Blutvertrag
"Dean Koontz ist ein Meister unserer dunkelsten Träume."
The Times
Eigentlich will Timothy Carter nur genüsslich sein Feierabend-Bier in seiner Lieblingsbar trinken. Doch irgendwas stimmt mit dem nervösen...
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Produktinformationen zu „Blutvertrag “
"Dean Koontz ist ein Meister unserer dunkelsten Träume."
The Times
Eigentlich will Timothy Carter nur genüsslich sein Feierabend-Bier in seiner Lieblingsbar trinken. Doch irgendwas stimmt mit dem nervösen Mann neben ihm nicht, das spürt Timothy gleich. Und dann schiebt ihm der Mann einen Umschlag mit Geld über den Tresen mit den Worten: "Zehntausend jetzt. Den Rest bekommen sie, wenn sie tot ist." Der Fremde verschwindet und einige Minuten später betritt ein weiterer Mann die Bar: er ist der eiskalte Killer, mit dem Timothy offenbar verwechselt wurde. Doch Timothy ist schlau: er gibt ihm den Umschlag mit dem Geld und glaubt, damit aus der Sache raus zu sein. Doch das ist erst der Anfang. Denn damit befindet sich Timothy urpötzlich im Zentrum eines mörderischen Spiels - und sein Feind ist übermächtig.
Lese-Probe zu „Blutvertrag “
Blutvertrag von Dean Koontz 1 Wenn eine Eintagsfliege über einen Tümpel gleitet, hinterlässt sie nur eine kurze Spur im Wasser, fein wie Spinnweben. Indem sie so tief fliegt, entgeht sie Vögeln und Fledermäusen, die im Flug jagen.
Mit seinen ein Meter neunzig, einem Gewicht von fünfundneunzig Kilogramm, großen Händen und noch größeren Füßen konnte sich Timothy Carrier nicht in so geringer Höhe bewegen wie eine übers Wasser gleitende Eintagsfliege, aber er versuchte sein Bestes.
Mit schweren Arbeitsstiefeln und einem John-WayneGang, der ihm angeboren war und den er nicht ändern konnte, betrat er dennoch unauffällig die Lamplighter Tavern und gelangte bis ans andere Ende des Raums, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Keiner der drei Männer in der Nähe der Tür, an der kurzen Seite der L-förmigen Theke, würdigte ihn eines Blickes. Ebenso wenig die Pärchen, die in zwei der Nischen lümmelten.
Als er sich auf dem letzten Hocker dort niederließ, wo es jenseits des letzten Deckenstrahlers, der das dunkle Mahagoni der Theke zum Glänzen brachte, schummerig war, seufzte er erleichtert. Von der Eingangstür aus gesehen, war er nun der kleinste Kerl im Raum.
Betrachtete man das vordere Ende der Kneipe als Führerstand einer Lokomotive, so war dies der letzte Wagen. Wer sich hier an einem ruhigen Montagabend niederließ, war wahrscheinlich einer von der stillen Sorte.
... mehr
Liam Rooney, der Wirt und heute Abend der einzige Mann hinter der Theke, zapfte ein Bier und stellte es Tim hin.
»Irgendwann wirst du hier mal mit 'ner Verabredung aufkreuzen«, sagte Rooney, »dann trifft mich vor Schreck der Schlag. «
»Wieso sollte ich in diese Bruchbude wohl eine Frau mitschleppen? «
»Kennst du denn noch was anderes als diese Bruchbude? «
»Da gibt's auch noch den Donut-Schuppen, wo ich gern hingehe. «
»Na, klar. Nachdem ihr beide ein Dutzend Donuts verputzt habt, fährst du mit ihr zu einem von den großen, teuren Restaurants in Newport Beach, wo ihr euch auf den Bordstein hockt und zuschaut, wie die Pagen mit den ganzen schicken Schlitten rumrangieren. «
Tim nippte an seinem Bier, während Rooney über die ohnehin saubere Theke wischte. »Du hast Glück, dass du so jemanden wie Michelle gefunden hast«, sagte Tim schließlich. »So was stellen sie heute nicht mehr her.«
»Michelle ist dreißig, genauso alt wie wir beide. Wenn man so was heute nicht mehr herstellt, wo ist sie dann wohl hergekommen? «
»Ist mir ein Rätsel.«
»Um gewinnen zu können, muss man erst mal mitspielen«, sagte Rooney.
