Aufklärung
Das europäische Projekt
Die philosophisch-politische Idee der Aufklärung hat bis heute nichts von ihrer kämpferischen Wirkung verloren. Der Band spannt den Bogen von den Begründern wie Locke, Kant und Rousseau bis zu Popper, Arendt und Habermas, den Vetretern aufgeklärten Denkens unserer Zeit.
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Produktinformationen zu „Aufklärung “
Die philosophisch-politische Idee der Aufklärung hat bis heute nichts von ihrer kämpferischen Wirkung verloren. Der Band spannt den Bogen von den Begründern wie Locke, Kant und Rousseau bis zu Popper, Arendt und Habermas, den Vetretern aufgeklärten Denkens unserer Zeit.
Klappentext zu „Aufklärung “
AM ANFANG WAR DAS BILD: Wie morgens der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertrieben wird, so soll auch der menschliche Verstand erhellt werden. Schon 1691 wird der Ausdruck «Aufklärung des Verstandes» lexikalisch verzeichnet. Helle Köpfe sollen mittels deutlicher Begriffe und geschärfter Urteilskraft klar erkennen können, was wirklich der Fall ist. «Aufklärung» ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen «dunkle» Vorstellungen, die alles wie in einem Nebel oder einem Schattenreich verschwimmen lassen. Sie richtet sich gegen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit und Phantasterei. Sie ist zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes.
Lese-Probe zu „Aufklärung “
Aufklärung - Das europäische Projekt von Manfred GeigerVORWORT
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Aufklärung. Am Anfang war das Bild: Wie morgens der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertrieben wird, so soll auch der menschliche Verstand erhellt werden. Schon 1691 wird der Ausdruck «Aufklärung des Verstandes» lexikalisch verzeichnet. Helle Köpfe sollen mittels deutlicher Begriffe und geschärfter Urteilskraft klar erkennen können, was wirklich der Fall ist. «Aufklärung» ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen «dunkle» Vorstellungen, die alles wie in einem Nebel oder Schattenreich verschwimmen lassen. Sie richtet sich gegen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit und Phantasterei. Sie ist zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes. Sie favorisiert das Selbstdenken mündiger Menschen. Das erklärt ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Aufklärung bekämpft alle autoritären Mächte, die den selbständigen Verstandesgebrauch der Menschen blockieren wollen.
Europa. Das Vertrauen in die Vernunft und der Wunsch nach Emanzipation charakterisieren die Aufklärung als eine geistige und politische Bewegung der europäischen Neuzeit. Als Epochenbegriff im engeren Sinne umfasst sie nicht zufällig das Jahrhundert zwischen zwei Revolutionen, in denen die absolute Vormachtstellung von Kirche und Staat gebrochen worden ist. Sie beginnt 1689 mit der Glorreichen Revolution in England und endet hundert Jahre später 1789 mit der Großen Revolution in Frankreich, als die anti-klerikalen und anti-feudalen Ideen der französischen Philosophen die Massen ergreifen. Eine dritte starke zentraleuropäische Position entwickeln die deutschen Aufklärer. Zwar weniger erfahrungsorientiert als die Engländer, weniger religions- und staatskritisch als die Franzosen und weniger politisch als beide, streiten sie äußerst risikofreudig für kritische Vernunft und lebenspraktisches Glück. Im kulturgeschichtlichen Rückblick zeigt sich Aufklärung als ein europäisches Projekt mit universellem Anspruch. Lumières philosophiques, Enlightenment, Aufklärung und Illuminismo gehören zum Besten, was ein kosmopolitisches Europa zu bieten hat, das mehr sein will als ein bürokratisch geregeltes Wirtschaftsgeflecht, das von einer finanzpolitischen Krise in die nächste getrieben wird.
