Der Bann (ePub)
Von Kind auf ist Hannah zum Überleben erzogen worden: fliehen, kämpfen, beschützen.
Ihre Lehrer: drei Jahrzehnte der Angst. Dreißig Jahre voller Albträume.
Doch das hier ist kein Albtraum. Es ist Wirklichkeit.
Ein Mann verfolgt die Frauen ihrer...
Ihre Lehrer: drei Jahrzehnte der Angst. Dreißig Jahre voller Albträume.
Doch das hier ist kein Albtraum. Es ist Wirklichkeit.
Ein Mann verfolgt die Frauen ihrer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Bann (ePub)“
Von Kind auf ist Hannah zum Überleben erzogen worden: fliehen, kämpfen, beschützen.
Ihre Lehrer: drei Jahrzehnte der Angst. Dreißig Jahre voller Albträume.
Doch das hier ist kein Albtraum. Es ist Wirklichkeit.
Ein Mann verfolgt die Frauen ihrer Blutlinie, seit fünf Generationen, durch ein uraltes Geheimnis geschützt. Er will ihr das Liebste nehmen: ihr Kind. Und Hannah kann keinem trauen.
Keinem.
«Ein echter Pageturner. Nicht vorm Einschlafen lesen!» (BBC Radio 2)
«Eine Lektüre wie das Schwimmen in Zuckersirup: Man kommt leicht rein - und unglaublich schwer wieder raus.» (One More Page)
Ihre Lehrer: drei Jahrzehnte der Angst. Dreißig Jahre voller Albträume.
Doch das hier ist kein Albtraum. Es ist Wirklichkeit.
Ein Mann verfolgt die Frauen ihrer Blutlinie, seit fünf Generationen, durch ein uraltes Geheimnis geschützt. Er will ihr das Liebste nehmen: ihr Kind. Und Hannah kann keinem trauen.
Keinem.
«Ein echter Pageturner. Nicht vorm Einschlafen lesen!» (BBC Radio 2)
«Eine Lektüre wie das Schwimmen in Zuckersirup: Man kommt leicht rein - und unglaublich schwer wieder raus.» (One More Page)
Lese-Probe zu „Der Bann (ePub)“
Der Bann von Stephen L. JonesKapitel 1
Snowdonia Heute
Erst als Hannah Wilde das Farmhaus erreichte, kurz nach Mitternacht, stellte sie fest, wie viel Blut ihr Mann bereits verloren hatte.
Sie hatten wenig geredet während der Fahrt nach Llyn Gwyr. Hannah hatte sich auf die Straße konzentriert, die Sicht verschwommen vom Regen und von Tränen. Neben ihr saß Nate zusammengesunken im Beifahrersitz des Discovery, ein verkrümmter Schatten. Sie musterte ihn von der Seite, während sie sich immer weiter von dem entfernten, was sie zurückgelassen hatten, doch es war ihr unmöglich, das volle Ausmaß seiner Verletzungen zu erkennen, solange sie sich auf die Straße konzentrieren musste. Jedes Mal, wenn sie vorschlug anzuhalten, schüttelte Nate nur den Kopf und drängte sie weiterzufahren.
Bring uns zum Farmhaus, Hannah. Ich schaffe das schon. Versprochen.
Kurz vor Mitternacht, nach vier Stunden hinter dem Lenkrad, stellte sie fest, wie die englischen Namen auf den Ortsschildern im Scheinwerferlicht des Discovery ihren walisischen Verwandten wichen: Cyfronydd, Llangadfan, Tal-y-llyn. Außer ihnen war niemand in dieser Nacht unterwegs. Und obwohl Hannah kaum mehr erkennen konnte als das, was direkt vor ihnen lag, spürte sie, wie das Land wilder wurde und sich ringsum öffnete.
Die Straße war kurvenreich und uneben, als wollte sie das Fahrzeug abschütteln. Eine Zeitlang folgte sie einem wilden Gebirgsbach, erkennbar einzig an dem Funkeln aus Mondlicht, das vom Wasser reflektiert wurde. Als die Straße eine Schleife beschrieb und sich höher schraubte, blieb das Glitzern in der Nacht zurück.
... mehr
Einen knappen Kilometer vor Llyn Gwyr, in der Nähe eines Hügelkamms, verlangsamte Hannah den Geländewagen, bis er nur noch kroch, und schaltete die Scheinwerfer aus. Sie lenkte das Fahrzeug die letzten Meter zum Kamm hinauf, wo ein Eschenhain stand. Für einen Moment beobachtete sie, wie sich die kahlen Zweige im Wind bewegten.
Sie schaltete die Zündung aus. Bis zu diesem Augenblick hatte das Geräusch des Motors die Stimme des Windes übertönt. Hier oben, auf dem Kamm, sang er um sie herum und schaukelte den Wagen auf seinen Federn.
Mein Gott, was hast du dir nur dabei gedacht? Hast du wirklich geglaubt, dieser Ort wäre sicher?
Auf dem Beifahrersitz rührte sich Nate. Er hob den Kopf und blinzelte aus dem Fenster. «Kannst du irgendetwas erkennen? »
Jenseits der Bäume fiel das Land ab bis hinunter zum Ufer eines mandelförmigen Sees. Obwohl sich der Mond hinter weiteren von Westen heranziehenden Regenwolken versteckt hatte, phosphoreszierte die Wasserfläche. Die schwarzen Umrisse eines kleinen Flusses, der sich aus den Bergen hinabschlängelte, mündeten ganz im Westen in den See.
Das Farmhaus von Llyn Gwyr stand am gegenüberliegenden Seeufer. Ein steiler geschotterterWeg, der den Fluss über eine Steinbrücke überquerte, führte von der Straße zum Haus.
«Ich kann kaum was sehen auf diese Entfernung», antwortete sie. «Jedenfalls nicht in dieser Dunkelheit.»
«In der Türablage müsste ein Fernglas stecken. Kontrollier zuerst die Brücke. Guck, ob sie frei ist.»
Hannah nahm das Fernglas hervor, hob es an die Augen und richtete es auf den Fluss. Sie benötigte einen Moment, um sich zu orientieren, dann fand sie die Brücke. Der verwitterte Steinbogen sah kaum robust genug aus, um das Gewicht ihres Landrover zu tragen.
Keine Hindernisse auf der Brücke selbst - zumindest keine, die sie sehen konnte. Nichts, was darunter lauerte. Keine Hinweise auf einen möglichen Hinterhalt.
«Die Brücke ist sauber.»
«Okay. Jetzt das Haus.»
Sie hörte, wie er sein Gewicht verlagerte und ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken versuchte. Sofort nahm sie das Fernglas herunter. «Nate? Was ist? Was kann ich tun?»
