Blauer Montag
Thriller - Ein Fall für Frieda Klein Bd.1
Als der 5-jährige Matthew verschwindet, geht ein Aufschrei durch London. In den Zeitungen erscheint sein Bild - und die Psychotherapeutin Frieda Klein kann es nicht fassen: Matthew gleicht bis ins Detail dem Wunschkind eines verzweifelten kinderlosen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Blauer Montag “
Als der 5-jährige Matthew verschwindet, geht ein Aufschrei durch London. In den Zeitungen erscheint sein Bild - und die Psychotherapeutin Frieda Klein kann es nicht fassen: Matthew gleicht bis ins Detail dem Wunschkind eines verzweifelten kinderlosen Patienten von ihr. Ist dieser Mann ein brutaler Psychopath? Warum hat sie das als Therapeutin nicht schon vorher bemerkt? Zusammen mit Inspector Karlsson stößt Frieda auf Parallelen zum Verschwinden eines Mädchens vor mehr als zwanzig Jahren. Mit höchst eigenwilligen Mitteln kommt Frieda dem Entführer sehr nahe. Doch dann beginnt eine Jagd gegen die Zeit.
"Blauer Montag" ist ein packender Psychothriller - und der grandiose Auftakt einer neuen Serie mit der unkonventionellen und sympathischen Therapeutin Frieda Klein.
Lese-Probe zu „Blauer Montag “
Blauer Montag von Nicci French1987
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In dieser Stadt gab es viele Geister. Sie musste aufpassen. Deshalb übersprang sie die Ritzen im Pflaster und hüpfte jedes
Mal gerade so weit, dass ihre Füße, die in abgewetzten Schnürschuhen steckten, auf den Flächen zwischen den Spalten landeten. Mittlerweile war sie dabei sehr flink, sie beherrschte dieses Himmel-und-Hölle-Spiel fast schon im Schlaf. Sie hatte es jeden Tag auf dem Schulweg geübt, und auch davor, so lange sie denken konnte: zunächst an der Hand ihrer Mutter, die ungeduldig an ihr zerrte, während sie von einem sicheren Platz zum nächsten sprang, und später allein. Nur nicht auf die Ritzen treten, oder ... oder was? Vermutlich war sie mit ihren neun Jahren inzwischen viel zu alt für dieses Spiel. In ein paar Wochen - kurz bevor die Sommerferien anfingen - wurde sie sogar schon zehn. Trotzdem spielte sie es weiter, größtenteils aus Gewohnheit, aber auch aus Angst vor dem, was passieren könnte, wenn sie damit aufhörte.
Das nächste Stück hatte es in sich, denn hier war das Pflaster in ein von Zacken durchzogenes Mosaik aufgebrochen. Sie überwand den schwierigen Abschnitt, indem sie auf Zehenspitzen von einer kleinen Insel zur nächsten hüpfte. Dabei schlugen ihr die Zöpfe gegen die heißen Wangen, und die Schultasche mit den schweren Büchern und ihrer nur halb geleerten Lunchbox an die Hüfte. Hinter sich hörte sie Joannas Schritte, wandte sich jedoch nicht um. Ihre kleine Schwester trödelte wie immer hinter ihr her und hielt sie auf. Gerade hörte sie sie wieder jammern: »Rosie, Rosie! Warte auf mich!«
»Beeil dich ein bisschen!«, rief sie über die Schulter zurück. Obwohl sich mittlerweile mehrere Leute zwischen ihnen befanden, erhaschte sie einen Blick auf Joannas erhitztes Gesicht, das unter dem dunklen Pony rot leuchtete. Ihre kleine Schwester machte einen ängstlichen Eindruck und hielt vor lauter Konzentration die Zungenspitze an die Unterlippe gepresst. Ihr Fuß landete auf einer Ritze. Sie schwankte einen Moment lang und trat dann auf eine weitere Spalte. Das passierte ihr ständig. Sie war ein ungeschicktes Kind, das oft Essen verschüttete und sich regelmäßig die Zehen anschlug oder in Hundekacke trat. »Beeil dich!«, wiederholte Rosie ärgerlich, während sie weiter an den anderen Fußgängern vorbeihüpfte.
