2012: Das Ende aller Zeiten
Roman
Jed entdeckt einen alten Maya-Code. Ihm wird klar: Die alten Maya sagten die großen Katastrophen der Menschheit voraus, bis zu dem Tag, an dem alles endet - dem 21.12.2012. Er muss zurück in die Zeit der Maya, um zu sehen, ob es eine Chance gibt.
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Produktinformationen zu „2012: Das Ende aller Zeiten “
Jed entdeckt einen alten Maya-Code. Ihm wird klar: Die alten Maya sagten die großen Katastrophen der Menschheit voraus, bis zu dem Tag, an dem alles endet - dem 21.12.2012. Er muss zurück in die Zeit der Maya, um zu sehen, ob es eine Chance gibt.
Klappentext zu „2012: Das Ende aller Zeiten “
Von seiner Mutter, einer Indianerin, hat Jed DeLanda ein Brettspiel geerbt. Mit ihm kann er die Zukunft berechnen, genauer als ein Computer. Aus dem Spiel wird Ernst, als Jed ein alter Maya-Codex in die Hände fällt. Jed stellt fest: Die Maya spielten dasselbe Spiel wie er, nur in weit komplexerer Form. Sie sagten die großen Katastrophen der Menschheit voraus, bis zu dem Tag, an dem alles endet. Dem 21.12.2012. Jed hat keine Wahl. Er muss zurück in die Zeit der Maya reisen,
um zu sehen, ob die Menschheit noch eine Chance hat.
Lese-Probe zu „2012: Das Ende aller Zeiten “
2012: Das Ende aller Zeiten von Brian D'Amato... mehr
Als Erstes erblickte ich einen roten Punkt auf türkisfarbenem Grund. Dann tauchte links darüber noch ein Punkt auf, und ein dritter dicht unter dem ersten, und dann immer mehr, fünf und neun und dreizehn. Die Punkte schwollen an und breiteten sich aus, und wo sie sich berührten, flossen sie ineinander und verschmolzen. ich erkannte, dass es Tropfen meines Blutes waren, die von meiner Zunge auf türkisblaues Opferpapier fielen.
Es hat funktioniert, wurde mir klar. Heilige mierditas.
Wir schreiben nicht das Jahr 2012. Wir schreiben das Jahr 664. Den 20. März 664 n. Chr. im Gregorianischen Kalender. oder nach Maya-Zeitrechnung den 3 Erdrassler, 5 Regenfrosch im elften uinal des elften tun im elften k'atun des neunten b'ak'tun. Und es ist 4.48 Uhr morgens. Ein Sonntag.
Hmm.
So ist es wohl bei jeder großen Veränderung der Lebensumstände. Das Begreifen kommt mit einiger Verzögerung, dafür mit umso größerer Wucht: Ach du Schande, ich bin verhaftet worden, oh Scheiße, der hat mich tatsächlich niedergestochen, hey, ich heirate jetzt, o Gott, ich bringe ein Kind zur Welt, Mannomann, ich bekomme gerade einen dreifachen Bypass, he, diese Häuser stürzen ja wirklich ein! Und jedes Mal kommt es einem vor, als wäre einem noch nie etwas auch nur annähernd so Wichtiges geschehen. oder sonst wem.
Hijo de puta, dachte ich. ich blickte auf und konzentrierte mich auf den niedrigen, trapezförmigen Durchgang. Der Himmel war violett; trotzdem konnte ich mehr Sterne sehen als je zuvor, Schleier und Sprengsel aus Sternen bis hinunter zur vierten Größenklasse. Sie waren natürlich verschoben, aber Taro hatte den Transfer so getimt, dass die Spitze von 1-ozelots Zigarre - Algenib im Pegasus - sich annähernd an der gleichen Position innerhalb der Tür befand wie zuvor, ein wenig rechts vom Zentrum. Links davon, auf halbem Weg zu Homan, stand ein neuer Stern, hell genug, um als Gamma Andromedae aufgeführt worden zu sein. Er musste etwa hundert Jahre vor dem Erlöschen stehen, andernfalls hätte Al-Chwarizmi ihm einen Namen gegeben.
Unfassbar, dachte ich. Absolut um-fass-bar. Sie haben es tatsächlich geschafft. Neue Bat-Zeit, gleicher Bat-Punkt. Nicht dass ich tatsächlich noch an der gleichen Stelle des Universums gewesen wäre, falls das etwas zu sagen hat: in 1347 Jahren bewegt das Sonnensystem sich innerhalb der Milchstraße ein ganzes Stück weiter. Aber ich war auf dem gleichen Fleck Erde geblieben. ich befand mich noch immer in einer kleinen Kammer dicht unterhalb der Spitze der größten Pyramide in der Stadt ix, in einer Region, die man später Alta Verapaz in Zentralguatemala nennen würde. im Augenblick wurde das Heiligtum von Fackeln orangerot beschienen. Die Säulen an den Wänden, mit Hieroglyphen bedeckt, die an Skarabäen erinnerten, sahen glatt und kein bisschen verwittert aus und waren bunt bemalt: schwarz, blau und koschinellenrot. Und die Stadt war voller Leben. ich hörte die Menschenmenge draußen, genauer gesagt: ich spürte ihre Gesänge durch den Stein. Die Sache ist nämlich die, dass ich mich -- von meinem Blickpunkt aus -- im Raum nicht bewegt hatte. Aber ich war ...
Ja, was? Beinahe hätte ich jetzt gesagt, ich wäre in der Zeit rückwärtsgereist. Aber ich will nicht schon gleich zu Anfang zu sehr vereinfachen.