«Nichts, Han. Mir geht es gut, keine Sorge.» Seine Stimme war belegt und heiser. «Mach weiter», sagte er erschöpft. «Kontrollier das Haus.»
Sie hob das Fernglas wieder an die Augen und richtete es auf das Farmhaus. Die weiß gekalkten Wände schimmerten im Licht eines wolkenverhangenen Mondes. Die charakteristischen Umrisse des durchhängenden Schieferdachs kannte sie bereits von Fotos. «Wonach soll ich suchen?»
«Kontrolliere die Fenster. Sind sie intakt?»
Eine Pause, während sie alle vier sichtbaren Fenster in Augenschein nahm. «Ja. Zumindest die auf dieser Seite.»
«Das ist gut. Was ist mit der Tür? Ist sie offen? Sieht sie aus, als wäre sie aufgebrochen worden?»
«Das ist schwierig zu sagen, aber ...» Sie runzelte die Stirn. «Nein. Nein, ich denke, sie ist okay.»
Das ist gut, Han. Das ist großartig. Hör zu, ich glaube nicht, dass jemand hier ist. Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier sein kann. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Wir lassen die Scheinwerfer aus, bis wir von der Straße sind, und wir fahren ganz langsam. Die Zufahrt beginnt gleich dort vorn. Wenn ich mich richtig erinnere, ist der Weg bis zur Brücke sehr holprig. Danach ist er eben. Wir parken auf der Rückseite des Hauses, damit niemand den Wagen von der Straße aus sehen kann.» Er stockte und presste die Luft zwischen den Zähnen hindurch, während er erneut sein Gewicht verlagerte. «Bist du so weit?» Hannah blies die Luft aus den Wangen und nickte. «Hältst du das Fernglas für mich?»
Sie hielt es ihm hin. Spürte, wie seine Hand über ihre streifte. Seine Finger waren nass und klebrig. Ihre Kehle zog sich zusammen. «Nate, ist das Blut?»
«Nicht jetzt. Komm, weiter. Wir sind fast in Sicherheit.» Sie musste es einfach wissen. Trotz seiner beruhigenden Worte und seines Zuspruchs war sie immer noch erschüttert von den Ereignissen des Abends. Sie musste wissen, womit sie es zu tun hatten, bevor sie weitermachten. Einem Impuls folgend, ging ihre Hand zur Deckenleuchte. Sie schaltete sie ein. Ein Teil der Hoffnung, an die sie sich die ganze Zeit geklammert hatte, starb in diesem Moment, als sie erkannte, wie es wirklich um ihn stand. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten - fest entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sein Zustand sie erschreckte.
Er schwamm geradezu in Blut.
Seine Wolljacke war durchnässt. Der Stoff seines Hemdes glänzte und tropfte. Blut hatte sich in einer Lache zwischen seinen Beinen gesammelt und in den Vertiefungen des Sitzes. Es durchnässte seine Jeans.
Als sie den Blick hob und ihm in die Augen sah, konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen. Sie schluchzte auf. Er starb. Es bestand kein Zweifel. Es war kaum noch Leben in ihm. Seine Lippen hatten sämtliche Farbe verloren. Seine Wangen, wo er sie nicht mit Blut beschmiert hatte, waren so weiß wie Milch. Trotz der kühlen Luft im Wagen standen Schweißperlen auf seiner Stirn.
Nate versuchte zu lächeln. «Ich denke, die Blutung lässt allmählich nach.»
Ihre Stimme zitterte. Sie hatteMühe, nicht zu schreien. «Du musst in ein Krankenhaus, Nate. Auf der Stelle!»
Er schüttelte den Kopf. «Nein. Das geht nicht. Ich komme durch. Keine Angst. Ich verspreche es.»
«Nate, wir -»
«Nein! Hannah, hör mir zu.» Er stockte, und sie sah, dass er nach Luft rang. «Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Du weißt es, ich weiß, dass du es weißt. Was aus mir wird, ist unwichtig. Wir müssen Leah schützen.»
Der Schrei drückte gegen Hannahs Kehle. Beim Klang von Leahs Namen drehte sie sich zu ihrer Tochter um, die auf dem Rücksitz schlief. Der Anblick ihres kleinen Gesichtchens, so glatt und zart und ernst, versetzte sie in Panik und führte gleichzeitig dazu, dass sie sich zusammenriss.
Er hatte recht - sie hatten keine andere Wahl. Doch wie sollte sie Nate in die Augen sehen und seine Worte ohne zu protestieren hinnehmen? Wie konnte sie sich zur Komplizin eines derartigen Opfers machen? Sie drohte innerlich zu zerreißen. Es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die sie so liebte. Einen dem anderen vorzuziehen war undenkbar. Genauso wie die Alternative.
Nate nahm behutsam die Hand aus der Jacke und starrte auf seine blutigen Finger. «Das kann man überleben, Hannah. Glaub mir. Ich weiß, ich habe eine Menge Blut verloren. Mir ist klar, wie schlimm es aussieht, aber ich habe schon früher Verletzungen wie diese gesehen, und ich kann es schaffen, ich schwöre es dir. Solange wir nur bald ins Haus kommen.»
Hannah blinzelte die Tränen weg. Sie glaubte ihm nicht. Er war blass wie ein Geist. Doch sie schluckte endlich den Schrei hinunter und drehte den Zündschlüssel um. «Dann halt jetzt still, ja?Wir sind in ein paar Minuten da. Sitzt du bequem?»
«Machst duWitze?»
Sie zwang sich zu einem Lachen. Es klang wie ein Keuchen. Sie löste die Handbremse, und der Geländewagen rollte langsam an. Sie glitten über den Kamm des Hügels und folgten der Straße auf der anderen Seite nach unten durch einen dichten Wald aus Fichten und Douglasien. Sie entdeckte die Abzweigung zur Linken und bog von der Straße ab.
Sobald sie die Straße hinter sich gelassen hatten, von allen Seiten umgeben von hohen Koniferen, riskierte sie es, hin und wieder das Fernlicht zu benutzen. DerWeg war wenig mehr als ein felsiger Hang. Sie musste langsamer als Schrittgeschwindigkeit fahren, um den größeren Brocken auszuweichen und Nate so wenig durchzuschütteln wie möglich. Nichtsdestotrotz stöhnte er alle paar Meter schmerzerfüllt auf, wenn die Räder über die Steine rutschten und rumpelten. Sie zuckte bei jedem Schmerzenslaut zusammen.
Ganz egal, wie die Chancen stehen - kämpf weiter, bis nichts mehr da ist, wofür du kämpfen kannst.
War das nicht das Lieblingsmotto ihres Vaters? Dieses Gefühl von Hilflosigkeit und diese Angst nutzten jedenfalls niemandem. Sie versuchte sich an das zu erinnern, was sie über Blutverlust wusste. Wenn Nate eine Überlebenschance haben sollte, musste sie unter allen Umständen verhindern, dass er in einen Schock fiel. Sein mühsamer Atem und das Schwitzen waren ernste Symptome einer schweren Hypovolämie.
