Wolkenkind
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Schon als kleines Mädchen wurde sie aufgrund der politischen Umstände in Tibet aus der Obhut ihrer Familie gerissen. Niemand sorgt sich um sie, als Sklavin wird sie ihrer Kindheit beraubt. Nur aus ihrer Liebe zur Musik schöpft sie Kraft. Zehn Jahre später gelingt Soname die qualvolle Flucht über den Himalaya nach Indien. Ein neues Leben beginnt, doch das Schicksal meint es auch jetzt nicht gut: Soname wird missbraucht und bekommt ein Kind, für das sie nicht sorgen kann. Erneut ist es die Musik, die Sonames Leben rettet.
Wie überlebt ein junges Mädchen in der Fremde? Soname suchte Freunde - und wurde missbraucht. Selbst erst siebzehn Jahre alt, brachte sie eine Tochter zur Welt, von der sie sich gleich wieder trennen musste, da sie kaumfür sich selbst sorgen konnte.
Aber allmählich wendete sich Sonames Schicksal, es war, als würde eine innere Stimme ihr den Weg weisen, der sie schließlich nach England in die Freiheit führte. Hier wurde sie als Sängerin entdeckt, hier gab sie ihr erstes Konzert in der Royal Albert Hall. Doch ein Schmerz verließ sie nie: Die Sehnsucht nach ihrer Tochter, von der sie nur wusste, dass sie unerreichbar fern in Tibet lebte ...
Wolkenkindvon Soname Yangchen
LESEPROBE
Ich kam in einem windigen Kuhstall in einer verlassenenGegend im Süden Tibets zur Welt. Meine Mutter melkte gerade eine Kuh. EineStunde nach meiner Mutter gebar auch die Kuh. Man hielt das für ein gutesVorzeichen, und so nannte man mich Soname, was soviel wie »Glück« heißt, dennich war in der glücklichen Situation, zwischen der Muttermilch und der Kuhmilchwählen zu können. Mein zweiter Name Yangchen bedeutet »Melodie«, und ich bekamihn, weil ich zur Zeit der Festlichkeiten zur Welt kam, wo jedermann singt. Dasalles muss im Frühjahr 1973 gewesen sein, genau weiß das niemand. Im Westen istman sehr auf das Alter fixiert, aber wir in Tibet machen uns nicht viel ausGeburtstagen, niemand hat hier eine Geburtsurkunde. Bei uns wird man an Neujahreinfach ein Jahr älter.
Trotz meines fröhlichen Namens kam ich zu einer ziemlich schrecklichen Zeit zurWelt. Während die Kulturrevolution in China schon 1969 offiziell für beendeterklärt worden war, dauerte sie 1973 in Tibet noch an, und die»Befreiungsarmee« des chinesischen Volkes schickte sich an, uns in Tibet ausunserem rückständigen feudalen Leben zu befreien und uns statt dessen dieSegnungen des Kommunismus zu bringen. Diese Verhältnisse prägten meine Kindheitund alle Ereignisse meines weiteren Lebens. Die fanatischen Rotgardisten zogenplündernd durch unser heiliges Land, rissen Klöster nieder, zerstörten unserewertvollen Buddhastatuen und verwendeten unsere heiligen Texte als Klopapier.Tausende von Nonnen und Mönchen wurden verhaftet, gefoltert und getötet. Angstund Aufruhr waren an jeder Ecke des Landes zu spüren. Das Leben der Menschenwar aus den Fugen geraten. Da meine Familie zum tibetischen Adel gehörte,hatten die Roten Garden auf uns ein besonderes Augenmerk geworfen.
Meine Mutter hieß Perma Norzin. Sie war schön, hatte ein rundes Gesicht undvolle schwarze Haare, die ihr bis über die Knie reichten. Jeder bewunderte siewegen ihrer ungewöhnlich geformten schönen Augen; man hatte ihr den Namen»Sternauge« gegeben, und sie hatte viele Verehrer. Auch ich bewunderte meineMutter sehr. Unter ihren Vorfahren waren der Lehrer und der Hofarzt des FünftenDalai Lama (1617-1682), den man den »Großen Fünften« nannte, weil er Tibet dieEinheit brachte.
Im Gegensatz zu mir war meine Mutter eher zurückhaltend und förmlich, zuScherzen neigte sie kaum. Sie sagte oft, ich solle mich anständig benehmen. Ichwar das fünfte Kind und das erste Mädchen, das überlebte. Bevor ich auf dieWelt kam, hatte meine Mutter schon mal eine Tochter, der an der rechten Handder Daumen fehlte und die nur einen Monat alt wurde. Kurz darauf brachte auchmeine Tante ein Mädchen ohne Daumen an der rechten Hand zur Welt. Auch diesesKind überlebte nicht, es starb an den Chemikalien, die man auf den Feldernverwendete. Dann träumte meine Mutter von einer weiteren Tochter, die denbeiden anderen Mädchen ähnlich sah, aber beide Daumen hatte. Und siehe da, esdauerte nur ein paar Monate, und ihr Traum ging in Erfüllung.