Projekt. Wir leben in keinem aufgeklärten Zeitalter, aber in einem Zeitalter der Aufklärung, stellte Immanuel Kant 1784 fest. Er verwies darauf, dass Aufklärung kein Zustand ist, sondern ein Prozess, kein Sein, sondern ein Werden, wobei der Ausgang der Geschichte offen ist. Für den praktischen Erfolg der Aufklärung gibt es keine Garantie. «PROJEKT (Moral). Ein Plan, den man zu verwirklichen beabsichtigt, doch es ist ein weiter Weg vom Projekt zur Ausführung & ein noch weiterer Weg von der Ausführung zum Erfolg. Wie oft verfällt der Mensch auf unsinnige Unternehmungen.» So war es in der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Encyclopédie zu lesen, dem aufklärenden Gemeinschaftswerk einer französischen Gelehrtengesellschaft, die zwei Jahrzehnte lang gegen heftigste Widerstände von Kirche und Staat ankämpfte. Es gibt keine Aufklärung ohne Gegenaufklärung. Die Geschichte der Aufklärung, vor allem im europäischen Zeitalter der Extreme, erinnert an die absurde Tätigkeit des Sisyphos, der seinen Stein immer wieder den Berg hinaufwälzen muss, bevor er erneut in die Tiefe rollt.
Universalismus. Auch wenn das Projekt der Aufklärung in Europa entworfen wurde, so hat es sich doch nicht auf Europa beschränkt. Schon Kant verstand «Aufklärung» als einen Weltbegriff, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert. Aufklärung begrenzt sich nicht auf Franzosen, Italiener, Engländer, Deutsche oder andere Nationalitäten. Sie konzentriert sich auf die «Bestimmung des Menschen». Es geht ihr um den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, um die Rechte jedes Menschen also, der als solcher kein Ding ist, sondern eine mündige Person mit ihrer eigenen Würde. Die Aufklärung versucht philosophisch zu begründen und praktisch zu verwirklichen, was jedem Menschen von Natur aus zukommt. Sie versteht dieses Naturrecht als ein Bündel von Menschenrechten, auf die alle Menschen ein Anrecht haben. Ihr Zentrum bilden geistige und politische Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Recht auf Eigentum. Universell realisierbar sind sie nur in einem Völkerbund aller Staaten, die gemeinsam die allgemeinen Rechte aller Menschen anerkennen. Doch weltweit eingeklagt werden können sie schon heute vor dem Forum einer Weltöffentlichkeit, die sich zunehmend global vernetzt.
Aktualität. Die selbstreflexive Frage - «Was ist Aufklärung?» - lässt sich im Sinn der Aufklärung durch keinen bloßen Rückgriff in die Philosophiegeschichte beantworten. Sie richtet sich auf ihre eigene Gegenwart und fragt nach der Aktualität ihres Projekts. Aufklärung legitimiert sich nicht durch den Verweis auf stabilisierte oder anerkannte Vormächte, sondern durch eine Begründung, der jeder mündige Mensch mit seinem eigenen Verstand zu folgen in der Lage ist. In dieser Hinsicht ist sie absolut modern und muss zwangsläufig auf die Gegenwehr von Mächten stoßen, die der religiösen, geistigen und wirtschaftlichen Autonomie des Menschen keinen besonderen Wert zugestehen. Im europäischen Jahrhundert der Aufklärung waren es christliche Dogmatik, kirchliche Autorität und feudale Staatsgewalt. Gegenwärtig sind es in globalem Ausmaß vor allem islamischer Fundamentalismus und autoritäre Staatsgebilde, die als Mächte der Gegenaufklärung wirksam sind. Im weltweiten Kampf der Ideen scheint Chinas Plan, im 21. Jahrhundert als größte Wirtschaftsmacht ohne die «westlichen» Werte der Demokratie, der Menschenrechte und individuellen Freiheiten an die Weltspitze zu gelangen, verwirklicht zu werden. In Amerika stellt man einen epochalen Rückschritt fest, der als «Post-Enlightenment» beschrieben wird: Der Stil des Denkens wird immer weniger durch vernünftiges Argumentieren, kritische Auseinandersetzung und offenen Verstandesgebrauch geprägt, sondern verstärkt durch Glaubensgewissheit, Meinung und Orthodoxie. Und auch in Europa selbst drohen Stimmen immer lauter zu werden und Gehör zu finden, die sich gegen die Werte der Aufklärung richten: gegen religiöse Toleranz und politische Liberalität, geistige Offenheit und kulturelle Vielfalt, gegenseitigen Respekt und weltbürgerliche Mentalität.