Sie musste die Blutung stoppen. Sie musste ihn warm halten. Und sie musste ihm irgendwie Flüssigkeit zuführen. Sie passierten eine Holztafel, schwarze Schrift auf einer verwitterten weiß gekalkten Platte. LLyN GWyR. Eines der vorbereiteten Verstecke ihres Vaters.
Am Fuß des Hangs wurde der Weg besser. Sie folgte dem kurvigen Verlauf, manövrierte den Discovery über die Bogenbrücke und steuerte auf das Farmhaus zu. Die Scheinwerfer strichen über die Hausfront und tauchten alles in ihr helles Licht, mit Ausnahme der Fenster von Llyn Gwyr, deren schwarze Höhlen undurchdringlich blieben.
Der Weg führte auf der anderen Seite um das Haus herum. Sie passierten ein aus Stein errichtetes Stallgebäude und einen leeren Kuhstall. Kies knirschte unter den Reifen des Discovery, als Hannah hinter dem Haus anhielt.
Sie schaltete den Motor ab, dann die Scheinwerfer und zog den Schlüssel aus der Zündung. «Ich schließe das Haus auf. Ich bin gleich zurück und helfe dir beim Aussteigen.»
«Nimm die Taschenlampe mit.»
Sie nickte, griff hinter ihren Sitz und zog die starke Maglite hervor. Als sie sich wieder vorbeugte, küsste sie ihn. Seine Lippen waren klamm und kalt.
«Dass du mir nicht davonläufst», sagte sie.
«Hab eh meine Wanderstiefel vergessen.»
Gut, dass er noch Witze machen konnte. Auch wenn er so leise redete, dass sie ihn kaum hörte.
Hannah legte ihre Hand auf den Türgriff und zögerte. Jetzt, nachdem sie angekommen waren, widerstrebte es ihr, aus dem Discovery auszusteigen; der Wagen war während der letzten fünf Stunden ihre Zuflucht gewesen. Und als wollte er sie weiter entmutigen, wehte der Wind noch heftiger.
Jetzt zählte jede Minute. Sie konnte sich kein Zögern leisten. Hannah öffnete die Wagentür und sprang hinaus auf den Weg.
Der Wind packte sie mit voller Wucht und ließ sie stolpern. Er wehte in Böen wie ein wütender Geist, peitschte ihr das Haar ins Gesicht und drückte frische Tränen aus ihren Augen. Sie schlug die Wagentür zu, zog den Kopf ein, den Reißverschluss der Fleecejacke zu und wandte sich zum Haus.
Obwohl sich ihre Augen noch nicht völlig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die Umrisse des Gebäudes vor dem wolkenverhangenen Himmel erkennen, das tiefere Schwarz der Fenster, die Hintertür, das Gewächshaus. Die undeutlichen Schatten der Außengebäude zur Linken. Rasch überwand Hannah die wenigen Meter zwischen dem Wagen und dem Haupthaus, während sie sich fragte, was sie wohl erwartete. Sie wusste, dass das Haus jahrelang leergestanden hatte. Ihr Vater hatte jemanden bezahlt, der regelmäßig nachgesehen hatte, aber sie wusste nicht, in welchen Abständen. Eines der Fenster im Erdgeschoss war eingeschlagen, stellte sie fest. Nicht gut. Doch es war keine Zeit für Vorsicht. Sie musste Nate ins Haus schaffen. Sie erreichte die Hintertür und spähte durch das Küchenfenster. Nichts außer Dunkelheit dahinter. Sie fand den Schlüssel und schob ihn ins Schloss, als sie hinter sich eine Bewegung spürte.
Sie erstarrte, die Hand auf dem Türknauf, und das Geräusch verstummte. Dann hörte sie es erneut: das Knirschen von losem Kies auf dem Weg hinter ihr.
Wieder verebbte es, übertönt von Wind und Regen.
Sie hatte die Maglite unter den linken Arm geklemmt. Sie hatte nichts, womit sie sich hätte verteidigen können, außer der massiven Lampe aus gedrehtem Aluminium.DasGeräusch hinter ihr konnte unmöglich von Nate stammen. Sie hätte die Wagentür gehört.
Hannah wechselte die Taschenlampe in die rechte Hand und packte sie wie eine Keule. Ihr Zeigefinger schwebte über dem Schalter. In ihren Ohren hörte sie ihr eigenes Blut durch die Arterien rauschen.
Sie verlassen sich auf dich. Nate und Leah. Du bist ihre einzige Chance.
Langsam, ganz langsam drehte sie sich um.
Hinter dem Kiesweg befand sich ein verwilderter Küchengarten. Am Ende des Gartens, hinter einem Lattenzaun, lagen die zur Farm gehörigen Felder. Sie sah das Getreide im Wind schwingen. In der Ferne die Silhouetten von Berggipfeln.
Zwischen ihr und dem Garten, nur ein paar Meter entfernt, stand etwas Großes auf dem Weg. Sie konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, doch es war riesig. Viel größer als sie selbst.
Hannah vernahm ein dunkles Grunzen. Ein Schnauben. Was immer es war, es war näher bei ihr als beim Wagen. Sie duckte sich angespannt und betätigte den Schalter.
Gefangen im blendenden Lichtschein der Taschenlampe, eingetaucht in grelles Licht stand der größte Hirschbock, den Hannah jemals gesehen hatte. Er hatte ein rötlich-braunes Fell, dunkler am Hals, und ein Geweih mit zahlreichen spitzen Enden. Zwei schwarze, feuchte Augenmusterten sie, und Hannah war wie gebannt von ihrem Blick.
Die Lampe hatte das Tier erschreckt, so viel war offensichtlich. Sie sah, wie die Muskeln an seiner Flanke zuckten und sich zusammenzogen, doch aus irgendeinem Grund floh der Bock nicht. Stattdessen machte er einen Schritt zur Seite und hob die Nase, um prüfend die Luft einzusaugen. Er stand sekundenlang völlig reglos, dann neigte er den Kopf zur Seite.
Hannah bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte. Das Tier war stark genug, um sie aufzuspießen. Sie sah, wie sich die Muskeln des Bocks spannten, und verkrampfte sich. Das Tier bewegte den Kopf leicht zur Seite, nach rechts, und musterte Hannah mit einem einzelnen glänzenden Auge.
Dann sprang der Bock so unvermittelt los, dass sie fast erschrocken aufgeschrien hätte, und war mit drei langen Sätzen verschwunden. Kies wirbelte durch die Luft.
Hannah starrte in die Dunkelheit, wie hypnotisiert von dem, was sie soeben gesehen hatte. Es war ein Rothirsch gewesen. Sie hatte nicht gewusst, dass es in Snowdonia überhaupt noch Rotwild gab.
