Wolf, N: Jesus
Die vier Evangelien der Bibel und die Apostelgeschichte bilden den dramatischen Urstoff des Abendlandes. Abtprimas Notker Wolf hat sich die Revitalisierung der Evangelien zur Aufgabe gemacht.
Das Ergebnis: Das Evangelium des 21....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Wolf, N: Jesus “
Die vier Evangelien der Bibel und die Apostelgeschichte bilden den dramatischen Urstoff des Abendlandes. Abtprimas Notker Wolf hat sich die Revitalisierung der Evangelien zur Aufgabe gemacht.
Das Ergebnis: Das Evangelium des 21. Jahrhunderts - quellengetreu, modern und literarisch anspruchsvoll, die Mythen und Dramatik des frühen Christentums neu belebend.
Das Ergebnis: Das Evangelium des 21. Jahrhunderts - quellengetreu, modern und literarisch anspruchsvoll, die Mythen und Dramatik des frühen Christentums neu belebend.
Klappentext zu „Wolf, N: Jesus “
Jesus, der moderne Mensch - eine RevitalisierungDie vier Evangelien der Bibel und die Apostelgeschichte bilden den dramatischen Urstoff des Abendlands. Aber sie werden heute kaum noch verstanden - weder in ihrer historischen Brisanz noch in ihrer theologischen Bedeutung oder ihrer literarischen Qualität.Notker Wolfs neues Buch ist ein ambitioniertes Projekt: Es leistet die Revitalisierung der Evangelien mit dem Anspruch, das Evangelium des 21. Jahrhunderts vorzulegen - quellengetreu, modern und literarisch anspruchsvoll geschrieben, die Mythen und die Dramatik des frühen Christentums neu belebend.Der große Roman des frühen Christentums: eine Art Biographie JesuDie Evangelien in einer modernen, zeitgenössischen Fassung
Lese-Probe zu „Wolf, N: Jesus “
Jesus von Notker Wolf und Leo G. LinderWomit anfangen?
Gibt es überhaupt einen Anfang? Oder gibt es nur günstige Zeitpunkte, in die Geschichte einzusteigen? Welcher käme dann infrage? Seine Taufe im Jordan? Seine Geburt in Betlehem? Oder soll man noch weiter zurückgehen, bis zu dem Erlebnis des Zacharias im Tempel? Ein Anfang ist vielleicht auch das nicht, aber immerhin der äußerste Punkt, zu dem sich die Geschichte im engeren Sinne zurückverfolgen lässt. Eine Vorgeschichte wäre es. Ein Seiteneingang, der uns aus der Verlegenheit helfen würde, etwas erzählen zu müssen, das möglicherweise keinen Anfang hat.
Das Erlebnis des Zacharias im Tempel also ...
Eine Vorgeschichte
Es war zu der Zeit, als sich die Herrschaft des Königs Herodes dem Ende zuneigte. Damals lebte im Bergland von Judäa ein Priester namens Zacharias mit seiner Frau Elisabet. Regelmäßig machte er sich von dort auf den Weg nach Jerusalem, wo er seit Jahr und Tag den Tempeldienst verrichtete. Beide, Zacharias wie Elisabet, waren dafür bekannt, ein gottgefälliges Leben zu führen, und wirklich ließen sie sich weder gegen Gott noch gegen die Menschen etwas zu Schulden kommen. Sie selbst hätten sich wohl glücklich geschätzt, wäre ihnen nicht der Wunsch versagt geblieben, Kinder zu haben. Zwar hatten sie sich irgendwann damit abgefunden, dass Elisabet unfruchtbar war, und jetzt war es ohnehin zu spät, denn beide waren bereits in vorgerücktem Alter, doch ihre Kinderlosigkeit lag ihnen wie ein Schatten auf der Seele.
... mehr
Eines Morgens trat Zacharias wie gewohnt seinen Dienst im Tempel an. Der Tempel war eine einzige Baustelle, seit Herodes angeordnet hatte, die Tempelanlage zu vergrößern. Ungeheure Mengen Erde waren bereits für die Erweiterung des Sockels aufgeschüttet worden, derzeit waren Hunderte von Arbeitern dabei, den ganzen Bereich mit neuen, massiven Umfassungsmauern zu befestigen, und an einigen Stellen gingen sie jetzt daran, den Mauerkronen Säulengänge aufzusetzen, die das riesige Areal in Zukunft nach allen Seiten hin begrenzen sollten. Als Günstling der Römer dachte Herodes eben in römischen Dimensionen, die Bauarbeiten zogen sich jedenfalls schon fast zwölf Jahre hin und ein Ende war nicht abzusehen, dennoch ging der Tempelbetrieb natürlich weiter, und Zacharias wurde an diesem Morgen für den Räucherdienst ausgelost. Er begab sich daraufhin in den abgeteilten, für Priester reservierten Innenbereich des Tempels, wo er wie üblich für sich war, und bereitete auf dem Altar die Räuchermischung aus Dufthölzern und Weihrauch vor, während das Volk draußen im Hof betend seine Rückkehr abwartete.