Als ich noch ein kleines Kind war, packte mich meine Mutter an den Daumen undsagte: »Du hast drei Reinkarnationen hinter dir!«
Erst viel später, ich war schon sechs Jahre alt war, bekam meine Mutter nocheinen Sohn und im Jahr darauf eine weitere Tochter. Aber zu dieser Zeit wurdeich bereits an einem weit entfernten Ort festgehalten.
Mein Vater Wangdu war ganz anders; er war leicht erregbar, und ich fürchtetemich oft vor ihm. Wir haben uns nie richtig unterhalten. Wenn wir ihn ärgerten,schmiss er mit irgendwelchen Dingen nach uns. Allerdings hat er uns niewirklich getroffen - er tat es nur zur Show. Wenn meine Geschwister und ich ihnkommen hörten, setzten wir uns mucksmäuschenstill auf die Bänke, die an denWänden des Raumes standen, und rührten uns nicht. Es muss wie ein Stillebenausgesehen haben.
Zwischen seinem siebten und seinem achtzehnten Lebensjahr hatte mein Vater alsMönch in Riwo Choling, einem unvorstellbar riesigen Kloster, gelebt, dessenAnfänge auf das Jahr 1420 zurückgehen. Die Chinesen haben das Klosterniedergerissen und meinen Vater und die anderen Mönche gezwungen, dasMönchsgewand auszuziehen und ihr Gelübde zu widerrufen. Das war für einenMenschen, der sein Leben auf den spirituellen Weg ausgerichtet hat, eintraumatisches Erlebnis, und so kam es wohl, dass mein Vater immer etwas nervöswar.
Mein Vater war ein sehr gebildeter und empfindsamer Mensch, er war mit denheiligen Schriften des Buddhismus vertraut und hatte sich mit Rhetorik undLogik beschäftigt. Im Kloster hatte er viel gelernt, er schrieb Gedichte,konnte tanzen und spielte tibetische Gitarre und tibetisches Saxophon. Außerdemwar er ein geschickter Handwerker, der Kleidung und Schuhe für meine Muttermachte.
Meine Eltern hatten sich während eines fünfzehntägigen Pferderennens anlässlicheiner Neujahrsfeier kennengelernt. Sie verliebten sich, heirateten und lebtenglücklich zusammen. Ich habe sie nie streiten gesehen.
Mit uns zusammen lebten meine Großeltern. Großvater hatte langes weißes Haar,das er zu Zöpfen flocht. Er war ein wohlhabender und angesehener Mann gewesen,dem ein Kloster außerhalb der Hauptstadt Lhasa gehört hatte - dieser Besitzhatte ihn zu einer anerkannten und wichtigen Persönlichkeit gemacht. DieGroßmutter war eine richtige Matriarchin, sie hatte achtzehn Kinder zur Weltgebracht, von denen elf überlebt hatten. Derartig große Familien waren in Tibetnichts Besonderes. Verhütung kannte man nicht, und zudem glaubt man bei uns,dass man der Natur den Lauf aller Dinge überlassen sollte.
Nur noch meine Mutter und einer ihrer Brüder waren bei den Großeltern geblieben,die anderen Kinder waren alle weggezogen. Meine Großmutter hing sehr an meinerMutter. Als Mädchen hätte meine Mutter in Shanghai zur Schule gehen können,aber meine Großmutter brachte es nicht übers Herz, sich von ihr zu trennen.Also blieb meine Mutter eine Analphabetin.
In unserer großen Familie kümmerte Großmutter sich um den Haushalt, sie kochte,putzte, spülte die Kochtöpfe. Das muss für sie sehr hart gewesen sein, dennihre Eltern waren sehr wohlhabend gewesen, und als Kind war sie mit Dienernaufgewachsen, die den Haushalt besorgten.
Meine Großeltern standen sich sehr nahe. In Tibet gibt es sowohl Monogamie alsauch Polygamie, und zwar für Männer wie für Frauen. So war es durchaus üblich,dass Frauen mehr als einen Ehemann hatten, aber meine Großmutter hatte nur denGroßvater. Ich erinnere mich noch, wie sie sein langes graues Haar wusch undflocht.
Meine Großeltern machten alles gemeinsam. Es war unglaublich. Wenn meineGroßmutter auf die Toilette ging, passte mein Großvater auf sie auf. Ichglaube, er war ihr richtig verfallen.
Männer und Frauen waren in Tibet immer schon gleichberechtigt, im privaten wieim öffentlichen Bereich. Das unterscheidet uns von anderen asiatischenGesellschaften. Vielleicht sind die Frauen in Tibet deshalb im allgemeinenunabhängig, gut gelaunt und offen. Wir lachen und flirten gern.
Meine Mutter hat mir diese Unabhängigkeit beigebracht. Sie sagte immer:»Soname, sieh zu, dass du nicht kochen kannst. Denn dann weißt du, dass dichdein Mann so liebt, wie du bist.« (...)
© DroemerKnaur Verlag
Übersetzung: Reinhard Kreissl
- Autoren: Soname Yangchen , Vicki Mackenzie
- 2005, 304 Seiten, 15 farbige Abbildungen, 11 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,5 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Reinhard Kreissl
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426273799
- ISBN-13: 9783426273791
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