich rede von einem Jahr. Mindestens.«
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»Achtzehn Monate später: St Mungo's Church auf dem Bluebell Estate, Cheltenham, an einem windigen Sonntagnachmittag im März. s hat einen ziemlich spitz zulaufenden Kopf«, zischte Tante Gladys aus der zweiten Reihe rechts. Sie lehnte sich in den Gang, um den einen Star der Taufe besser betrachten zu können.
»Ist das ... normal?« Holly stand am Taufbecken, eine brennende Kerze in der Hand. Sie wandte die Augen von Tante Gladys' hohem, violetten Hut mit der wippenden Pfauenfeder ab und bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Schließlich konnte sie nicht während der Taufe aus der Rolle fallen.
Zum Glück war die achtzehnjährige Jess, Hollys Schwester und die Mutter von Baby Aimee, viel zu beschäftigt mit dem schreienden Kind, sodass sie die Bemerkungen ihrer Tante nicht gehört hatte. Kev Hopkins, ihr Freund, sah so aus, als benötigte er seine ganze Konzentration, um von dem unbequemen neuen Anzug nicht bei lebendigem Leib verschluckt zu werden.
Als angehender Sänger und Songschreiber war Kev es nicht gewöhnt, Anzüge zu tragen. Ich liebe meine Familie, dachte Holly, und eine Welle der Zuneigung schlug über ihr zusammen. Sogar Tante Gladys, und das will schon etwas heißen. Streng genommen waren die Bennetts eigentlich nicht Hollys wirkliche Familie, beziehungsweise sie waren es dem Gesetz nach, aber nicht in biologischer Hinsicht. Holly war als winziges Baby auf der Treppe eines Krankenhauses ausgesetzt und dann von den Bennetts adoptiert worden.
Für sie stellte das allerdings keinen Unterschied dar sie waren und blieben ihre Familie. Wenn überhaupt, machte die Tatsache, dass sie adoptiert worden war, alles noch besonderer, denn ihre Eltern hatten sie schließlich ausgesucht. Beim Gedanken an ihre Eltern Harry und Maureen zog sich Hollys Herz vor Schmerz und Trauer zusammen. Wenn doch Mum heute hätte hier sein können, dachte sie.
Sie wäre so stolz auf Jess und Grace ihre zwei jüngeren Töchter gewesen, weil sie ihre Babys in der Kirche taufen ließen. Stolz und ein wenig überrascht, dachte Holly lächelnd und warf ihre kastanienbraunen Haare zurück.
Noch vor Jahren hatte es einen mächtigen Familienstreit gegeben, als Grace und Steve geheiratet hatten. Es war typisch für ihre Schwester gewesen, dass sie sich geweigert hatte, kirchlich zu heiraten, »weil es ein Schweinegeld kostet und nichts bedeutet, wenn man nicht an Gott glaubt«.
Und jetzt standen sie heute alle hier und sahen zu, wie Grace' und Jess' Kinder in die Kirche von England aufgenommen wurden. Als Eltern sieht man offensichtlich vieles anders, dachte Holly. Vielleicht werde ich das eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft selbst herausfinden.
Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihre Mutter noch die Chance gehabt hätte, ihre Enkelkinder im Arm zu halten. Wenn es Gott gibt und ich ihm je begegnen werde, dachte Holly grimmig, dann wird er mir ein paar unangenehme Fragen beantworten müssen. Es war ein typischer, unbeständiger Märztag auf dem Bluebell Estate.
Der Regen prasselte auf das Betondach der Kirche, und der Wind war so stark, dass er Bonbonpapiere und anderen Abfall durch die Luft wirbelte. Die beiden gesunden Babys brachten ihren Unmut so laut zum Ausdruck, dass wenigstens das metallische Geräusch des Müllabfuhrwagens übertönt wurde.
Holly lächelte unwillkürlich, als sie daran dachte, dass Grace und Steve ihr Kind an einem so unschönen Ort taufen ließen. Sie hätten ohne Weiteres eine pittoreske alte Kirche in einer schickeren Gegend wählen können, aber Mum und Dad hatten hier vor Jahren geheiratet. Und wenn die Kirche gut genug für sie gewesen war, dann war sie heute auch gut genug für ihre Enkel. Also fand die Taufe in dem hässlichen Betonbau statt.