Er war in sein heiliges Geschäft vertieft, wobei die lange geübten Handgriffe und Verrichtungen ihm wenig Aufmerksamkeit abverlangten. Eher versetzte ihn die Feststellung, dass er seinen Dienst nach all der Zeit immer noch mit Hingabe und einem Gespür für die Anwesenheit des Höchsten ausübte, in eine feierliche Stimmung. Da sah er, als er aufblickte, rechts vom Altar eine Gestalt. Zacharias erschrak und hielt in der Bewegung inne. Im nächsten Moment öffnete der Fremde den Mund und sagte: »Fürchte dich nicht, Zacharias. Deine Gebete wurden erhört, deine Frau Elisabet wird einen Sohn zur Welt bringen. Nenne ihn Johannes. Für dich wird es eine große Freude sein, viele andere aber werden sich mit dir freuen, denn dein Sohn Johannes wird schon im Mutterleib vom Heiligen Geist erfüllt sein und dereinst mit der Kraft eines Propheten viele Verirrte zur Einsicht bringen und viele Söhne Israels auf den Weg des Herrn, ihres Gottes, zurückführen.« »Und das soll ich glauben?« entfuhr es Zacharias, mehr aus Verwirrtheit als aus unangebrachter Kühnheit. »Siehst du nicht, dass ich ein alter Mann bin? Und auch meine Frau ist in die Jahre gekommen.« »Ich bin Gabriel, ich stehe vor Gott«, unterbrach der andere ihn, »und ich wurde geschickt, um dir auszurichten, was ich soeben gesagt habe. Weil du meinen Worten keinen Glauben schenkst, wirst du von nun an stumm sein und schweigen müssen bis zu dem Tag, an dem dies alles eintrifft.« Damit verschwand er. Nach einer Weile wandte sich Zacharias wieder dem Räucheropfer zu, und der Raum füllte sich mit wohlriechenden Schwaden.
Unterdessen war das Volk draußen unruhig geworden, weil sich der Priester Zacharias noch nie so viel Zeit fürs Räuchern genommen hatte. Als er aber endlich heraustrat, dämmerte den Leuten, dass er eine Erscheinung gehabt haben musste, denn er war bleich, brachte kein Wort über die Lippen und verständigte sich mit ihnen durch Zeichen. Zacharias fasste sich indessen bald wieder, das Volk gewöhnte sich an seine Stummheit, und erst, als sein Turnus abgelaufen war, kehrte er nach Hause zurück. Einige Zeit darauf wurde Elisabet schwanger. »Der Herr hat meine Schmach doch noch getilgt«, jubelte sie.
Sechs Monate später wurde Gabriel, der Engel, erneut von Gott ausgesandt, diesmal zu einer Jungfrau namens Maria. Maria lebte in Nazaret, einem unbedeutenden Weiler im Hügelland von Galiläa, und als der Engel eintrat, war sie allein im Zimmer.
Sie blickte auf, und da stand er und sagte: »Sei gegrüßt, du Gesegnete, der Herr ist mit dir.« Sie erschrak nicht, aber es verwirrte sie, in dieser Art angesprochen zu werden, und sie fragte sich, was diese Begrüßung zu bedeuten habe. Der Engel ließ sie nicht lange im Unklaren. »Fürchte dich nicht, Maria«, fuhr er fort, »denn du hast Gnade vor Gott gefunden. Und nun sei darauf gefasst, schwanger zu werden und einen Sohn zu gebären. Gib ihm den Namen Jesus. Dieser Knabe wird der Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott wird ihm den Thron Davids geben. Als König wird er für alle Zeit über das Haus Jakob herrschen, und sein Königtum wird kein Ende nehmen.«
Das zu hören verstörte Maria nun doch. Schwanger sollte sie werden? Gewiss, sie war trotz ihrer Jugend bereits verlobt, mit einem Mann namens Josef, einem Bauhandwerker aus Nazaret, doch was bedeutete das? Es bedeutete jedenfalls nicht, dass sie schon mit einem Mann geschlafen hätte oder es in absehbarer Zeit tun würde. Sie zögerte, fasste sich dann ein Herz und sagte langsam: »Wie kann das, was du gesagt hast, eintreten, wenn kein Mann mich je berührt hat?« »Der Heilige Geist wird auf dich herabkommen«, erwiderte der Engel, »und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. So wird es kommen. Darum wird dein Kind auch Sohn Gottes genannt werden. Und noch etwas. Auch deine Verwandte Elisabet trägt einen Sohn in ihrem Leib, obwohl sie eigentlich schon zu alt dafür ist und jeder sie für unfruchtbar gehalten hat. Du siehst, bei Gott ist nichts unmöglich.«
Leicht zu verstehen war das nicht. Seine Worte erschienen Maria immer noch rätselhaft, und unklar blieb ihr, worauf sie sich einlassen sollte. Doch obwohl ihr Schicksal für sie nun im Ungewissen lag, wünschte sie, dass es so käme, und willigte ein. »Ich bin die Magd des Herrn«, sagte sie. »Was du gesagt hast, soll mit mir geschehen.« Und in der Stille, die daraufhin eintrat, entschwand der Engel ihrem Blick.