Sie tat den Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen wieder auf Nate. Sie wandte sich zum Farmhaus, öffnete die Tür und betrat die Küche. Ein schneller Schwenk mit der Taschenlampe zeigte einen großen Raum mit einem unebenen, mit großen Steinplatten gefliesten Boden. Einen Kamin. Ein Sofa und zwei Sessel. Küchenschränke mit Glasfronten über staubigen Arbeitsflächen. Zwei Anrichten - eine gefüllt mit Geschirr, während die andere von Taschenbüchern geradezu überquoll, dazu Angelrollen, Kerzen, Päckchen mit Saatgut, Streichhölzer, ein Erste-Hilfe-Kasten. Am Fenster ein runder Tisch. Eine Tür, die in einen unbeleuchteten Hausflur führte.
Hannah entdeckte einen Lichtschalter an der Wand neben der Tür und legte ihn um. Nichts. Sie erinnerte sich, dass Nate ihr einmal erzählt hatte, dass das Haus zu abgelegen war, um ans öffentliche Stromnetz angeschlossen zu sein. Irgendwo in einem der Außengebäude gab es mit Sicherheit einen Generator. Er musste warten, und mit ihm die elektrische Beleuchtung.
Sie nahm eine Schachtel Streichhölzer, kniete neben dem Kamin nieder und legte die Maglite neben sich auf den Boden. Jemand hatte Späne und Holz auf dem Rost aufgeschichtet und alles vorbereitet, und so dauerte es keine Minute, bis ein Feuer im Kamin brannte. Sie nahm zwei Kerzen von der Anrichte und zündete sie an. Eine stellte sie auf den Tisch, die andere auf die Arbeitsfläche. Später würde sie weitere Kerzen anzünden, doch zuerst musste sie ihren Mann ins Haus schaffen.
Draußen war der Wind noch stärker geworden. Gefrorene Luft wehte von den Bergen herunter und brachte eisige Kälte mit sich. Hannah zog den Kopf ein und eilte geduckt zur Beifahrerseite des Discovery. Sie riss die Tür auf.
Nate saß zusammengesunken, die Haut weiß wie ein Bettlaken. Er hatte das Bewusstsein verloren. «Hey!» Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, und es gelang ihr, ihn zu wecken. Er richtete sich in seinem Sitz auf, und sie erkannte, dass er versuchte, klar zu sehen, doch er konnte seinen Blick nicht fokussieren. «Ich habe dich, Nate, okay? Versuch nicht zu reden. Es ist nur ein kurzerWeg. Ich hab Feuer gemacht. Du musst mir nur ein bisschen für die nächsten paar Schritte helfen. Ich fürchte, es wird ein wenig wehtun.»
Hannah wappnete sich innerlich, während Nate es irgendwie fertigbrachte, sich nach vorn zu lehnen und sich aus dem Wagen in ihre Arme fallen zu lassen. Es kostete sie all ihre Kraft, ihn festzuhalten, und all ihre Nerven, um seinen Schrei zu ignorieren. «Gut. Gut so, Nate. Das ist der schwierige Teil. Nur noch ein paar Schritte, okay?» Hannah warf einen Blick auf den Rücksitz und ihre schlafende Tochter.
Neun Jahre alt. Wie konnte das passieren mit uns?
«Leah, Liebes - ich komme gleich zurück und hole dich.»
Sie versetzte der Beifahrertür einen Tritt und schloss das kleine Mädchen im Wagen ein, wo es sicher war vor dem Sturm.
Dann führte sie Nate, den Arm über ihre Schulter gelegt, ins Haus und in die Küche, wo das Feuer den Raum bereits ein wenig erwärmt hatte.
«Sofa», stöhnte er undeutlich.
«Genau dorthin wollen wir.» Behutsam ließ sie ihn auf das Sofa sinken und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann legte sie seine Beine hoch. «Ich muss die Wunden ansehen.» Nates Hände fielen von den Seiten. Sie öffnete seine Jacke und riss das Hemd auf, und Knöpfe sprangen durch die Luft. Sein Oberkörper glänzte nass und rot vor Blut.
Sofort sah sie die beiden Stichwunden, jede zweieinhalb Zentimeter lang. Eine saß unmittelbar unter der untersten Rippe. Sie konnte nicht feststellen, ob seine Lunge durchbohrt war, konnte sich nicht aus dem Biologieunterricht erinnern, wie tief die Lunge im Brustkorb reichte. Die zweiteWunde saß noch tiefer, in seinem Unterleib.
Hannah holte den Erste-Hilfe-Kasten - eine grüne Plastikschachtel - vom Schrank. Sie löste den Verschluss, klappte den Deckel auf und kramte durch den Inhalt. Sie fand Reinigungstücher und begann unverzüglich damit, die Wunden zu säubern. Innerhalb Sekunden sickerte neues Blut aus den Einstichen. Wenigstens floss es nicht mehr in Strömen - auf der anderen Seite hatte er bereits eine Menge Blut verloren. Sie fand einen Beutel mit Wundverschlusspflastern und tat ihr Bestes, um die Wunden zu verkleben. Anschließend legte sie polsterndes Vlies darauf und bandagierte seinen Rumpf fest, indem sie die Binden unter seinem Rücken hindurchzog.
Es würde ihn nicht retten, so viel wusste sie. Nur professionelle medizinische Versorgung war noch dazu imstande.
Wenn überhaupt.
Mit einer Decke von einem der Sessel deckte sie ihn zu. «Nate, du musst wach bleiben, okay? Wir müssen Flüssigkeit in dich hineinbringen.
» Er nickte. «Ich liebe dich», flüsterte er.
Er liegt im Sterben.
Hannah wandte sich von ihm ab und wischte sich die Augen. Sie war außerstande zu antworten. Am Spülbecken fand sie ein Glas und füllte es mit Wasser. In einem der Schränke stand ein Paket Zucker. Sie schüttete etwas davon in das Glas und rührte mit einem Löffel, bis er sich gelöst hatte. «Hier, trink das.» Sie hielt ihm das Glas an die Lippen und hob seinen Kopf, während er den Inhalt schlürfte.
Er trank zwei ganze Gläser, bevor er anzeigte, dass er genug hatte. Dann atmete er zitternd ein. «Han ... im Flur. Schrank.» Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. «Ausrüstung ... für den See.»
«Was für eine Ausrüstung, Nate? Wovon redest du?»
«Tauchgerät.»
