Was mir wichtig war (ePub)
Letzte Aufzeichnungen und Gespräche
Am 11. März 2002 ist Marion Gräfin Dönhoff im Alter von 92 Jahren auf Schloss Crottorf gestorben. Über ein halbes Jahrhundert war die Gräfin das moralische Rückgrat der Wochenzeitung Die Zeit. Zwei ihrer Wegbegleiter und engsten Vertrauten, Haug von...
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Produktinformationen zu „Was mir wichtig war (ePub)“
Am 11. März 2002 ist Marion Gräfin Dönhoff im Alter von 92 Jahren auf Schloss Crottorf gestorben. Über ein halbes Jahrhundert war die Gräfin das moralische Rückgrat der Wochenzeitung Die Zeit. Zwei ihrer Wegbegleiter und engsten Vertrauten, Haug von Kuenheim und Theo Sommer, haben in den letzten Monaten ihres Lebens zahlreiche Gespräche mit ihr geführt. Noch einmal sagte sie, was ihr im Leben wichtig war und was sie weitergeben wollte an die Nachwelt.
Am 11. März 2002 ist Marion Gräfin Dönhoff im Alter von 92 Jahren auf Schloss Crottorf gestorben. Über ein halbes Jahrhundert war die Gräfin das moralische Rückgrat der Wochenzeitung Die Zeit. Zwei ihrer Wegbegleiter und engsten Vertrauten, Haug von Kuenheim und Theo Sommer, haben in den letzten Monaten ihres Lebens zahlreiche Gespräche mit ihr geführt. Noch einmal sagte sie, was ihr im Leben wichtig war und was sie weitergeben wollte an die Nachwelt.
Lese-Probe zu „Was mir wichtig war (ePub)“
Vorwort Marion Gräfin Dönhoff war eine der großen Journalistinnen des 20. Jahrhunderts. Nur wenige Deutsche sind in der Zunft der international angesehenen Publizisten zu so hohem Ansehen gelangt. Draußen in der Welt galt sie als klare, verlässliche Stimme Deutschlands. Im Lande selbst ist sie ein halbes Jahrhundert lang weit mehr gewesen als eine schreibgewaltige, urteilsstarke Kommentatorin: eine moralische und, jenseits der Parteien, eine politische Instanz. Dabei hatte sich die ostpreußische Gutsbesitzerin auf das journalistische Metier nie vorbereitet. Als es sie 1946 zur ZEIT nach Hamburg verschlug, tat sie den Sprung ins kalte Wasser. Sie wurde groß mit der ZEIT und diese groß durch sie. Das Pressehaus wurde der Gräfin für 56Jahre zur Mitte ihres Daseins - 56Jahre, in denen sie das Herz und, vor allem, das Rückgrat des Blattes war. Die Herausgeber dieses Bandes haben länger mit Marion Dönhoff zusammengearbeitet als irgendjemand sonst. Sie holte Theo Sommer, der ihr Nachfolger wurde als Chefredakteur und später - neben Helmut Schmidt - ihr Kollege als ZEIT-Herausgeber, 1957 aus dem Politischen Seminar Theodor Eschenburgs. Haug von Kuenheim stieß 1961 hinzu, wurde Stellvertretender Chefredakteur und - im privaten Bezirk - geschäftsführender Vorstand der Marion-Dönhoff-Stiftung, die sich, gespeist aus den Bucheinkünften der Gräfin und als Alleinerbin ihres privaten Vermögens, der Förderung osteuropäischer Studenten und Wissenschaftler widmet; 1999 erschien seine Biografie »Marion Dönhoff«. Wir waren der Gräfin nahe, wenngleich in aller Nähe stets ein Stück Distanz erhalten blieb (wie umgekehrt bei der Gräfin in aller Distanz, die sie anderen gegenüber wahrte, immer ein Gutteil Nähe aufblitzte: Neugier, Interesse, Teilnahme). Wir haben 1999 zusammen als Hommage zu ihrem 90. Geburtstag ein ZEITPunkte-Heft mit ihren besten Artikeln aus fünf Jahrzehnten herausgegeben. Wir haben mitgebangt, als sie sich im Dezember 2000 zum dritten Mal einer Krebsoperation