Es war vier Uhr nachmittags, und der Himmel strahlte in einem wolkenlosen Blau. Das grelle Sonnenlicht auf dem Pflaster tat ihr in den Augen weh. Rasch bog sie in Richtung Süßwarenladen ab und befand sich plötzlich im Schatten, wo sie sofort ihr Tempo drosselte, da die Gefahr nun gebannt war. Die Pflastersteine wurden hier von Asphalt abgelöst. Sie ging an dem Mann mit dem pockennarbigen Gesicht vorbei, der tagtäglich in der Tür saß und eine Büchse neben sich stehen hatte. An seinen Schnürstiefeln fehlten die Schuhbänder. Rosie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie mochte es nicht, wie er lächelte, ohne wirklich zu lächeln, genau wie ihr Vater es manchmal tat, wenn er sich am Samstag von ihnen verabschiedete. Heute war Montag: Am Montag vermisste sie ihn am meisten, weil sie dann noch die ganze Woche vor sich hatte und genau wusste, dass er wieder nicht da sein würde. Wo blieb Joanna bloß? Während Rosie wartete, eilten andere Leute an ihr vorüber - ein Pulk Jugendlicher, eine Frau mit einem Schal um den Kopf und einer großen Tasche, ein Mann mit einem Stock -, und dann trat endlich ihre kleine Schwester aus dem gleißenden Licht in den Schatten, eine magere Gestalt mit überdimensionaler Schultasche, Knubbelknien und schmuddeligen weißen Söckchen. Das Haar klebte ihr an der Stirn.
Rosie wandte sich wieder um, steuerte auf den Süßwarenladen zu und begann zu überlegen, was sie sich kaufen sollte.
Vielleicht Fruchtgummis ... oder Eiskonfekt, allerdings schmolz das bei der Hitze bestimmt, bis sie zu Hause war. Joanna würde sich wie üblich für Erdbeerstangen entscheiden und davon einen rosa verschmierten Mund bekommen. Hayley, eine Klassenkameradin von Rosie, befand sich bereits im Laden. Sie gesellte sich zu ihr an die Theke, und gemeinsam suchten sie ihre Süßigkeiten aus. Weingummis, beschloss Rosie. Mit dem Zahlen musste sie warten, bis Joanna kam. Sie warf einen Blick zur Tür und hatte einen Moment lang das Gefühl, etwas zu sehen - irgendetwas Verschwommenes, das anders war als sonst, wie ein Schimmer in der heißen Luft, als wollte ihr das Licht einen Streich spielen. Dann aber war es verschwunden. Die Tür war leer, niemand stand da.
Während draußen Bremsen quietschten, ereiferte Rosie sich laut.
»Immer muss ich auf meine kleine Schwester warten!« »Du Ärmste«, meinte Hayley.
»Sie ist eine solche Heulsuse. Das nervt!« Sie sagte das, weil sie das Gefühl hatte, dass es von ihr erwartet wurde. Man musste auf seine jüngeren Geschwister herabblicken, die Augen verdrehen und über sie herziehen.
»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Hayley mitfühlend.
»Wo bleibt sie bloß?« Mit einem theatralischen Seufzer legte Rosie ihr Päckchen Süßigkeiten ab und ging zur Tür, um hinauszuspähen. Auf der Straße rauschten die Autos vorbei. Eine Frau in einem Sari ging vorüber, von Kopf bis Fuß in Gold- und Rosétöne und einen lieblichen Duft gehüllt, gefolgt von drei Jungs aus der nahe gelegenen höheren Schule. Die drei rempelten einander die spitzen Ellbogen in die Rippen.
»Joanna! Joanna, wo bist du?«
Sie merkte selbst, wie schrill und ärgerlich ihre Stimme klang, und dachte: Ich höre mich schon an wie meine Mum, wenn sie schlechter Laune ist.
Hayley stand daneben und kaute schmatzend auf ihrem Kaugummi herum. »Wo ist sie denn hin?« Aus ihrem Mund tauchte eine blassrosa Blase auf, die sie aber gleich wieder einsaugte.