Hannah runzelte die Stirn, dann wurde ihr klar, was er meinte. Sie eilte nach draußen in den dunklen Flur. Im Lichtschein der Maglite fand sie den Schrank unter der Treppe. Im Innern stand, zwischen Mänteln, Overalls, Hüten und anderen Kleidungsstücken, eine Pressluftflasche mit Druckregler und Lungenautomat. Sie richtete den Lichtstrahl auf den weißen Metallzylinder. Stellenweise war Farbe abgeplatzt. Auf der Seite stand in schwarzer Druckschrift NITROX - sauerstoffangereichert. Auf einem handgeschriebenen Aufkleber darüber: MOD 28M-36%O2.
Sie klopfte mit dem Knöchel gegen die Flasche, kippte sie leicht zur Seite. Voll.
Die angereicherte Luft würde Nate beim Atmen helfen und seinen Kreislauf mit mehr Sauerstoff versorgen. Vielleicht gewannen sie dadurch etwas Zeit. Mit neuer Hoffnung erfüllt, zog sie die schwere Flasche hinter sich her in die Küche, befestigte den Automaten und drückte ihn in Nates Mund. «Okay, du gewinnst sicher keinen Schönheitspreis damit, aber atme einfach, hörst du? Schön langsam und gleichmäßig.»
Er war zu schwach zum Antworten, doch er hielt den Augenkontakt mit ihr aufrecht. Hannah spürte tausend Dinge, die in diesem Blick zwischen ihnen hin und her gingen. Sie nahm seine Hand. Drückte sie.
Die einzigen Geräusche in der Küche waren das Knistern der Scheite im Kamin und das mechanische Saugen des Lungenautomaten. Draußen heulte der Wind und schleuderte prasselnd Regentropfen gegen die Scheiben.
Hannah erhob sich, atmete tief durch und wollte nach draußen gehen, um Leah zu holen, als etwas Schweres gegen die Vordertür des Farmhauses krachte.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Einen knappen Kilometer vor Llyn Gwyr, in der Nähe eines Hügelkamms, verlangsamte Hannah den Geländewagen, bis er nur noch kroch, und schaltete die Scheinwerfer aus. Sie lenkte das Fahrzeug die letzten Meter zum Kamm hinauf, wo ein Eschenhain stand. Für einen Moment beobachtete sie, wie sich die kahlen Zweige im Wind bewegten.
Sie schaltete die Zündung aus. Bis zu diesem Augenblick hatte das Geräusch des Motors die Stimme des Windes übertönt. Hier oben, auf dem Kamm, sang er um sie herum und schaukelte den Wagen auf seinen Federn.
Mein Gott, was hast du dir nur dabei gedacht? Hast du wirklich geglaubt, dieser Ort wäre sicher?
Auf dem Beifahrersitz rührte sich Nate. Er hob den Kopf und blinzelte aus dem Fenster. «Kannst du irgendetwas erkennen? »
Jenseits der Bäume fiel das Land ab bis hinunter zum Ufer eines mandelförmigen Sees. Obwohl sich der Mond hinter weiteren von Westen heranziehenden Regenwolken versteckt hatte, phosphoreszierte die Wasserfläche. Die schwarzen Umrisse eines kleinen Flusses, der sich aus den Bergen hinabschlängelte, mündeten ganz im Westen in den See.
Das Farmhaus von Llyn Gwyr stand am gegenüberliegenden Seeufer. Ein steiler geschotterterWeg, der den Fluss über eine Steinbrücke überquerte, führte von der Straße zum Haus.
«Ich kann kaum was sehen auf diese Entfernung», antwortete sie. «Jedenfalls nicht in dieser Dunkelheit.»
«In der Türablage müsste ein Fernglas stecken. Kontrollier zuerst die Brücke. Guck, ob sie frei ist.»
Hannah nahm das Fernglas hervor, hob es an die Augen und richtete es auf den Fluss. Sie benötigte einen Moment, um sich zu orientieren, dann fand sie die Brücke. Der verwitterte Steinbogen sah kaum robust genug aus, um das Gewicht ihres Landrover zu tragen.
Keine Hindernisse auf der Brücke selbst - zumindest keine, die sie sehen konnte. Nichts, was darunter lauerte. Keine Hinweise auf einen möglichen Hinterhalt.
«Die Brücke ist sauber.»
«Okay. Jetzt das Haus.»
Sie hörte, wie er sein Gewicht verlagerte und ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken versuchte. Sofort nahm sie das Fernglas herunter. «Nate? Was ist? Was kann ich tun?»
«Nichts, Han. Mir geht es gut, keine Sorge.» Seine Stimme war belegt und heiser. «Mach weiter», sagte er erschöpft. «Kontrollier das Haus.»
Sie hob das Fernglas wieder an die Augen und richtete es auf das Farmhaus. Die weiß gekalkten Wände schimmerten im Licht eines wolkenverhangenen Mondes. Die charakteristischen Umrisse des durchhängenden Schieferdachs kannte sie bereits von Fotos. «Wonach soll ich suchen?»
«Kontrolliere die Fenster. Sind sie intakt?»
Eine Pause, während sie alle vier sichtbaren Fenster in Augenschein nahm. «Ja. Zumindest die auf dieser Seite.»
«Das ist gut. Was ist mit der Tür? Ist sie offen? Sieht sie aus, als wäre sie aufgebrochen worden?»
«Das ist schwierig zu sagen, aber ...» Sie runzelte die Stirn. «Nein. Nein, ich denke, sie ist okay.»
Das ist gut, Han. Das ist großartig. Hör zu, ich glaube nicht, dass jemand hier ist. Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier sein kann. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Wir lassen die Scheinwerfer aus, bis wir von der Straße sind, und wir fahren ganz langsam. Die Zufahrt beginnt gleich dort vorn. Wenn ich mich richtig erinnere, ist der Weg bis zur Brücke sehr holprig. Danach ist er eben. Wir parken auf der Rückseite des Hauses, damit niemand den Wagen von der Straße aus sehen kann.» Er stockte und presste die Luft zwischen den Zähnen hindurch, während er erneut sein Gewicht verlagerte. «Bist du so weit?» Hannah blies die Luft aus den Wangen und nickte. «Hältst du das Fernglas für mich?»
Sie hielt es ihm hin. Spürte, wie seine Hand über ihre streifte. Seine Finger waren nass und klebrig. Ihre Kehle zog sich zusammen. «Nate, ist das Blut?»
«Nicht jetzt. Komm, weiter. Wir sind fast in Sicherheit.» Sie musste es einfach wissen. Trotz seiner beruhigenden Worte und seines Zuspruchs war sie immer noch erschüttert von den Ereignissen des Abends. Sie musste wissen, womit sie es zu tun hatten, bevor sie weitermachten. Einem Impuls folgend, ging ihre Hand zur Deckenleuchte. Sie schaltete sie ein. Ein Teil der Hoffnung, an die sie sich die ganze Zeit geklammert hatte, starb in diesem Moment, als sie erkannte, wie es wirklich um ihn stand. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten - fest entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sein Zustand sie erschreckte.