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unterzog. Und wir haben mit ihr gelitten, als wir zusehen mussten, wie sie sich danach nie ganz erholte; wie ihr rechter Arm so stark anschwoll, dass sie keinen Stift mehr führen konnte; wie die Schmerzen von Monat zu Monat unerträglicher wurden, die Gräfin jedoch alle schmerzlindernden Mittel zurückwies, da diese sie, wie sie sagte, doch nur »taumelig oder benebelt« machten - das wollte sie nicht. Im Sommer 2001 war nicht mehr zu übersehen, dass Marion Dönhoffs Kräfte schwanden. Sie wurde zu schwach, um noch die 400 Meter zu ihrem Lieblingslokal »Plat du Jour« zu gehen; schon der Weg ins Thai-Restaurant im Erdgeschoss des Pressehauses erforderte eine Kraftanstrengung. Sie konnte nicht mehr schreiben: Der letzte Artikel, den sie noch mit weichem Bleistift zu Papier brachte, »Nachbar Polen«, erschien am 13. Juni 2001; ihren allerletzten Text, eine bittere Glosse von 37 Zeilen Länge gegen die amerikanische Überrüstung, ihrer Sekretärin Irene Brauer in den Block diktiert, veröffentlichte die ZEIT am 31. Oktober. Aber sie war geistig klar und hellwach, wenngleich sie nun schneller ermattete als früher. Sie kam in die Konferenzen des politischen Ressorts der ZEIT, telefonierte mit Gott und der Welt, erledigte pflichtbewusst ihre umfängliche Korrespondenz, trug mit brüchiger Stimme, doch ungebrochener Entschiedenheit im Kuratorium der ZEIT-Stiftung ihre Meinung zu laufenden und künftigen Projekten vor. Damals kam uns die Idee, mit Marion Dönhoff - nun: letzte Gespräche zu führen, die Summe ihrer Lebenserfahrung, gleichsam ihr geistiges Vermächtnis aus ihr herauszufragen. Was sie selber nicht mehr schriftlich zu formulieren vermochte, sollte sie aufs Tonband sprechen. Sie wehrte sich gegen den bloßen Gedanken. Letzte Gespräche, das Ende vor Augen? Ihr Lebenswille, ihre Kraft zur Hoffnung waren noch zu stark. Aber dann, Ende November, Anfang Dezember 2001, stimmte sie auf einmal zu. Danach haben wir im Beisein ihres Großneffen Friedrich Dönhoff vier Gespräche mit ihr geführt, drei noch vor Weihnachten, eines nach Neujahr. Zweimal trafen wir uns in ihrem Blankeneser Haus am Pumpenkamp, zweimal in ihrem Herausgeberbüro im Pressehaus am Speersort. Wir hatten uns vorgenommen, in jeder Sitzung ein bestimmtes Thema, einen Themenblock abzuhandeln. Dies gelang jedoch nur in Grenzen, streng genommen auch bloß in der ersten Sitzung am 8. Dezember. Erst fiel der Gräfin nachträglich immer noch etwas zum vorangegangenen Thema ein; später schweiften ihre Gedanken öfters ab. Wir merkten bald, dass ihr die Anstrengung des nachdenklichen Gesprächs von Sitzung zu Sitzung schwerer fiel. Ihre Darlegungen fielen von Mal zu Mal lapidarer aus. Die Sprache wurde immer kompakter, immer kantiger. Wo sie anfangs noch längere Passagen formulierte, begnügte sie sich später mit wenigen Sätzen, am Ende zuweilen mit einem Kopfnicken. Immer stärker plagten sie die Schmerzen im rechten Arm. Dann und wann legte sie sich während des Gesprächs aufs Sofa; in der Waagerechten litt sie weniger. Dabei war sie dennoch bis zuletzt die alte Gräfin: fürsorglich einerseits, voller Wissbegierde andererseits. Wir hatten sie früher oft aufgezogen: Auf ihren Gütern in Ostpreußen habe sie gelernt, »Gesindepflege« zu treiben, heute habe sie wohl wieder ihren Tag der Gesindepflege. Aber dieses Für-andere-Sorgen, Sich-um-andere-Kümmern war ihr tief eingebrannt - eine Haltung, keine Attitüde. Einmal unterbrach sie uns mitten im Gespräch: »Sagt mal, dabei fällt mir ein: Der Mike Naumann wird sechzig. Ist das nicht morgen? Haben Sie seine Handy-Nummer?« Und typisch für ihren grenzenlosen Wissensdrang war ein anderes Einschiebsel: »Ted, Sie sind doch im letzten Jahr auf so vielen internationalen Konferenzen gewesen. Was steht denn im Vordergrund der Sorgen - Sicherheitsfragen, politische oder wirtschaftliche?