»Sie weiß genau, dass sie bei mir bleiben soll!«
Rosie lief zu der Ecke, wo sie Joanna zuletzt gesehen hatte, und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um. Sie rief erneut nach ihrer Schwester, wobei ihre Stimme von einem Lastwagen übertönt wurde. Vielleicht war Joanna über die Straße gelaufen, weil sie auf der anderen Seite eine Freundin entdeckt hatte. Ähnlich sah ihr das nicht. Sie war ein gehorsames kleines Mädchen. Fügsam, so sagte ihre Mutter immer.
»Findest du sie nicht?« Hayley tauchte an ihrer Seite auf.
»Wahrscheinlich ist sie ohne mich nach Hause«, meinte Rosie so lässig wie möglich. Trotzdem war der panische Unterton in ihrer Stimme auch für sie selbst nicht zu überhören.
»Na dann, bis morgen.«
»Bis morgen.«
Sie versuchte, in ihrem normalen Tempo zu gehen, doch das funktionierte nicht. Ihr Körper ließ sie nicht ruhig bleiben, sodass sie schließlich in einen gehetzten Galopp verfiel. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. »So eine blöde Kuh!«, stieß sie immer wieder hervor, und dann: »Ich bringe sie um! Wenn ich sie sehe, dann ... « Während sie auf wackligen Knien weiterlief, stellte sie sich vor, wie sie Joanna an den knochigen Schultern packen und schütteln würde, bis ihr der Kopf brummte.
Zu Hause. Eine blaue Haustür und eine Hecke, die niemand mehr geschnitten hatte, seit ihr Vater gegangen war. Als sie stehen blieb, verspürte sie jenen leichten Anflug von Übelkeit, den sie immer empfand, wenn sie sich mit irgendetwas in Schwierigkeiten brachte. Sie betätigte den Klopfer, so fest sie konnte, weil die Klingel nicht mehr funktionierte. Und wartete. Lass sie da sein, lass sie da sein, lass sie da sein! Die Tür ging auf, und vor ihr stand ihre Mutter, noch im Mantel. Sie war wohl gerade erst aus der Arbeit gekommen. Einen Moment sah sie Rosie an, dann wanderte ihr Blick ein Stück tiefer, auf den leeren Platz neben ihr.
»Wo ist Joanna?« Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Rosie registrierte die plötzliche Anspannung in den Zügen ihrer Mutter. »Rosie? Wo ist Joanna?«
So leise, dass sie es selbst kaum hörte, antwortete sie: »Vorhin war sie noch da. Es ist nicht meine Schuld. Ich dachte, sie wäre schon vorausgegangen.«
Ehe sie es sich versah, hatte ihre Mutter sie auch schon an der Hand gepackt, und sie liefen gemeinsam den Weg zurück, den Rosie gekommen war: die Straße entlang, in der sie wohnten, und dann vorbei am Süßwarenladen, vor dem ein paar Kinder herumhingen, vorbei an dem Mann mit dem pockennarbigen Gesicht und dem leeren Lächeln und um die Ecke, hinaus aus dem Schatten ins gleißende Licht. Obwohl Rosie bereits Seitenstechen hatte, liefen sie immer weiter, und ihre Füße trommelten über die Ritzen ohne haltzumachen.
