Wolfskind
Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto
Ein ergreifender und schier unglaublicher Bericht über ein kleines Mädchen, das seinem harten Schicksal trotzt und nie den Lebensmut verliert.
1945: In der erbarmungslosen Nachkriegszeit in Ostpreußen bleiben tausende...
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Produktinformationen zu „Wolfskind “
Ein ergreifender und schier unglaublicher Bericht über ein kleines Mädchen, das seinem harten Schicksal trotzt und nie den Lebensmut verliert.
1945: In der erbarmungslosen Nachkriegszeit in Ostpreußen bleiben tausende Kinder ohne Eltern zurück, die "Wolfskinder". Auch die kleine Liesabeth verliert auf der Flucht vor der Roten Armee Mutter und Geschwister. Allein irrt sie durch die Wälder und schlägt sich unter schrecklichen Bedingungen jahrelang durch - bis hin zu einer Odyssee durch die Sowjetunion. Doch so schwer die Zeit für Liesabeth auch war, eines hat sie nie verlassen: Die Hoffnung, ihre Familie irgendwann wieder zu sehen.
Lese-Probe zu „Wolfskind “
Wolfskind von Ingeborg JacobsStatt einer Einleitung:
Reporterglück
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Wäre der 1. Mai 1994 nicht auf einen Sonntag gefallen, wir hätten Liesabeth Otto, das »Wolfskind«, kaum kennengelernt. So aber hatten wir plötzlich Zeit, zu viel Zeit, ein Umstand, der bei Dreharbeiten äußerst selten eintritt. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin hatte - noch ganz in sowjetischer Tradition - kurzfristig angeordnet, nicht nur der Montag, sondern auch der Dienstag solle in ganz Russland arbeitsfrei sein.
Wir - mein Kameramann Hartmut Seifert, unser Videoin - genieur Wladislaw Wassiljew aus Sankt Petersburg und ich - waren damals zum zweiten Mal für das Fernsehen der Deutschen Welle im Gebiet Kaliningrad unterwegs. Unsere Termine in der Papierfabrik und im Amt für Umweltschutz waren schnell verschoben, doch was tun mit der freien Zeit? Kurz entschlossen nahmen wir ein weiteres Thema in Angriff: die Situation der Russlanddeutschen, die seit 1993 verstärkt aus den mittelasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan in das frühere Nord-Ostpreußen zugezogen waren.
Von den Kollegen des Kaliningrader Fernsehsenders Jantar - Bernstein - bekamen wir Namen und Adresse von Nikolai Zwetzich. Der Russlanddeutsche sei ein Vierteljahr zuvor mit seiner ganzen Familie aus Kasachstan gekommen, um sich hier, in dem ehemaligen Militärsperrgebiet, eine neue Existenz aufzubauen. Er habe viel zu erzählen. An den Feiertagen würden wir ihn sicher zu Hause antreffen, zumal es höchste Zeit sei, Kartoffeln zu setzen. Wir machten uns auf den Weg, über die alte Landstraße von Königsberg nach Pillau, das seit 1947 Baltijsk heißt und Heimat - hafen der russischen Baltischen Flotte ist.
Nikolai Zwetzich trafen wir nicht an. Er sei mit seiner Familie zu Verwandten gefahren, erklärten uns seine Nachbarn, aber am Ortsausgang von Ijewskoje, im zweiten Haus rechts hinter dem Kiosk, wohnten auch Deutsche. Ohne große Hoffnung, interessante Gesprächspartner zu finden, fuhren wir dorthin. Ich stieg allein aus, öffnete das Gartentörchen und ging auf das Haus zu. Eine junge Russin kam mir entgegen.
»Sind Sie Deutsche?«, fragte ich sie auf Russisch.
»Nein, aber die Mutter meiner Freundin Elena ist Deutsche. Elena ist gerade hier bei mir zu Besuch.«
Wir gingen ins Haus, bereits im Vorraum kam uns eine junge
Frau im roten Pullover entgegen. Sie war hochschwanger. »Ihre Mutter ist Deutsche, hat mir Ihre Freundin gesagt ... « »Ja, sie ist eine echte Deutsche«, antwortete sie.
»Und was für eine Deutsche ist Ihre Mutter? Ist sie Russlanddeutsche oder aus Deutschland zu Besuch gekommen?«
»Meine Mutter ist nach dem Krieg hiergeblieben, sie hat viel zu erzählen.«
Mit dieser Antwort hatte ich zuletzt gerechnet. Sollte ihre Mutter etwa eine der wenigen Dutzend Ostpreußen sein, die verbotenerweise nach dem Zweiten Weltkrieg im damaligen Sperrgebiet geblieben sind?
»Mutter ist zu Hause«, fuhr Elena fort, »gehen Sie doch hin, sie freut sich immer über Besuch aus Deutschland. Wir wohnen auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber im Haus Nummer 1 2. Sie erkennen es an den blau gestrichenen Fensterrahmen. Meine Mutter heißt Liesabeth Otto, sie arbeitet im Garten.«
Kamera und Mikrophon unter dem Arm gingen Hartmut Seifert und ich hinüber. Nummer 12 machte einen gepflegteren Eindruck als die Nachbarhäuser. Im Vorgarten blühten die ersten Narzissen und Tulpen, eine kleine rehbraune Lajka lief uns böse bellend entgegen. Hartmut hatte die Kamera auf der Schulter, bereit, sie sofort einzuschalten.
»Frau Otto?«
Keine Antwort.
Wir gingen weiter, rechter Hand öffnete sich eine Tür, eine ältere Frau mit kurzen dunkelbraunen Locken kam auf uns zu.
»Sind Sie Frau Otto und nach dem Zweiten Weltkrieg hiergeblieben?«, fragte ich auf Deutsch.
Liesabeth Otto sah nur die Kamera. »Ja, das bin ich. Aber nun mal langsam, junger Mann ... «
Unser Beinahe-Überfall war uns unangenehm. Wir entschuldigten uns, stellten uns kurz vor und fragten Frau Otto, ob sie ein wenig von sich erzählen wolle. Sie fasste sofort Vertrauen, weil wir Deutsche waren. »Den Russen hätte ich nichts erzählt«, erklärte sie uns später. Dann folgten ein paar Stichworte: geboren in Ostpreußen, Eltern verloren, Lager in Sibirien. »Das ist eine gute Geschichte«, raunte Hartmut mir zu. »Lass uns das machen!« Er ging kurz entschlossen in Richtung der Kaninchenställe. Liesabeth Otto und ich folgten ihm. Ohne weitere Absprachen begannen wir mit den Dreharbeiten.
