Wovon lebst du eigentlich?
Wovon lebst du eigentlich? von Jörn Morisse, Rasmus Engler
LESEPROBE
VomÜberleben in prekären Zeiten
Zum Geleit
»Künstlersind in der Regel arm. Das war schon vor 100 Jahren so. Trotzdem ist der Berufdes Künstlers seit den 1980er-Jahren der Traumberuf vieler junger Leute. DieAnzahl der Beschäftigten im deutschen Kunst- und Kulturbereich ist in denletzten 15 Jahren um 30 Prozent gestiegen. Ihr Einkommen allerdings nicht«,konstatiert der Kunsthistoriker Christian Saehrendt.Dass es bei bescheidenen Verdienstaussichten ständig mehr werden, beweisen dieZahlen der Künstlersozialkasse (KSK), in der sich freiberufliche Künstler undPublizisten mittels staatlicher Zuschüsse günstig kranken- und rentenversichern können. 2006 waren über 154000 Deutsche inder KSK gemeldet, mehr als dreimal so viele wie noch Anfang der Neunzigerjahre.Durchschnittlich verdient der typische freie Kulturschaffende 10814 Euro imJahr, der Berufsanfänger 7751 Euro, so die Statistik.
DieLebenswirklichkeit hinter diesen Zahlen bleibt oft ausgeblendet. Dabei bestehtdarin die eigentliche lebenstaktische Kunst hinter der Kunst: die eigenenProduktions- und Existenzbedingungen wirtschaftlich so auszubalancieren undüber Brotjobs und Nebeneinkünfte querzusubventionieren, dass daraus eine selbsttragende und nachhaltige Angelegenheit wird.
Wir habenausgewählte Protagonisten aus Musik, Kunst, Literatur, Film und Modedesignunter anderem nach Arbeitspraxis und -bedingungen,individuellen Selbstbehauptungsmöglichkeiten, Lebensführung zwischenArbeits- und Privatsphäre und nicht zuletzt nach dem bisherigen Berufs- undLebensverlauf befragt. Welche Mischkalkulation ermöglicht dem Selbstständigenim Kunst- und Kulturbetrieb seine künstlerische Freiheit? Wie steht es umVersicherung, Familienplanung und Urlaub, wenn sich Leben, Kunst und Arbeitvereinigen? Und was verdient man eigentlich so als Schriftsteller?
In zwanzigGesprächen forschen wir vor allem nach den ökonomischen Bedingungen, unterdenen heutzutage Kunst produziert wird - speziell im Segment der nichtarrivierten und außerhalb öffentlicher Institutionen und Fördermaßnahmenstattfindenden Kulturproduktion. In vielen Interviews wird klar:Selbstbestimmung und der Versuch, einer entfremdeten Arbeit zu entgehen, kannauch Selbstausbeutung bedeuten. Einige unserer Gesprächspartner leben untermangelhaftem sozial- und arbeitsrechtlichen Schutz undunter der Bedrohung durch materielle Armut. Insofern sind Gemeinsamkeitendieses kleinteiligen Wirtschaftszweigs mit anderen Prekarisiertendurchaus vorhanden.
In »Wovonlebst du eigentlich?« geht es aber nicht in ersterLinie um schlecht oder gut bezahlte Jobs, Hartz IV,Ein-Euro-Fronarbeit oder gut ausgebildete Akademiker, die sich von Praktikum zuPraktikum hangeln. Unsere Protagonisten haben sich entschieden, ihrenLeidenschaften zu folgen, selbstständig künstlerisch tätig zu sein und dasBeste aus den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen zu machen, indenen das Normalarbeitsverhältnis ständig an Bedeutung verliert.
Auch sindKünstler, freiberuflich tätige Kulturschaffende, immer Unternehmer in eigenerSache. Den gleichen Stellenwert wie das Album, der Film oder das Bühnenstückselbst hat die Abwägung, wie viel Arbeit man investiert, wie hoch dieStudiokosten sind, die Büromiete, ob man vielleicht auf andere Einnahmequellenzurückgreifen muss.
Wir möchtendie Überlebensstrategien von freiberuflichen Künstlern mit Geschichten aus demwahren Leben belegen. Neben finanziellen Balanceakten interessiert uns dabeiauch die innere Zerrissenheit, der sich ein Künstler in prekären Zeitenaussetzt. Wir fragen nach Euphorien, Ängsten und eventuell neu entdecktenQualitäten, die entstehen, wenn man sich entschließt, für und von seiner Kunstzu leben. Denn so wichtig der ökonomische Balanceakt ist, bleibt er stetsMittel zum Zweck einer Produktion von Inhalten, die fremden und eigenenAnsprüchen gerecht werden muss.