Große Erzählung. Es gehört zur Dynamik der europäischen Moderne, dass sie intern auch ihre eigenen Ideen verwerfen kann. Von einer angeblich verhängnisvollen «Dialektik der Aufklärung», die in ein totalitäres System übergegangen sei, bis zum hoffnungslosen «Elend der Aufklärung», von der verspielten bis zur verträumten, von der palavernden bis zur unbefriedigten Aufklärung reicht das Spektrum kritischer Vorwürfe. Unsere postmoderne Moderne erklärte die «große Erzählung» der Aufklärung zu einem Dokument der Vergangenheit. Der großen Perspektive einer möglichen Übereinstimmung vernünftiger, freier Menschen in einer gemeinsamen Welt wurde kein Glaube mehr geschenkt. So wurde nicht nur leichtfertig aufgegeben, wofür in der Vergangenheit mutig und nicht ohne Erfolg gekämpft wurde. Es wurde auch der Blick getrübt für die weltweiten Aktivitäten von Rebellen und Dissidenten, die sich gegenwärtig in vielen Ländern, seien sie auch noch so despotisch regiert, für die Ideale der Aufklärung engagieren und mit moralischer Klarheit das Risiko eingehen, dafür verfolgt, bestraft, isoliert oder getötet zu werden.
Sieben Erzählungen. Es waren schon immer Einzelne, die sich in konkreten geschichtlichen Problemsituationen auf unterschiedliche Art und Weise als Aufklärer zu Wort meldeten. Einige regten erfolgreich Freiheitsbewegungen an, andere scheiterten an übermächtigen Widerständen und zahlten mit ihrem Leben. «Aufklärung» wäre nur ein leerer Begriff ohne die anschaulichen Beispiele der Menschen, die für sie argumentiert, gestritten und gelitten haben; und die philosophischen, schriftstellerischen und politischen Aktivitäten dieser Individuen wären blind gewesen, wenn sie nicht alle der überindividuellen Maxime gefolgt wären, jederzeit selbst zu denken. Deshalb soll hier keine «große Erzählung» versucht werden. Stattdessen werden sieben ausgewählte Lebens- und Werkgeschichten erzählt. Jeder einzelne Fall exemplifiziert auf seine besondere Weise eine allgemeine Intention, sei es der politische Liberalismus, die jüdische Emanzipation oder die Gleichberechtigung der Frau, sei es die Naturalisierung des Menschen, seine humorvolle Moralisierung oder seine Erziehung zur Mündigkeit. Es sind unterschiedliche Charaktere, denen wir begegnen, vom nüchternen Denker bis zur libertinen Frauenrechtlerin, vom gebildeten Juden bis zum atheistischen Freigeist. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, ohne einen festen Typus identifizieren zu können; und folgen Diskursen, in denen sich die Gedanken vielstimmig überschneiden und kreuzen, gegenseitig stabilisieren oder aneinander reiben. Es geht uns nicht um ein Lehrbuch1, sondern um dramatische Geschichten von Menschen und Büchern, die uns zum Nachdenken und Mitmachen im Geist der Aufklärung einladen. Den Anfang macht John Locke, der 1689 nach mehrjährigem Exil endlich in seine Heimat zurückkehrt, um seinen Mitbürgern ein kleines Licht aufgehen zu lassen.
Hamburg, September 2011
EIN KERZENLICHT IN DER DUNKELHEIT
Wie John Locke zu seinen Ideen über Menschenrechte, Toleranz und Selbstdenken kam
Sonntag, 10. Februar 1689, drei Uhr nachmittags. Endlich ist es soweit. Von den Freunden, die er während seines fünfeinhalbjährigen Exils in Holland kennenlernte, hat er sich verabschiedet. Besonders Philippus van Limborch bedauerte seinen Entschluss, in die englische Heimat zurückzukehren. Doch er hat sich dazu entschieden, obwohl er völlig unsicher ist, was auf ihn zukommt. Seit einer Woche wartet er nun schon in Den Haag, dass der stürmische Wind sich dreht. Starker Westwind hat die Fahrt verhindert. Er vertrödelt seine Zeit, und seine Untätigkeit macht ihn ganz krank. Doch endlich steht der Wind günstig, im kleinen Städtchen Biel werden die Segel der «Isabella» gesetzt, er geht an Bord, die Anker werden gelichtet, und das Schiff sticht in See. Bald verschwindet die holländische Küste im winterlichen Nebel.