»Sie sind also nach dem Zweiten Weltkrieg hiergeblieben, erzählen Sie doch mal ... « Ganz ohne Scheu vor der Kamera begann Liesabeth Otto auf Deutsch mit leicht ostpreußischem Akzent zu sprechen. Manche Wendungen klangen fremd, besonders dann, wenn Frau Otto wortwörtlich aus dem Russischen oder Litauischen in ihre Muttersprache übersetzte: »Ich bin in Wehlau geboren, irgendwo in der Nähe von Wehlau. Und in 1945, am 24. April 1945, ist meine Mutter verhungert, und ich hatte damals noch einen Bruder und eine Schwester, die Schwester ist dann auch verhungert. Ich bin nach Litauen. Ich war klein. Gott, wie viel war ich da? So sieben mit etwas. Tja, und dann bin ich rumgelaufen bis 1953 ... Ich habe gehört, heute werden die Kinder ›Wolfskinder‹ genannt. Irgendwo gebettelt, irgendwo geklaut ... Ja, das gab's auch. Und 1953 kam ich für die Klauerei, das war was zum Essen und von der Leine was zum Anziehen und so, Kleider - da kam ich dann in ein Kinderstraflager, ich hatte ja keine Familie. Das interessiert Sie, ja?«
Ja, das interessierte uns sehr. Liesabeth Otto hatte uns in ihren Bann geschlagen: »Wo waren Sie denn da?«
»Zwei Jahre war ich in der Stadt Kineschma, das ist Mittelrussland ... Noch vier Jahre lang war ich in Archangelsk, in NordArchangelsk, dann aber in einem Erwachsenenstraflager.«
»Und wie sind Sie dann da weggekommen?«
»Ja, ich wurde freigelassen, ich war groß genug, die haben gemeint, ja, die wird ja nie wieder klauen ... Ich habe gut gearbeitet ... Und tja, dann wurde ich freigelassen.«
»Und wo sind Sie anschließend hingegangen?«
»Ich bin dort geblieben, ich habe dort geheiratet, hier, meine Tochter, die ist in Sibirien geboren. Na ja, was habe ich noch zu erzählen? Ach ja, 1967, da habe ich mich getrennt von meinem Mann, der hat mich immer geschlagen und mir immer Vorwürfe gemacht, wegen des Krieges. Ich konnte das nicht ertragen ... Elena war gerade ein Jahr alt, ja, so wie Alexander jetzt ... «
Liesabeth Otto zeigte zu ihrem Enkel, der in seinem Kinderwagen lautstark auf sich aufmerksam machte. »Ja, ich komme, mein Schatz ... « beruhigte sie den Kleinen auf Deutsch und fuhr fort. »Und dann, 1980 ... Ja, inzwischen war es noch ganz interessant, ich hatte meinen Vater gefunden. Und meinen Bruder. Aber leider ist alles schiefgelaufen. Und 1980 bin ich mit meiner Tochter hier rübergekommen. Hier, das ist meine Heimat! Sascha, Sascha, na, was ist mit dir, du? «
Frau Otto drehte sich um, ging zu ihrem Enkel und hob das Fläschchen auf, das der Junge heruntergeworfen hatte. Ihre Tochter Elena kam dazu, Liesabeth Otto drückte ihr das Kind in den Arm und sprach weiter:
»Elena wurde immer Faschistin genannt, und auch unsere Kuh wurde immer Faschistin genannt ... Aber 1985, als der Gor - batschow zur Macht kam, da konnten wir schon so ein bisschen aufatmen. Plötzlich ist da was passiert, dass die Menschen ein bisschen höflicher wurden, vielleicht, weil viel im Fernsehen gesprochen wurde, im Radio und so, dass endlich einmal Schluss sein muss mit den Vorwürfen ... Wir haben ja keine Schuld, dass der Krieg war ... «
Liesabeth Otto war Deutsche, das stand für mich fest. Aber warum tat sie sich dieses Leben dort an? Wo doch mehr und mehr Deutschstämmige seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Bundesrepublik gekommen waren.
»Sie haben so viel Schlimmes hier in Nord-Ostpreußen erlebt, aber trotzdem wollen Sie nicht weg? «, fragte ich sie provozierend.
Die ältere Frau stand an der Regentonne, spülte das Fläschchen aus. Brüsk richtete sie sich auf: »Wohin denn? Ich habe doch eine gemischte Familie! Wohin? Das geht nicht. Hier, das ist meine Heimat, hier, das ist meine Erde. Verstehen Sie das? Ich habe gesagt, hier werde ich sterben ... Wissen Sie, ich muss noch die Abfälle für das Schweinchen kochen ... «
Mit dieser klaren Antwort ließ Liesabeth Otto uns stehen. Sie ging ein paar Schritte weiter in ihr kleines Gartenhäuschen. Dort hantierte sie mit Rübenschnitzen und Kartoffelschalen und erzählte dabei, welche Gemüse sie im Garten anbaute, dass sie Schweine, Hühner, Kaninchen und eine Kuh hielt. Das brauche man, um in diesen schweren Umbruchzeiten zurechtzukommen. Denn seitdem es die Sowjetunion nicht mehr gab, war auch das Gebiet Kaliningrad arm. Die meisten Felder lagen brach, und die Fabriken standen still. Ein Aufschwung war im Frühjahr 1994 noch lange nicht in Sicht.
Elena lud uns ins Haus ein, sie machte Tee. Während sich Liesabeth Otto um die Tiere kümmerte, unterhielten wir uns mit ihrer Tochter. Wir saßen, wie es in Russland üblich ist, in der kleinen Küche zusammen. Dann und wann legte Elena Holz nach in dem gemauerten Herd. Im Haus gab es keine Heizung, kein fließendes Wasser, die Wäsche wurde mit der Hand gewaschen. In einer Ecke des Gartens stand ein Plumpsklo.
Die junge Frau wollte mit uns Deutsch sprechen, sie habe nur selten Gelegenheit dazu, obwohl seit 1 99 1, seitdem das Gebiet Kaliningrad nicht mehr Sperrgebiet war, hin und wieder auch »echte Deutsche« bei ihnen vorbeikämen, Heimattouristen, die ihre alten Häuser und Erinnerungen suchten. Elena erzählte leise von den schweren Seiten im Leben ihrer Mutter, davon, dass sie, die kleine Deutsche, aufgehängt, mit Hunden gejagt, vergewaltigt und in einen Fluss geworfen worden war. Dazwischen krächzte ein blauer Wellensittich in seinem Käfig auf der Fensterbank.
»Wieso können Sie denn so gut Deutsch?«, fragte ich die junge Frau.