Traurige Tatsache bleibt, dass Zeitreisen nicht möglich sind. in die Vergangenheit, meine ich. Was die Zukunft angeht, sieht die Sache anders aus. Da können Sie sich schließlich einfrieren lassen, wenn Sie das Warten verkürzen wollen. Aber in der Zeit rückwärtszureisen ist und bleibt definitiv, absolut und für immer undurchführbar, und zwar aus einer Reihe wohlbekannter Gründe. Einer davon ist das Großvater-Paradoxon: Könnten Sie in der Zeit zurückreisen, könnten Sie dort ihren eigenen Großvater töten, solange er noch ein Kind ist, und dann hätte es Sie nie gegeben, also hätten Sie die Reise in die Vergangenheit gar nicht antreten und ihren Großvater nicht umbringen können. Ein anderer Grund ist: Selbst wenn Sie auf ihrer Zeitreise niemanden umbringen und auch sonst nichts tun, wäre doch mit ziemlicher Sicherheit ein Teil der Moleküle, aus denen Sie bestehen, die gleichen wie die, aus denen ihr jüngeres ich bestanden hat. Also wäre das gleiche Molekül gleichzeitig an zwei unterschiedlichen orten, und das kann niemals geschehen. Der dritte Grund ist ein mechanisches Problem. Der einzige Weg in die Vergangenheit, der zumindest mathematisch möglich wäre, führt über die berühmte Wurmlochstrecke. Aber wenn man Materie durch ein Wurmloch schickt, ist das ungefähr so, als würde man eine Vase Meißener Porzellan durch einen Schredder schicken. Alles, was durch das Wurmloch geht, kommt am anderen Ende zermalmt und verquirlt und zu nichts mehr zu gebrauchen heraus. Aber, aber, aber ... wir kennen einen Ausweg.
Die Forschungsabteilungen der Warren Group haben ihn entdeckt. Die Tatsache, dass wir keine Materie in die Vergangenheit schicken können, schließt nicht automatisch jede Möglichkeit aus. Wissenschaftler der Warren Group sind darauf gekommen, Energieimpulse durch eine winzige, künstlich geschaffene Krasnikov-Röhre zu schicken. Die Überlegung dahinter war, dass ein Muster energetischer Impulse in der Lage sein könnte, Informationen zu transportieren. Wie sich zeigte, können die Impulse sogar sehr komplexe Informationen in kodierter Form übermitteln -- nichts weniger als die konzentrierten Erinnerungen eines ganzen Lebens. im Grunde alles, was gebraucht wird, um die Illusion zu erschaffen, die man Ichgefühl nennt. Meines Ichs, in diesem Fall.
Das nächste Problem ist, dass es am anderen Ende einen Empfänger und einen Datenspeicher geben muss. Und in der Epoche, für die wir uns interessierten, gab es keine Radarschüsseln, Festplatten, Siliziumchips oder ZF-Antennen, nicht mal ein Dampfradio. Um 664 gab es nur ein Objekt, das solche Informationen empfangen und speichern konnte: ein Gehirn.
Allmählich vermochte ich die Augäpfel zu bewegen. ich bemerkte, dass meine rechte Hand - die, mit der ich den Dornenstrick hielt - breit und fleischig war und an den Handballen dicke Schwielen aufwies. Die Fingernägel waren lang und zugespitzt und mit Karneol besetzt, und auf die Finger selbst waren rote und schwarze Bänder tätowiert, sodass sie aussahen wie winzige Korallenschlangen. Ein Armreif aus Jadeschuppen reichte mir vom Handgelenk bis fast an den Ellenbogen. Der Arm war außerdem von einer Kruste aus hellblauem Lehm bedeckt, wie auch mein blumenkohlartig geschwollenes linkes Knie und der Teil meiner nackten Brust, den ich sehen konnte.
Ein Punkt für Team Freaky Friday, dachte ich. ich befand mich wirklich und wahrhaftig im Körper eines anderen Menschen. Genauer gesagt war ich im Gehirn von jemandem namens 9-Reißzahn- Kolibri.
Wir -- das heißt, wir vom Warren-Projekt -- wussten ein bisschen über ihn. Er war der Patriarch der Ozelot-Sippe und der Abau - der König, Oberherr oder Kriegsherr -- der Stadt ix und der ungefähr zweitausend kleinen Ortschaften im Umkreis. Er war der Sohn des zwölften Ahaus, 22-Brennender-Wald, und Frau Zyklon. Heute war er achtundvierzig Jahre und einundsechzig Tage alt. Fastend hatte er hier ungefähr zweiundvierzig Stunden am Stück verbracht. Bei Sonnenaufgang sollte er herauskommen, um sich für eine zweite Zwanzigjahresperiode als Ahau auf den Thron zu setzen.
Zwei Handbreit neben meinem linken Knie stand eine Schale mit glühenden Kohlen, und ohne nachzudenken, löste ich das rechteckige, blutgetränkte Papier von der Schilfmatte und hielt es über die Glut. Einen Augenblick lang leuchteten die Kohlen durch das Blatt, und ich konnte die Hieroglyphen auf der anderen Seite sehen, die Wendung »Wache über uns, beschütze uns«, und das Profil eines Adlers:
Genauer gesagt war es ein Harpyienadler, Thrasyaetus harpyia. Auf Spanisch hieß er arpía, in der Sprache der Maya hunk'uk, »goldener Schlitzer«. Die Azteken haben ihn den Wolf mit Flügeln genannt. Er war das Zeichen meiner Sippe - das heißt, der Sippe des Mannes, dessen Gehirn ich beschlagnahmt hatte. Das Papier war ein Brief, das Ersuchen meiner Sippe an 1-ozelot im Schoß des Himmels. Automatisch faltete ich das klebrige Blatt zu einem Dreieck - es war eine komplizierte Abfolge von Bewegungen, als faltete man einen Origami Kranich, aber ich, beziehungsweise der frühere Besitzer meines Körpers, musste es hundertmal geübt haben - und legte das Papier in die Schale. Es musste mit irgendwelchen Kupfersalzen getränkt sein, denn es zischelte und ging dann in grüne Flammen auf.