»Tu ich doch.«
»Alleine mit dem Basketball in den Park zu trotten, um am Korb Zielübungen zu machen, ist kein Spiel.«
»Mach dir um mich bloß keine Sorgen. Die Frauen rennen mir regelrecht die Bude ein.«
»Schon möglich«, sagte Rooney, »aber sie kommen zu zweit und wollen dir von Jesus erzählen.«
»Da ist doch nichts dagegen zu sagen. Die machen sich eben Sorgen um meine Seele. Sag mal, hat dir schon mal je
mand gesagt, dass du ein ganz schön sarkastisches Arschloch bist? «
»Du. Mindestens tausendmal. Ich krieg es nie über, das zu hören. Übrigens, vorhin war ein Typ hier, vierzig Jahre alt, nie verheiratet gewesen, und jetzt hat man ihm die Eier abgeschnitten. «
» Wer hat ihm die Eier abgeschnitten? «
»Irgendwelche Ärzte.«
»Krieg doch mal raus, wie die heißen«, sagte Tim. »Bei einem von denen will ich nämlich nicht zufällig landen. «
»Der Typ hatte Krebs. Die Sache ist nur die - jetzt kann er keine Kinder mehr bekommen. «
»Was ist so toll daran, Kinder zu bekommen, wenn die Welt so ist, wie sie ist? «
Rooney sah aus wie ein selbst ernannter Karatekämpfer, der zwar noch kein einziges Mal beim Training gewesen war, aber trotzdem versucht hatte, mit seinem Schädel eine Menge Betonklötze zu zertrümmern. In seinen blauen Augen glomm jedoch ein warmes Licht, und ein gutes Herz hatte er auch.
»Darum geht es ja gerade«, sagte er. »Eine Frau, Kinder, einen Ort, an dem man sich festhalten kann, während der Rest der Welt vor die Hunde geht. «
»Methusalem ist neunhundert Jahre alt geworden und hat bis zum Ende Kinder gezeugt.«
»Das ist aber schon 'ne Weile her. «
»Ändert nichts an den Fakten.«
»Das heißt, du willst was tun? - Mit der Familiengründung warten, bis du so an die sechshundert bist?«
»Du und Michelle, ihr habt ja auch noch keine Kinder.«
»Wir arbeiten daran.« Rooney beugte sich vor und stützte die verschränkten Arme auf die Theke, sodass er auf Augenhöhe mit Tim war. »Und was hast du heute eigentlich getan, Türsteher? «
Tim runzelte die Stirn. »Nenn mich nicht so.«
»Also, was hast du heute getan?«
»Das Übliche. Irgendeine Mauer gebaut.« »Und was wirst du morgen tun?« »Irgendeine andere Mauer bauen. « » Für wen? «
»Für den, der mich bezahlt.«
»Ich arbeite siebzig Stunden pro Woche in dieser Bude,
manchmal auch länger, aber nicht für die Gäste. «
»Das merken deine Gäste auch«, versicherte ihm Tim. »Und wer ist jetzt das sarkastische Arschloch?«
»Den Meistertitel hast noch immer du, aber ich profiliere
mich gerade als Herausforderer.«
»Ich arbeite für Michelle und für die Kinder, die wir be
kommen werden. Man braucht einfach jemand, für den
man arbeitet, abgesehen von dem, der einen bezahlt. Man
braucht jemand Besonderen, mit dem man etwas aufbauen
und eine Zukunft teilen kann. «
» Liam, du hast wirklich wunderschöne Augen.«
»Ich und Michelle - wir machen uns Sorgen um dich,Alter. «
Tim spitzte die Lippen.
»Alleinsein tut keinem gut«, sagte Rooney.
Tim machte Kussgeräusche.
Rooney beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Willst du etwa mit mir knutschen? «
»Na ja, wo ich dir offenbar so wichtig bin ... «
»Ich pflanze gleich meinen Hintern auf die Theke. Den
kannst du gerne knutschen. «
»Nein danke. Dafür sind meine Lippen mir dann doch zuschade. «
»Weißt du, was dein Problem ist, Türsteher?« »Fängst du schon wieder an.« »Autophobie.«
»Quatsch. Ich hab doch keine Angst vor Autos!«
»Du hast Angst vor dir selbst. Nein, das stimmt auch nicht ganz. Du hast Angst vor deinem Potenzial.«
»Und du würdest einen prima Highschool-Psychologen abgeben«, sagte Tim. »Ich dachte, hier gibt's kostenlose Salzbrezeln. Wo sind meine Brezeln? «
»Auf die hat ein Besoffener gereihert. Ich war gerade dabei, sie abzuwischen.«
»okay. Wenn sie durchgeweicht sind, will ich doch lieber keine. «
Rooney holte aus dem Regal hinter der Theke eine Schale Salzbrezeln und stellte sie neben Tims Bier. »Michelle hat übrigens eine Cousine namens Shaydra. Die ist echt süß. «
»Was ist denn das für ein Name? Heißt heutzutage niemand mehr Mary? «
»Ich werde dafür sorgen, dass du und Shaydra mal zusammen ausgeht. «
»Sinnlos. Morgen lasse ich mir die Eier abschneiden.«
»Leg sie in ein leeres Gurkenglas und bring sie zur Verabredung mit. Das ist ein toller Aufhänger, um ins Gespräch zu kommen.« Damit kehrte Rooney zum anderen Ende der Theke zurück, wo die drei lebhaften Gäste dafür sorgten, dass seine noch ungeborenen Kinder später ihre Studiengebühren bezahlen konnten.