»Ich war doch mit meiner Mutter ein Jahr in Deutschland, da habe ich das gelernt.«
Nach einer Stunde warteten wir noch immer auf Frau Otto. Wir fanden sie hinter den Ställen, wo sie noch schnell das Feld für die Kartoffeln umgrub, sechshundert Quadratmeter waren zu bearbeiten. Alle Steine, die sie aus dem sandigen Boden holte, warf sie in eine Zinkwanne. Die kräftige Frau atmete schwer, aber war sichtlich stolz darauf, dass sie ihre Familie aus eigener Kraft ernähren konnte. Einen Mann gab es nicht im Haus. »Manchmal, wenn es zu viel Männerarbeit gibt, dann hole ich mir Hilfe, Michail, ein älterer Mann, der seine Familie in Weißrussland hat, hilft mir gegen Bezahlung. Aber meistens komme ich allein zurecht. Ich habe noch Kraft genug.«
Liesabeth Otto versprach, nach einer Zigarette in der Sommerküche ins Haus zu kommen. Als sie wenig später mit uns am Tisch saß, bot sie uns gleich das »Du« an: »Ihr beide könntet ja meine Kinder sein.« Dann ging Liesabeth zum Auto, um unseren Videoingenieur Wladislaw Wassiljew ins Haus zu holen, der Fahrer wollte im Auto warten.
Wir saßen noch einige Zeit zusammen, ich übersetzte, wenn nötig, ins Russische. Dann verabredeten wir uns für den nächsten Tag, wir wollten wiederkommen und mit Liesabeth in ihre alte Heimatstadt Wehlau, heute Snamensk, fahren. Zwei Jahre zuvor sei sie mit einer gebürtigen Ostpreußin das erste Mal dort gewesen, erzählte sie, seitdem nicht mehr. Es stünden noch viele alte deutsche Gebäude, die eiserne Brücke über den Fluss Alle sei unzerstört, von der Pflegerkolonie, in der sie bis zur Flucht im Januar 1945 mit Mutter und Geschwistern gelebt hatte, seien wie durch ein Wunder alle Häuser erhalten geblieben. Auch den Wasserturm und die Ruine der Kirche, in der sie getauft worden sei, gebe es noch. Vom Turm aus habe man einen schönen Blick über die Pregelwiesen Richtung Königsberg.
Eine Bedingung stellte Liesabeth an die Fortführung der Dreharbeiten: Unser russischer Videoingenieur dürfe nicht mitkommen. »Der hat mir eben so komische Fragen gestellt, vielleicht hält er mich für eine Verbrecherin, ich traue ihm nicht.«
Auf dem Rückweg in die Ratshof-Villa am Westrand von Kaliningrad schwiegen alle. Erst als wir uns am späten Abend das Drehmaterial anschauten und bis tief in die Nacht diskutierten, brachte Kameramann Hartmut Seifert unsere Eindrücke auf den Punkt: »Ist dir klar, dass das eine ganz besondere Lebensgeschichte ist? Nicht nur ein Fünfminutenstück für die Deutsche Welle, das niemand sieht? Liesabeth hat einen eigenen Film verdient.«
Aus unserem ersten Zusammentreffen mit Liesabeth vor nunmehr knapp sechzehn Jahren wurde eine Freundschaft, die bis zum heutigen Tag anhält. Eine Reportage für das ZDF mit dem Titel »Irgendwo gebettelt, irgendwo geklaut ... « und der Dokumentarfilm »Die Eiserne Maria« für Arte sind in dieser Zeit entstanden, zwei Filme, in denen wir Liesabeths Biographie nur in Facetten zeigen konnten.
Dieses Buch berichtet nun von all den Etappen dieses einzig - artigen Lebens zwischen Ost und West, die Liesabeth Otto mir anvertraut hat.
Ingeborg Jacobs
1.
1945 Letzte Monate
in Ostpreußen
Mein bestes Leben ...
Freiwillig wäre ich wohl nie so tief in meine Vergangenheit zu - rückgegangen, auch niemals an die Orte zurückgekehrt, mit denen ich böse Erinnerungen verbinde. Ich dachte lange Jahre, es sei besser, all das Schlimme zu vergessen. Doch dann habe ich mich auf die Reise gemacht, mal nur mit Worten und in Gedanken, ein paar Mal habe ich aber auch die Tasche gepackt und bin mit den beiden Journalisten auf Erkundungsfahrt gegangen. Ich habe ihnen vertraut, sonst hätte ich bei dem Film nicht mitgemacht. Aber keiner von uns konnte ahnen, wie schmerzhaft das für mich sein würde. Eine einzige Bedingung hatte ich gestellt, ich wollte alle Bilder haben, die sie aufnahmen. Zur Erinnerung, für mich und für meine Enkel.
In der Nacht vor Drehbeginn konnte ich kaum schlafen. Ich habe sehr schlecht geträumt, vom Krieg und all dem, was danach passiert ist. Das war mir lange nicht mehr passiert und hätte mir deshalb eine Warnung sein sollen.
Unsere erste Fahrt - gleich einen Tag, nachdem ich Ingeborg Jacobs und Hartmut Seifert kennengelernt hatte - ging quer durch Königsberg, am Hafen vorbei, wo ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern auf einen kleinen Kohlenkahn gestiegen bin, der uns nach Danzig brachte. Das war auf der Flucht im Januar 1945, darüber habe ich viel von meinem Bruder Manfred erfahren, als ich in den siebziger Jahren in Deutschland war. Später habe ich dann alle Bücher über Königsberg und Ostpreußen gelesen, die ich in die Hände bekam, und, wann immer ich Gelegenheit hatte, mit alten Ostpreußen gesprochen, ich wollte so viel wie möglich über meine Heimat wissen.
Links und rechts der Straße, die schon zu deutscher Zeit Königsberg mit Vilnius verband, das damals Wilna hieß, sahen wir viele alte deutsche Häuser. Die Russen kennen solche Bauten aus roten Backsteinen nicht. Auch die geschwungene Dachform ist typisch deutsch. In der Ferne entdeckten wir immer wieder hoch aufragende, jahrhundertealte spitze Kirchtürme. All das war einmal für die Ewigkeit gebaut worden. Inzwischen weiß ich, solch alte Gebäude gibt es in Russland nur sehr wenige.