Maria brauchte eine gute Weile, bevor sie fähig war, einen Entschluss zu fassen. Als aber eine Woche verstrichen war, raffte sie sich auf und lief los, durch die Berge nach Süden. Sie hatte es eilig, sie wollte mit eigenen Augen sehen, was sie durch den Engel über Elisabet erfahren hatte. Am Haus des Zacharias angekommen, trat sie ein, traf Elisabet auch an und begrüßte sie herzlich. In diesem Augenblick kam eine heftige Erregung über ihre Tante, und sie schrie vor Freude auf: »Maria! Du bist gesegnet unter den Frauen! Und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Womit habe ich verdient, dass mich die Mutter meines Herrn besucht?« Und als Maria sie fragend anschaute, nahm Elisabet ihre Nichte in den Arm und sagte: »Stell dir vor! Eben, als du mich begrüßt hast ... Kaum hatte ich deine Stimme gehört, da hüpfte das Kind in meinem Leib vor Freude! Selig bist du, dass du dem Wort des Herrn geglaubt hast!« Worauf Maria in einen Zustand geriet, der dem ihrer Tante sehr ähnlich war, und ihrerseits ausrief: »Meine Seele lobe den Herrn! Mein Geist juble über Gott! Denn ich war ihm nicht zu niedrig! Er hat Großes an mir getan, und mit Israel hat er Erbarmen gehabt!« Beide waren in diesem Augenblick außer sich vor Freude.
Diese Freude wollte auch in den kommenden Wochen nicht von ihnen weichen, und sie wurde von Zacharias, als er eines Tages aus Jerusalem zurückkam, auf seine zurückhaltende und nach wie vor wortlose Art geteilt. Drei Monate blieb Maria bei ihnen, verbrachte viele Stunden mit Elisabet und kehrte dann nach Nazaret zurück.
Bald darauf war die Zeit für Elisabet gekommen, und sie brachte tatsächlich einen Sohn zur Welt. Ihre Nachbarn und Verwandten glaubten an ein Wunder, und das war es ja auch. Als das Haus dann acht Tage später voller Menschen war, weil die Beschneidung des Knaben anstand, gingen alle davon aus, dass er nun den Namen seines Vaters Zacharias erhalten würde. Doch Elisabet wehrte ab - nein, er werde Johannes heißen -, was unter ihren Gästen einen kleinen Tumult auslöste. »Wer, bitte, heißt denn in eurer Verwandtschaft Johannes?«, wollten sie von ihr wissen. »Gibt es da irgendeinen Johannes?« Nein, den gab es nicht, und jetzt musste Zacharias ran, der sich von Anfang an auf diesen Namen versteift hatte. Man reichte ihm ein Täfelchen, Zacharias schrieb etwas und hielt es hoch. ›Johannes soll er heißen‹ war auf der Tafel zu lesen. Im selben Augenblick fand er seine Sprache wieder und übertönte alle. »Gepriesen sei der Gott Israels«, brach es aus ihm heraus, »der sich von seinem Volk nicht abwendet, sondern seinen Knechten Erlösung verschafft, wie er es durch den Mund seiner Propheten verheißen hat! Der uns errettet aus der Hand unserer Feinde und des heiligen Bundes gedenkt, den er mit Abraham geschlossen hat, damit wir ihm allzeit in Heiligkeit und Gerechtigkeit dienen können!« Dann wandte er sich mit seiner wiedergewonnenen Sprachgewalt an das Neugeborene. »Und du, mein Kind, wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden und dem Herrn vorangehen und ihm den Weg bereiten, damit denen, die in der Finsternis sitzen und im Schatten des Todes ausharren, das Erbarmen unseres Gottes erscheint und ein jeder seinen Fuß auf den Weg des Friedens lenkt.«
Die Frage der Namensgebung war damit geklärt. Im Übrigen kam es so, wie Zacharias vorhergesagt hatte: Mit zunehmendem Alter machte sich der Geist Gottes bei dem Kind immer stärker bemerkbar, und als junger Mann zog sich Johannes in die Einsamkeit der Wüste zurück, die er erst wieder verließ, als ihm sein Auftrag klar geworden war.