Als sich die Zeremonie dem Ende entgegenneigte und der Regen draußen sich zum Hagel steigerte, wurde Holly durch einen Rippenstoß aus ihren Gedanken gerissen.
»Psst. Tante Holly.«
»Hä?« Jess drückte ihr etwas Weiches und ungewohnt Feuchtes in die Arme. »Nimm sie mal einen Moment, ja?«
»W-was?«
»Ich muss dringend aufs Klo. Bin gleich wieder da. Du musst sie nur einen Moment lang halten.« Jess rannte den Gang entlang zu den Toiletten, die sich hinten im Kirchenschiff befanden, und ließ Tante Holly mit ihrer drei Monate alten Nichte allein. Holly rümpfte die Nase. »Puh, du stinkst«, meinte sie grinsend zu ihrem Patenkind.
»Hast du etwa in deine Windel gemacht? Es muss wirklich toll sein, wenn man ein Baby ist«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Du kannst tun, was du willst, und alle lieben dich trotzdem.«
Während Holly noch über das Wunder des Lebens nachdachte, tauchte Grace neben ihr auf. Sie wirkte unglaublich schlank in ihrem eng sitzenden Designeroutfit.
»Hast du es gemerkt?«, fragte sie.
»Was gemerkt?«
»Deine arme kleine Schwester kann sich noch nicht einmal einen Hut leisten. Ich wette, sie hat alles im Katalog bestellt. Sie und Kev kommen kaum klar.«
Es war nicht der erste Wink mit dem Zaunpfahl von Grace.
»Willst du damit etwa sagen, ich sollte ihnen aushelfen?«
»Nun, es könnte nicht schaden.« Grace nahm nie ein Blatt vor den Mund.
»Ich weiß, dass du das Geld, das Mutter dir hinterlassen hat, noch nicht angerührt hast.« »Nur weil du alles ausgegeben hast ...«, begann Holly.
»Wir haben auch eine Familie zu versorgen«, unterbrach Grace sie.
»Grace, du und Steve, ihr habt wirklich genug Geld. Ich helfe Jess gerne, aber ich finde, du solltest auch deinen Teil dazu beitragen. Ich bin nur eine kleine Postangestellte, während du und Steve an eurer ersten Milliarde arbeitet!«
Grace wandte verlegen den Blick ab.
»Ja, aber das Geschäft läuft nicht jede Woche gleich gut, und Steve muss genug Rücklagen haben, um reinvestieren zu können. Und was dich angeht wie lange willst du eigentlich noch die Post austragen?« Holly wurde rot.
»Du weißt genau, warum ich das tue. Ich bin nach Hause gekommen, um mich um Mum zu kümmern, und dann hat Dad den Job im lokalen Postzentrum für mich gefunden.«
»Mum ist vor über einem Jahr gestorben, Holly. Vor einem ganzen Jahr. Warum bist du immer noch hier? Warum sitzt du nicht schon längst wieder an deinem Schreibtisch in London und entwirfst kreative Werbung, statt dich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten?«
Grace blickte auf das schlafende Baby in Hollys Armen. »Und wenn du es leid bist, Karriere zu machen, könntest du auch Murdo heiraten und Mutter werden. So oder so, du kannst nicht den Rest deines Lebens Post austragen.«
»Ich ... ich bin einfach noch nicht so weit, um wieder nach London zu gehen«, stammelte Holly, der das Gespräch zunehmend unangenehmer wurde.
»Noch nicht.«
»Wie ich schon sagte, du kannst nicht dein ganzes Leben lang Postbotin spielen.«
»Ich weiß.« Holly streichelte Aimees winzige Hand, und die kleinen Fingerchen schlossen sich automatisch um die ihren. Wärme und Liebe stiegen in ihr auf.
Du bist mein Patenkind und meine Nichte, dachte sie, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit du ein glückliches Leben führst. Zumindest darüber bin ich mir sicher.
»Weißt du«, Grace zwinkerte ihr zu, »ein Baby im Arm steht dir wirklich gut. Anscheinend passt Muttersein zu dir. Ich wette, Murdo findet das auch, nicht wahr, Murdo?«
Holly war so vertieft in ihr Gespräch mit Grace gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie Murdo sich dazugesellt hatte.