Den Kirchturm meiner Heimatstadt Wehlau sahen wir bereits, als wir über die eiserne Brücke, die »lange Brücke«, fuhren, die sich weit über die Alle-Auen spannt. Turm und Kirchenschiff sind ohne Dach, dabei war das Gebäude wie die ganze Stadt nach der Einnahme durch die Russen am 24. Januar 1945 fast unversehrt geblieben. Später wurde das Gotteshaus als Speicher genutzt, bis man in den sechziger Jahren versuchte, es zu sprengen. Doch das gelang ebenso wenig wie die Sprengung des Königsberger Schlosses ungefähr zur selben Zeit. Der sechshundert Jahre alte Kirchenbau in Wehlau hielt der Exlposion stand. Nur das Deckengewölbe stürzte ein, und mit ihm das Dach.
Das Wehlau, das ich von vielen alten Fotos und Postkarten kenne, eine typische ostpreußische Kleinstadt mit mittelalter - lichen Stadttoren, Kirchen, Verwaltungsgebäuden und Geschäften, ist heute kaum mehr zu entdecken. 1939 hatte Wehlau weit über achttausend Einwohner, die nur selten in die etwa fünfzig Kilometer entfernte Hauptstadt Königsberg fahren mussten.
Mein Elternhaus fanden wir ganz leicht. Es liegt in der Pflegerkolonie, die in den dreißiger Jahren für die Angestellten der Heil-und Pflegeanstalt Allenberg gebaut worden war. Ihren ursprünglichen Namen »Provinzial-Irrenanstalt« hatte sie da bereits abgelegt. Mit fast fünfhundert Bediensteten gehörte die Klinik für etwa tausendvierhundert Patienten zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Mein Vater hat viele Jahre als Krankenpfleger in der Irrenanstalt gearbeitet, deshalb hatte er diese Wohnung auch bekommen.
In den dreißiger Jahren war die Siedlung sicherlich sehr modern: Neben vier großen Zweifamilienhäusern, in denen vor allem junge Ärzte wohnten, gehörten zehn Reihenhäuser mit je vier Wohneinheiten auf zwei Etagen dazu. Sie besaßen jeweils einen eigenen Eingang, einen Hühnerstall und ein Plumpsklo und gruppierten sich in einem Dreieck um einen mit Bäumen bepflanzten Innenhof. An einer Dreiecksspitze lag ein Gemeinschaftsbau mit Waschküchen, Trockenräumen und Mangel für alle Parteien. Auf dem davor liegenden Spielplatz konnten die Kinder unter den Augen ihrer Mütter spielen. Wir Ottos wohnten in einem Eckhaus, das direkt an der Straße liegt, die zum Nachbardorf Paterswalde führt.
Als ich 1994 mit den Journalisten dorthin kam, war das Haus sehr heruntergekommen. Es fiel mir schwer, ihnen die Wohnung zu zeigen. Nur langsam konnte ich mich dem Gebäude nähern. Irgendwo spielte ein Radio russische Musik, Lieder aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, der in Russland bis heute »Großer Vaterländischer Krieg« heißt. Die Menschen beachteten uns nicht. »Da rechts von der blauen Tür, da war unser Wohnzimmer, und auf der anderen Seite war die Küche«, erklärte ich leise, vielleicht weil ich damals ein wenig Angst hatte, die Russen könnten mich hören und verstehen, obwohl ich Deutsch sprach. Ich strich mit beiden Händen über die Wand an der Eingangstür. Dann setzte ich mich auf die einfache Bank, die vor dem Haus stand. »Jetzt kann ich wenigstens herkommen und die Wand anfassen. Ich weiß nicht, ob du das verstehst«, sagte ich zu Ingeborg, »aber ich habe hier meine ersten Schritte gemacht, hier war doch meine Mutti. Das war mein bestes Leben!« Obwohl ich schon sechsundfünfzig Jahre alt war, musste ich weinen, das war mir unangenehm.
Gerne wäre ich ins Haus hineingegangen, doch die Russen, die seit 1947 darin wohnten, waren nicht zu Hause. Sie seien als Kinder aus dem Leningrader Gebiet nach Wehlau gekommen, erzählte uns eine Ukrainerin aus dem Nebenhaus. Wir beschlossen, ein anderes Mal wiederzukommen, und fuhren nach Ijewskoje, in das alte Widitten, zurück.
Als wir bei uns in der Küche saßen und Tee tranken, holte ich den Karton mit den alten Fotos hervor, um sie den Journalisten zu zeigen: das Hochzeitsbild meiner Eltern, dann ein Foto, das mich mit etwa vier Jahren vor dem Gartenzaun meiner Großeltern im ostpreußischen Friedland zeigt, ein entschlossen, sogar ein wenig trotzig dreinblickendes kleines Mädchen mit geballten Fäustchen und Hahnenkamm. Auf einem Bild bin ich mit meinen Geschwistern Christel und Manfred zu sehen, ich bin die Kleinste von uns dreien und kaum ein Jahr alt. » Christel und Manfred sind nur meine Halbgeschwister«, erklärte ich. »Die erste Frau meines Vaters ist gestorben. Vater suchte eine Mutter für seine Kinder, deshalb hat er meine Mutti geheiratet. Mich wollte er nicht.« Alte Farbfotos mit meiner Tochter Elena, meinem Vater und meinem Bruder Ende der siebziger Jahre in Deutschland: keine glücklichen Gesichter. Auf einem großen Foto steht Elena lächelnd inmitten einer Schulklasse. Auf die Rückseite hat sie mit Bleistift in ihrer Mädchenschrift »Celle 1976« geschrieben. Es gab noch ein paar Fotos von mir, rauchend und lachend mit Arbeitskameradinnen, ein anderes mit der kleinen Elena auf dem Arm. Und das Foto von meinem toten kleinen Mädchen im offenen Sarg. Nonna hatte ich vor Elena bekommen, aber sie war herzkrank und ist vor der Operation, die vielleicht ihr Leben hätte retten können, gestorben.
Ingeborg und Hartmut stellten mir viele Fragen, und so war es schon lange dunkel, als wir uns verabschiedeten. Am Abend vor ihrer Rückreise nach Deutschland kamen sie noch mal zum Essen. Während wir am Tisch saßen, Bier tranken und das Huhn verspeisten, das ich geschlachtet und mit viel Knoblauch und Fett knusprig gebraten hatte, erzählten mir die beiden von ihrem Plan, einen Film über mein Leben zu machen. Sie wollten versuchen, zu meinem Geburtstag Anfang Oktober wiederzukommen, um die Dreharbeiten fortzusetzen. »Mit euch mache ich das!«, erklärte ich sofort. »Aber schreibt mir mal, damit ich weiß, ob und wann ihr im Herbst kommt.« Niemand in unserer Nachbarschaft hatte damals Telefon. Und Mobiltelefone gab es noch gar nicht. Kein Telefon - heute kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie wir zurechtgekommen sind.