Meine Zunge pochte, meine Kehle brannte. ich versuchte zu schlucken, doch es war, als wäre mein Gesicht erstarrt. Nichts regte sich. M'AX ECH E?, dachte ich auf Ch'olan. Wer bist du?
Nein, Augenblick.
Nicht ich hatte das gedacht. Der Gedanke war von woanders gekommen.
Es war, als hätte ich eine Stimme gehört, aber das konnte nicht sein. ich wusste, dass ich nichts anderes hörte als die Geräusche der Menge auf dem Platz unter mir und das gedämpfte Dröhnen der Trommeln aus geschlitzten Mahagonistämmen, die in einem merkwürdigen 5 / 4-Takt geschlagen wurden. Es war eher so, als hätte ich es gelesen, auf einer Art Nachrichtenticker, der vor meinen Augen vorbeilief. Und obwohl es geräuschlos gewesen war, kam es mir vor, als wäre es laut gewesen, nachdrücklich, als hätte man es in Großbuchstaben geschrieben. Es war, als hätte ich es gedacht, ohne zu denk...
M'ax eche?
oh, verdammt!
ich war nicht allein in diesem Körper.
in der Kammer, da war ich allein - aber nicht in meinem Kopf. Cono dias.
Die Sache ist nun die, dass der erste Schritt des Freaky-Friday-Prozesses eigentlich das Gedächtnis des Wirtes hätte auslöschen sollen, damit mein Bewusstsein sozusagen ein leeres Gefäß vorfand, in das es hineinfließen konnte. offenbar hatte das nicht funktioniert, zumindest nicht sehr gut. Das Gefäß war nicht leer: 9-Reißzahn-Kolibri glaubte noch immer, er wäre er selbst.
M'AX ECHE?
ich heiße Jed DeLanda, antwortete ich in Gedanken.
B'A'AX UKA'AJ CHOK B'OLECH TEN? Grob übersetzt: WAruM bist du in MiCH gEfAHrEn?
ich bin nicht in dich gefahren, antwortete ich. Das heißt, irgendwie bin ich schon in dir, mein Bewusstsein ist in dir, weil wir es in dich hineingeschickt haben ...
T'ECHE HUN BALAMAC? bist du 1-OzElOt?
Nein, antwortete ich übereilt.
Verdammt. Blödmann!
Komm schon, Jed, dachte ich. Ganz wie Winston sagt: Wenn dich irgendjemand fragt, ob du ein Gott bist, dann sagst du: Ja. Kapiert? okay.
Auf geht's.
Ja!, dachte ich mit allem Nachdruck, den ich zustande brachte. ich bin 1-ozelot. ozelot der ozetarier. ich bin ozelot, der große und mächti ...
MA-I'IJ TEC. nEin, bist du niCHt.
Doch, ich bin es. ich ... oh, demonio. Diesen Burschen anzulügen ist nicht leicht. Kein Wunder. Er hört alles, was ich denke. Und obwohl er nur altes Ch'olan sprach und ich in meinem üblichen Mischmasch aus Spanisch, Englisch und spätem, degeneriertem Ch'olan dachte, verstanden wir uns mühelos. Es kam mir weniger so vor, als würde ich mit jemandem reden, sondern eher, als würde ich mit mir selbst streiten, nur dass der eine Partner bei diesem inneren Dialog selbstbewusst auftrat, während der andere - ich - Mühe hatte, sich überhaupt zu überlegen, was er sagen wollte.
WAruM bist du in MiCH EingEdrungEn, MACHst du MiCH zuM bEsEssEnEn?
Was, fragte ich, genauer: dachte ich. ich bin gekommen, um das opferspiel zu lernen.
Das war die Wahrheit.
WOzu?
Na, weil ... weil ich aus den letzten Tagen der Welt komme, aus dem dreizehnten b'ak'ten. Weil meine Welt in großen Schwierigkeiten steckt und wir das Spiel lernen müssen, um zu sehen, ob wir sie retten können.
gEH WEg, dachte er.
Das kann ich nicht.
Geh weG!
Tut mir leid. ich kann es wirklich nicht. Du bist derjenige, der ... iM ot' xen! VErsCHWindE Aus MEinEr HAut!
Das geht nicht! Aber hör zu, wie wäre es damit: ich kann ... dAnn versteck diCH, dachte er. blEib untEn, rüHr diCH niCHt, sEi still!
ich hielt den Mund. Allmählich bekam ich ein ungutes Gefühl.
Meine Hand hob sich, bewegte sich zum offenen Mund und schloss sich um eine stachlige Schnur, eine Art Seil aus Dornen, das durch ein Loch in der Mitte meiner Zunge lief. ich riss daran. Fünf Dornen-knoten gruben sich durch das Loch, und Blut spritzte, ehe die Schnur ganz durch war. Scheiße, das hat wehgetan, dachte ich benommen. in meinem früheren Körper hätte ich eine Stunde lang gebrüllt, aber jetzt zuckte ich kaum. Noch eigentümlicher war, dass ich die Angst nicht spürte, die alte Angst des Bluters vor dem Bluten, die ich nie hatte loswerden können, als ich noch Jed war. ich legte die Schnur ringförmig in die Schale, ganz automatisch, so wie ein Fallschirmspringer nach der Landung den Schirm einzieht. Die Schnur wurde schwarz und kräuselte sich, und der Rauch von verdampftem Blut erfüllte den Raum mit kupfrigem Geruch.