Einige Minuten lang versuchte Tim, sich einzureden, dass Bier und Salzbrezeln alles waren, was er brauchte. Das klappte ganz gut, weil er sich dabei Shaydra als strohdummen Trampel mit zusammengewachsenen Augenbrauen und zu einem Zopf geflochtenen Nasenhaaren vorstellte.
Wie üblich wirkte die Kneipe beruhigend auf ihn. Eigentlich brauchte er nicht einmal das Bier, damit sich alles, was ihm den Tag über auf die Nerven gegangen war, in Wohlgefallen auflöste. Es war irgendwie der Raum selbst, der das vermochte, obwohl Tim nicht recht begriff, was der Grund für diese Wirkung war.
Die Luft roch nach schalem und frischem Bier, nach der Salzlake in dem großen Glas Würstchen, das auf der Theke stand, nach Möbelwachs und Shuffleboard-Pulver. Aus der kleinen Küche kam das Aroma von auf dem Grill schmorenden Frikadellen und von Zwiebelringen, die in heißem Öl vor sich hin brutzelten.
Das warme Bad angenehmer Düfte, die beleuchtete Budweiser-Uhr und das Halbdunkel, in dem Tim saß, das Murmeln der Pärchen an den Tischen hinter ihm und die unsterbliche Stimme von Patsy Cline aus der Jukebox waren ihm so vertraut, dass sein eigenes Zuhause ihm vergleichsweise wie fremdes Territorium erschien, wenn er heimkam.
Vielleicht wirkte die Kneipe so tröstlich auf ihn, weil sie zwar nichts Dauerhaftes, aber doch wenigstens etwas einigermaßen Beständiges darstellte. In einer sich unablässig verändernden Welt widersetzte sie sich selbst der kleinsten Veränderung.
Hier erwarteten Tim keine Überraschungen, und er wollte auch keine erleben. Neue Erfahrungen wurden überschätzt. Von einem Bus überfahren zu werden, wäre auch eine neue Erfahrung.
Er zog das Vertraute, Gewohnte vor. Er lief nicht Gefahr, von einem Berg abzustürzen, weil er niemals einen bestiegen hätte.
Manche Leute meinten, ihm fehle es an Abenteuerlust. Tim fand es sinnlos, ihnen klarzumachen, dass kühne Expeditionen durch exotische Länder und über fremde Meere den Streifzügen von Krabbelkindern entsprachen, verglichen mit den Abenteuern, die einen in den zwanzig Zentimetern zwischen dem linken und dem rechten Ohr erwarteten.
Hätte er eine entsprechende Bemerkung gemacht, hätte man ihn für einen Narren gehalten. Schließlich war er nur ein Handwerker, ein Maurermeister. Von so jemandem erwartete man, dass er nicht zu viel nachdachte.
Ohnehin vermieden es die meisten Leute inzwischen nachzudenken, vor allem über die Zukunft. Sie verließen sich lieber auf den Trost blinder Überzeugungen als auf klarsichtige Gedanken.
Andere bezichtigten Tim, altmodisch zu sein. Dieses Vergehens bekannte er sich gerne schuldig.
Die Vergangenheit war reich an vertrauter Schönheit, sodass ein Blick zurück sich immer lohnte. Tim war ein hoffnungsvoller Mensch, aber nicht vermessen genug, um anzunehmen, dass sich auch in der unbekannten Zukunft Schönheit verbarg.
Ein interessanter Bursche betrat die Kneipe. Er war groß, wenn auch nicht so groß wie Tim, kräftig, aber nicht furchterregend.
Was ihn interessant machte, war weniger sein Aussehen als sein Verhalten. Er kam herein wie ein gehetztes Tier. Zuerst wandte er sich zur Tür um und spähte hinter sich, bis sie sich geschlossen hatte, dann ließ er den Blick argwöhnisch durch den Raum schweifen, als misstraute er dem Eindruck, dass er hier Zuflucht finden konnte.
Als der Neuankömmling näher kam und sich an die Theke setzte, starrte Tim auf sein Pilsglas, als handelte es sich um einen mysteriöses Gefäß, über dessen tiefgründigen Inhalt er nachgrübelte. Indem er diese andächtige Haltung einnahm, statt gekränkte Einsamkeit zur Schau zu stellen, ließ er Fremden die Option offen, ihn anzusprechen, ohne es herauszufordern.