Er schwamm geradezu in Blut.
Seine Wolljacke war durchnässt. Der Stoff seines Hemdes glänzte und tropfte. Blut hatte sich in einer Lache zwischen seinen Beinen gesammelt und in den Vertiefungen des Sitzes. Es durchnässte seine Jeans.
Als sie den Blick hob und ihm in die Augen sah, konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen. Sie schluchzte auf. Er starb. Es bestand kein Zweifel. Es war kaum noch Leben in ihm. Seine Lippen hatten sämtliche Farbe verloren. Seine Wangen, wo er sie nicht mit Blut beschmiert hatte, waren so weiß wie Milch. Trotz der kühlen Luft im Wagen standen Schweißperlen auf seiner Stirn.
Nate versuchte zu lächeln. «Ich denke, die Blutung lässt allmählich nach.»
Ihre Stimme zitterte. Sie hatteMühe, nicht zu schreien. «Du musst in ein Krankenhaus, Nate. Auf der Stelle!»
Er schüttelte den Kopf. «Nein. Das geht nicht. Ich komme durch. Keine Angst. Ich verspreche es.»
«Nate, wir -»
«Nein! Hannah, hör mir zu.» Er stockte, und sie sah, dass er nach Luft rang. «Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Du weißt es, ich weiß, dass du es weißt. Was aus mir wird, ist unwichtig. Wir müssen Leah schützen.»
Der Schrei drückte gegen Hannahs Kehle. Beim Klang von Leahs Namen drehte sie sich zu ihrer Tochter um, die auf dem Rücksitz schlief. Der Anblick ihres kleinen Gesichtchens, so glatt und zart und ernst, versetzte sie in Panik und führte gleichzeitig dazu, dass sie sich zusammenriss.
Er hatte recht - sie hatten keine andere Wahl. Doch wie sollte sie Nate in die Augen sehen und seine Worte ohne zu protestieren hinnehmen? Wie konnte sie sich zur Komplizin eines derartigen Opfers machen? Sie drohte innerlich zu zerreißen. Es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die sie so liebte. Einen dem anderen vorzuziehen war undenkbar. Genauso wie die Alternative.
Nate nahm behutsam die Hand aus der Jacke und starrte auf seine blutigen Finger. «Das kann man überleben, Hannah. Glaub mir. Ich weiß, ich habe eine Menge Blut verloren. Mir ist klar, wie schlimm es aussieht, aber ich habe schon früher Verletzungen wie diese gesehen, und ich kann es schaffen, ich schwöre es dir. Solange wir nur bald ins Haus kommen.»
Hannah blinzelte die Tränen weg. Sie glaubte ihm nicht. Er war blass wie ein Geist. Doch sie schluckte endlich den Schrei hinunter und drehte den Zündschlüssel um. «Dann halt jetzt still, ja?Wir sind in ein paar Minuten da. Sitzt du bequem?»
«Machst duWitze?»
Sie zwang sich zu einem Lachen. Es klang wie ein Keuchen. Sie löste die Handbremse, und der Geländewagen rollte langsam an. Sie glitten über den Kamm des Hügels und folgten der Straße auf der anderen Seite nach unten durch einen dichten Wald aus Fichten und Douglasien. Sie entdeckte die Abzweigung zur Linken und bog von der Straße ab.
Sobald sie die Straße hinter sich gelassen hatten, von allen Seiten umgeben von hohen Koniferen, riskierte sie es, hin und wieder das Fernlicht zu benutzen. DerWeg war wenig mehr als ein felsiger Hang. Sie musste langsamer als Schrittgeschwindigkeit fahren, um den größeren Brocken auszuweichen und Nate so wenig durchzuschütteln wie möglich. Nichtsdestotrotz stöhnte er alle paar Meter schmerzerfüllt auf, wenn die Räder über die Steine rutschten und rumpelten. Sie zuckte bei jedem Schmerzenslaut zusammen.
Ganz egal, wie die Chancen stehen - kämpf weiter, bis nichts mehr da ist, wofür du kämpfen kannst.
War das nicht das Lieblingsmotto ihres Vaters? Dieses Gefühl von Hilflosigkeit und diese Angst nutzten jedenfalls niemandem. Sie versuchte sich an das zu erinnern, was sie über Blutverlust wusste. Wenn Nate eine Überlebenschance haben sollte, musste sie unter allen Umständen verhindern, dass er in einen Schock fiel. Sein mühsamer Atem und das Schwitzen waren ernste Symptome einer schweren Hypovolämie.
Sie musste die Blutung stoppen. Sie musste ihn warm halten. Und sie musste ihm irgendwie Flüssigkeit zuführen. Sie passierten eine Holztafel, schwarze Schrift auf einer verwitterten weiß gekalkten Platte. LLyN GWyR. Eines der vorbereiteten Verstecke ihres Vaters.
Am Fuß des Hangs wurde der Weg besser. Sie folgte dem kurvigen Verlauf, manövrierte den Discovery über die Bogenbrücke und steuerte auf das Farmhaus zu. Die Scheinwerfer strichen über die Hausfront und tauchten alles in ihr helles Licht, mit Ausnahme der Fenster von Llyn Gwyr, deren schwarze Höhlen undurchdringlich blieben.
Der Weg führte auf der anderen Seite um das Haus herum. Sie passierten ein aus Stein errichtetes Stallgebäude und einen leeren Kuhstall. Kies knirschte unter den Reifen des Discovery, als Hannah hinter dem Haus anhielt.
Sie schaltete den Motor ab, dann die Scheinwerfer und zog den Schlüssel aus der Zündung. «Ich schließe das Haus auf. Ich bin gleich zurück und helfe dir beim Aussteigen.»
«Nimm die Taschenlampe mit.»
Sie nickte, griff hinter ihren Sitz und zog die starke Maglite hervor. Als sie sich wieder vorbeugte, küsste sie ihn. Seine Lippen waren klamm und kalt.
«Dass du mir nicht davonläufst», sagte sie.
«Hab eh meine Wanderstiefel vergessen.»
Gut, dass er noch Witze machen konnte. Auch wenn er so leise redete, dass sie ihn kaum hörte.
Hannah legte ihre Hand auf den Türgriff und zögerte. Jetzt, nachdem sie angekommen waren, widerstrebte es ihr, aus dem Discovery auszusteigen; der Wagen war während der letzten fünf Stunden ihre Zuflucht gewesen. Und als wollte er sie weiter entmutigen, wehte der Wind noch heftiger.
Jetzt zählte jede Minute. Sie konnte sich kein Zögern leisten. Hannah öffnete die Wagentür und sprang hinaus auf den Weg.