ich schluckte einen dicken Blutklumpen. Mjam. Draußen war der Gesang lauter geworden, und ich stellte fest, dass ich die Wörter auseinanderhalten konnte und sie sogar verstand, obwohl das Ch'olan sich von unserer rekonstruierten Version aus dem 21. Jahrhundert stärker unterschied, als ich es für möglich gehalten hätte:
» Uuk ahau k'alomte' yaxoc,
u hetz' k'atun ti tuc ahau ... «
»oberherr, Großer Vater,
Großvater-Großmutter,
Jadesonne, Jadeozelot,
Der du 25-Duellant-des-Sees-der-Drei-Hügel gefangen genommen hast,
Der du 1000-Würger-des-Gebrochenen-Himmels gefangen genommen hast ... «
Unsere Beine bewegten sich. Unsere Hände schoben den Kopfputz zurück - er fühlte sich an wie ein hohes, steifes Kissen mit Quasten aus Katzenfell -, wischten aber nicht das Blut aus unserem Gesicht.
»Der du 17-Sandsturm-des-Verbrannten-Berges gefangen genommen hast,
Ernährer, Wachthüter, Jadener 9-Reißzahn-Kolibri:
Wann trittst du wieder
Aus deiner Himmelshöhle,
um uns zu erhören, um auf uns zu blicken?«
Mit gesenktem Kopf krochen wir zu der niedrigen Tür und wanden uns hindurch an die frische Luft. Die Menschenmengen auf den Plätzen verstummten abrupt; dann schienen alle gleichzeitig nach Luft zu schnappen; Atem strömte in so viele Lungen, dass ich glaubte, ich könnte den Druckabfall spüren. Wir erhoben uns. Auf unserer Haut rasselten Jadeschuppen und Stachelausterperlen. Es schien, als strömte das wenige Blut, das wir noch besaßen, aus unserem Kopf. ich nehme an, dass selbst dieser Körper an jedem anderen Tag schlappgemacht hätte, doch nun hielt der höhere Adrenalinspiegel ihn aufrecht. Wir schwankten nicht einmal auf unseren hohen Plateausandalen, die mit ihren beinahe zwanzig Zentimeter dicken Sohlen fast schon Stelzen waren. ich spürte, dass ich nun kleiner war als Jed, leichter und kräftiger. ich fühlte mich ganz und gar nicht wie achtundvierzig. Eher wie sechzehn. Eigenartig. ich hob den Blick. Unter uns breitete sich ix aus und bedeckte die Welt.
Unsere Augen nahmen den Anblick zweieinhalb Sekunden lang in sich auf, dann schauten sie wieder zu Algenib hoch. Der kurze Blick hatte mir genügt, um zu erkennen, dass im Jahr 2012 -- oder in irgendeinem vorhergehenden Jahrhundert -- niemand auch nur die leiseste Ahnung gehabt hatte, wie es hier tatsächlich aussah.
Zu sagen, wir hätten uns geirrt, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Wir hatten uns nicht geirrt - wir hatten keinen blassen Schimmer gehabt. Wir waren dumm gewesen. Es war, als wären wir durch die Wüste marschiert und hätten eine Handvoll bleiche Knochen aus den zweihundertundnochwas gefunden, die unser Skelett bilden, und statt aus den wenigen Rippen und Wirbeln das Geschlecht, das Alter und das genetische Erbe herauszulesen und dann aufzuhören, hatten wir aus den paar Knochen geschlossen, wie dieser Mensch gelebt hatte, was er getragen hatte, was seine Hobbys gewesen waren, wie seine Kinder geheißen hatten und so weiter, und hätten dann ein umfangreiches biografisches Lehrbuch über ihn verfasst, einschließlich beigefarbener Tortengrafiken und blutleerer illustrationen in mieser Gouache. Jetzt aber begegnete ich dem leibhaftigen lebenden Menschen, und er hatte nicht nur äußerlich kaum Ähnlichkeit mit der Rekonstruktion - seine ganze Persönlichkeit, seine Lebensgeschichte und sein Platz im Universum unterschieden sich völlig von unseren prosaischen Mutmaßungen.
Die Reste der Ruinen, die bis ins 21. Jahrhundert überdauert hatten, machten weniger als fünf Prozent der Geschichte aus. Sie waren bloß die steinernen Fundamente einer Stadt, die weniger aus Stein erbaut war als vielmehr aus Riedgras, Leisten und Schilfrohr gewebt und geflochten, geknotet und geschnürt war - eine Korbwerk-Metropole, die allem, was ich mir vorgestellt hatte, so unähnlich war, dass ich nicht einmal die Wahrzeichen entdecken konnte, von denen ich wusste. Wir blickten nach osten zum Fluss und auf den Cerro San Enero, den höchsten Gipfel der Gebirgskette, die das Tal von ix umgibt. Er war wieder aktiv, spie einen Fächer aus schwarzer Asche in die malvenfarbene Vordämmerung ... Nein, warte, sagte ich mir. Auf keinen Fall ist das ein echter Vulkan. in dem erloschenen Krater musste ein Scheiterhaufen aus Kautschukbaumholz aufgeschichtet worden sein. Aber mit den anderen Bergen stimmte auch etwas nicht. Zuvor waren sie bewaldet gewesen, jetzt waren sie allesamt kalt, und an den Hängen hatte man Terrassen und Plätze angelegt; die Gipfel waren mit einem Kopfputz aus Rohrgeflecht geschmückt, der strahlte wie die Krone der Freiheitsstatue. Ansammlungen von Punkten oder Flecken oder sonst etwas tanzten vor und über den Bergen und Türmen. Zuerst hielt ich diese Punkte für eine optische Täuschung oder für irisierende Nematoden, die in meiner Augenflüssigkeit schwammen, doch mit dem nächsten Herzschlag begriff ich, dass es Hunderte menschengroßer Drachen aus Federn waren, alle rund oder fünfeckig und alle mit Zielscheibenmustern aus Schwarz, Weiß und Magenta bemalt, die auf dem warmen Atem der Menge schwebten und die Stadt widerspiegelten wie ein See in der Luft.