Falls die ersten Worte, die der andere von sich gab, darauf hinwiesen, dass es sich um einen Fanatiker, einen politischen Spinner oder irgendeinen Dummkopf handelte, konnte Tim aus seiner verträumten Pose zu bitterem Schweigen und dem Ausdruck mühsam gebändigter Aggression übergehen. Nur wenige Leute versuchten öfter als zweimal, das Eis zu brechen, wenn die einzige Reaktion in eisiger Kälte bestand.
Wenn Tim am Altar der Theke saß, war es ihm zwar lieber, sich ruhiger Kontemplation zu widmen, aber er hatte auch nichts gegen Konversation von der richtigen Sorte. Das hieß, sie musste ungewöhnlich sein.
Brachte man selbst ein Gespräch in Gang, so war es womöglich schwierig zu beenden. Machte jedoch der Nachbar zuerst den Mund auf und ließ erkennen, wer er war, dann konnte man ihn problemlos zum Schweigen bringen, indem man ihn einfach links liegen ließ.
Weiter um das Wohlergehen seiner noch nicht geborenen Kinder bemüht, trat Rooney auf den Plan. »Was darf's sein?«
Der Fremde legte einen dicken, braunen Umschlag auf die Theke und ließ seine linke Hand darauf ruhen. »Vielleicht ... ein Bier. «
Rooney wartete mit gehobenen Augenbrauen.
»Ja. Genau. Ein Bier«, sagte der neue Gast.
»Vom Fass habe ich Budweiser, Miller Lite und Heineken.«
»Aha. Tja ... also ... ich würde sagen ... ein Heineken.«
Die Stimme war so dünn und straff wie eine Telefonleitung, und die Worte kamen heraus wie Vögel, die in diskretem Abstand zueinander darauf hockten. Dabei schwang ein Ton mit, bei dem es sich um Bestürzung handeln mochte.
Als Rooney das Bier brachte, hatte der Fremde bereits Geld auf die Theke gelegt. »Stimmt so«, sagte er.
Ein zweites Glas kam offenbar nicht infrage.
Während Rooney wegging, umschloss der Fremde das Bierglas mit der Rechten. Er nahm keinen einzigen Schluck.
Tim war ein Nuckelbaby. Mit diesem Titel verspottete ihn Rooney jedenfalls gern, weil er es schaffte, während eines ganzen, langen Abends gerade mal zwei Glas Bier zu konsumieren. Manchmal bestellte er sich ein paar Eiswürfel dazu, wenn das Gebräu zu warm geworden war.
Selbst wenn man kein Gewohnheitstrinker war, wollte man den ersten Schluck doch genießen, solange das Bier frisch gezapft und ordentlich kühl war. Wie ein auf sein Ziel fixierter Scharfschütze betrachtete Tim sein eigenes Glas, doch wie ein guter Scharfschütze verfügte auch er über ein ausgezeichnetes peripheres Sehvermögen. Deshalb konnte er sehen, dass der Fremde sein Glas
immer noch nicht gehoben hatte.
Offenbar war es dieser Kerl nicht gewohnt, in Kneipen zugehen, und hier wollte er an diesem Abend und zu dieser Stunde schon gar nicht sein.
Endlich sagte er: »Ich bin zu früh dran.«
Tim war sich nicht sicher, ob das eine Unterhaltung war, die er führen wollte.
»Wahrscheinlich«, fuhr der Fremde fort, »will jeder früh dran sein, um die Lage zu peilen. «
Tim hatte ein schlechtes Gefühl. Nicht, dass er den Eindruck hatte, sich vor dem Kerl da hüten zu müssen, weil er gefährlich war, aber lästig konnte er vielleicht schon werden.
»Ich bin mal mit meinem Hund aus einem Flugzeug gesprungen«, sagte der Fremde.
Allerdings kam ein denkwürdiges Kneipengespräch am ehesten dann zustande, wenn man das Glück hatte, einem Exzentriker zu begegnen.
Tims Stimmung hob sich. Er wandte sich dem Fallschirmspringer zu und fragte: »Wie hieß er denn?«»Wer?«
»Der Hund.« » Larry. «
»Komischer Name für einen Hund.«
»Ich hab ihn nach meinem Bruder benannt.« »Und was hat ihr Bruder dazu gesagt?« »Mein Bruder ist tot. « »Das tut mir leid«, sagte Tim. »Ist schon lange her.«
»Mochte Larry Fallschirmspringen?«
»Er ist nie gesprungen. Er starb, als er sechzehn war.« I
„ch meinte den Hund.«
»Ach so. Ja, dem hat es offenbar gefallen. Ich hab es nur erwähnt, weil mir gerade genauso flau im Magen ist wie damals vor dem Sprung. «
»Sie hatten einen ziemlich üblen Tag, was?«
Der Fremde runzelte die Stirn. »Meinen Sie?« Tim nickte. »Ein übler Tag.«
Mit weiterhin gerunzelter Stirn fragte der Fallschirmspringer: » Sie sind es doch, oder? «
Die Kunst des Wortgeplänkels in einer Kneipe war nicht damit vergleichbar, auf dem Klavier Mozart zu spielen. Es läuft eher wie bei einer Jamsession. Die Rhythmen ergeben sich instinktiv.