Inzwischen war Maria von einer großen Sorge befreit worden. Bei aller Freude konnte sie sich nicht verhehlen, dass sie mit ihrer Schwangerschaft einige in Verlegenheit stürzen würde, allen voran ihren Verlobten Josef, und ihr Ausflug zu Elisabet hatte ihr zweifellos auch Zeit verschaffen sollen. Aber nun, nach ihrer Rückkehr, ließ es sich nicht mehr umgehen, und sie vertraute sich ihrem Verlobten an, ohne jedoch die Hintergründe aufzudecken. Josef war hochherzig genug, ihr jeden Vorwurf zu ersparen, erwog aber dennoch, die Verlobung in aller Stille zu lösen. In dieser Zeit hatte er des Nachts einen Traum. Ihm träumte, ein Engel des Herrn fordere ihn auf, Maria umgehend zu heiraten, da kein Grund vorliege, Marias Ehrbarkeit zu bezweifeln; ihre Schwangerschaft sei das Werk des Heiligen Geistes. Josef tat, wie ihm befohlen, nachdem Maria unter der Bedingung eingewilligt hatte, die Ehe einstweilen nicht zu vollziehen. Die Hochzeit wurde nicht groß gefeiert, es schöpfte auch niemand Verdacht - noch waren es ja vier Monate bis zur Niederkunft -, und da Josef seine Begierde zügelte, sah es so aus, als würde allen Beteiligten Unannehmlichkeiten erspart bleiben. Bis Quirinius, der römische Prokurator für die Provinz Syrien, bekannt machen ließ, dass der Kaiser Augustus in Rom eine Volkszählung angeordnet habe.
Das traf sich schlecht. Zur festgesetzten Zeit wäre Maria hochschwanger, wahrscheinlich kurz vor der Niederkunft, und ausgerechnet dann wären sie unterwegs, denn Josef müsste nach Betlehem reisen, um sich in der Stadt seiner Väter in die Steuerlisten einzutragen, und Maria in Nazaret zurückzulassen kam für ihn nicht infrage. Ein Ausweg bot sich indessen nicht. Das ganze Herrschaftsgebiet des Herodes war seit Jahrzehnten römisches Protektorat, ein wenn auch winziger Bestandteil des weltweiten römischen Imperiums, und somit verpflichtet, seinen Beitrag zur Wohlfahrt des Reiches zu leisten. Die Sache schuf allenthalben Verdruss, dergleichen hatte es in den jüdischen Landen noch nie gegeben, aber es half nichts, es gab kein Mittel gegen römische Beschlüsse. Als es so weit war, brachen Josef und Maria wie alle anderen auf und reisten über Jerusalem nach Betlehem, auf der Straße, die Maria knapp neun Monate zuvor schon einmal genommen hatte.
Als sie Betlehem erreichten, herrschte ein ziemliches Gedränge von Menschen, Packeseln und Reitkamelen in den Gassen. Und als sie sich schließlich zur Karawanserei durchgefragt hatten, wurde ihnen beschieden, dass alle Gasträume bis in den letzten Winkel belegt seien - mehr Reisende könne man beim besten Willen nicht aufnehmen. Josef machte den Knecht, der mit ihm redete, auf den Zustand seiner Frau aufmerksam. Der hatte daraufhin ein Einsehen und schlug den beiden vor, die Nacht im Anbau mit den Ställen zu verbringen. Irgendwo zwischen den Tieren werde sich wohl noch ein freies Plätzchen finden lassen, und für Stroh als Schlafunterlage sei dort auf alle Fälle gesorgt.
Dieser Anbau schloss sich gleich an die Gast- und Speiseräume an, und auch dort herrschte Hochbetrieb: Reit- und Packpferde, Esel und Kamele, aber auch Reisende, die nach ihren Tieren schauten, und Knechte, die Heu und Wasser herbeischafften. Immerhin, hier hatte man ein Dach über dem Kopf, eine Lage Stroh unter den Füßen, und in einer Ecke fand sich tatsächlich ein freies Plätzchen. Kaum hatte Josef ein provisorisches Lager hergerichtet, verspürte Maria die ersten Wehen. Und am selben Abend gebar sie ihren Sohn, unbemerkt zwischen den Tieren, wickelte ihn in die mitgebrachten Windeln und legte ihn in die nächste Futterkrippe.