Der Wind packte sie mit voller Wucht und ließ sie stolpern. Er wehte in Böen wie ein wütender Geist, peitschte ihr das Haar ins Gesicht und drückte frische Tränen aus ihren Augen. Sie schlug die Wagentür zu, zog den Kopf ein, den Reißverschluss der Fleecejacke zu und wandte sich zum Haus.
Obwohl sich ihre Augen noch nicht völlig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die Umrisse des Gebäudes vor dem wolkenverhangenen Himmel erkennen, das tiefere Schwarz der Fenster, die Hintertür, das Gewächshaus. Die undeutlichen Schatten der Außengebäude zur Linken. Rasch überwand Hannah die wenigen Meter zwischen dem Wagen und dem Haupthaus, während sie sich fragte, was sie wohl erwartete. Sie wusste, dass das Haus jahrelang leergestanden hatte. Ihr Vater hatte jemanden bezahlt, der regelmäßig nachgesehen hatte, aber sie wusste nicht, in welchen Abständen. Eines der Fenster im Erdgeschoss war eingeschlagen, stellte sie fest. Nicht gut. Doch es war keine Zeit für Vorsicht. Sie musste Nate ins Haus schaffen. Sie erreichte die Hintertür und spähte durch das Küchenfenster. Nichts außer Dunkelheit dahinter. Sie fand den Schlüssel und schob ihn ins Schloss, als sie hinter sich eine Bewegung spürte.
Sie erstarrte, die Hand auf dem Türknauf, und das Geräusch verstummte. Dann hörte sie es erneut: das Knirschen von losem Kies auf dem Weg hinter ihr.
Wieder verebbte es, übertönt von Wind und Regen.
Sie hatte die Maglite unter den linken Arm geklemmt. Sie hatte nichts, womit sie sich hätte verteidigen können, außer der massiven Lampe aus gedrehtem Aluminium.DasGeräusch hinter ihr konnte unmöglich von Nate stammen. Sie hätte die Wagentür gehört.
Hannah wechselte die Taschenlampe in die rechte Hand und packte sie wie eine Keule. Ihr Zeigefinger schwebte über dem Schalter. In ihren Ohren hörte sie ihr eigenes Blut durch die Arterien rauschen.
Sie verlassen sich auf dich. Nate und Leah. Du bist ihre einzige Chance.
Langsam, ganz langsam drehte sie sich um.
Hinter dem Kiesweg befand sich ein verwilderter Küchengarten. Am Ende des Gartens, hinter einem Lattenzaun, lagen die zur Farm gehörigen Felder. Sie sah das Getreide im Wind schwingen. In der Ferne die Silhouetten von Berggipfeln.
Zwischen ihr und dem Garten, nur ein paar Meter entfernt, stand etwas Großes auf dem Weg. Sie konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, doch es war riesig. Viel größer als sie selbst.
Hannah vernahm ein dunkles Grunzen. Ein Schnauben. Was immer es war, es war näher bei ihr als beim Wagen. Sie duckte sich angespannt und betätigte den Schalter.
Gefangen im blendenden Lichtschein der Taschenlampe, eingetaucht in grelles Licht stand der größte Hirschbock, den Hannah jemals gesehen hatte. Er hatte ein rötlich-braunes Fell, dunkler am Hals, und ein Geweih mit zahlreichen spitzen Enden. Zwei schwarze, feuchte Augenmusterten sie, und Hannah war wie gebannt von ihrem Blick.
Die Lampe hatte das Tier erschreckt, so viel war offensichtlich. Sie sah, wie die Muskeln an seiner Flanke zuckten und sich zusammenzogen, doch aus irgendeinem Grund floh der Bock nicht. Stattdessen machte er einen Schritt zur Seite und hob die Nase, um prüfend die Luft einzusaugen. Er stand sekundenlang völlig reglos, dann neigte er den Kopf zur Seite.
Hannah bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte. Das Tier war stark genug, um sie aufzuspießen. Sie sah, wie sich die Muskeln des Bocks spannten, und verkrampfte sich. Das Tier bewegte den Kopf leicht zur Seite, nach rechts, und musterte Hannah mit einem einzelnen glänzenden Auge.
Dann sprang der Bock so unvermittelt los, dass sie fast erschrocken aufgeschrien hätte, und war mit drei langen Sätzen verschwunden. Kies wirbelte durch die Luft.
Hannah starrte in die Dunkelheit, wie hypnotisiert von dem, was sie soeben gesehen hatte. Es war ein Rothirsch gewesen. Sie hatte nicht gewusst, dass es in Snowdonia überhaupt noch Rotwild gab.
Sie tat den Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen wieder auf Nate. Sie wandte sich zum Farmhaus, öffnete die Tür und betrat die Küche. Ein schneller Schwenk mit der Taschenlampe zeigte einen großen Raum mit einem unebenen, mit großen Steinplatten gefliesten Boden. Einen Kamin. Ein Sofa und zwei Sessel. Küchenschränke mit Glasfronten über staubigen Arbeitsflächen. Zwei Anrichten - eine gefüllt mit Geschirr, während die andere von Taschenbüchern geradezu überquoll, dazu Angelrollen, Kerzen, Päckchen mit Saatgut, Streichhölzer, ein Erste-Hilfe-Kasten. Am Fenster ein runder Tisch. Eine Tür, die in einen unbeleuchteten Hausflur führte.
Hannah entdeckte einen Lichtschalter an der Wand neben der Tür und legte ihn um. Nichts. Sie erinnerte sich, dass Nate ihr einmal erzählt hatte, dass das Haus zu abgelegen war, um ans öffentliche Stromnetz angeschlossen zu sein. Irgendwo in einem der Außengebäude gab es mit Sicherheit einen Generator. Er musste warten, und mit ihm die elektrische Beleuchtung.
Sie nahm eine Schachtel Streichhölzer, kniete neben dem Kamin nieder und legte die Maglite neben sich auf den Boden. Jemand hatte Späne und Holz auf dem Rost aufgeschichtet und alles vorbereitet, und so dauerte es keine Minute, bis ein Feuer im Kamin brannte. Sie nahm zwei Kerzen von der Anrichte und zündete sie an. Eine stellte sie auf den Tisch, die andere auf die Arbeitsfläche. Später würde sie weitere Kerzen anzünden, doch zuerst musste sie ihren Mann ins Haus schaffen.
Draußen war der Wind noch stärker geworden. Gefrorene Luft wehte von den Bergen herunter und brachte eisige Kälte mit sich. Hannah zog den Kopf ein und eilte geduckt zur Beifahrerseite des Discovery. Sie riss die Tür auf.
Nate saß zusammengesunken, die Haut weiß wie ein Bettlaken. Er hatte das Bewusstsein verloren. «Hey!» Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, und es gelang ihr, ihn zu wecken. Er richtete sich in seinem Sitz auf, und sie erkannte, dass er versuchte, klar zu sehen, doch er konnte seinen Blick nicht fokussieren. «Ich habe dich, Nate, okay? Versuch nicht zu reden. Es ist nur ein kurzerWeg. Ich hab Feuer gemacht. Du musst mir nur ein bisschen für die nächsten paar Schritte helfen. Ich fürchte, es wird ein wenig wehtun.»