DerSchriftsteller Wolfgang Herrndorf veranschaulicht denimmerwährenden Angriff auf die ganze Persönlichkeit folgendermaßen: »Wenn einMaurer eine schlechte Mauer mauert, dann ist das Pfusch am Bau, und man mussdie einreißen, oder er wird zur Rechenschaft gezogen, oder das Geld wirdgekürzt. Aber es gibt keinen Maurer, der nicht insgeheim weiß, dass er einetragende Mauer hochziehen kann, wenn er sich bemüht. Als Schriftsteller weißman das nie so genau, da ist man immer sofort als Person infrage gestellt.«
Denn einekreative Arbeit ist kein Job, der getan werden muss und getrennt ist vomrestlichen Leben. Als Entschädigung für etwaige finanzielle Miseren undmittelmäßigen Erfolg gibt es lediglich das ambivalente Gefühl zu verdienen, dieZeit mit seiner Herzensangelegenheit zu verbringen. In dem Interview mit derJournalistin Nic Koskowskiheißt es beispielsweise: »Wenn aber jemand sagt, ich möchte eine Arbeit machen,mit der ich mich weitestgehend identifizieren kann, ich will keinen Chef haben,der mir über die Schulter guckt, und es ist mir egal, wenn ich mal zwei Wochenlang nur Nudeln mit Sojasauce essen muss - o.k., dannmach das. Eingeschränkt empfehlenswert.« Diese Aussage redet nicht einem neuenModell des selbstständigen und flexiblen Arbeitsethos im Sinne derMarktgesetzlichkeiten das Wort, sondern steht für den Wunsch, sich selbstbestimmt in seiner Arbeit ein hohes Maß anpersönlicher Freiheit und Kreativität zu erhalten.
UnsereGespräche zeigen, dass diese Ansprüche unseren Protagonisten auch die Möglichkeitgeben, sich den Zumutungen des Marktes ein Stück weit zu verweigern. IhreErfahrungen sind dabei exemplarisch für viele Freiberufler in Deutschland,deren kreatives Potenzial ihre einzige Altersversorgung sein wird.
Insgesamtbietet sich in »Wovon lebst du eigentlich?« eindifferenziertes und zwiespältiges Bild von Chancen und Risiken künstlerischerselbstständiger Arbeit. Man muss Geduld und Mut mitbringen, um als Filmemacher,Schriftsteller, Musiker, DJ, Modedesigner oder Labelmacher zu reüssieren: »Ichglaube, man braucht, wenn man selbstständig sein will, as opposedto fest angestellt, eine gewisse Gemütsruhe. Man darf nicht nachts wach liegen,weil man überlegt, ob das wohl in Zukunft so weitergeht«, sagt die AutorinKathrin Passig.
Oft stelltsich Erfolg, wenn überhaupt, erst nach jahrelanger Investition von Zeit, Geldund Nerven ein. Dementsprechend ist die Identifikation mit der Arbeit sohoch, dass sie die gesamte Lebensführung dominiert. Nicht jeder bringtsolche Voraussetzungen für seine Profession mit wie Nagel, Sänger der Band MuffPotter, der sagt: »In meinem Leben gibt es überhaupt keine Regelmäßigkeit, auchlangfristig nicht. Und deswegen rede ich auch immer von der Band. Ich kannnicht unterscheiden zwischen Beruf und privat. Ich habe kein Privatleben. Ichmuss sogar so weit gehen, Privatleben interessiert mich manchmal gar nicht.«
In diesemGespräch wird deutlich, wie sehr die Kunst die Identität bestimmt undSelbstvergessenheit generiert: Man kann eigentlich nur das mit gutem Gewissentun, was man aus eigenem Denken und eigener Kreativität heraus erschaffen hat.In der selbst gewählten Position liegt damit einerseits das Potenzial für einesubjektiv befriedigende Karriere, andererseits jedoch das permanente Risiko desScheiterns. Unser Buch soll zeigen, wie man trotz prekärer Lage den Mut findet,Zukunftsprojekte zu entwerfen, um die Gestaltungsmacht für eine glücklicheGegenwart sich nicht aus der Hand nehmen zu lassen.
© PiperVerlag
- Autoren: Jörn Morisse , Rasmus Engler
- 2007, 250 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 12,1 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492250653
- ISBN-13: 9783492250658
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