Und dann hielt ich Ende September ein Telegramm aus Deutschland in den Händen: »Wir kommen am 12. Oktober und machen den Film über Dich ... «
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wäre der 1. Mai 1994 nicht auf einen Sonntag gefallen, wir hätten Liesabeth Otto, das »Wolfskind«, kaum kennengelernt. So aber hatten wir plötzlich Zeit, zu viel Zeit, ein Umstand, der bei Dreharbeiten äußerst selten eintritt. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin hatte - noch ganz in sowjetischer Tradition - kurzfristig angeordnet, nicht nur der Montag, sondern auch der Dienstag solle in ganz Russland arbeitsfrei sein.
Wir - mein Kameramann Hartmut Seifert, unser Videoin - genieur Wladislaw Wassiljew aus Sankt Petersburg und ich - waren damals zum zweiten Mal für das Fernsehen der Deutschen Welle im Gebiet Kaliningrad unterwegs. Unsere Termine in der Papierfabrik und im Amt für Umweltschutz waren schnell verschoben, doch was tun mit der freien Zeit? Kurz entschlossen nahmen wir ein weiteres Thema in Angriff: die Situation der Russlanddeutschen, die seit 1993 verstärkt aus den mittelasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan in das frühere Nord-Ostpreußen zugezogen waren.
Von den Kollegen des Kaliningrader Fernsehsenders Jantar - Bernstein - bekamen wir Namen und Adresse von Nikolai Zwetzich. Der Russlanddeutsche sei ein Vierteljahr zuvor mit seiner ganzen Familie aus Kasachstan gekommen, um sich hier, in dem ehemaligen Militärsperrgebiet, eine neue Existenz aufzubauen. Er habe viel zu erzählen. An den Feiertagen würden wir ihn sicher zu Hause antreffen, zumal es höchste Zeit sei, Kartoffeln zu setzen. Wir machten uns auf den Weg, über die alte Landstraße von Königsberg nach Pillau, das seit 1947 Baltijsk heißt und Heimat - hafen der russischen Baltischen Flotte ist.
Nikolai Zwetzich trafen wir nicht an. Er sei mit seiner Familie zu Verwandten gefahren, erklärten uns seine Nachbarn, aber am Ortsausgang von Ijewskoje, im zweiten Haus rechts hinter dem Kiosk, wohnten auch Deutsche. Ohne große Hoffnung, interessante Gesprächspartner zu finden, fuhren wir dorthin. Ich stieg allein aus, öffnete das Gartentörchen und ging auf das Haus zu. Eine junge Russin kam mir entgegen.
»Sind Sie Deutsche?«, fragte ich sie auf Russisch.
»Nein, aber die Mutter meiner Freundin Elena ist Deutsche. Elena ist gerade hier bei mir zu Besuch.«
Wir gingen ins Haus, bereits im Vorraum kam uns eine junge
Frau im roten Pullover entgegen. Sie war hochschwanger. »Ihre Mutter ist Deutsche, hat mir Ihre Freundin gesagt ... « »Ja, sie ist eine echte Deutsche«, antwortete sie.
»Und was für eine Deutsche ist Ihre Mutter? Ist sie Russlanddeutsche oder aus Deutschland zu Besuch gekommen?«
»Meine Mutter ist nach dem Krieg hiergeblieben, sie hat viel zu erzählen.«
Mit dieser Antwort hatte ich zuletzt gerechnet. Sollte ihre Mutter etwa eine der wenigen Dutzend Ostpreußen sein, die verbotenerweise nach dem Zweiten Weltkrieg im damaligen Sperrgebiet geblieben sind?
»Mutter ist zu Hause«, fuhr Elena fort, »gehen Sie doch hin, sie freut sich immer über Besuch aus Deutschland. Wir wohnen auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber im Haus Nummer 1 2. Sie erkennen es an den blau gestrichenen Fensterrahmen. Meine Mutter heißt Liesabeth Otto, sie arbeitet im Garten.«
Kamera und Mikrophon unter dem Arm gingen Hartmut Seifert und ich hinüber. Nummer 12 machte einen gepflegteren Eindruck als die Nachbarhäuser. Im Vorgarten blühten die ersten Narzissen und Tulpen, eine kleine rehbraune Lajka lief uns böse bellend entgegen. Hartmut hatte die Kamera auf der Schulter, bereit, sie sofort einzuschalten.
»Frau Otto?«
Keine Antwort.
Wir gingen weiter, rechter Hand öffnete sich eine Tür, eine ältere Frau mit kurzen dunkelbraunen Locken kam auf uns zu.
»Sind Sie Frau Otto und nach dem Zweiten Weltkrieg hiergeblieben?«, fragte ich auf Deutsch.
Liesabeth Otto sah nur die Kamera. »Ja, das bin ich. Aber nun mal langsam, junger Mann ... «
Unser Beinahe-Überfall war uns unangenehm. Wir entschuldigten uns, stellten uns kurz vor und fragten Frau Otto, ob sie ein wenig von sich erzählen wolle. Sie fasste sofort Vertrauen, weil wir Deutsche waren. »Den Russen hätte ich nichts erzählt«, erklärte sie uns später. Dann folgten ein paar Stichworte: geboren in Ostpreußen, Eltern verloren, Lager in Sibirien. »Das ist eine gute Geschichte«, raunte Hartmut mir zu. »Lass uns das machen!« Er ging kurz entschlossen in Richtung der Kaninchenställe. Liesabeth Otto und ich folgten ihm. Ohne weitere Absprachen begannen wir mit den Dreharbeiten.