Die Menge begann in einer anderen Tonart ein neues Lied:
»Hun k'in, ka k'inob, ox k'inob ... «
»Null Sonnen, eine Sonne,
Dann zwei Sonnen, dann drei Sonnen ... «
Übersetzung: Angela Koonen und Dietmar Schmidt
Copyright © 2009 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Als Erstes erblickte ich einen roten Punkt auf türkisfarbenem Grund. Dann tauchte links darüber noch ein Punkt auf, und ein dritter dicht unter dem ersten, und dann immer mehr, fünf und neun und dreizehn. Die Punkte schwollen an und breiteten sich aus, und wo sie sich berührten, flossen sie ineinander und verschmolzen. ich erkannte, dass es Tropfen meines Blutes waren, die von meiner Zunge auf türkisblaues Opferpapier fielen.
Es hat funktioniert, wurde mir klar. Heilige mierditas.
Wir schreiben nicht das Jahr 2012. Wir schreiben das Jahr 664. Den 20. März 664 n. Chr. im Gregorianischen Kalender. oder nach Maya-Zeitrechnung den 3 Erdrassler, 5 Regenfrosch im elften uinal des elften tun im elften k'atun des neunten b'ak'tun. Und es ist 4.48 Uhr morgens. Ein Sonntag.
Hmm.
So ist es wohl bei jeder großen Veränderung der Lebensumstände. Das Begreifen kommt mit einiger Verzögerung, dafür mit umso größerer Wucht: Ach du Schande, ich bin verhaftet worden, oh Scheiße, der hat mich tatsächlich niedergestochen, hey, ich heirate jetzt, o Gott, ich bringe ein Kind zur Welt, Mannomann, ich bekomme gerade einen dreifachen Bypass, he, diese Häuser stürzen ja wirklich ein! Und jedes Mal kommt es einem vor, als wäre einem noch nie etwas auch nur annähernd so Wichtiges geschehen. oder sonst wem.
Hijo de puta, dachte ich. ich blickte auf und konzentrierte mich auf den niedrigen, trapezförmigen Durchgang. Der Himmel war violett; trotzdem konnte ich mehr Sterne sehen als je zuvor, Schleier und Sprengsel aus Sternen bis hinunter zur vierten Größenklasse. Sie waren natürlich verschoben, aber Taro hatte den Transfer so getimt, dass die Spitze von 1-ozelots Zigarre - Algenib im Pegasus - sich annähernd an der gleichen Position innerhalb der Tür befand wie zuvor, ein wenig rechts vom Zentrum. Links davon, auf halbem Weg zu Homan, stand ein neuer Stern, hell genug, um als Gamma Andromedae aufgeführt worden zu sein. Er musste etwa hundert Jahre vor dem Erlöschen stehen, andernfalls hätte Al-Chwarizmi ihm einen Namen gegeben.
Unfassbar, dachte ich. Absolut um-fass-bar. Sie haben es tatsächlich geschafft. Neue Bat-Zeit, gleicher Bat-Punkt. Nicht dass ich tatsächlich noch an der gleichen Stelle des Universums gewesen wäre, falls das etwas zu sagen hat: in 1347 Jahren bewegt das Sonnensystem sich innerhalb der Milchstraße ein ganzes Stück weiter. Aber ich war auf dem gleichen Fleck Erde geblieben. ich befand mich noch immer in einer kleinen Kammer dicht unterhalb der Spitze der größten Pyramide in der Stadt ix, in einer Region, die man später Alta Verapaz in Zentralguatemala nennen würde. im Augenblick wurde das Heiligtum von Fackeln orangerot beschienen. Die Säulen an den Wänden, mit Hieroglyphen bedeckt, die an Skarabäen erinnerten, sahen glatt und kein bisschen verwittert aus und waren bunt bemalt: schwarz, blau und koschinellenrot. Und die Stadt war voller Leben. ich hörte die Menschenmenge draußen, genauer gesagt: ich spürte ihre Gesänge durch den Stein. Die Sache ist nämlich die, dass ich mich -- von meinem Blickpunkt aus -- im Raum nicht bewegt hatte. Aber ich war ...
Ja, was? Beinahe hätte ich jetzt gesagt, ich wäre in der Zeit rückwärtsgereist. Aber ich will nicht schon gleich zu Anfang zu sehr vereinfachen.
Traurige Tatsache bleibt, dass Zeitreisen nicht möglich sind. in die Vergangenheit, meine ich. Was die Zukunft angeht, sieht die Sache anders aus. Da können Sie sich schließlich einfrieren lassen, wenn Sie das Warten verkürzen wollen. Aber in der Zeit rückwärtszureisen ist und bleibt definitiv, absolut und für immer undurchführbar, und zwar aus einer Reihe wohlbekannter Gründe. Einer davon ist das Großvater-Paradoxon: Könnten Sie in der Zeit zurückreisen, könnten Sie dort ihren eigenen Großvater töten, solange er noch ein Kind ist, und dann hätte es Sie nie gegeben, also hätten Sie die Reise in die Vergangenheit gar nicht antreten und ihren Großvater nicht umbringen können. Ein anderer Grund ist: Selbst wenn Sie auf ihrer Zeitreise niemanden umbringen und auch sonst nichts tun, wäre doch mit ziemlicher Sicherheit ein Teil der Moleküle, aus denen Sie bestehen, die gleichen wie die, aus denen ihr jüngeres ich bestanden hat. Also wäre das gleiche Molekül gleichzeitig an zwei unterschiedlichen orten, und das kann niemals geschehen. Der dritte Grund ist ein mechanisches Problem. Der einzige Weg in die Vergangenheit, der zumindest mathematisch möglich wäre, führt über die berühmte Wurmlochstrecke. Aber wenn man Materie durch ein Wurmloch schickt, ist das ungefähr so, als würde man eine Vase Meißener Porzellan durch einen Schredder schicken. Alles, was durch das Wurmloch geht, kommt am anderen Ende zermalmt und verquirlt und zu nichts mehr zu gebrauchen heraus. Aber, aber, aber ... wir kennen einen Ausweg.