Hannah wappnete sich innerlich, während Nate es irgendwie fertigbrachte, sich nach vorn zu lehnen und sich aus dem Wagen in ihre Arme fallen zu lassen. Es kostete sie all ihre Kraft, ihn festzuhalten, und all ihre Nerven, um seinen Schrei zu ignorieren. «Gut. Gut so, Nate. Das ist der schwierige Teil. Nur noch ein paar Schritte, okay?» Hannah warf einen Blick auf den Rücksitz und ihre schlafende Tochter.
Neun Jahre alt. Wie konnte das passieren mit uns?
«Leah, Liebes - ich komme gleich zurück und hole dich.»
Sie versetzte der Beifahrertür einen Tritt und schloss das kleine Mädchen im Wagen ein, wo es sicher war vor dem Sturm.
Dann führte sie Nate, den Arm über ihre Schulter gelegt, ins Haus und in die Küche, wo das Feuer den Raum bereits ein wenig erwärmt hatte.
«Sofa», stöhnte er undeutlich.
«Genau dorthin wollen wir.» Behutsam ließ sie ihn auf das Sofa sinken und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann legte sie seine Beine hoch. «Ich muss die Wunden ansehen.» Nates Hände fielen von den Seiten. Sie öffnete seine Jacke und riss das Hemd auf, und Knöpfe sprangen durch die Luft. Sein Oberkörper glänzte nass und rot vor Blut.
Sofort sah sie die beiden Stichwunden, jede zweieinhalb Zentimeter lang. Eine saß unmittelbar unter der untersten Rippe. Sie konnte nicht feststellen, ob seine Lunge durchbohrt war, konnte sich nicht aus dem Biologieunterricht erinnern, wie tief die Lunge im Brustkorb reichte. Die zweiteWunde saß noch tiefer, in seinem Unterleib.
Hannah holte den Erste-Hilfe-Kasten - eine grüne Plastikschachtel - vom Schrank. Sie löste den Verschluss, klappte den Deckel auf und kramte durch den Inhalt. Sie fand Reinigungstücher und begann unverzüglich damit, die Wunden zu säubern. Innerhalb Sekunden sickerte neues Blut aus den Einstichen. Wenigstens floss es nicht mehr in Strömen - auf der anderen Seite hatte er bereits eine Menge Blut verloren. Sie fand einen Beutel mit Wundverschlusspflastern und tat ihr Bestes, um die Wunden zu verkleben. Anschließend legte sie polsterndes Vlies darauf und bandagierte seinen Rumpf fest, indem sie die Binden unter seinem Rücken hindurchzog.
Es würde ihn nicht retten, so viel wusste sie. Nur professionelle medizinische Versorgung war noch dazu imstande.
Wenn überhaupt.
Mit einer Decke von einem der Sessel deckte sie ihn zu. «Nate, du musst wach bleiben, okay? Wir müssen Flüssigkeit in dich hineinbringen.
» Er nickte. «Ich liebe dich», flüsterte er.
Er liegt im Sterben.
Hannah wandte sich von ihm ab und wischte sich die Augen. Sie war außerstande zu antworten. Am Spülbecken fand sie ein Glas und füllte es mit Wasser. In einem der Schränke stand ein Paket Zucker. Sie schüttete etwas davon in das Glas und rührte mit einem Löffel, bis er sich gelöst hatte. «Hier, trink das.» Sie hielt ihm das Glas an die Lippen und hob seinen Kopf, während er den Inhalt schlürfte.
Er trank zwei ganze Gläser, bevor er anzeigte, dass er genug hatte. Dann atmete er zitternd ein. «Han ... im Flur. Schrank.» Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. «Ausrüstung ... für den See.»
«Was für eine Ausrüstung, Nate? Wovon redest du?»
«Tauchgerät.»
Hannah runzelte die Stirn, dann wurde ihr klar, was er meinte. Sie eilte nach draußen in den dunklen Flur. Im Lichtschein der Maglite fand sie den Schrank unter der Treppe. Im Innern stand, zwischen Mänteln, Overalls, Hüten und anderen Kleidungsstücken, eine Pressluftflasche mit Druckregler und Lungenautomat. Sie richtete den Lichtstrahl auf den weißen Metallzylinder. Stellenweise war Farbe abgeplatzt. Auf der Seite stand in schwarzer Druckschrift NITROX - sauerstoffangereichert. Auf einem handgeschriebenen Aufkleber darüber: MOD 28M-36%O2.
Sie klopfte mit dem Knöchel gegen die Flasche, kippte sie leicht zur Seite. Voll.
Die angereicherte Luft würde Nate beim Atmen helfen und seinen Kreislauf mit mehr Sauerstoff versorgen. Vielleicht gewannen sie dadurch etwas Zeit. Mit neuer Hoffnung erfüllt, zog sie die schwere Flasche hinter sich her in die Küche, befestigte den Automaten und drückte ihn in Nates Mund. «Okay, du gewinnst sicher keinen Schönheitspreis damit, aber atme einfach, hörst du? Schön langsam und gleichmäßig.»
Er war zu schwach zum Antworten, doch er hielt den Augenkontakt mit ihr aufrecht. Hannah spürte tausend Dinge, die in diesem Blick zwischen ihnen hin und her gingen. Sie nahm seine Hand. Drückte sie.
Die einzigen Geräusche in der Küche waren das Knistern der Scheite im Kamin und das mechanische Saugen des Lungenautomaten. Draußen heulte der Wind und schleuderte prasselnd Regentropfen gegen die Scheiben.
Hannah erhob sich, atmete tief durch und wollte nach draußen gehen, um Leah zu holen, als etwas Schweres gegen die Vordertür des Farmhauses krachte.
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Autoren-Porträt von Stephen L. Jones
Stephen L. Jones wuchs in Chandlers Ford im britischen Hampshire auf und studierte am Royal Holloway College in London. Heute ist er Leiter einer großen Medienagentur in London und lebt mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Söhnen in Surrey. Der Bann ist sein erster Roman.Axel Merz, geboren 1957, Studium der Archäologie und der Naturwissenschaften, Übersetzer von u. a. Dan Brown, Lincoln Child sowie Philip Kerr. Lebt mit seiner Frau zurückgezogen bei Bonn und Heidelberg
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen L. Jones
- 2013, 1. Auflage, 528 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Axel Merz
- Verlag: Rowohlt Verlag GmbH
- ISBN-10: 3644502617
- ISBN-13: 9783644502611
- Erscheinungsdatum: 02.12.2013
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