Darüber war es Nacht geworden. Und wie in jeder Nacht saßen draußen vor der Stadt, auf freiem Feld, die Hirten an ihren Lagerfeuern und bewachten ihre Herden. Mit einem Mal leuchtete die Dunkelheit auf, und ein Engel des Herrn trat vor sie hin. Taghell war es ringsum, und als der Engel sah, dass die Hirten vor Furcht erstarrten, sagte er: »Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Retter geboren. Überzeugt euch, wenn ihr wollt, mit eigenen Augen davon; haltet nur nach einem Neugeborenen in einer Krippe Ausschau, und ihr werdet ihn finden.« Im nächsten Moment enthüllte sich dem Blick der Hirten die ganze Menge des himmlischen Heers, und Lobgesang brandete auf: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.« Dann überzog sich der Himmel erneut mit Finsternis und Sternen, und als einer der Hirten vorschlug, nun wirklich nach Betlehem hinüberzugehen und nachzuschauen, was dran sei an den Worten des Engels, da sprangen alle auf und liefen los.
Copyright © Gütersloher Verlagshaus 2012
Eines Morgens trat Zacharias wie gewohnt seinen Dienst im Tempel an. Der Tempel war eine einzige Baustelle, seit Herodes angeordnet hatte, die Tempelanlage zu vergrößern. Ungeheure Mengen Erde waren bereits für die Erweiterung des Sockels aufgeschüttet worden, derzeit waren Hunderte von Arbeitern dabei, den ganzen Bereich mit neuen, massiven Umfassungsmauern zu befestigen, und an einigen Stellen gingen sie jetzt daran, den Mauerkronen Säulengänge aufzusetzen, die das riesige Areal in Zukunft nach allen Seiten hin begrenzen sollten. Als Günstling der Römer dachte Herodes eben in römischen Dimensionen, die Bauarbeiten zogen sich jedenfalls schon fast zwölf Jahre hin und ein Ende war nicht abzusehen, dennoch ging der Tempelbetrieb natürlich weiter, und Zacharias wurde an diesem Morgen für den Räucherdienst ausgelost. Er begab sich daraufhin in den abgeteilten, für Priester reservierten Innenbereich des Tempels, wo er wie üblich für sich war, und bereitete auf dem Altar die Räuchermischung aus Dufthölzern und Weihrauch vor, während das Volk draußen im Hof betend seine Rückkehr abwartete.
Er war in sein heiliges Geschäft vertieft, wobei die lange geübten Handgriffe und Verrichtungen ihm wenig Aufmerksamkeit abverlangten. Eher versetzte ihn die Feststellung, dass er seinen Dienst nach all der Zeit immer noch mit Hingabe und einem Gespür für die Anwesenheit des Höchsten ausübte, in eine feierliche Stimmung. Da sah er, als er aufblickte, rechts vom Altar eine Gestalt. Zacharias erschrak und hielt in der Bewegung inne. Im nächsten Moment öffnete der Fremde den Mund und sagte: »Fürchte dich nicht, Zacharias. Deine Gebete wurden erhört, deine Frau Elisabet wird einen Sohn zur Welt bringen. Nenne ihn Johannes. Für dich wird es eine große Freude sein, viele andere aber werden sich mit dir freuen, denn dein Sohn Johannes wird schon im Mutterleib vom Heiligen Geist erfüllt sein und dereinst mit der Kraft eines Propheten viele Verirrte zur Einsicht bringen und viele Söhne Israels auf den Weg des Herrn, ihres Gottes, zurückführen.« »Und das soll ich glauben?« entfuhr es Zacharias, mehr aus Verwirrtheit als aus unangebrachter Kühnheit. »Siehst du nicht, dass ich ein alter Mann bin? Und auch meine Frau ist in die Jahre gekommen.« »Ich bin Gabriel, ich stehe vor Gott«, unterbrach der andere ihn, »und ich wurde geschickt, um dir auszurichten, was ich soeben gesagt habe. Weil du meinen Worten keinen Glauben schenkst, wirst du von nun an stumm sein und schweigen müssen bis zu dem Tag, an dem dies alles eintrifft.« Damit verschwand er. Nach einer Weile wandte sich Zacharias wieder dem Räucheropfer zu, und der Raum füllte sich mit wohlriechenden Schwaden.