John Locke ist 57 Jahre alt. Er sorgt sich um seine Existenz. Sein äußerst hagerer Körper bereitet ihm Schmerzen. Schon lange leidet er an einer chronischen Bronchitis, und er fürchtet, dass das schlechte englische Wetter und die feuchte, rußige Londoner Luft seine krampfartigen Hustenanfälle verschlimmern werden. Die Zukunft erscheint ihm wie der dichte Nebel, der über dem horizontlosen Meer liegt. Er besitzt kaum Vermögen, übt keinen praktischen Beruf aus, mit dem er Geld verdienen könnte, und weiß nicht recht, was er in England tun soll. In seiner Heimat kennt man ihn nur noch als den «Mann, der zu Shaftesbury gehörte», zu diesem schillernden und umstrittenen Politiker, der bereits 1683 im holländischen Exil gestorben ist, wohin ihm sein Schützling gefolgt war.
Locke hat in den letzten zwanzig Jahren zwar viel geschrieben. Er ist davon überzeugt, dass es wichtige Überlegungen zu Politik, Religion und Philosophie sind. Aber nichts davon ist veröffentlicht. Nur einige Freunde haben die Manuskripte zu Gesicht bekommen und mit ihm darüber debattiert. Was ist, wenn die umfangreichen Schriften, die er in Kisten verpackt auf einem anderen Schiff vorausgeschickt hat, die gefährliche Fahrt nicht überstanden haben und in den dunklen Tiefen des Meeres verschwunden sind? Man würde nichts von seinen Gedanken erfahren, die er in so vielen müßigen und schweren Stunden zu Papier gebracht hat, und er sähe sich nicht in der Lage, diese Arbeit noch einmal zu leisten.
Nicht nur seine Zukunft ist ungewiss. Auch die politische Situation, die ihn zur Rückkehr in seine Heimat lockt, ist unsicher. Die Nachrichten, die er in den letzten Wochen erhalten hat, geben zwar Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Politik in eine Richtung entwickelt, wie Locke es sich wünscht und gedanklich entworfen und begründet hat. Eine religiöse und politische Machtverschiebung, die als englische «Glorious Revolution» von 1688/89 in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist in Gang gekommen.
Locke ist über die wichtigsten Ereignisse, teilweise aus erster Hand, gut informiert. Er glaubt nicht, dass es um eine wirkliche Revolution geht. Eher handelt es sich um eine komplizierte, durch religiöse Differenzen gestörte Familiengeschichte, die militärisch gelöst worden ist: Der protestantische Statthalter der Niederlande, Prinz Wilhelm von Oranien, hat seinen Schwiegervater und Onkel, den katholischen Stuart-König Jakob II., in die Flucht geschlagen. Anlass für seine Aktion ist eine unerwartete Geburt gewesen. Im Juni 1688 brachte Jakobs zweite Frau endlich einen Sohn zur Welt, der Thronfolger werden sollte. Es kursierte zwar das Gerücht, dass ihr ein fremdes Baby in einer gewärmten Bettpfanne untergeschoben worden sei. Aber das war nicht beweisbar. Stärker war die berechtigte Befürchtung einflussreicher protestantischer Männer des höheren und niederen Adels, dass damit der dynastische Anspruch von Jakobs ältester Tochter Maria aus erster Ehe, die mit ihrem Cousin Wilhelm von Oranien verheiratet und protestantisch war, zugunsten eines männlichen katholischen Thronfolgers verlorenging. Das wollten sie verhindern. Überhaupt war ihnen die Rekatholisierung Englands unter Jakob II. verhasst, der nach dem Tod seines Bruders Karl II. 1685 den Thron bestiegen hatte, mit seiner katholikenfreundlichen Personalpolitik alle Anglikaner und Protestanten düpierte und ein enges Bündnis mit dem katholischen französischen König Ludwig XIV. eingegangen war. So forderten sie verschwörerisch Anfang Juli 1688 Wilhelm von Oranien, den Sohn Karls II., Neffen Jakobs II. und Ehemann Marias, zu einer militärischen Intervention auf und versprachen ihm breite Unterstützung. Es gelte, das englische Volk vor «Papismus und Sklaverei» zu retten. Wilhelm sagte zu, stellte in Holland eine Flotte mit einem Heer von 15 000 Mann zusammen, segelte im November 1688 nach England und trieb den überraschten Jakob in die Flucht nach Frankreich, wo er beim absolutistisch herrschenden Sonnenkönig Ludwig XIV. Schutz suchte und fand.