»Was finde ich auch?«, fragte er und legte Holly den Arm um die Schultern. »Ich glaube, sie würde eine tolle Mutter abgeben, meinst du nicht auch?«
Holly schluckte, als Murdo ihr tief in die Augen blickte und antwortete: »Oh, absolut.«
»Na, dann lasst euch mal nicht zu viel Zeit.« Lachend machte Grace sich auf die Suche nach Steve. »Ihr werdet auch nicht jünger.«
Aber ich bin doch noch nicht einmal dreißig, protestierte Holly im Stillen, als sie am Büfett in der Eingangshalle der Kirche stand. Okay, Ende des Jahres werde ich die magische Grenze knacken, aber bis jetzt bin ich immer noch neunundzwanzig, und es wird noch Jahre dauern, bis ich an tickende biologische Uhren denken muss.
Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie schrecklich gerne ein Baby bekommen würde. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber bald. Die Frage ist nur, dachte sie, möchte ich es mit Murdo haben? Eine schwierige Frage, dachte sie, und eigentlich weiß ich die Antwort darauf nicht. Noch nicht. Jedenfalls werde ich ganz bestimmt nicht zu den Leuten gehören, die ein Kind bekommen und erst anschließend über die Zukunft nachdenken.
Während sie ein Cocktailwürstchen aufspießte, betrachtete sie gedankenverloren ihr Spiegelbild in der Glasscheibe der Vitrine, in der die Fußballmannschaft der Kirche ihre einzige Trophäe aufbewahrte. Die junge Frau, die sie anblickte, war zwar keine strahlende Schönheit, konnte aber durchaus als hübsch gelten, auch wenn die Nase ein wenig zu lang geraten war.
Sie hatte große, dunkle Augen mit langen Wimpern; ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare glänzten. Sie war nicht groß und auch nicht gertenschlank, aber sie bewegte sich mit einer gewissen Anmut. Kurz fragte sich Holly, ob sie ihren Gang wohl von ihrer Mutter hatte. Und wenn ja, von welcher? Von ihrer Adoptivmutter, die so gerne getanzt hatte ... oder von ihrer biologischen, die bisher ein komplettes Geheimnis geblieben war?
Nicht zum ersten Mal machte sich Holly Gedanken darüber, woher sie kam. Nach der Geburt von Adam und Aimee dachte sie mehr und mehr darüber nach, selber ein Kind zu bekommen, und je konkreter der Wunsch wurde, desto stärker sehnte sie sich danach, etwas über ihre eigene Herkunft zu erfahren.
Es hatte nichts damit zu tun, dass sie ihre Adoptiveltern nicht liebte; im Gegenteil, sie vergötterte sie. Aber die Tatsache, dass eine unbekannte Frau ihr das Leben geschenkt und sie dann aus ebenso unbekannten Gründen auf der Krankenhaustreppe zurückgelassen hatte, blieb für immer bestehen. Ich muss es wissen, dachte sie. Wer auch immer diese Frau ist, sie ist ein Teil von dem Menschen, der ich wirklich bin.
Aber ... was ist mit Maureen? Was ist mit der wundervollen Frau, die mich aufgezogen hat? Wie wäre ihr zumute gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich meine leibliche Mutter finden will? Ist es vielleicht nur Selbsttäuschung, wenn ich mir einrede, dass sie mir ihren Segen gegeben hätte?
»Was ist los, Liebes?«, fragte eine vertraute Stimme neben ihr. »Warum stehst du hier so ganz alleine?«
Holly drehte sich um. »Alles in Ordnung, Dad. Ich denke nur ein bisschen nach.«
»Über Mum?« Sie nickte. »Die Taufe hätte ihr gefallen. Sie wäre so stolz auf Grace und Jess gewesen.«
Ihr Vater wuschelte ihr durch die Haare, wie er es immer getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Sie wäre auf euch alle stolz gewesen. Aber das war sie immer. Und jetzt komm wieder zu den anderen. Ich habe gerne alle meine Mädchen um mich herum.« Auf der anderen Seite der Halle unterhielten sich Hollys Schwestern.
»... und deshalb mache ich mir Sorgen«, vertraute Jess ihrer Schwester gerade flüsternd an. »Meinst du etwa, ich nicht?«
Grace strich Adam, der an ihrer Schulter schlief, über die weichen Löckchen.
»Jedes Mal, wenn ich meinen Kleinen ansehe, dann denke ich, was wäre wenn ...« In diesem Augenblick gesellte sich Harry Bennett mit Holly im Schlepptau zu ihnen.