Unterdessen war das Volk draußen unruhig geworden, weil sich der Priester Zacharias noch nie so viel Zeit fürs Räuchern genommen hatte. Als er aber endlich heraustrat, dämmerte den Leuten, dass er eine Erscheinung gehabt haben musste, denn er war bleich, brachte kein Wort über die Lippen und verständigte sich mit ihnen durch Zeichen. Zacharias fasste sich indessen bald wieder, das Volk gewöhnte sich an seine Stummheit, und erst, als sein Turnus abgelaufen war, kehrte er nach Hause zurück. Einige Zeit darauf wurde Elisabet schwanger. »Der Herr hat meine Schmach doch noch getilgt«, jubelte sie.
Sechs Monate später wurde Gabriel, der Engel, erneut von Gott ausgesandt, diesmal zu einer Jungfrau namens Maria. Maria lebte in Nazaret, einem unbedeutenden Weiler im Hügelland von Galiläa, und als der Engel eintrat, war sie allein im Zimmer.
Sie blickte auf, und da stand er und sagte: »Sei gegrüßt, du Gesegnete, der Herr ist mit dir.« Sie erschrak nicht, aber es verwirrte sie, in dieser Art angesprochen zu werden, und sie fragte sich, was diese Begrüßung zu bedeuten habe. Der Engel ließ sie nicht lange im Unklaren. »Fürchte dich nicht, Maria«, fuhr er fort, »denn du hast Gnade vor Gott gefunden. Und nun sei darauf gefasst, schwanger zu werden und einen Sohn zu gebären. Gib ihm den Namen Jesus. Dieser Knabe wird der Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott wird ihm den Thron Davids geben. Als König wird er für alle Zeit über das Haus Jakob herrschen, und sein Königtum wird kein Ende nehmen.«
Das zu hören verstörte Maria nun doch. Schwanger sollte sie werden? Gewiss, sie war trotz ihrer Jugend bereits verlobt, mit einem Mann namens Josef, einem Bauhandwerker aus Nazaret, doch was bedeutete das? Es bedeutete jedenfalls nicht, dass sie schon mit einem Mann geschlafen hätte oder es in absehbarer Zeit tun würde. Sie zögerte, fasste sich dann ein Herz und sagte langsam: »Wie kann das, was du gesagt hast, eintreten, wenn kein Mann mich je berührt hat?« »Der Heilige Geist wird auf dich herabkommen«, erwiderte der Engel, »und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. So wird es kommen. Darum wird dein Kind auch Sohn Gottes genannt werden. Und noch etwas. Auch deine Verwandte Elisabet trägt einen Sohn in ihrem Leib, obwohl sie eigentlich schon zu alt dafür ist und jeder sie für unfruchtbar gehalten hat. Du siehst, bei Gott ist nichts unmöglich.«
Leicht zu verstehen war das nicht. Seine Worte erschienen Maria immer noch rätselhaft, und unklar blieb ihr, worauf sie sich einlassen sollte. Doch obwohl ihr Schicksal für sie nun im Ungewissen lag, wünschte sie, dass es so käme, und willigte ein. »Ich bin die Magd des Herrn«, sagte sie. »Was du gesagt hast, soll mit mir geschehen.« Und in der Stille, die daraufhin eintrat, entschwand der Engel ihrem Blick.
Maria brauchte eine gute Weile, bevor sie fähig war, einen Entschluss zu fassen. Als aber eine Woche verstrichen war, raffte sie sich auf und lief los, durch die Berge nach Süden. Sie hatte es eilig, sie wollte mit eigenen Augen sehen, was sie durch den Engel über Elisabet erfahren hatte. Am Haus des Zacharias angekommen, trat sie ein, traf Elisabet auch an und begrüßte sie herzlich. In diesem Augenblick kam eine heftige Erregung über ihre Tante, und sie schrie vor Freude auf: »Maria! Du bist gesegnet unter den Frauen! Und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Womit habe ich verdient, dass mich die Mutter meines Herrn besucht?« Und als Maria sie fragend anschaute, nahm Elisabet ihre Nichte in den Arm und sagte: »Stell dir vor! Eben, als du mich begrüßt hast ... Kaum hatte ich deine Stimme gehört, da hüpfte das Kind in meinem Leib vor Freude! Selig bist du, dass du dem Wort des Herrn geglaubt hast!« Worauf Maria in einen Zustand geriet, der dem ihrer Tante sehr ähnlich war, und ihrerseits ausrief: »Meine Seele lobe den Herrn! Mein Geist juble über Gott! Denn ich war ihm nicht zu niedrig! Er hat Großes an mir getan, und mit Israel hat er Erbarmen gehabt!« Beide waren in diesem Augenblick außer sich vor Freude.