« Am 1. Dezember, dem Tag vor ihrem 92. Geburtstag, sind wir mit einer Flasche Champagner unangemeldet im Pumpenkamp eingefallen. Die Gräfin öffnete die Haustür, zugleich verblüfft und erfreut. Im Kamin loderte ein gemütliches Feuer, die Hausherrin reichte Kekse, wir ließen sie hochleben. Sie wirkte beschwingt, ihre Gebrechlichkeit überstrahlt von der Heiterkeit eines Gemüts, das noch nicht abgeschlossen hatte, aber auf alles gefasst war. Über die Feiertage fuhr sie nach Crottorf auf das Schloss ihres Neffen Hermann Hatzfeldt. Aber gleich nach Neujahr drängte sie zurück nach Hamburg: Termine, Termine! Indessen war sie nach ihrer Rückkehr sichtlich geschwächt, matt, schmerzgeplagt. Unser letztes Gespräch führten wir am 9. Januar in ihrem Büro. Nach anderthalb Stunden schlug sie vor, über Gerechtigkeit zu reden. Aber dann übermannten sie die Schmerzen. Sie bat um Vertagung. Drei Tage später stürzte sie auf der Treppe ihres Hauses und fiel in ein wochenlanges Koma. Als sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, holte ihr Neffe sie nach Crottorf. Nach einer kurzen Phase des wachen Dahindämmerns ist sie dort am 11. März 2002 gestorben. Wir hatten noch eine Reihe weiterer Gespräche geplant, wollten nachfragen, Erläuterungen, Ergänzungen und Präzisierungen erbitten. Es ist nicht mehr dazu gekommen. Was wir in diesem Band als Gesprächsprotokoll vorlegen, ist denn ein Fragment - ein Fragment allerdings, das bei aller Bruchstückhaftigkeit die Essenz dessen enthält, wofür Marion Dönhoff stand, wofür sie eintrat, wofür sie kämpfte. Dies gilt zumal für ihren Appell, den Versuchungen des bloßen Materialismus zu widerstehen und den Bezug zu einer höheren Macht, die über dem Menschen waltet, nicht zu vergessen. Es war dies gleichsam der Kammerton A ihres zweiten Lebens, ihres publizistischen Wirkens. Er war schon in dem allerersten Artikel angeklungen, den »M. D.« am 21. März 1946 auf der Titelseite der ZEIT veröffentlichte: »Opferbereitschaft, Heldentum, Ehre, Treue, das alles ist fragwürdig geworden, weil ein materialistisches Zeitalter diese Begriffe aus dem metaphysischen Zusammenhang, in dem allein ihnen Sinn zukommt, herausgelöst hat ^ Notwendig ist die geistige Wandlung des Menschen.« Ähnlich warnte sie in der Friedenspreisrede von 1971 vor der willfährigen Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes und des Marketings: »In der Tat wird durch die totale Kommerzialisierung und technische Rationalisierung die Metaphysik und jedes den wirtschaftlichen Erfolg transzendierende Denken verdrängt.« In unseren letzten Gesprächen hat die Gräfin diese Botschaft - die auch den Kern ihres Buches »Zivilisiert den Kapitalismus« bildete - noch einmal zu einem bewegenden Aufruf verdichtet. Neben den Gesprächsprotokollen sind in diesem Band bisher unveröffentlichte Texte versammelt: Vorträge, Dankesreden bei Preisverleihungen, Ansprachen zu den verschiedensten Anlässen. Außerdem sind hier einige Manuskripte abgedruckt, die in Marion Dönhoffs kleiner, spitzer Schrift den Bleistift-Vermerk tragen: »Mir wichtig«. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass sich hier und dort Wiederholungen einschlichen. Wir haben sie stehen lassen, da an ihnen abzulesen ist, auf welche Themen es der Gräfin wirklich ankam. Schließlich findet sich im letzten Kapitel eine knappe Auswahl ihrer besten und bedeutsamsten Artikel. Auf diese Weise ist ein veritables Dönhoff-Kompendium entstanden, ein Vademekum für all ihre Freunde. Die Gedanken der Gräfin verdienen es freilich, über ihre alte Lesergemeinde hinaus Verbreitung zu finden. Marion Dönhoff hat eine Fackel entzündet, deren heller Schein uns weit voraus leuchtet auf unserem Weg in die Zukunft. Haug von KuenheimTheo Sommer Hamburg, im Juni 2002 Die letzten Gespräche Staatsform und Gesellschaft Eines Ihrer Bücher trug den Titel »Von Gestern nach Übermorgen«. Ihr Leben umspannt fast das gesamte 20. Jahrhundert bis hin zu dem stürmischen Übergang in das 