»Sie sind es, ja?«, wiederholte der Fremde.
»Wer soll ich denn sonst sein?«, entgegnete Tim.
»Sie sehen so ... normal aus.«
»Ich gebe mir alle Mühe«, versicherte Tim.
Der Fallschirmspringer starrte ihn einen Moment lang aufmerksam an, senkte dann jedoch gleich wieder den Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, jemand wie Sie zu sein.«
»Ein Zuckerschlecken ist es nicht«, sagte Tim in ernsterem Ton und runzelte ebenfalls die Stirn, weil er das ziemlich ehrlich gemeint hatte.
Endlich hob der Fremde sein Glas. Während er es zum Mund führte, schwappte Bier auf die Theke; dann schüttete er die Hälfte in sich hinein.
»Außerdem ist das nur so eine Phase«, sagte Tim mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner.
Irgendwann würde der Kerl seinen Fehler erkennen, woraufhin Tim so tun würde, als hätte er sich ebenfalls geirrt. Inzwischen konnte er sich ja ein wenig amüsieren.
Der Mann schob den braunen Umschlag über die Theke. »Das ist die Hälfte. Zehntausend. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist. «
Sobald er seinen Satz beendet hatte, drehte er sich auf seinem Barhocker um, stand auf und ging auf die Tür zu.
Tim wollte den Mann schon zurückrufen, als ihm die schaurige Bedeutung der elf Worte klar wurde: Das ist die Hälfte. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist.
Zuerst erstickte Verblüffung seine Stimme und dann ein für ihn untypisches Angstgefühl.
Der Fallschirmspringer hatte es offenbar eilig, die Kneipe zu verlassen. Er durchquerte rasch den Raum, trat durch die Tür und verschwand in der Nacht.
»He, warten Sie mal«, sagte Tim zu leise und zu spät. »Warten Sie.«
Wenn man durch die Tage gleitet und dabei nur eine Spur hinterlässt, die so fein ist wie Spinnweben, dann ist man es nicht gewohnt, laut zu rufen oder hinter Fremden herzulaufen, die einen Mord im Sinn haben.
Als Tim klar wurde, dass er nicht umhinkam, die Verfolgung aufzunehmen, erhob er sich von seinem Hocker, aber da war der richtige Zeitpunkt bereits verstrichen. Der Fremde schon zu weit weg.
Tim setzte sich wieder hin und trank sein Bier in einem langen Zug aus.
An den Wänden des Glases blieb Schaum haften. Bisher war ihm dieses flüchtige Muster nie besonders geheimnisvoll erschienen. Nun studierte er es, als sei es von großer Bedeutung.
Verwirrt warf er einen Blick auf den braunen Umschlag, der so unheilvoll aussah wie eine Rohrbombe.
Je einen Teller mit Cheeseburger und Fritten in den Händen, bediente Liam Rooney eines der jungen Paare an den Tischen. Weil montags nicht viel los war, kam an diesem Tag keine Kellnerin.
Tim hob die Hand, um Rooney ein Zeichen zu geben. Der Wirt nahm es nicht wahr und ging zu dem Durchgang in der Theke zurück, der sich am anderen Ende des Raums befand.
Der Umschlag besaß noch immer eine unheilvolle Bedeutung, aber Tim zweifelte inzwischen bereits daran, dass er das, was sich zwischen ihm und dem Fremden abgespielt hatte, richtig verstanden hatte. Ein Kerl mit einem fallschirmspringenden Hund namens Larry zahlte doch bestimmt nicht dafür, jemanden umbringen zu lassen. Das Ganze war ein Missverständnis.
Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist. Das konnte eine Menge bedeuten. Es ließ nicht zwangsläufig darauf schließen, dass die betreffende Person tot sein sollte.
Im Vertrauen darauf, dass die Welt rasch wieder ins Lot käme, bog Tim die Messingklammer auf, die den Umschlag verschloss, öffnete die Klappe und griff hinein. Er zog ein dickes Bündel mit einem Gummiband zusammengehaltener Hundertdollarscheine heraus.
Vielleicht war das Geld ja gar nicht schmierig, aber es fühlte sich so an. Er schob es sofort wieder in den Umschlag zurück.
Neben dem Bargeld fand er ein dreizehn mal achtzehn Zentimeter großes Foto, das aussah wie der Abzug einer Passbildaufnahme. Es stellte eine Frau Ende zwanzig dar. Attraktiv.