Diese Freude wollte auch in den kommenden Wochen nicht von ihnen weichen, und sie wurde von Zacharias, als er eines Tages aus Jerusalem zurückkam, auf seine zurückhaltende und nach wie vor wortlose Art geteilt. Drei Monate blieb Maria bei ihnen, verbrachte viele Stunden mit Elisabet und kehrte dann nach Nazaret zurück.
Bald darauf war die Zeit für Elisabet gekommen, und sie brachte tatsächlich einen Sohn zur Welt. Ihre Nachbarn und Verwandten glaubten an ein Wunder, und das war es ja auch. Als das Haus dann acht Tage später voller Menschen war, weil die Beschneidung des Knaben anstand, gingen alle davon aus, dass er nun den Namen seines Vaters Zacharias erhalten würde. Doch Elisabet wehrte ab - nein, er werde Johannes heißen -, was unter ihren Gästen einen kleinen Tumult auslöste. »Wer, bitte, heißt denn in eurer Verwandtschaft Johannes?«, wollten sie von ihr wissen. »Gibt es da irgendeinen Johannes?« Nein, den gab es nicht, und jetzt musste Zacharias ran, der sich von Anfang an auf diesen Namen versteift hatte. Man reichte ihm ein Täfelchen, Zacharias schrieb etwas und hielt es hoch. ›Johannes soll er heißen‹ war auf der Tafel zu lesen. Im selben Augenblick fand er seine Sprache wieder und übertönte alle. »Gepriesen sei der Gott Israels«, brach es aus ihm heraus, »der sich von seinem Volk nicht abwendet, sondern seinen Knechten Erlösung verschafft, wie er es durch den Mund seiner Propheten verheißen hat! Der uns errettet aus der Hand unserer Feinde und des heiligen Bundes gedenkt, den er mit Abraham geschlossen hat, damit wir ihm allzeit in Heiligkeit und Gerechtigkeit dienen können!« Dann wandte er sich mit seiner wiedergewonnenen Sprachgewalt an das Neugeborene. »Und du, mein Kind, wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden und dem Herrn vorangehen und ihm den Weg bereiten, damit denen, die in der Finsternis sitzen und im Schatten des Todes ausharren, das Erbarmen unseres Gottes erscheint und ein jeder seinen Fuß auf den Weg des Friedens lenkt.«
Die Frage der Namensgebung war damit geklärt. Im Übrigen kam es so, wie Zacharias vorhergesagt hatte: Mit zunehmendem Alter machte sich der Geist Gottes bei dem Kind immer stärker bemerkbar, und als junger Mann zog sich Johannes in die Einsamkeit der Wüste zurück, die er erst wieder verließ, als ihm sein Auftrag klar geworden war.
Inzwischen war Maria von einer großen Sorge befreit worden. Bei aller Freude konnte sie sich nicht verhehlen, dass sie mit ihrer Schwangerschaft einige in Verlegenheit stürzen würde, allen voran ihren Verlobten Josef, und ihr Ausflug zu Elisabet hatte ihr zweifellos auch Zeit verschaffen sollen. Aber nun, nach ihrer Rückkehr, ließ es sich nicht mehr umgehen, und sie vertraute sich ihrem Verlobten an, ohne jedoch die Hintergründe aufzudecken. Josef war hochherzig genug, ihr jeden Vorwurf zu ersparen, erwog aber dennoch, die Verlobung in aller Stille zu lösen. In dieser Zeit hatte er des Nachts einen Traum. Ihm träumte, ein Engel des Herrn fordere ihn auf, Maria umgehend zu heiraten, da kein Grund vorliege, Marias Ehrbarkeit zu bezweifeln; ihre Schwangerschaft sei das Werk des Heiligen Geistes. Josef tat, wie ihm befohlen, nachdem Maria unter der Bedingung eingewilligt hatte, die Ehe einstweilen nicht zu vollziehen. Die Hochzeit wurde nicht groß gefeiert, es schöpfte auch niemand Verdacht - noch waren es ja vier Monate bis zur Niederkunft -, und da Josef seine Begierde zügelte, sah es so aus, als würde allen Beteiligten Unannehmlichkeiten erspart bleiben. Bis Quirinius, der römische Prokurator für die Provinz Syrien, bekannt machen ließ, dass der Kaiser Augustus in Rom eine Volkszählung angeordnet habe.