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Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Aufklärung. Am Anfang war das Bild: Wie morgens der Himmel aufklart und die nächtliche Dunkelheit vertrieben wird, so soll auch der menschliche Verstand erhellt werden. Schon 1691 wird der Ausdruck «Aufklärung des Verstandes» lexikalisch verzeichnet. Helle Köpfe sollen mittels deutlicher Begriffe und geschärfter Urteilskraft klar erkennen können, was wirklich der Fall ist. «Aufklärung» ist eine vernunftorientierte Kampfidee gegen «dunkle» Vorstellungen, die alles wie in einem Nebel oder Schattenreich verschwimmen lassen. Sie richtet sich gegen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit und Phantasterei. Sie ist zugleich eine positive Programmidee für den richtigen Gebrauch des eigenen Verstandes. Sie favorisiert das Selbstdenken mündiger Menschen. Das erklärt ihr emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Aufklärung bekämpft alle autoritären Mächte, die den selbständigen Verstandesgebrauch der Menschen blockieren wollen.
Europa. Das Vertrauen in die Vernunft und der Wunsch nach Emanzipation charakterisieren die Aufklärung als eine geistige und politische Bewegung der europäischen Neuzeit. Als Epochenbegriff im engeren Sinne umfasst sie nicht zufällig das Jahrhundert zwischen zwei Revolutionen, in denen die absolute Vormachtstellung von Kirche und Staat gebrochen worden ist. Sie beginnt 1689 mit der Glorreichen Revolution in England und endet hundert Jahre später 1789 mit der Großen Revolution in Frankreich, als die anti-klerikalen und anti-feudalen Ideen der französischen Philosophen die Massen ergreifen. Eine dritte starke zentraleuropäische Position entwickeln die deutschen Aufklärer. Zwar weniger erfahrungsorientiert als die Engländer, weniger religions- und staatskritisch als die Franzosen und weniger politisch als beide, streiten sie äußerst risikofreudig für kritische Vernunft und lebenspraktisches Glück. Im kulturgeschichtlichen Rückblick zeigt sich Aufklärung als ein europäisches Projekt mit universellem Anspruch. Lumières philosophiques, Enlightenment, Aufklärung und Illuminismo gehören zum Besten, was ein kosmopolitisches Europa zu bieten hat, das mehr sein will als ein bürokratisch geregeltes Wirtschaftsgeflecht, das von einer finanzpolitischen Krise in die nächste getrieben wird.
Projekt. Wir leben in keinem aufgeklärten Zeitalter, aber in einem Zeitalter der Aufklärung, stellte Immanuel Kant 1784 fest. Er verwies darauf, dass Aufklärung kein Zustand ist, sondern ein Prozess, kein Sein, sondern ein Werden, wobei der Ausgang der Geschichte offen ist. Für den praktischen Erfolg der Aufklärung gibt es keine Garantie. «PROJEKT (Moral). Ein Plan, den man zu verwirklichen beabsichtigt, doch es ist ein weiter Weg vom Projekt zur Ausführung & ein noch weiterer Weg von der Ausführung zum Erfolg. Wie oft verfällt der Mensch auf unsinnige Unternehmungen.» So war es in der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Encyclopédie zu lesen, dem aufklärenden Gemeinschaftswerk einer französischen Gelehrtengesellschaft, die zwei Jahrzehnte lang gegen heftigste Widerstände von Kirche und Staat ankämpfte. Es gibt keine Aufklärung ohne Gegenaufklärung. Die Geschichte der Aufklärung, vor allem im europäischen Zeitalter der Extreme, erinnert an die absurde Tätigkeit des Sisyphos, der seinen Stein immer wieder den Berg hinaufwälzen muss, bevor er erneut in die Tiefe rollt.