Die Forschungsabteilungen der Warren Group haben ihn entdeckt. Die Tatsache, dass wir keine Materie in die Vergangenheit schicken können, schließt nicht automatisch jede Möglichkeit aus. Wissenschaftler der Warren Group sind darauf gekommen, Energieimpulse durch eine winzige, künstlich geschaffene Krasnikov-Röhre zu schicken. Die Überlegung dahinter war, dass ein Muster energetischer Impulse in der Lage sein könnte, Informationen zu transportieren. Wie sich zeigte, können die Impulse sogar sehr komplexe Informationen in kodierter Form übermitteln -- nichts weniger als die konzentrierten Erinnerungen eines ganzen Lebens. im Grunde alles, was gebraucht wird, um die Illusion zu erschaffen, die man Ichgefühl nennt. Meines Ichs, in diesem Fall.
Das nächste Problem ist, dass es am anderen Ende einen Empfänger und einen Datenspeicher geben muss. Und in der Epoche, für die wir uns interessierten, gab es keine Radarschüsseln, Festplatten, Siliziumchips oder ZF-Antennen, nicht mal ein Dampfradio. Um 664 gab es nur ein Objekt, das solche Informationen empfangen und speichern konnte: ein Gehirn.
Allmählich vermochte ich die Augäpfel zu bewegen. ich bemerkte, dass meine rechte Hand - die, mit der ich den Dornenstrick hielt - breit und fleischig war und an den Handballen dicke Schwielen aufwies. Die Fingernägel waren lang und zugespitzt und mit Karneol besetzt, und auf die Finger selbst waren rote und schwarze Bänder tätowiert, sodass sie aussahen wie winzige Korallenschlangen. Ein Armreif aus Jadeschuppen reichte mir vom Handgelenk bis fast an den Ellenbogen. Der Arm war außerdem von einer Kruste aus hellblauem Lehm bedeckt, wie auch mein blumenkohlartig geschwollenes linkes Knie und der Teil meiner nackten Brust, den ich sehen konnte.
Ein Punkt für Team Freaky Friday, dachte ich. ich befand mich wirklich und wahrhaftig im Körper eines anderen Menschen. Genauer gesagt war ich im Gehirn von jemandem namens 9-Reißzahn- Kolibri.
Wir -- das heißt, wir vom Warren-Projekt -- wussten ein bisschen über ihn. Er war der Patriarch der Ozelot-Sippe und der Abau - der König, Oberherr oder Kriegsherr -- der Stadt ix und der ungefähr zweitausend kleinen Ortschaften im Umkreis. Er war der Sohn des zwölften Ahaus, 22-Brennender-Wald, und Frau Zyklon. Heute war er achtundvierzig Jahre und einundsechzig Tage alt. Fastend hatte er hier ungefähr zweiundvierzig Stunden am Stück verbracht. Bei Sonnenaufgang sollte er herauskommen, um sich für eine zweite Zwanzigjahresperiode als Ahau auf den Thron zu setzen.
Zwei Handbreit neben meinem linken Knie stand eine Schale mit glühenden Kohlen, und ohne nachzudenken, löste ich das rechteckige, blutgetränkte Papier von der Schilfmatte und hielt es über die Glut. Einen Augenblick lang leuchteten die Kohlen durch das Blatt, und ich konnte die Hieroglyphen auf der anderen Seite sehen, die Wendung »Wache über uns, beschütze uns«, und das Profil eines Adlers:
Genauer gesagt war es ein Harpyienadler, Thrasyaetus harpyia. Auf Spanisch hieß er arpía, in der Sprache der Maya hunk'uk, »goldener Schlitzer«. Die Azteken haben ihn den Wolf mit Flügeln genannt. Er war das Zeichen meiner Sippe - das heißt, der Sippe des Mannes, dessen Gehirn ich beschlagnahmt hatte. Das Papier war ein Brief, das Ersuchen meiner Sippe an 1-ozelot im Schoß des Himmels. Automatisch faltete ich das klebrige Blatt zu einem Dreieck - es war eine komplizierte Abfolge von Bewegungen, als faltete man einen Origami Kranich, aber ich, beziehungsweise der frühere Besitzer meines Körpers, musste es hundertmal geübt haben - und legte das Papier in die Schale. Es musste mit irgendwelchen Kupfersalzen getränkt sein, denn es zischelte und ging dann in grüne Flammen auf.
Meine Zunge pochte, meine Kehle brannte. ich versuchte zu schlucken, doch es war, als wäre mein Gesicht erstarrt. Nichts regte sich. M'AX ECH E?, dachte ich auf Ch'olan. Wer bist du?
Nein, Augenblick.
Nicht ich hatte das gedacht. Der Gedanke war von woanders gekommen.