»Na, wenn das mal nicht meine beiden anderen Lieblingstöchter sind!« Unsicher blickte er sie an. »Wir stören doch nicht, oder?«
»Nein, Dad.« Grace' Stimme ließ das Gegenteil vermuten.
»Natürlich nicht.« »Ist alles in Ordnung?«, fragte Holly.
»Selbstverständlich.« Jess rang sich ein Lächeln ab. »Und, amüsiert ihr euch auch? Das Fest ist nicht übel, was?«
»Du hast alles toll arrangiert«, stimmte Holly zu.
»Ja, klar.« Jess seufzte. »Aber ich will in meinem ganzen Leben kein einziges blödes Meeresfrüchte-Canapé mehr sehen.«
»Wo ist Aimee?«, fragte Holly.
»Kev ist mit ihr zur Toilette gegangen, um ihr die Windel zu wechseln«, erklärte Jess. »Er ist an der Reihe.«
Harry schmunzelte. »Den Jungen hast du dir gut erzogen.«
»Natürlich«, erwiderte Jess selbstgefällig. »Damit kann man gar nicht früh genug anfangen habe ich nicht recht, Grace?«
»Absolut. Und wenn alles andere nicht hilft, gibt es eine Woche lang keinen Sex.« Grace grinste. »Den Trick hat mir Mum verraten.« Harry wurde rot.
»Schaut mal, ist das da drüben nicht eure Tante Gladys?«, wechselte er das Thema. »Mit ihr habe ich mich heute noch gar nicht unterhalten.«
Und damit floh er. »Grace, du bist schrecklich! Du hast ihn ganz verlegen gemacht«, bemerkte Holly. »Entschuldigung, ich konnte einfach nicht widerstehen.«
Grace gähnte. »Es ist so leicht, ihn in Verlegenheit zu bringen.«
»Ja. Das hat Mum auch immer gesagt«, erinnerte sich Holly.
»Einmal hat sie mir erzählt, dass er, als sie sich gerade erst kannten, zufällig in die Frauenumkleide im Schwimmbad geplatzt ist. Die Schreie hat man meilenweit gehört nicht die der Frauen, sondern die von Dad!« Die drei lachten, dann sagte Grace: »Die Geschichte hat mir Mum nie erzählt.«
Es klang anklagend.
»Das war kurz, nachdem ich aus London zurückgekommen war«, erklärte Holly. »Damals konnte sie noch reden.«
»Auf jeden Fall mit dir.«
»Ich habe ja auch am meisten Zeit mit ihr verbracht«, erwiderte Holly leicht gereizt. Vor ihrem inneren Auge liefen die letzten Monate mit ihrer Mutter noch einmal wie ein Film ab. Anfangs hatten sie noch viel geredet, aber am Ende hatte nur noch Schweigen geherrscht, weil die Krankheit ihr alles nahm, sogar die Stimme.
Alles, bis auf das Licht in ihren Augen, das erst der Tod ausgelöscht hatte. Holly wartete, bis der Schmerz in der Brust nachließ, dann fuhr sie fort: »Sie hätte die Taufe genossen.«
17
Grace blickte sich um, betrachtete die Onkel und Tanten mit ihren großen Hüten und der eleganten Kleidung und seufzte. »Ja. Und ich muss daran denken, dass ich damals so einen Aufstand gemacht habe, weil ich nicht in der Kirche heiraten wollte. Wenn ich Mum dadurch zurückbringen könnte, würde ich Westminster Abbey mieten und eine Märchenhochzeit feiern.« Holly streichelte über Aimees pfirsichweiche Wange. »Mum hätte sie hinreißend gefunden«, sagte sie zu Jess. »Sie ist wirklich schön; ein vollkommenes kleines Geschöpf.« »Na ja, sie ... sie sieht zumindest so aus«, erwiderte Jess. Hollys Herz sank. »Warum? Stimmt etwas nicht mit ihr? Das hast du noch gar nicht erwähnt.« Grace legte Holly die Hand auf den Arm. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Bei Adam auch. Jess meint nur ... wegen Mums Krankheit. Wir können eben nicht sicher sein, oder? Wir wissen nicht, ob sie sich vererbt hat. Und selbst wenn wir es wüssten, könnten wir doch nichts dagegen tun, weil die Motorneuronenkrankheit nicht heilbar ist.« Holly lief es kalt den Rücken herunter. »Aber ich dachte, Mums Spezialist hätte gesagt, sie sei nicht erblich?« »In acht oder neun von zehn Fällen wird sie nicht vererbt«, korrigierte Jess sie. »Aber ein kleines Risiko besteht trotzdem. Und das bereitet uns Sorgen.« »Aber es ist verschwindend gering«, sagte Holly. »Nicht wenn du der zehnte Fall bist«, erwiderte Grace. »Entschuldigung, ich wollte nicht ...« »Natürlich nicht«, sagte Grace. »Aber Jess und ich wissen wahrscheinlich erst, ob wir die Krankheit bekommen, wenn wir über vierzig sind, und bis dahin könnten Aimee und Adam schon eigene Kinder haben es sei denn, sie haben zu viel Angst, welche zu bekommen, weil sie nicht wissen können, was sie ihnen möglicherweise vererben.« »Kev und ich hatten schon über Spendereier nachgedacht«, offenbarte ihr Jess.