Die ganze Zeit hörte sie über alle anderen Geräusche hinweg - das laute Pochen ihres Herzens und das asthmatische Rasseln ihres Atems - die Rufe ihrer Mutter: »Joanna? Joanna? Wo bist du, Joanna?«
Deborah Vine hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, als wollte sie den herausströmenden Worten Einhalt gebieten. Durch das Fenster, das auf die Rückseite des Gebäudes hinausging, sah der Polizeibeamte ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen ganz still in dem kleinen Garten stehen, die Arme dicht am Körper, die Schultasche noch über der Schulter. Deborah Vine starrte ihn an. Er wartete auf ihre Antwort.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte sie schließlich, »gegen vier. Auf dem Heimweg von der Schule, Audley Road Primary. Normalerweise hätte ich sie selbst abgeholt, aber es ist so schwierig, von der Arbeit rechtzeitig hinzukommen, außerdem war sie mit Rosie unterwegs, und es sind keine Straßen zu überqueren, deswegen dachte ich, es könnte nichts passieren. Andere Mütter lassen ihre Kinder ganz allein nach Hause gehen, schließlich müssen sie es ja lernen, nicht wahr, sie müssen lernen, auf sich selbst aufzupassen, und Rosie hat versprochen, ein Auge auf sie zu haben.«
Während sie keuchend nach Luft rang, notierte er etwas in seinem Buch. Dann fragte er sie noch einmal nach Joannas genauem Alter. Fünf Jahre und drei Monate. Wo sie zuletzt gesehen worden sei. Vor dem Süßwarenladen. An den Namen des Ladens erinnerte Deborah sich nicht, erklärte jedoch, sie könne die Polizei hinführen.
Der Beamte klappte sein Notizbuch zu. »Wahrscheinlich ist sie bei einer Freundin«, mutmaßte er, »aber vielleicht hätten Sie trotzdem ein Foto? Ein aktuelles.«
»Sie ist klein für ihr Alter«, antwortete Deborah. Sie bekam die Worte kaum heraus. Der Beamte musste sich vorbeugen, um sie zu verstehen. »Ein mageres kleines Ding. Sie ist ein braves Mädchen. Schrecklich schüchtern, wenn man sie das erste Mal trifft. Sie würde niemals mit einem Fremden mitgehen.«
»Ein Foto«, wiederholte er.
Während sie sich auf die Suche machte, betrachtete der Beamte wieder das Mädchen im Garten. Ihr blasses Gesicht wirkte ausdruckslos. Er würde mit ihr sprechen müssen. Vielleicht konnte einer seiner Kollegen das übernehmen. Am besten eine Frau. Aber womöglich tauchte Joanna ja wieder auf, bevor das nötig wurde. Kam einfach ins Haus gestürmt. Vermutlich war sie mit einer Freundin davonmarschiert und spielte gerade, mit was auch immer fünfjährige Mädchen so spielen - Puppen oder Malkreiden oder Teegeschirr oder Prinzessinnenkrönchen. Er starrte auf das Foto, das Deborah Vine ihm reichte. Es zeigte ein Mädchen, das wie seine Schwester dunkles Haar und ein schmales Gesicht hatte. Ein Mädchen mit einem abgebrochenen Zahn, einem strengen Pony und einem Lächeln, das aussah, als hätte sie pflichtbewusst die Mundwinkel hochgezogen, als der Fotograf sie aufforderte, »Cheese« zu sagen.
»Haben Sie Ihren Mann erreicht?«
Sie verzog das Gesicht.
»Richard - mein ... besser gesagt, der Vater der Mädchen - lebt nicht bei uns.« Dann, als müssten die Worte einfach noch heraus, fügte sie hinzu: »Er hat uns wegen einer Jüngeren verlassen.«
»Sie sollten ihn verständigen.«
»Demnach glauben Sie also, dass etwas wirklich Schlimmes passiert ist?« Natürlich wünschte sie, er würde Nein sagen. Sie wollte von ihm hören, dass es im Grunde gar nicht nötig war, den Vater zu verständigen. Dabei rechnete sie ja selbst mit etwas Schlimmem. Nicht umsonst war ihr vor lauter Angst der kalte Schweiß ausgebrochen. Der Polizist konnte ihre Angst fast riechen.
»Wir bleiben in Kontakt. Eine Kollegin ist bereits auf dem Weg hierher.«
»Was soll ich tun? Es muss doch etwas geben, das ich tun kann. Ich kann nicht einfach hier herumsitzen und warten. Sagen Sie mir, was ich tun kann. Irgendwas.«
»Sie könnten bei ihren Freundinnen anrufen«, schlug er vor. »Überall dort nachfragen, wo sie vielleicht hingegangen sein könnte.«
Sie hielt ihn am Ärmel fest. »Sagen Sie mir, dass alles wieder gut wird!«, beschwor sie ihn. »Sagen Sie mir, dass Sie sie finden werden!«
Verlegen wandte der Beamte den Blick ab. Er konnte ihr das nicht versprechen und wusste auch nicht, was er ihr sonst sagen sollte.