Universalismus. Auch wenn das Projekt der Aufklärung in Europa entworfen wurde, so hat es sich doch nicht auf Europa beschränkt. Schon Kant verstand «Aufklärung» als einen Weltbegriff, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert. Aufklärung begrenzt sich nicht auf Franzosen, Italiener, Engländer, Deutsche oder andere Nationalitäten. Sie konzentriert sich auf die «Bestimmung des Menschen». Es geht ihr um den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, um die Rechte jedes Menschen also, der als solcher kein Ding ist, sondern eine mündige Person mit ihrer eigenen Würde. Die Aufklärung versucht philosophisch zu begründen und praktisch zu verwirklichen, was jedem Menschen von Natur aus zukommt. Sie versteht dieses Naturrecht als ein Bündel von Menschenrechten, auf die alle Menschen ein Anrecht haben. Ihr Zentrum bilden geistige und politische Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Recht auf Eigentum. Universell realisierbar sind sie nur in einem Völkerbund aller Staaten, die gemeinsam die allgemeinen Rechte aller Menschen anerkennen. Doch weltweit eingeklagt werden können sie schon heute vor dem Forum einer Weltöffentlichkeit, die sich zunehmend global vernetzt.
Aktualität. Die selbstreflexive Frage - «Was ist Aufklärung?» - lässt sich im Sinn der Aufklärung durch keinen bloßen Rückgriff in die Philosophiegeschichte beantworten. Sie richtet sich auf ihre eigene Gegenwart und fragt nach der Aktualität ihres Projekts. Aufklärung legitimiert sich nicht durch den Verweis auf stabilisierte oder anerkannte Vormächte, sondern durch eine Begründung, der jeder mündige Mensch mit seinem eigenen Verstand zu folgen in der Lage ist. In dieser Hinsicht ist sie absolut modern und muss zwangsläufig auf die Gegenwehr von Mächten stoßen, die der religiösen, geistigen und wirtschaftlichen Autonomie des Menschen keinen besonderen Wert zugestehen. Im europäischen Jahrhundert der Aufklärung waren es christliche Dogmatik, kirchliche Autorität und feudale Staatsgewalt. Gegenwärtig sind es in globalem Ausmaß vor allem islamischer Fundamentalismus und autoritäre Staatsgebilde, die als Mächte der Gegenaufklärung wirksam sind. Im weltweiten Kampf der Ideen scheint Chinas Plan, im 21. Jahrhundert als größte Wirtschaftsmacht ohne die «westlichen» Werte der Demokratie, der Menschenrechte und individuellen Freiheiten an die Weltspitze zu gelangen, verwirklicht zu werden. In Amerika stellt man einen epochalen Rückschritt fest, der als «Post-Enlightenment» beschrieben wird: Der Stil des Denkens wird immer weniger durch vernünftiges Argumentieren, kritische Auseinandersetzung und offenen Verstandesgebrauch geprägt, sondern verstärkt durch Glaubensgewissheit, Meinung und Orthodoxie. Und auch in Europa selbst drohen Stimmen immer lauter zu werden und Gehör zu finden, die sich gegen die Werte der Aufklärung richten: gegen religiöse Toleranz und politische Liberalität, geistige Offenheit und kulturelle Vielfalt, gegenseitigen Respekt und weltbürgerliche Mentalität.
Große Erzählung. Es gehört zur Dynamik der europäischen Moderne, dass sie intern auch ihre eigenen Ideen verwerfen kann. Von einer angeblich verhängnisvollen «Dialektik der Aufklärung», die in ein totalitäres System übergegangen sei, bis zum hoffnungslosen «Elend der Aufklärung», von der verspielten bis zur verträumten, von der palavernden bis zur unbefriedigten Aufklärung reicht das Spektrum kritischer Vorwürfe. Unsere postmoderne Moderne erklärte die «große Erzählung» der Aufklärung zu einem Dokument der Vergangenheit. Der großen Perspektive einer möglichen Übereinstimmung vernünftiger, freier Menschen in einer gemeinsamen Welt wurde kein Glaube mehr geschenkt. So wurde nicht nur leichtfertig aufgegeben, wofür in der Vergangenheit mutig und nicht ohne Erfolg gekämpft wurde. Es wurde auch der Blick getrübt für die weltweiten Aktivitäten von Rebellen und Dissidenten, die sich gegenwärtig in vielen Ländern, seien sie auch noch so despotisch regiert, für die Ideale der Aufklärung engagieren und mit moralischer Klarheit das Risiko eingehen, dafür verfolgt, bestraft, isoliert oder getötet zu werden.