Auf der Rückseite des Fotos stand in Druckschrift ein Name: LINDA PAQUETTE. Darunter war eine Adresse in Laguna Beach angegeben.
Obwohl Tim gerade erst sein Bier ausgetrunken hatte, fühlte sich sein Mund salzig-trocken und zitronensauer an. Sein Herz schlug langsam, aber ungewöhnlich heftig. In seinen Ohren dröhnte es.
Ohne vernünftigen Grund fühlte er sich schuldig, während er das Foto betrachtete. Als wäre er irgendwie daran beteiligt gewesen, den Tod dieser Frau zu planen. Er legte das Bild weg und schob auch den Umschlag beiseite.
Ein weiterer Mann betrat die Kneipe. Er war fast so groß wie Tim und hatte wie dieser kurz geschorenes, braunes Haar.
Rooney kam mit einem frischen Bier und sagte zu Tim: »Wenn du in dem Tempo weitertrinkst, zähle ich dich nicht mehr zu den Möbelstücken. Dann bist du ein echter Gast.«
Das hartnäckige Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, verlangsamte Tims Denkvermögen. Eigentlich wollte er Rooney erzählen, was gerade geschehen war, aber seine Zunge fühlte sich zu schwer an.
Der Neuankömmling kam näher und setzte sich auf den Hocker, auf dem auch der Fallschirmspringer gesessen hatte. Wie vorher blieb ein Hocker zwischen ihm und Tim frei. »Ein Budweiser«, sagte er zu Rooney.
Während der Wirt zum Zapfhahn trottete, starrte der Fremde erst auf den braunen Umschlag, dann sah er Tim ins Gesicht. Er hatte braune Augen, genau wie Tim.
»Sie sind früh dran«, sagte der Killer.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Originalausgabe © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Irgendwann wirst du hier mal mit 'ner Verabredung aufkreuzen«, sagte Rooney, »dann trifft mich vor Schreck der Schlag. «
»Wieso sollte ich in diese Bruchbude wohl eine Frau mitschleppen? «
»Kennst du denn noch was anderes als diese Bruchbude? «
»Da gibt's auch noch den Donut-Schuppen, wo ich gern hingehe. «
»Na, klar. Nachdem ihr beide ein Dutzend Donuts verputzt habt, fährst du mit ihr zu einem von den großen, teuren Restaurants in Newport Beach, wo ihr euch auf den Bordstein hockt und zuschaut, wie die Pagen mit den ganzen schicken Schlitten rumrangieren. «
Tim nippte an seinem Bier, während Rooney über die ohnehin saubere Theke wischte. »Du hast Glück, dass du so jemanden wie Michelle gefunden hast«, sagte Tim schließlich. »So was stellen sie heute nicht mehr her.«
»Michelle ist dreißig, genauso alt wie wir beide. Wenn man so was heute nicht mehr herstellt, wo ist sie dann wohl hergekommen? «
»Ist mir ein Rätsel.«
»Um gewinnen zu können, muss man erst mal mitspielen«, sagte Rooney.
»Tu ich doch.«
»Alleine mit dem Basketball in den Park zu trotten, um am Korb Zielübungen zu machen, ist kein Spiel.«
»Mach dir um mich bloß keine Sorgen. Die Frauen rennen mir regelrecht die Bude ein.«
»Schon möglich«, sagte Rooney, »aber sie kommen zu zweit und wollen dir von Jesus erzählen.«
»Da ist doch nichts dagegen zu sagen. Die machen sich eben Sorgen um meine Seele. Sag mal, hat dir schon mal je
mand gesagt, dass du ein ganz schön sarkastisches Arschloch bist? «
»Du. Mindestens tausendmal. Ich krieg es nie über, das zu hören. Übrigens, vorhin war ein Typ hier, vierzig Jahre alt, nie verheiratet gewesen, und jetzt hat man ihm die Eier abgeschnitten. «
» Wer hat ihm die Eier abgeschnitten? «
»Irgendwelche Ärzte.«
»Krieg doch mal raus, wie die heißen«, sagte Tim. »Bei einem von denen will ich nämlich nicht zufällig landen. «
»Der Typ hatte Krebs. Die Sache ist nur die - jetzt kann er keine Kinder mehr bekommen. «
»Was ist so toll daran, Kinder zu bekommen, wenn die Welt so ist, wie sie ist? «
Rooney sah aus wie ein selbst ernannter Karatekämpfer, der zwar noch kein einziges Mal beim Training gewesen war, aber trotzdem versucht hatte, mit seinem Schädel eine Menge Betonklötze zu zertrümmern. In seinen blauen Augen glomm jedoch ein warmes Licht, und ein gutes Herz hatte er auch.