...
Übersetzung: Birgit Moosmüller
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
In dieser Stadt gab es viele Geister. Sie musste aufpassen. Deshalb übersprang sie die Ritzen im Pflaster und hüpfte jedes
Mal gerade so weit, dass ihre Füße, die in abgewetzten Schnürschuhen steckten, auf den Flächen zwischen den Spalten landeten. Mittlerweile war sie dabei sehr flink, sie beherrschte dieses Himmel-und-Hölle-Spiel fast schon im Schlaf. Sie hatte es jeden Tag auf dem Schulweg geübt, und auch davor, so lange sie denken konnte: zunächst an der Hand ihrer Mutter, die ungeduldig an ihr zerrte, während sie von einem sicheren Platz zum nächsten sprang, und später allein. Nur nicht auf die Ritzen treten, oder ... oder was? Vermutlich war sie mit ihren neun Jahren inzwischen viel zu alt für dieses Spiel. In ein paar Wochen - kurz bevor die Sommerferien anfingen - wurde sie sogar schon zehn. Trotzdem spielte sie es weiter, größtenteils aus Gewohnheit, aber auch aus Angst vor dem, was passieren könnte, wenn sie damit aufhörte.
Das nächste Stück hatte es in sich, denn hier war das Pflaster in ein von Zacken durchzogenes Mosaik aufgebrochen. Sie überwand den schwierigen Abschnitt, indem sie auf Zehenspitzen von einer kleinen Insel zur nächsten hüpfte. Dabei schlugen ihr die Zöpfe gegen die heißen Wangen, und die Schultasche mit den schweren Büchern und ihrer nur halb geleerten Lunchbox an die Hüfte. Hinter sich hörte sie Joannas Schritte, wandte sich jedoch nicht um. Ihre kleine Schwester trödelte wie immer hinter ihr her und hielt sie auf. Gerade hörte sie sie wieder jammern: »Rosie, Rosie! Warte auf mich!«
»Beeil dich ein bisschen!«, rief sie über die Schulter zurück. Obwohl sich mittlerweile mehrere Leute zwischen ihnen befanden, erhaschte sie einen Blick auf Joannas erhitztes Gesicht, das unter dem dunklen Pony rot leuchtete. Ihre kleine Schwester machte einen ängstlichen Eindruck und hielt vor lauter Konzentration die Zungenspitze an die Unterlippe gepresst. Ihr Fuß landete auf einer Ritze. Sie schwankte einen Moment lang und trat dann auf eine weitere Spalte. Das passierte ihr ständig. Sie war ein ungeschicktes Kind, das oft Essen verschüttete und sich regelmäßig die Zehen anschlug oder in Hundekacke trat. »Beeil dich!«, wiederholte Rosie ärgerlich, während sie weiter an den anderen Fußgängern vorbeihüpfte.
Es war vier Uhr nachmittags, und der Himmel strahlte in einem wolkenlosen Blau. Das grelle Sonnenlicht auf dem Pflaster tat ihr in den Augen weh. Rasch bog sie in Richtung Süßwarenladen ab und befand sich plötzlich im Schatten, wo sie sofort ihr Tempo drosselte, da die Gefahr nun gebannt war. Die Pflastersteine wurden hier von Asphalt abgelöst. Sie ging an dem Mann mit dem pockennarbigen Gesicht vorbei, der tagtäglich in der Tür saß und eine Büchse neben sich stehen hatte. An seinen Schnürstiefeln fehlten die Schuhbänder. Rosie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie mochte es nicht, wie er lächelte, ohne wirklich zu lächeln, genau wie ihr Vater es manchmal tat, wenn er sich am Samstag von ihnen verabschiedete. Heute war Montag: Am Montag vermisste sie ihn am meisten, weil sie dann noch die ganze Woche vor sich hatte und genau wusste, dass er wieder nicht da sein würde. Wo blieb Joanna bloß? Während Rosie wartete, eilten andere Leute an ihr vorüber - ein Pulk Jugendlicher, eine Frau mit einem Schal um den Kopf und einer großen Tasche, ein Mann mit einem Stock -, und dann trat endlich ihre kleine Schwester aus dem gleißenden Licht in den Schatten, eine magere Gestalt mit überdimensionaler Schultasche, Knubbelknien und schmuddeligen weißen Söckchen. Das Haar klebte ihr an der Stirn.