21. Jahrhundert. Als Sie geboren wurden, gab es noch den Kaiser in Deutschland. Ja, den habe ich ja noch gesehen. Sie haben ihn gesehen, als er schon im Exil war? Ja. In Doorn. Wir besuchten gute Freunde von uns. Die hatten eine enge Beziehung zum Kaiser und sagten: Kommt doch mit, wir fahren morgen zu ihm an die Zuidersee. Und da sind wir mitgefahren. Weiche Rolle spielte das Kaiserhaus, spielte Wilhelm II. für Ihre Familie? Für meine Mutter eine große, weil sie ja als Palastdame viel bei Hofe war und die Kaiserin sehr liebte, die umgekehrt auch sie gern mochte. Was hieß das denn konkret: »Palastdame«? Lady-in-waiting? Nein, Lady-in-waiting ist, glaube ich, nicht die richtige Beschreibung. Es war keine Funktion mit dem Titel verbunden. Ihre Mutter musste nicht regelmäßig an Ort und Stelle sein und der Kaiserin die Zöpfeflechten? Nein, nein. Palastdame war mehr ein Titel als eine echte Funktion. Mein Vater stand weit darüber, der fand das Hofleben vollkommen blöde. Er fand alles Kokolores. Was fand der Kokolores? Den Betrieb bei Hofe? Die Monarchie an sich? Oder diesen Kaiser? Wahrscheinlich mehr dieses auf die Minute festgelegte Protokoll. Dass man um Punkt 12.12 Uhr dies oder jenes tun musste und dass alles so bürokratisch geordnet war, fand er schrecklich. Aber er war letztlich doch ein Monarchist? Ja. Die Monarchie wurde nicht in Frage gestellt? Das weiß ich natürlich nicht, weil ich noch sehr klein war, aber ich glaube nicht, dass er die monarchische Ordnung ändern wollte. Sie waren zehn Jahre alt als der Kaiser ins Exil über die holländische Grenze gegangen ist. Herrschte da große Besoffenheit im Hause? Hatten die Dönhoffs das Gefühl: Dies ist das Ende der Welt? Das Ende unserer Welt? Nee, eigentlich hat man rein gefühlsmäßig eher gedacht: Das hätte er längst machen können, der Kaiser. Er war ja aus allen möglichen Gründen sehr angefochten, und es musste ziemlich auf ihn eingeredet werden, dass er überhaupt wegging. Herrschte nicht eine Art Weltuntergangsgefühl, weil das Deutsche Reich den Krieg verloren hatte und für die Niederlage in Versailles dann bitter bezahlen musste? Das war sicher der Fall. Man wusste ja auch gar nicht, wo es hingeht, so wie heute eigentlich auch. Kein Mensch wusste, was Demokratie ist. Ein Onkel von mir sagte über einen Verwandten: »Ach, das ist auch so ein verfluchter Demokrat« - bloß weil er das System ändern wollte. Infolgedessen wollte man die Demokratie nicht. Weil sie die Monarchie abschaffte? Weil sie den Kaiser abschaffte und die alte Hierarchie obendrein. Auch die, die nachher eigentlich gerne Demokraten waren, hatten ja zunächst nicht gewusst, was Demokratie bedeutet. Griffen denn die Revolutionswirren auf Ostpreußen über bis hin nach Friedrichstein, oder herrschte weiter die alte Ordnung? Auf Königsberg ja, aber auch nicht schrecklich furios. Auf dem Land blieb alles beim Alten - mehr oder weniger? Mehr oder weniger. Können Sie sich an einen Zeitpunkt erinnere, an dem Sie sich bewusst mit dieser Frage »Konstitutionelle Monarchie oder demokratische Republik« auseinander gesetzt haben? Wir alle, meine Geschwister auch, waren eigentlich aufsässig gegen die Obrigkeit, und das ganze Getue mit dem Kaiser und der Kaiserin fanden wir ein bisschen lächerlich. Andererseits waren die Dönhoffs doch eng verbunden mit der Geschichte Preußens. Das ja. Preußen verehrte man sehr, aber da fanden viele eben, dass Wilhelm II. schon ein Abstieg war. Das war ja auch wirklich so. Aber Wilhelm I., der war noch ein richtiger Preuße? Ja, der war ein Preuße, zwar ein etwas fantasieloser, dennoch ein makelloser Preuße. Wilhelm II. hingegen hat viel Blödsinn verzapft. Das wusste man? Darüber redete man auch? Seine öffentlichen Reden waren doch fürchterlich. Denken