»Darum geht es ja gerade«, sagte er. »Eine Frau, Kinder, einen Ort, an dem man sich festhalten kann, während der Rest der Welt vor die Hunde geht. «
»Methusalem ist neunhundert Jahre alt geworden und hat bis zum Ende Kinder gezeugt.«
»Das ist aber schon 'ne Weile her. «
»Ändert nichts an den Fakten.«
»Das heißt, du willst was tun? - Mit der Familiengründung warten, bis du so an die sechshundert bist?«
»Du und Michelle, ihr habt ja auch noch keine Kinder.«
»Wir arbeiten daran.« Rooney beugte sich vor und stützte die verschränkten Arme auf die Theke, sodass er auf Augenhöhe mit Tim war. »Und was hast du heute eigentlich getan, Türsteher? «
Tim runzelte die Stirn. »Nenn mich nicht so.«
»Also, was hast du heute getan?«
»Das Übliche. Irgendeine Mauer gebaut.« »Und was wirst du morgen tun?« »Irgendeine andere Mauer bauen. « » Für wen? «
»Für den, der mich bezahlt.«
»Ich arbeite siebzig Stunden pro Woche in dieser Bude,
manchmal auch länger, aber nicht für die Gäste. «
»Das merken deine Gäste auch«, versicherte ihm Tim. »Und wer ist jetzt das sarkastische Arschloch?«
»Den Meistertitel hast noch immer du, aber ich profiliere
mich gerade als Herausforderer.«
»Ich arbeite für Michelle und für die Kinder, die wir be
kommen werden. Man braucht einfach jemand, für den
man arbeitet, abgesehen von dem, der einen bezahlt. Man
braucht jemand Besonderen, mit dem man etwas aufbauen
und eine Zukunft teilen kann. «
» Liam, du hast wirklich wunderschöne Augen.«
»Ich und Michelle - wir machen uns Sorgen um dich,Alter. «
Tim spitzte die Lippen.
»Alleinsein tut keinem gut«, sagte Rooney.
Tim machte Kussgeräusche.
Rooney beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Willst du etwa mit mir knutschen? «
»Na ja, wo ich dir offenbar so wichtig bin ... «
»Ich pflanze gleich meinen Hintern auf die Theke. Den
kannst du gerne knutschen. «
»Nein danke. Dafür sind meine Lippen mir dann doch zuschade. «
»Weißt du, was dein Problem ist, Türsteher?« »Fängst du schon wieder an.« »Autophobie.«
»Quatsch. Ich hab doch keine Angst vor Autos!«
»Du hast Angst vor dir selbst. Nein, das stimmt auch nicht ganz. Du hast Angst vor deinem Potenzial.«
»Und du würdest einen prima Highschool-Psychologen abgeben«, sagte Tim. »Ich dachte, hier gibt's kostenlose Salzbrezeln. Wo sind meine Brezeln? «
»Auf die hat ein Besoffener gereihert. Ich war gerade dabei, sie abzuwischen.«
»okay. Wenn sie durchgeweicht sind, will ich doch lieber keine. «
Rooney holte aus dem Regal hinter der Theke eine Schale Salzbrezeln und stellte sie neben Tims Bier. »Michelle hat übrigens eine Cousine namens Shaydra. Die ist echt süß. «
»Was ist denn das für ein Name? Heißt heutzutage niemand mehr Mary? «
»Ich werde dafür sorgen, dass du und Shaydra mal zusammen ausgeht. «
»Sinnlos. Morgen lasse ich mir die Eier abschneiden.«
»Leg sie in ein leeres Gurkenglas und bring sie zur Verabredung mit. Das ist ein toller Aufhänger, um ins Gespräch zu kommen.« Damit kehrte Rooney zum anderen Ende der Theke zurück, wo die drei lebhaften Gäste dafür sorgten, dass seine noch ungeborenen Kinder später ihre Studiengebühren bezahlen konnten.
Einige Minuten lang versuchte Tim, sich einzureden, dass Bier und Salzbrezeln alles waren, was er brauchte. Das klappte ganz gut, weil er sich dabei Shaydra als strohdummen Trampel mit zusammengewachsenen Augenbrauen und zu einem Zopf geflochtenen Nasenhaaren vorstellte.
Wie üblich wirkte die Kneipe beruhigend auf ihn. Eigentlich brauchte er nicht einmal das Bier, damit sich alles, was ihm den Tag über auf die Nerven gegangen war, in Wohlgefallen auflöste. Es war irgendwie der Raum selbst, der das vermochte, obwohl Tim nicht recht begriff, was der Grund für diese Wirkung war.
Die Luft roch nach schalem und frischem Bier, nach der Salzlake in dem großen Glas Würstchen, das auf der Theke stand, nach Möbelwachs und Shuffleboard-Pulver. Aus der kleinen Küche kam das Aroma von auf dem Grill schmorenden Frikadellen und von Zwiebelringen, die in heißem Öl vor sich hin brutzelten.