Rosie wandte sich wieder um, steuerte auf den Süßwarenladen zu und begann zu überlegen, was sie sich kaufen sollte.
Vielleicht Fruchtgummis ... oder Eiskonfekt, allerdings schmolz das bei der Hitze bestimmt, bis sie zu Hause war. Joanna würde sich wie üblich für Erdbeerstangen entscheiden und davon einen rosa verschmierten Mund bekommen. Hayley, eine Klassenkameradin von Rosie, befand sich bereits im Laden. Sie gesellte sich zu ihr an die Theke, und gemeinsam suchten sie ihre Süßigkeiten aus. Weingummis, beschloss Rosie. Mit dem Zahlen musste sie warten, bis Joanna kam. Sie warf einen Blick zur Tür und hatte einen Moment lang das Gefühl, etwas zu sehen - irgendetwas Verschwommenes, das anders war als sonst, wie ein Schimmer in der heißen Luft, als wollte ihr das Licht einen Streich spielen. Dann aber war es verschwunden. Die Tür war leer, niemand stand da.
Während draußen Bremsen quietschten, ereiferte Rosie sich laut.
»Immer muss ich auf meine kleine Schwester warten!« »Du Ärmste«, meinte Hayley.
»Sie ist eine solche Heulsuse. Das nervt!« Sie sagte das, weil sie das Gefühl hatte, dass es von ihr erwartet wurde. Man musste auf seine jüngeren Geschwister herabblicken, die Augen verdrehen und über sie herziehen.
»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Hayley mitfühlend.
»Wo bleibt sie bloß?« Mit einem theatralischen Seufzer legte Rosie ihr Päckchen Süßigkeiten ab und ging zur Tür, um hinauszuspähen. Auf der Straße rauschten die Autos vorbei. Eine Frau in einem Sari ging vorüber, von Kopf bis Fuß in Gold- und Rosétöne und einen lieblichen Duft gehüllt, gefolgt von drei Jungs aus der nahe gelegenen höheren Schule. Die drei rempelten einander die spitzen Ellbogen in die Rippen.
»Joanna! Joanna, wo bist du?«
Sie merkte selbst, wie schrill und ärgerlich ihre Stimme klang, und dachte: Ich höre mich schon an wie meine Mum, wenn sie schlechter Laune ist.
Hayley stand daneben und kaute schmatzend auf ihrem Kaugummi herum. »Wo ist sie denn hin?« Aus ihrem Mund tauchte eine blassrosa Blase auf, die sie aber gleich wieder einsaugte.
»Sie weiß genau, dass sie bei mir bleiben soll!«
Rosie lief zu der Ecke, wo sie Joanna zuletzt gesehen hatte, und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um. Sie rief erneut nach ihrer Schwester, wobei ihre Stimme von einem Lastwagen übertönt wurde. Vielleicht war Joanna über die Straße gelaufen, weil sie auf der anderen Seite eine Freundin entdeckt hatte. Ähnlich sah ihr das nicht. Sie war ein gehorsames kleines Mädchen. Fügsam, so sagte ihre Mutter immer.
»Findest du sie nicht?« Hayley tauchte an ihrer Seite auf.
»Wahrscheinlich ist sie ohne mich nach Hause«, meinte Rosie so lässig wie möglich. Trotzdem war der panische Unterton in ihrer Stimme auch für sie selbst nicht zu überhören.