Sieben Erzählungen. Es waren schon immer Einzelne, die sich in konkreten geschichtlichen Problemsituationen auf unterschiedliche Art und Weise als Aufklärer zu Wort meldeten. Einige regten erfolgreich Freiheitsbewegungen an, andere scheiterten an übermächtigen Widerständen und zahlten mit ihrem Leben. «Aufklärung» wäre nur ein leerer Begriff ohne die anschaulichen Beispiele der Menschen, die für sie argumentiert, gestritten und gelitten haben; und die philosophischen, schriftstellerischen und politischen Aktivitäten dieser Individuen wären blind gewesen, wenn sie nicht alle der überindividuellen Maxime gefolgt wären, jederzeit selbst zu denken. Deshalb soll hier keine «große Erzählung» versucht werden. Stattdessen werden sieben ausgewählte Lebens- und Werkgeschichten erzählt. Jeder einzelne Fall exemplifiziert auf seine besondere Weise eine allgemeine Intention, sei es der politische Liberalismus, die jüdische Emanzipation oder die Gleichberechtigung der Frau, sei es die Naturalisierung des Menschen, seine humorvolle Moralisierung oder seine Erziehung zur Mündigkeit. Es sind unterschiedliche Charaktere, denen wir begegnen, vom nüchternen Denker bis zur libertinen Frauenrechtlerin, vom gebildeten Juden bis zum atheistischen Freigeist. Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, ohne einen festen Typus identifizieren zu können; und folgen Diskursen, in denen sich die Gedanken vielstimmig überschneiden und kreuzen, gegenseitig stabilisieren oder aneinander reiben. Es geht uns nicht um ein Lehrbuch1, sondern um dramatische Geschichten von Menschen und Büchern, die uns zum Nachdenken und Mitmachen im Geist der Aufklärung einladen. Den Anfang macht John Locke, der 1689 nach mehrjährigem Exil endlich in seine Heimat zurückkehrt, um seinen Mitbürgern ein kleines Licht aufgehen zu lassen.
Hamburg, September 2011
EIN KERZENLICHT IN DER DUNKELHEIT
Wie John Locke zu seinen Ideen über Menschenrechte, Toleranz und Selbstdenken kam
Sonntag, 10. Februar 1689, drei Uhr nachmittags. Endlich ist es soweit. Von den Freunden, die er während seines fünfeinhalbjährigen Exils in Holland kennenlernte, hat er sich verabschiedet. Besonders Philippus van Limborch bedauerte seinen Entschluss, in die englische Heimat zurückzukehren. Doch er hat sich dazu entschieden, obwohl er völlig unsicher ist, was auf ihn zukommt. Seit einer Woche wartet er nun schon in Den Haag, dass der stürmische Wind sich dreht. Starker Westwind hat die Fahrt verhindert. Er vertrödelt seine Zeit, und seine Untätigkeit macht ihn ganz krank. Doch endlich steht der Wind günstig, im kleinen Städtchen Biel werden die Segel der «Isabella» gesetzt, er geht an Bord, die Anker werden gelichtet, und das Schiff sticht in See. Bald verschwindet die holländische Küste im winterlichen Nebel.
John Locke ist 57 Jahre alt. Er sorgt sich um seine Existenz. Sein äußerst hagerer Körper bereitet ihm Schmerzen. Schon lange leidet er an einer chronischen Bronchitis, und er fürchtet, dass das schlechte englische Wetter und die feuchte, rußige Londoner Luft seine krampfartigen Hustenanfälle verschlimmern werden. Die Zukunft erscheint ihm wie der dichte Nebel, der über dem horizontlosen Meer liegt. Er besitzt kaum Vermögen, übt keinen praktischen Beruf aus, mit dem er Geld verdienen könnte, und weiß nicht recht, was er in England tun soll. In seiner Heimat kennt man ihn nur noch als den «Mann, der zu Shaftesbury gehörte», zu diesem schillernden und umstrittenen Politiker, der bereits 1683 im holländischen Exil gestorben ist, wohin ihm sein Schützling gefolgt war.