Das traf sich schlecht. Zur festgesetzten Zeit wäre Maria hochschwanger, wahrscheinlich kurz vor der Niederkunft, und ausgerechnet dann wären sie unterwegs, denn Josef müsste nach Betlehem reisen, um sich in der Stadt seiner Väter in die Steuerlisten einzutragen, und Maria in Nazaret zurückzulassen kam für ihn nicht infrage. Ein Ausweg bot sich indessen nicht. Das ganze Herrschaftsgebiet des Herodes war seit Jahrzehnten römisches Protektorat, ein wenn auch winziger Bestandteil des weltweiten römischen Imperiums, und somit verpflichtet, seinen Beitrag zur Wohlfahrt des Reiches zu leisten. Die Sache schuf allenthalben Verdruss, dergleichen hatte es in den jüdischen Landen noch nie gegeben, aber es half nichts, es gab kein Mittel gegen römische Beschlüsse. Als es so weit war, brachen Josef und Maria wie alle anderen auf und reisten über Jerusalem nach Betlehem, auf der Straße, die Maria knapp neun Monate zuvor schon einmal genommen hatte.
Als sie Betlehem erreichten, herrschte ein ziemliches Gedränge von Menschen, Packeseln und Reitkamelen in den Gassen. Und als sie sich schließlich zur Karawanserei durchgefragt hatten, wurde ihnen beschieden, dass alle Gasträume bis in den letzten Winkel belegt seien - mehr Reisende könne man beim besten Willen nicht aufnehmen. Josef machte den Knecht, der mit ihm redete, auf den Zustand seiner Frau aufmerksam. Der hatte daraufhin ein Einsehen und schlug den beiden vor, die Nacht im Anbau mit den Ställen zu verbringen. Irgendwo zwischen den Tieren werde sich wohl noch ein freies Plätzchen finden lassen, und für Stroh als Schlafunterlage sei dort auf alle Fälle gesorgt.
Dieser Anbau schloss sich gleich an die Gast- und Speiseräume an, und auch dort herrschte Hochbetrieb: Reit- und Packpferde, Esel und Kamele, aber auch Reisende, die nach ihren Tieren schauten, und Knechte, die Heu und Wasser herbeischafften. Immerhin, hier hatte man ein Dach über dem Kopf, eine Lage Stroh unter den Füßen, und in einer Ecke fand sich tatsächlich ein freies Plätzchen. Kaum hatte Josef ein provisorisches Lager hergerichtet, verspürte Maria die ersten Wehen. Und am selben Abend gebar sie ihren Sohn, unbemerkt zwischen den Tieren, wickelte ihn in die mitgebrachten Windeln und legte ihn in die nächste Futterkrippe.
Darüber war es Nacht geworden. Und wie in jeder Nacht saßen draußen vor der Stadt, auf freiem Feld, die Hirten an ihren Lagerfeuern und bewachten ihre Herden. Mit einem Mal leuchtete die Dunkelheit auf, und ein Engel des Herrn trat vor sie hin. Taghell war es ringsum, und als der Engel sah, dass die Hirten vor Furcht erstarrten, sagte er: »Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Retter geboren. Überzeugt euch, wenn ihr wollt, mit eigenen Augen davon; haltet nur nach einem Neugeborenen in einer Krippe Ausschau, und ihr werdet ihn finden.« Im nächsten Moment enthüllte sich dem Blick der Hirten die ganze Menge des himmlischen Heers, und Lobgesang brandete auf: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.« Dann überzog sich der Himmel erneut mit Finsternis und Sternen, und als einer der Hirten vorschlug, nun wirklich nach Betlehem hinüberzugehen und nachzuschauen, was dran sei an den Worten des Engels, da sprangen alle auf und liefen los.
Copyright © Gütersloher Verlagshaus 2012
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Autoren-Porträt von Abtprimas Notker Wolf, Leo G. Linder
Notker Wolf OSB, Dr. phil., geb. 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu, studierte Philosophie und Theologie in Rom und München. 1961 trat er in die Benediktinerabtei St. Ottilien am Ammersee ein und wurde 1977 zu ihrem Erzabt gewählt. Seit 2000 ist er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien auf der ganzen Welt. 2008 wurde er durch Wiederwahl auf weitere fünf Jahre in dieser Funktion bestätigt. Leo G. Linder, Jahrgang 1948, studierte Film, Geschichte und Philosophie. Er hat als Regisseur zahlreiche Dokumentarfilme gedreht und bisher über dreißig Bücher zu kunst- und kulturgeschichtlichen Themen sowie Reise- und historische Jugendbücher veröffentlicht. Linders besonderes Interesse gilt Äthiopien und den Ländern des Nahen Ostens, in denen das Christentum schon früh Wurzeln schlug und sich bis heute erhalten hat.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Abtprimas Notker Wolf , Leo G. Linder
- 2012, 2. Aufl., 256 Seiten, 23 farbige Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Gütersloher Verlagshaus
- ISBN-10: 3579065785
- ISBN-13: 9783579065786
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