»Na dann, bis morgen.«
»Bis morgen.«
Sie versuchte, in ihrem normalen Tempo zu gehen, doch das funktionierte nicht. Ihr Körper ließ sie nicht ruhig bleiben, sodass sie schließlich in einen gehetzten Galopp verfiel. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. »So eine blöde Kuh!«, stieß sie immer wieder hervor, und dann: »Ich bringe sie um! Wenn ich sie sehe, dann ... « Während sie auf wackligen Knien weiterlief, stellte sie sich vor, wie sie Joanna an den knochigen Schultern packen und schütteln würde, bis ihr der Kopf brummte.
Zu Hause. Eine blaue Haustür und eine Hecke, die niemand mehr geschnitten hatte, seit ihr Vater gegangen war. Als sie stehen blieb, verspürte sie jenen leichten Anflug von Übelkeit, den sie immer empfand, wenn sie sich mit irgendetwas in Schwierigkeiten brachte. Sie betätigte den Klopfer, so fest sie konnte, weil die Klingel nicht mehr funktionierte. Und wartete. Lass sie da sein, lass sie da sein, lass sie da sein! Die Tür ging auf, und vor ihr stand ihre Mutter, noch im Mantel. Sie war wohl gerade erst aus der Arbeit gekommen. Einen Moment sah sie Rosie an, dann wanderte ihr Blick ein Stück tiefer, auf den leeren Platz neben ihr.
»Wo ist Joanna?« Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Rosie registrierte die plötzliche Anspannung in den Zügen ihrer Mutter. »Rosie? Wo ist Joanna?«
So leise, dass sie es selbst kaum hörte, antwortete sie: »Vorhin war sie noch da. Es ist nicht meine Schuld. Ich dachte, sie wäre schon vorausgegangen.«
Ehe sie es sich versah, hatte ihre Mutter sie auch schon an der Hand gepackt, und sie liefen gemeinsam den Weg zurück, den Rosie gekommen war: die Straße entlang, in der sie wohnten, und dann vorbei am Süßwarenladen, vor dem ein paar Kinder herumhingen, vorbei an dem Mann mit dem pockennarbigen Gesicht und dem leeren Lächeln und um die Ecke, hinaus aus dem Schatten ins gleißende Licht. Obwohl Rosie bereits Seitenstechen hatte, liefen sie immer weiter, und ihre Füße trommelten über die Ritzen ohne haltzumachen.
Die ganze Zeit hörte sie über alle anderen Geräusche hinweg - das laute Pochen ihres Herzens und das asthmatische Rasseln ihres Atems - die Rufe ihrer Mutter: »Joanna? Joanna? Wo bist du, Joanna?«
Deborah Vine hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, als wollte sie den herausströmenden Worten Einhalt gebieten. Durch das Fenster, das auf die Rückseite des Gebäudes hinausging, sah der Polizeibeamte ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen ganz still in dem kleinen Garten stehen, die Arme dicht am Körper, die Schultasche noch über der Schulter. Deborah Vine starrte ihn an. Er wartete auf ihre Antwort.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte sie schließlich, »gegen vier. Auf dem Heimweg von der Schule, Audley Road Primary. Normalerweise hätte ich sie selbst abgeholt, aber es ist so schwierig, von der Arbeit rechtzeitig hinzukommen, außerdem war sie mit Rosie unterwegs, und es sind keine Straßen zu überqueren, deswegen dachte ich, es könnte nichts passieren. Andere Mütter lassen ihre Kinder ganz allein nach Hause gehen, schließlich müssen sie es ja lernen, nicht wahr, sie müssen lernen, auf sich selbst aufzupassen, und Rosie hat versprochen, ein Auge auf sie zu haben.«
Während sie keuchend nach Luft rang, notierte er etwas in seinem Buch. Dann fragte er sie noch einmal nach Joannas genauem Alter. Fünf Jahre und drei Monate. Wo sie zuletzt gesehen worden sei. Vor dem Süßwarenladen. An den Namen des Ladens erinnerte Deborah sich nicht, erklärte jedoch, sie könne die Polizei hinführen.