Locke hat in den letzten zwanzig Jahren zwar viel geschrieben. Er ist davon überzeugt, dass es wichtige Überlegungen zu Politik, Religion und Philosophie sind. Aber nichts davon ist veröffentlicht. Nur einige Freunde haben die Manuskripte zu Gesicht bekommen und mit ihm darüber debattiert. Was ist, wenn die umfangreichen Schriften, die er in Kisten verpackt auf einem anderen Schiff vorausgeschickt hat, die gefährliche Fahrt nicht überstanden haben und in den dunklen Tiefen des Meeres verschwunden sind? Man würde nichts von seinen Gedanken erfahren, die er in so vielen müßigen und schweren Stunden zu Papier gebracht hat, und er sähe sich nicht in der Lage, diese Arbeit noch einmal zu leisten.
Nicht nur seine Zukunft ist ungewiss. Auch die politische Situation, die ihn zur Rückkehr in seine Heimat lockt, ist unsicher. Die Nachrichten, die er in den letzten Wochen erhalten hat, geben zwar Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Politik in eine Richtung entwickelt, wie Locke es sich wünscht und gedanklich entworfen und begründet hat. Eine religiöse und politische Machtverschiebung, die als englische «Glorious Revolution» von 1688/89 in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist in Gang gekommen.
Locke ist über die wichtigsten Ereignisse, teilweise aus erster Hand, gut informiert. Er glaubt nicht, dass es um eine wirkliche Revolution geht. Eher handelt es sich um eine komplizierte, durch religiöse Differenzen gestörte Familiengeschichte, die militärisch gelöst worden ist: Der protestantische Statthalter der Niederlande, Prinz Wilhelm von Oranien, hat seinen Schwiegervater und Onkel, den katholischen Stuart-König Jakob II., in die Flucht geschlagen. Anlass für seine Aktion ist eine unerwartete Geburt gewesen. Im Juni 1688 brachte Jakobs zweite Frau endlich einen Sohn zur Welt, der Thronfolger werden sollte. Es kursierte zwar das Gerücht, dass ihr ein fremdes Baby in einer gewärmten Bettpfanne untergeschoben worden sei. Aber das war nicht beweisbar. Stärker war die berechtigte Befürchtung einflussreicher protestantischer Männer des höheren und niederen Adels, dass damit der dynastische Anspruch von Jakobs ältester Tochter Maria aus erster Ehe, die mit ihrem Cousin Wilhelm von Oranien verheiratet und protestantisch war, zugunsten eines männlichen katholischen Thronfolgers verlorenging. Das wollten sie verhindern. Überhaupt war ihnen die Rekatholisierung Englands unter Jakob II. verhasst, der nach dem Tod seines Bruders Karl II. 1685 den Thron bestiegen hatte, mit seiner katholikenfreundlichen Personalpolitik alle Anglikaner und Protestanten düpierte und ein enges Bündnis mit dem katholischen französischen König Ludwig XIV. eingegangen war. So forderten sie verschwörerisch Anfang Juli 1688 Wilhelm von Oranien, den Sohn Karls II., Neffen Jakobs II. und Ehemann Marias, zu einer militärischen Intervention auf und versprachen ihm breite Unterstützung. Es gelte, das englische Volk vor «Papismus und Sklaverei» zu retten. Wilhelm sagte zu, stellte in Holland eine Flotte mit einem Heer von 15 000 Mann zusammen, segelte im November 1688 nach England und trieb den überraschten Jakob in die Flucht nach Frankreich, wo er beim absolutistisch herrschenden Sonnenkönig Ludwig XIV. Schutz suchte und fand.
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Autoren-Porträt von Manfred Geier
Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg. Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.
Bibliographische Angaben
- Autor: Manfred Geier
- 2012, 3. Aufl., 416 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 349802518X
- ISBN-13: 9783498025182
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