Es war, als hätte ich eine Stimme gehört, aber das konnte nicht sein. ich wusste, dass ich nichts anderes hörte als die Geräusche der Menge auf dem Platz unter mir und das gedämpfte Dröhnen der Trommeln aus geschlitzten Mahagonistämmen, die in einem merkwürdigen 5 / 4-Takt geschlagen wurden. Es war eher so, als hätte ich es gelesen, auf einer Art Nachrichtenticker, der vor meinen Augen vorbeilief. Und obwohl es geräuschlos gewesen war, kam es mir vor, als wäre es laut gewesen, nachdrücklich, als hätte man es in Großbuchstaben geschrieben. Es war, als hätte ich es gedacht, ohne zu denk...
M'ax eche?
oh, verdammt!
ich war nicht allein in diesem Körper.
in der Kammer, da war ich allein - aber nicht in meinem Kopf. Cono dias.
Die Sache ist nun die, dass der erste Schritt des Freaky-Friday-Prozesses eigentlich das Gedächtnis des Wirtes hätte auslöschen sollen, damit mein Bewusstsein sozusagen ein leeres Gefäß vorfand, in das es hineinfließen konnte. offenbar hatte das nicht funktioniert, zumindest nicht sehr gut. Das Gefäß war nicht leer: 9-Reißzahn-Kolibri glaubte noch immer, er wäre er selbst.
M'AX ECHE?
ich heiße Jed DeLanda, antwortete ich in Gedanken.
B'A'AX UKA'AJ CHOK B'OLECH TEN? Grob übersetzt: WAruM bist du in MiCH gEfAHrEn?
ich bin nicht in dich gefahren, antwortete ich. Das heißt, irgendwie bin ich schon in dir, mein Bewusstsein ist in dir, weil wir es in dich hineingeschickt haben ...
T'ECHE HUN BALAMAC? bist du 1-OzElOt?
Nein, antwortete ich übereilt.
Verdammt. Blödmann!
Komm schon, Jed, dachte ich. Ganz wie Winston sagt: Wenn dich irgendjemand fragt, ob du ein Gott bist, dann sagst du: Ja. Kapiert? okay.
Auf geht's.
Ja!, dachte ich mit allem Nachdruck, den ich zustande brachte. ich bin 1-ozelot. ozelot der ozetarier. ich bin ozelot, der große und mächti ...
MA-I'IJ TEC. nEin, bist du niCHt.
Doch, ich bin es. ich ... oh, demonio. Diesen Burschen anzulügen ist nicht leicht. Kein Wunder. Er hört alles, was ich denke. Und obwohl er nur altes Ch'olan sprach und ich in meinem üblichen Mischmasch aus Spanisch, Englisch und spätem, degeneriertem Ch'olan dachte, verstanden wir uns mühelos. Es kam mir weniger so vor, als würde ich mit jemandem reden, sondern eher, als würde ich mit mir selbst streiten, nur dass der eine Partner bei diesem inneren Dialog selbstbewusst auftrat, während der andere - ich - Mühe hatte, sich überhaupt zu überlegen, was er sagen wollte.
WAruM bist du in MiCH EingEdrungEn, MACHst du MiCH zuM bEsEssEnEn?
Was, fragte ich, genauer: dachte ich. ich bin gekommen, um das opferspiel zu lernen.
Das war die Wahrheit.
WOzu?
Na, weil ... weil ich aus den letzten Tagen der Welt komme, aus dem dreizehnten b'ak'ten. Weil meine Welt in großen Schwierigkeiten steckt und wir das Spiel lernen müssen, um zu sehen, ob wir sie retten können.
gEH WEg, dachte er.
Das kann ich nicht.
Geh weG!
Tut mir leid. ich kann es wirklich nicht. Du bist derjenige, der ... iM ot' xen! VErsCHWindE Aus MEinEr HAut!
Das geht nicht! Aber hör zu, wie wäre es damit: ich kann ... dAnn versteck diCH, dachte er. blEib untEn, rüHr diCH niCHt, sEi still!
ich hielt den Mund. Allmählich bekam ich ein ungutes Gefühl.
Meine Hand hob sich, bewegte sich zum offenen Mund und schloss sich um eine stachlige Schnur, eine Art Seil aus Dornen, das durch ein Loch in der Mitte meiner Zunge lief. ich riss daran. Fünf Dornen-knoten gruben sich durch das Loch, und Blut spritzte, ehe die Schnur ganz durch war. Scheiße, das hat wehgetan, dachte ich benommen. in meinem früheren Körper hätte ich eine Stunde lang gebrüllt, aber jetzt zuckte ich kaum. Noch eigentümlicher war, dass ich die Angst nicht spürte, die alte Angst des Bluters vor dem Bluten, die ich nie hatte loswerden können, als ich noch Jed war. ich legte die Schnur ringförmig in die Schale, ganz automatisch, so wie ein Fallschirmspringer nach der Landung den Schirm einzieht. Die Schnur wurde schwarz und kräuselte sich, und der Rauch von verdampftem Blut erfüllte den Raum mit kupfrigem Geruch.
ich schluckte einen dicken Blutklumpen. Mjam. Draußen war der Gesang lauter geworden, und ich stellte fest, dass ich die Wörter auseinanderhalten konnte und sie sogar verstand, obwohl das Ch'olan sich von unserer rekonstruierten Version aus dem 21. Jahrhundert stärker unterschied, als ich es für möglich gehalten hätte:
» Uuk ahau k'alomte' yaxoc,
u hetz' k'atun ti tuc ahau ... «
»oberherr, Großer Vater,
Großvater-Großmutter,
Jadesonne, Jadeozelot,
Der du 25-Duellant-des-Sees-der-Drei-Hügel gefangen genommen hast,
Der du 1000-Würger-des-Gebrochenen-Himmels gefangen genommen hast ... «
Unsere Beine bewegten sich. Unsere Hände schoben den Kopfputz zurück - er fühlte sich an wie ein hohes, steifes Kissen mit Quasten aus Katzenfell -, wischten aber nicht das Blut aus unserem Gesicht.