Der Beamte klappte sein Notizbuch zu. »Wahrscheinlich ist sie bei einer Freundin«, mutmaßte er, »aber vielleicht hätten Sie trotzdem ein Foto? Ein aktuelles.«
»Sie ist klein für ihr Alter«, antwortete Deborah. Sie bekam die Worte kaum heraus. Der Beamte musste sich vorbeugen, um sie zu verstehen. »Ein mageres kleines Ding. Sie ist ein braves Mädchen. Schrecklich schüchtern, wenn man sie das erste Mal trifft. Sie würde niemals mit einem Fremden mitgehen.«
»Ein Foto«, wiederholte er.
Während sie sich auf die Suche machte, betrachtete der Beamte wieder das Mädchen im Garten. Ihr blasses Gesicht wirkte ausdruckslos. Er würde mit ihr sprechen müssen. Vielleicht konnte einer seiner Kollegen das übernehmen. Am besten eine Frau. Aber womöglich tauchte Joanna ja wieder auf, bevor das nötig wurde. Kam einfach ins Haus gestürmt. Vermutlich war sie mit einer Freundin davonmarschiert und spielte gerade, mit was auch immer fünfjährige Mädchen so spielen - Puppen oder Malkreiden oder Teegeschirr oder Prinzessinnenkrönchen. Er starrte auf das Foto, das Deborah Vine ihm reichte. Es zeigte ein Mädchen, das wie seine Schwester dunkles Haar und ein schmales Gesicht hatte. Ein Mädchen mit einem abgebrochenen Zahn, einem strengen Pony und einem Lächeln, das aussah, als hätte sie pflichtbewusst die Mundwinkel hochgezogen, als der Fotograf sie aufforderte, »Cheese« zu sagen.
»Haben Sie Ihren Mann erreicht?«
Sie verzog das Gesicht.
»Richard - mein ... besser gesagt, der Vater der Mädchen - lebt nicht bei uns.« Dann, als müssten die Worte einfach noch heraus, fügte sie hinzu: »Er hat uns wegen einer Jüngeren verlassen.«
»Sie sollten ihn verständigen.«
»Demnach glauben Sie also, dass etwas wirklich Schlimmes passiert ist?« Natürlich wünschte sie, er würde Nein sagen. Sie wollte von ihm hören, dass es im Grunde gar nicht nötig war, den Vater zu verständigen. Dabei rechnete sie ja selbst mit etwas Schlimmem. Nicht umsonst war ihr vor lauter Angst der kalte Schweiß ausgebrochen. Der Polizist konnte ihre Angst fast riechen.
»Wir bleiben in Kontakt. Eine Kollegin ist bereits auf dem Weg hierher.«
»Was soll ich tun? Es muss doch etwas geben, das ich tun kann. Ich kann nicht einfach hier herumsitzen und warten. Sagen Sie mir, was ich tun kann. Irgendwas.«
»Sie könnten bei ihren Freundinnen anrufen«, schlug er vor. »Überall dort nachfragen, wo sie vielleicht hingegangen sein könnte.«
Sie hielt ihn am Ärmel fest. »Sagen Sie mir, dass alles wieder gut wird!«, beschwor sie ihn. »Sagen Sie mir, dass Sie sie finden werden!«
Verlegen wandte der Beamte den Blick ab. Er konnte ihr das nicht versprechen und wusste auch nicht, was er ihr sonst sagen sollte.
...
Übersetzung: Birgit Moosmüller
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Nicci French
French, NicciNicci French - hinter diesem Namen verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit langem sorgen sie mit ihren höchst erfolgreichen Psychothrillern international für Furore. Die beiden leben in Südengland. »Blauer Montag« ist der Beginn einer neuen 8-teiligen Krimireihe mit der Therapeutin Frieda Klein als Serienheldin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicci French
- 2011, 475 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Moosmüller, Birgit
- Übersetzer: Birgit Moosmüller
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570100820
- ISBN-13: 9783570100820
- Erscheinungsdatum: 23.01.2012
Rezension zu „Blauer Montag “
"Am Ende gelingt es Nicci French erneut, einen so unerwarteten Haken zu schlagen, dass dem Leser der Atem stockt. Das ist meisterlich." NDR Kultur
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