Sie nur an die berüchtigte Hunnenrede, mit der er 1900, während des Boxeraufstands, das deutsche Expeditionskorps nach China verabschiedete. Natürlich war man da empört. Die »Daily Telegraph«-Affäre spielte sich ein Jahr vor meiner Geburt ab. Da sagte der Kaiser über die Engländer: Sie sind verrückt wie die März-Hasen. Ein Bruch war doch wahrscheinlich die Jahrhundertwende. Die Jahrhundertwende ist ja immer ein Einschnitt, war es auch diesmal. Da sagen die Leute dann immer: Jetzt ändert sich alles, jetzt werden wir bestraft für unsere Sünden. Das ist stets eine Zäsur. Sie haben oft darüber geschrieben oder davon erzählt, wie nach dem gewonnenen deutsch-französischen Krieg von 1870/71 Ihr Großvater das Gefühl hatte, dass das alte Preußen aufgehört hatte zu existieren. Auch mein Vater beklagte, dass in der Gründerzeit das Geld zum Maßstab aller Dinge wurde. Heißt dies, dass Preußen und die preußischen Tugenden gebunden waren an die feudale Agrargesellschaft? Und dass es mit Preußen zu Ende ging, als mit der Industriegesellschaft plötzlich große Unternehmen entstanden, die auf den Profit achten muss? Es gab da gewiss eine bestimmte Beziehung. Die hierarchische Gesellschaft war ständisch gegliedert. Jedem Stand war eine bestimmte Aufgabe zugewiesen - dem Adel die Gestellung der Offiziere, dem ehrbaren Kaufmann der Handel und so weiter. Jeder hatte seine Art Verpflichtung. In dieser ständischen Ordnung gehörten Sie einer privilegierten Schicht an. Ja. Nur war dieses Privileg nicht so famos, wie viele heute denken, weil unsere Altvorderen natürlich kolossal viel dafür leisten mussten. Sie erhielten furchtbar wenig Geld und mussten dennoch ständig präsent sein. Jedes Privileg hat eben seinen Preis, umsonst gibt es nichts. Man hat sich seine Privilegien verdient durch Selbstverpflichtung oder Verpflichtung gegenüber dem Staat? Man musste sich standesgemäß benehmen, sonst flog man raus. Wenn zum Beispiel ein Adliger sich scheiden ließ, dann musste er verschwinden. Dann hieß es rüde: Er muss ab nach Amerika. Das war eine Art Verbannung. Herrschte da nicht eine große Heuchelei? Eigentlich nicht. Der Kodex war doch akzeptiert. Es gab Seitensprünge, gewiss. Aber es gab keine Korruption im heutigen Sinne. Gab es Verpflichtungen, die schon den Kindern auferlegt wurden? Ja, es hieß immer: Das tut man nicht, oder das tut man. Und was das war, das sagten die Erwachsenen an.
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Autoren-Porträt von Marion Gräfin Dönhoff
Marion Gräfin Dönhoff, geboren 1909 in Ostpreußen, unternahm nach dem Abitur ausgedehnte Reisen durch Europa, Nordamerika und Ostafrika. Dann studierte sie Volkswirtschaft; 1936 trat sie in die Verwaltung der Familiengüter ein, deren Leitung sie 1939 übernahm. 1945 musste sie vor der herannahenden Front nach Westdeutschland fliehen. Seit 1946 gehörte sie der Redaktion der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT an. 1955 wurde sie Leiterin des politischen Ressorts, 1968 Chefredakteurin und 1973 Herausgeberin. Sie ist u.a. mit dem Theodor- Heuss-Preis (1966) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1971) ausgezeichnet worden. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: "Namen, die keiner mehr nennt", "Kindheit in Ostpreußen"(1988), "Zivilisiert den Kapitalismus" und ¿Um der Ehre willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli¿ (1994). . Marion Gräfin Dönhoff verstarb 2002 im Alter von 92 Jahren.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marion Gräfin Dönhoff
- 2010, 208 Seiten, Deutsch
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641035066
- ISBN-13: 9783641035068
- Erscheinungsdatum: 04.03.2010
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