»Sie sind also nach dem Zweiten Weltkrieg hiergeblieben, erzählen Sie doch mal ... « Ganz ohne Scheu vor der Kamera begann Liesabeth Otto auf Deutsch mit leicht ostpreußischem Akzent zu sprechen. Manche Wendungen klangen fremd, besonders dann, wenn Frau Otto wortwörtlich aus dem Russischen oder Litauischen in ihre Muttersprache übersetzte: »Ich bin in Wehlau geboren, irgendwo in der Nähe von Wehlau. Und in 1945, am 24. April 1945, ist meine Mutter verhungert, und ich hatte damals noch einen Bruder und eine Schwester, die Schwester ist dann auch verhungert. Ich bin nach Litauen. Ich war klein. Gott, wie viel war ich da? So sieben mit etwas. Tja, und dann bin ich rumgelaufen bis 1953 ... Ich habe gehört, heute werden die Kinder ›Wolfskinder‹ genannt. Irgendwo gebettelt, irgendwo geklaut ... Ja, das gab's auch. Und 1953 kam ich für die Klauerei, das war was zum Essen und von der Leine was zum Anziehen und so, Kleider - da kam ich dann in ein Kinderstraflager, ich hatte ja keine Familie. Das interessiert Sie, ja?«
Ja, das interessierte uns sehr. Liesabeth Otto hatte uns in ihren Bann geschlagen: »Wo waren Sie denn da?«
»Zwei Jahre war ich in der Stadt Kineschma, das ist Mittelrussland ... Noch vier Jahre lang war ich in Archangelsk, in NordArchangelsk, dann aber in einem Erwachsenenstraflager.«
»Und wie sind Sie dann da weggekommen?«
»Ja, ich wurde freigelassen, ich war groß genug, die haben gemeint, ja, die wird ja nie wieder klauen ... Ich habe gut gearbeitet ... Und tja, dann wurde ich freigelassen.«
»Und wo sind Sie anschließend hingegangen?«
»Ich bin dort geblieben, ich habe dort geheiratet, hier, meine Tochter, die ist in Sibirien geboren. Na ja, was habe ich noch zu erzählen? Ach ja, 1967, da habe ich mich getrennt von meinem Mann, der hat mich immer geschlagen und mir immer Vorwürfe gemacht, wegen des Krieges. Ich konnte das nicht ertragen ... Elena war gerade ein Jahr alt, ja, so wie Alexander jetzt ... «
Liesabeth Otto zeigte zu ihrem Enkel, der in seinem Kinderwagen lautstark auf sich aufmerksam machte. »Ja, ich komme, mein Schatz ... « beruhigte sie den Kleinen auf Deutsch und fuhr fort. »Und dann, 1980 ... Ja, inzwischen war es noch ganz interessant, ich hatte meinen Vater gefunden. Und meinen Bruder. Aber leider ist alles schiefgelaufen. Und 1980 bin ich mit meiner Tochter hier rübergekommen. Hier, das ist meine Heimat! Sascha, Sascha, na, was ist mit dir, du? «
Frau Otto drehte sich um, ging zu ihrem Enkel und hob das Fläschchen auf, das der Junge heruntergeworfen hatte. Ihre Tochter Elena kam dazu, Liesabeth Otto drückte ihr das Kind in den Arm und sprach weiter:
»Elena wurde immer Faschistin genannt, und auch unsere Kuh wurde immer Faschistin genannt ... Aber 1985, als der Gor - batschow zur Macht kam, da konnten wir schon so ein bisschen aufatmen. Plötzlich ist da was passiert, dass die Menschen ein bisschen höflicher wurden, vielleicht, weil viel im Fernsehen gesprochen wurde, im Radio und so, dass endlich einmal Schluss sein muss mit den Vorwürfen ... Wir haben ja keine Schuld, dass der Krieg war ... «
Liesabeth Otto war Deutsche, das stand für mich fest. Aber warum tat sie sich dieses Leben dort an? Wo doch mehr und mehr Deutschstämmige seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Bundesrepublik gekommen waren.
»Sie haben so viel Schlimmes hier in Nord-Ostpreußen erlebt, aber trotzdem wollen Sie nicht weg? «, fragte ich sie provozierend.
Die ältere Frau stand an der Regentonne, spülte das Fläschchen aus. Brüsk richtete sie sich auf: »Wohin denn? Ich habe doch eine gemischte Familie! Wohin? Das geht nicht. Hier, das ist meine Heimat, hier, das ist meine Erde. Verstehen Sie das? Ich habe gesagt, hier werde ich sterben ... Wissen Sie, ich muss noch die Abfälle für das Schweinchen kochen ... «
Mit dieser klaren Antwort ließ Liesabeth Otto uns stehen. Sie ging ein paar Schritte weiter in ihr kleines Gartenhäuschen. Dort hantierte sie mit Rübenschnitzen und Kartoffelschalen und erzählte dabei, welche Gemüse sie im Garten anbaute, dass sie Schweine, Hühner, Kaninchen und eine Kuh hielt. Das brauche man, um in diesen schweren Umbruchzeiten zurechtzukommen. Denn seitdem es die Sowjetunion nicht mehr gab, war auch das Gebiet Kaliningrad arm. Die meisten Felder lagen brach, und die Fabriken standen still. Ein Aufschwung war im Frühjahr 1994 noch lange nicht in Sicht.
Elena lud uns ins Haus ein, sie machte Tee. Während sich Liesabeth Otto um die Tiere kümmerte, unterhielten wir uns mit ihrer Tochter. Wir saßen, wie es in Russland üblich ist, in der kleinen Küche zusammen. Dann und wann legte Elena Holz nach in dem gemauerten Herd. Im Haus gab es keine Heizung, kein fließendes Wasser, die Wäsche wurde mit der Hand gewaschen. In einer Ecke des Gartens stand ein Plumpsklo.
Die junge Frau wollte mit uns Deutsch sprechen, sie habe nur selten Gelegenheit dazu, obwohl seit 1 99 1, seitdem das Gebiet Kaliningrad nicht mehr Sperrgebiet war, hin und wieder auch »echte Deutsche« bei ihnen vorbeikämen, Heimattouristen, die ihre alten Häuser und Erinnerungen suchten. Elena erzählte leise von den schweren Seiten im Leben ihrer Mutter, davon, dass sie, die kleine Deutsche, aufgehängt, mit Hunden gejagt, vergewaltigt und in einen Fluss geworfen worden war. Dazwischen krächzte ein blauer Wellensittich in seinem Käfig auf der Fensterbank.
»Wieso können Sie denn so gut Deutsch?«, fragte ich die junge Frau.
»Ich war doch mit meiner Mutter ein Jahr in Deutschland, da habe ich das gelernt.«
Nach einer Stunde warteten wir noch immer auf Frau Otto. Wir fanden sie hinter den Ställen, wo sie noch schnell das Feld für die Kartoffeln umgrub, sechshundert Quadratmeter waren zu bearbeiten. Alle Steine, die sie aus dem sandigen Boden holte, warf sie in eine Zinkwanne. Die kräftige Frau atmete schwer, aber war sichtlich stolz darauf, dass sie ihre Familie aus eigener Kraft ernähren konnte. Einen Mann gab es nicht im Haus. »Manchmal, wenn es zu viel Männerarbeit gibt, dann hole ich mir Hilfe, Michail, ein älterer Mann, der seine Familie in Weißrussland hat, hilft mir gegen Bezahlung. Aber meistens komme ich allein zurecht. Ich habe noch Kraft genug.«
Liesabeth Otto versprach, nach einer Zigarette in der Sommerküche ins Haus zu kommen. Als sie wenig später mit uns am Tisch saß, bot sie uns gleich das »Du« an: »Ihr beide könntet ja meine Kinder sein.« Dann ging Liesabeth zum Auto, um unseren Videoingenieur Wladislaw Wassiljew ins Haus zu holen, der Fahrer wollte im Auto warten.