»Der du 17-Sandsturm-des-Verbrannten-Berges gefangen genommen hast,
Ernährer, Wachthüter, Jadener 9-Reißzahn-Kolibri:
Wann trittst du wieder
Aus deiner Himmelshöhle,
um uns zu erhören, um auf uns zu blicken?«
Mit gesenktem Kopf krochen wir zu der niedrigen Tür und wanden uns hindurch an die frische Luft. Die Menschenmengen auf den Plätzen verstummten abrupt; dann schienen alle gleichzeitig nach Luft zu schnappen; Atem strömte in so viele Lungen, dass ich glaubte, ich könnte den Druckabfall spüren. Wir erhoben uns. Auf unserer Haut rasselten Jadeschuppen und Stachelausterperlen. Es schien, als strömte das wenige Blut, das wir noch besaßen, aus unserem Kopf. ich nehme an, dass selbst dieser Körper an jedem anderen Tag schlappgemacht hätte, doch nun hielt der höhere Adrenalinspiegel ihn aufrecht. Wir schwankten nicht einmal auf unseren hohen Plateausandalen, die mit ihren beinahe zwanzig Zentimeter dicken Sohlen fast schon Stelzen waren. ich spürte, dass ich nun kleiner war als Jed, leichter und kräftiger. ich fühlte mich ganz und gar nicht wie achtundvierzig. Eher wie sechzehn. Eigenartig. ich hob den Blick. Unter uns breitete sich ix aus und bedeckte die Welt.
Unsere Augen nahmen den Anblick zweieinhalb Sekunden lang in sich auf, dann schauten sie wieder zu Algenib hoch. Der kurze Blick hatte mir genügt, um zu erkennen, dass im Jahr 2012 -- oder in irgendeinem vorhergehenden Jahrhundert -- niemand auch nur die leiseste Ahnung gehabt hatte, wie es hier tatsächlich aussah.
Zu sagen, wir hätten uns geirrt, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Wir hatten uns nicht geirrt - wir hatten keinen blassen Schimmer gehabt. Wir waren dumm gewesen. Es war, als wären wir durch die Wüste marschiert und hätten eine Handvoll bleiche Knochen aus den zweihundertundnochwas gefunden, die unser Skelett bilden, und statt aus den wenigen Rippen und Wirbeln das Geschlecht, das Alter und das genetische Erbe herauszulesen und dann aufzuhören, hatten wir aus den paar Knochen geschlossen, wie dieser Mensch gelebt hatte, was er getragen hatte, was seine Hobbys gewesen waren, wie seine Kinder geheißen hatten und so weiter, und hätten dann ein umfangreiches biografisches Lehrbuch über ihn verfasst, einschließlich beigefarbener Tortengrafiken und blutleerer illustrationen in mieser Gouache. Jetzt aber begegnete ich dem leibhaftigen lebenden Menschen, und er hatte nicht nur äußerlich kaum Ähnlichkeit mit der Rekonstruktion - seine ganze Persönlichkeit, seine Lebensgeschichte und sein Platz im Universum unterschieden sich völlig von unseren prosaischen Mutmaßungen.
Die Reste der Ruinen, die bis ins 21. Jahrhundert überdauert hatten, machten weniger als fünf Prozent der Geschichte aus. Sie waren bloß die steinernen Fundamente einer Stadt, die weniger aus Stein erbaut war als vielmehr aus Riedgras, Leisten und Schilfrohr gewebt und geflochten, geknotet und geschnürt war - eine Korbwerk-Metropole, die allem, was ich mir vorgestellt hatte, so unähnlich war, dass ich nicht einmal die Wahrzeichen entdecken konnte, von denen ich wusste. Wir blickten nach osten zum Fluss und auf den Cerro San Enero, den höchsten Gipfel der Gebirgskette, die das Tal von ix umgibt. Er war wieder aktiv, spie einen Fächer aus schwarzer Asche in die malvenfarbene Vordämmerung ... Nein, warte, sagte ich mir. Auf keinen Fall ist das ein echter Vulkan. in dem erloschenen Krater musste ein Scheiterhaufen aus Kautschukbaumholz aufgeschichtet worden sein. Aber mit den anderen Bergen stimmte auch etwas nicht. Zuvor waren sie bewaldet gewesen, jetzt waren sie allesamt kalt, und an den Hängen hatte man Terrassen und Plätze angelegt; die Gipfel waren mit einem Kopfputz aus Rohrgeflecht geschmückt, der strahlte wie die Krone der Freiheitsstatue. Ansammlungen von Punkten oder Flecken oder sonst etwas tanzten vor und über den Bergen und Türmen. Zuerst hielt ich diese Punkte für eine optische Täuschung oder für irisierende Nematoden, die in meiner Augenflüssigkeit schwammen, doch mit dem nächsten Herzschlag begriff ich, dass es Hunderte menschengroßer Drachen aus Federn waren, alle rund oder fünfeckig und alle mit Zielscheibenmustern aus Schwarz, Weiß und Magenta bemalt, die auf dem warmen Atem der Menge schwebten und die Stadt widerspiegelten wie ein See in der Luft.
Die Menge begann in einer anderen Tonart ein neues Lied:
»Hun k'in, ka k'inob, ox k'inob ... «
»Null Sonnen, eine Sonne,
Dann zwei Sonnen, dann drei Sonnen ... «
Übersetzung: Angela Koonen und Dietmar Schmidt
Copyright © 2009 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Brian D'Amato
- 2010, 958 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Koonen, Angela u. Schmidt, Dietmar
- Übersetzer: Angela Koonen, Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340416508X
- ISBN-13: 9783404165087
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