»Aber dann bin ich zufällig schwanger geworden. Es war ein ziemlicher Schock, nicht wahr, Grace?« »Spendereier! Davon hast du mir nie etwas gesagt ...«
Hollys Gedanken überschlugen sich. Ihr war, als sei plötzlich all ihre familiäre Sicherheit zerstört worden. »Mein Gott, ja, du hast recht; ich hatte ja keine Ahnung ...« Verwirrt schwieg sie. Es tat weh, dass Jess sich ihr nicht anvertraut hatte. Warum nicht?
Sie hatte vermutlich mit Grace darüber geredet. All das ist in meiner eigenen Familie vor sich gegangen, dachte sie, und ich habe nichts davon gewusst. Ich hatte keinen Schimmer. Bin ich vielleicht besonders dumm? Oder haben sie auf einmal das Gefühl, sich mir nicht mehr anvertrauen zu können? Bin ich zu einer Außenseiterin geworden?
Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie eine unsichtbare Kluft zwischen sich und ihren Schwestern. Es war kein gutes Gefühl.
»Was ist mit dir und Steve?«, fragte sie Grace. »Du hast doch bestimmt auch Angst gehabt, als du schwanger warst.«
»Wir haben beschlossen, dass es das Risiko wert ist. Aber es war nicht leicht.«
Holly dachte an den Morgen vor der Beerdigung ihrer Mutter. Graue Gesichter und ein Himmel, der dazu passte. Holly war so in ihrer Trauer gefangen gewesen, dass sie kaum mitbekommen hatte, wie Grace sich übergeben musste. Erst später hatte sie zugegeben, dass sie keine Magenverstimmung gehabt hatte, sondern schwanger gewesen war.
Sie hatte es schon vorher sagen wollen, aber das Krematorium schien ihr nicht der passende Ort zu sein, um ein neues Leben anzukündigen. Rückblickend passte alles zusammen. Oder wie ihr Großonkel Bill es mit seinem üblichen Taktgefühl formuliert hatte: »Einer rein, der andere raus so ist das Leben. Ich bin bestimmt der Nächste.«
»Es tut mir leid. Ich ... ich habe einfach nicht nachgedacht«, stammelte Holly. »Wahrscheinlich war ich viel zu sehr damit beschäftigt, Mum zu vermissen.«
»Na, zumindest brauchst du dir über das Problem nie Sorgen zu machen«, bemerkte Grace kühl. Holly verstand nicht sofort.
»Wieso?«
»Ich meine, wenn du ein Baby bekommst.«
Grace warf ungeduldig ihre Locken zurück. »Schließlich bist du nicht mit Mum verwandt.«
Für einen kurzen Moment hätte Holly sie ohrfeigen können.
»Sie war genauso meine Mum wie deine!«, protestierte sie. Jess griff ein.
»Natürlich war sie das, Holly. Grace hat es sicher nicht so gemeint.« Sie blickte ihre Schwester an. »Stimmt's?«
Grace zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann lächelte sie und sagte: »Nein, natürlich nicht, Hol. Sei doch nicht so empfindlich. Ich meinte doch nur, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, die Krankheit zu vererben, weil du mit Mum nicht biologisch verwandt warst. Und ganz egal, wie du dazu stehst«, fuhr sie fort, bevor Holly noch etwas erwidern konnte, »es ist eben doch etwas anderes, oder?«
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Zoe Barnes
- 2010, 1, 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003517
- ISBN-13: 9783868003512
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