Wir saßen noch einige Zeit zusammen, ich übersetzte, wenn nötig, ins Russische. Dann verabredeten wir uns für den nächsten Tag, wir wollten wiederkommen und mit Liesabeth in ihre alte Heimatstadt Wehlau, heute Snamensk, fahren. Zwei Jahre zuvor sei sie mit einer gebürtigen Ostpreußin das erste Mal dort gewesen, erzählte sie, seitdem nicht mehr. Es stünden noch viele alte deutsche Gebäude, die eiserne Brücke über den Fluss Alle sei unzerstört, von der Pflegerkolonie, in der sie bis zur Flucht im Januar 1945 mit Mutter und Geschwistern gelebt hatte, seien wie durch ein Wunder alle Häuser erhalten geblieben. Auch den Wasserturm und die Ruine der Kirche, in der sie getauft worden sei, gebe es noch. Vom Turm aus habe man einen schönen Blick über die Pregelwiesen Richtung Königsberg.
Eine Bedingung stellte Liesabeth an die Fortführung der Dreharbeiten: Unser russischer Videoingenieur dürfe nicht mitkommen. »Der hat mir eben so komische Fragen gestellt, vielleicht hält er mich für eine Verbrecherin, ich traue ihm nicht.«
Auf dem Rückweg in die Ratshof-Villa am Westrand von Kaliningrad schwiegen alle. Erst als wir uns am späten Abend das Drehmaterial anschauten und bis tief in die Nacht diskutierten, brachte Kameramann Hartmut Seifert unsere Eindrücke auf den Punkt: »Ist dir klar, dass das eine ganz besondere Lebensgeschichte ist? Nicht nur ein Fünfminutenstück für die Deutsche Welle, das niemand sieht? Liesabeth hat einen eigenen Film verdient.«
Aus unserem ersten Zusammentreffen mit Liesabeth vor nunmehr knapp sechzehn Jahren wurde eine Freundschaft, die bis zum heutigen Tag anhält. Eine Reportage für das ZDF mit dem Titel »Irgendwo gebettelt, irgendwo geklaut ... « und der Dokumentarfilm »Die Eiserne Maria« für Arte sind in dieser Zeit entstanden, zwei Filme, in denen wir Liesabeths Biographie nur in Facetten zeigen konnten.
Dieses Buch berichtet nun von all den Etappen dieses einzig - artigen Lebens zwischen Ost und West, die Liesabeth Otto mir anvertraut hat.
Ingeborg Jacobs
1.
1945 Letzte Monate
in Ostpreußen
Mein bestes Leben ...
Freiwillig wäre ich wohl nie so tief in meine Vergangenheit zu - rückgegangen, auch niemals an die Orte zurückgekehrt, mit denen ich böse Erinnerungen verbinde. Ich dachte lange Jahre, es sei besser, all das Schlimme zu vergessen. Doch dann habe ich mich auf die Reise gemacht, mal nur mit Worten und in Gedanken, ein paar Mal habe ich aber auch die Tasche gepackt und bin mit den beiden Journalisten auf Erkundungsfahrt gegangen. Ich habe ihnen vertraut, sonst hätte ich bei dem Film nicht mitgemacht. Aber keiner von uns konnte ahnen, wie schmerzhaft das für mich sein würde. Eine einzige Bedingung hatte ich gestellt, ich wollte alle Bilder haben, die sie aufnahmen. Zur Erinnerung, für mich und für meine Enkel.
In der Nacht vor Drehbeginn konnte ich kaum schlafen. Ich habe sehr schlecht geträumt, vom Krieg und all dem, was danach passiert ist. Das war mir lange nicht mehr passiert und hätte mir deshalb eine Warnung sein sollen.
Unsere erste Fahrt - gleich einen Tag, nachdem ich Ingeborg Jacobs und Hartmut Seifert kennengelernt hatte - ging quer durch Königsberg, am Hafen vorbei, wo ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern auf einen kleinen Kohlenkahn gestiegen bin, der uns nach Danzig brachte. Das war auf der Flucht im Januar 1945, darüber habe ich viel von meinem Bruder Manfred erfahren, als ich in den siebziger Jahren in Deutschland war. Später habe ich dann alle Bücher über Königsberg und Ostpreußen gelesen, die ich in die Hände bekam, und, wann immer ich Gelegenheit hatte, mit alten Ostpreußen gesprochen, ich wollte so viel wie möglich über meine Heimat wissen.
Links und rechts der Straße, die schon zu deutscher Zeit Königsberg mit Vilnius verband, das damals Wilna hieß, sahen wir viele alte deutsche Häuser. Die Russen kennen solche Bauten aus roten Backsteinen nicht. Auch die geschwungene Dachform ist typisch deutsch. In der Ferne entdeckten wir immer wieder hoch aufragende, jahrhundertealte spitze Kirchtürme. All das war einmal für die Ewigkeit gebaut worden. Inzwischen weiß ich, solch alte Gebäude gibt es in Russland nur sehr wenige.
Den Kirchturm meiner Heimatstadt Wehlau sahen wir bereits, als wir über die eiserne Brücke, die »lange Brücke«, fuhren, die sich weit über die Alle-Auen spannt. Turm und Kirchenschiff sind ohne Dach, dabei war das Gebäude wie die ganze Stadt nach der Einnahme durch die Russen am 24. Januar 1945 fast unversehrt geblieben. Später wurde das Gotteshaus als Speicher genutzt, bis man in den sechziger Jahren versuchte, es zu sprengen. Doch das gelang ebenso wenig wie die Sprengung des Königsberger Schlosses ungefähr zur selben Zeit. Der sechshundert Jahre alte Kirchenbau in Wehlau hielt der Exlposion stand. Nur das Deckengewölbe stürzte ein, und mit ihm das Dach.
Das Wehlau, das ich von vielen alten Fotos und Postkarten kenne, eine typische ostpreußische Kleinstadt mit mittelalter - lichen Stadttoren, Kirchen, Verwaltungsgebäuden und Geschäften, ist heute kaum mehr zu entdecken. 1939 hatte Wehlau weit über achttausend Einwohner, die nur selten in die etwa fünfzig Kilometer entfernte Hauptstadt Königsberg fahren mussten.
Mein Elternhaus fanden wir ganz leicht. Es liegt in der Pflegerkolonie, die in den dreißiger Jahren für die Angestellten der Heil-und Pflegeanstalt Allenberg gebaut worden war. Ihren ursprünglichen Namen »Provinzial-Irrenanstalt« hatte sie da bereits abgelegt. Mit fast fünfhundert Bediensteten gehörte die Klinik für etwa tausendvierhundert Patienten zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Mein Vater hat viele Jahre als Krankenpfleger in der Irrenanstalt gearbeitet, deshalb hatte er diese Wohnung auch bekommen.
In den dreißiger Jahren war die Siedlung sicherlich sehr modern: Neben vier großen Zweifamilienhäusern, in denen vor allem junge Ärzte wohnten, gehörten zehn Reihenhäuser mit je vier Wohneinheiten auf zwei Etagen dazu. Sie besaßen jeweils einen eigenen Eingang, einen Hühnerstall und ein Plumpsklo und gruppierten sich in einem Dreieck um einen mit Bäumen bepflanzten Innenhof. An einer Dreiecksspitze lag ein Gemeinschaftsbau mit Waschküchen, Trockenräumen und Mangel für alle Parteien. Auf dem davor liegenden Spielplatz konnten die Kinder unter den Augen ihrer Mütter spielen. Wir Ottos wohnten in einem Eckhaus, das direkt an der Straße liegt, die zum Nachbardorf Paterswalde führt.
Als ich 1994 mit den Journalisten dorthin kam, war das Haus sehr heruntergekommen. Es fiel mir schwer, ihnen die Wohnung zu zeigen. Nur langsam konnte ich mich dem Gebäude nähern. Irgendwo spielte ein Radio russische Musik, Lieder aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, der in Russland bis heute »Großer Vaterländischer Krieg« heißt. Die Menschen beachteten uns nicht. »Da rechts von der blauen Tür, da war unser Wohnzimmer, und auf der anderen Seite war die Küche«, erklärte ich leise, vielleicht weil ich damals ein wenig Angst hatte, die Russen könnten mich hören und verstehen, obwohl ich Deutsch sprach. Ich strich mit beiden Händen über die Wand an der Eingangstür. Dann setzte ich mich auf die einfache Bank, die vor dem Haus stand. »Jetzt kann ich wenigstens herkommen und die Wand anfassen. Ich weiß nicht, ob du das verstehst«, sagte ich zu Ingeborg, »aber ich habe hier meine ersten Schritte gemacht, hier war doch meine Mutti. Das war mein bestes Leben!« Obwohl ich schon sechsundfünfzig Jahre alt war, musste ich weinen, das war mir unangenehm.
Gerne wäre ich ins Haus hineingegangen, doch die Russen, die seit 1947 darin wohnten, waren nicht zu Hause. Sie seien als Kinder aus dem Leningrader Gebiet nach Wehlau gekommen, erzählte uns eine Ukrainerin aus dem Nebenhaus. Wir beschlossen, ein anderes Mal wiederzukommen, und fuhren nach Ijewskoje, in das alte Widitten, zurück.
Als wir bei uns in der Küche saßen und Tee tranken, holte ich den Karton mit den alten Fotos hervor, um sie den Journalisten zu zeigen: das Hochzeitsbild meiner Eltern, dann ein Foto, das mich mit etwa vier Jahren vor dem Gartenzaun meiner Großeltern im ostpreußischen Friedland zeigt, ein entschlossen, sogar ein wenig trotzig dreinblickendes kleines Mädchen mit geballten Fäustchen und Hahnenkamm. Auf einem Bild bin ich mit meinen Geschwistern Christel und Manfred zu sehen, ich bin die Kleinste von uns dreien und kaum ein Jahr alt. » Christel und Manfred sind nur meine Halbgeschwister«, erklärte ich. »Die erste Frau meines Vaters ist gestorben. Vater suchte eine Mutter für seine Kinder, deshalb hat er meine Mutti geheiratet. Mich wollte er nicht.« Alte Farbfotos mit meiner Tochter Elena, meinem Vater und meinem Bruder Ende der siebziger Jahre in Deutschland: keine glücklichen Gesichter. Auf einem großen Foto steht Elena lächelnd inmitten einer Schulklasse. Auf die Rückseite hat sie mit Bleistift in ihrer Mädchenschrift »Celle 1976« geschrieben. Es gab noch ein paar Fotos von mir, rauchend und lachend mit Arbeitskameradinnen, ein anderes mit der kleinen Elena auf dem Arm. Und das Foto von meinem toten kleinen Mädchen im offenen Sarg. Nonna hatte ich vor Elena bekommen, aber sie war herzkrank und ist vor der Operation, die vielleicht ihr Leben hätte retten können, gestorben.
Ingeborg und Hartmut stellten mir viele Fragen, und so war es schon lange dunkel, als wir uns verabschiedeten. Am Abend vor ihrer Rückreise nach Deutschland kamen sie noch mal zum Essen. Während wir am Tisch saßen, Bier tranken und das Huhn verspeisten, das ich geschlachtet und mit viel Knoblauch und Fett knusprig gebraten hatte, erzählten mir die beiden von ihrem Plan, einen Film über mein Leben zu machen. Sie wollten versuchen, zu meinem Geburtstag Anfang Oktober wiederzukommen, um die Dreharbeiten fortzusetzen. »Mit euch mache ich das!«, erklärte ich sofort. »Aber schreibt mir mal, damit ich weiß, ob und wann ihr im Herbst kommt.« Niemand in unserer Nachbarschaft hatte damals Telefon. Und Mobiltelefone gab es noch gar nicht. Kein Telefon - heute kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie wir zurechtgekommen sind.
Und dann hielt ich Ende September ein Telegramm aus Deutschland in den Händen: »Wir kommen am 12. Oktober und machen den Film über Dich ... «
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Ingeborg Jacobs
Ingeborg Jacobs, geboren 1957 in Solingen. 1989 bis 1992 Aufenthalt in der Sowjetunion. Seit 1995 freie Autorin beim ZDF. Zahlreiche Dokumentarfilme, überwiegend zu zeitgeschichtlichen Themen. Sie wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Wirtschaftsfilmpreis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Mitarbeit an mehreren Büchern von Guido Knopp, darunter »Die große Flucht«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ingeborg Jacobs
- 320 Seiten, mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800484X
- ISBN-13: 9783868004847
Rezension zu „Wolfskind “
"Ein Buch, das unter die Haut geht und noch lange nachhallt." (Booksection.de, 21.04.2010)'"Ein bewegendes Buch über das erschütternde Schicksal des ehemaligen Wolfkindes, von der ZDF-Journalistin Ingeborg Jacobs einfühlsam nacherzählt." (Der Tagesspiegel, 10.05.2010)
"Unbedingt lesenswert" /Damals. Das Magazin für Geschichte, Juni 2010)
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