Das warme Bad angenehmer Düfte, die beleuchtete Budweiser-Uhr und das Halbdunkel, in dem Tim saß, das Murmeln der Pärchen an den Tischen hinter ihm und die unsterbliche Stimme von Patsy Cline aus der Jukebox waren ihm so vertraut, dass sein eigenes Zuhause ihm vergleichsweise wie fremdes Territorium erschien, wenn er heimkam.
Vielleicht wirkte die Kneipe so tröstlich auf ihn, weil sie zwar nichts Dauerhaftes, aber doch wenigstens etwas einigermaßen Beständiges darstellte. In einer sich unablässig verändernden Welt widersetzte sie sich selbst der kleinsten Veränderung.
Hier erwarteten Tim keine Überraschungen, und er wollte auch keine erleben. Neue Erfahrungen wurden überschätzt. Von einem Bus überfahren zu werden, wäre auch eine neue Erfahrung.
Er zog das Vertraute, Gewohnte vor. Er lief nicht Gefahr, von einem Berg abzustürzen, weil er niemals einen bestiegen hätte.
Manche Leute meinten, ihm fehle es an Abenteuerlust. Tim fand es sinnlos, ihnen klarzumachen, dass kühne Expeditionen durch exotische Länder und über fremde Meere den Streifzügen von Krabbelkindern entsprachen, verglichen mit den Abenteuern, die einen in den zwanzig Zentimetern zwischen dem linken und dem rechten Ohr erwarteten.
Hätte er eine entsprechende Bemerkung gemacht, hätte man ihn für einen Narren gehalten. Schließlich war er nur ein Handwerker, ein Maurermeister. Von so jemandem erwartete man, dass er nicht zu viel nachdachte.
Ohnehin vermieden es die meisten Leute inzwischen nachzudenken, vor allem über die Zukunft. Sie verließen sich lieber auf den Trost blinder Überzeugungen als auf klarsichtige Gedanken.
Andere bezichtigten Tim, altmodisch zu sein. Dieses Vergehens bekannte er sich gerne schuldig.
Die Vergangenheit war reich an vertrauter Schönheit, sodass ein Blick zurück sich immer lohnte. Tim war ein hoffnungsvoller Mensch, aber nicht vermessen genug, um anzunehmen, dass sich auch in der unbekannten Zukunft Schönheit verbarg.
Ein interessanter Bursche betrat die Kneipe. Er war groß, wenn auch nicht so groß wie Tim, kräftig, aber nicht furchterregend.
Was ihn interessant machte, war weniger sein Aussehen als sein Verhalten. Er kam herein wie ein gehetztes Tier. Zuerst wandte er sich zur Tür um und spähte hinter sich, bis sie sich geschlossen hatte, dann ließ er den Blick argwöhnisch durch den Raum schweifen, als misstraute er dem Eindruck, dass er hier Zuflucht finden konnte.
Als der Neuankömmling näher kam und sich an die Theke setzte, starrte Tim auf sein Pilsglas, als handelte es sich um einen mysteriöses Gefäß, über dessen tiefgründigen Inhalt er nachgrübelte. Indem er diese andächtige Haltung einnahm, statt gekränkte Einsamkeit zur Schau zu stellen, ließ er Fremden die Option offen, ihn anzusprechen, ohne es herauszufordern.
Falls die ersten Worte, die der andere von sich gab, darauf hinwiesen, dass es sich um einen Fanatiker, einen politischen Spinner oder irgendeinen Dummkopf handelte, konnte Tim aus seiner verträumten Pose zu bitterem Schweigen und dem Ausdruck mühsam gebändigter Aggression übergehen. Nur wenige Leute versuchten öfter als zweimal, das Eis zu brechen, wenn die einzige Reaktion in eisiger Kälte bestand.
Wenn Tim am Altar der Theke saß, war es ihm zwar lieber, sich ruhiger Kontemplation zu widmen, aber er hatte auch nichts gegen Konversation von der richtigen Sorte. Das hieß, sie musste ungewöhnlich sein.
Brachte man selbst ein Gespräch in Gang, so war es womöglich schwierig zu beenden. Machte jedoch der Nachbar zuerst den Mund auf und ließ erkennen, wer er war, dann konnte man ihn problemlos zum Schweigen bringen, indem man ihn einfach links liegen ließ.
Weiter um das Wohlergehen seiner noch nicht geborenen Kinder bemüht, trat Rooney auf den Plan. »Was darf's sein?«
Der Fremde legte einen dicken, braunen Umschlag auf die Theke und ließ seine linke Hand darauf ruhen. »Vielleicht ... ein Bier. «
Rooney wartete mit gehobenen Augenbrauen.
»Ja. Genau. Ein Bier«, sagte der neue Gast.
»Vom Fass habe ich Budweiser, Miller Lite und Heineken.«
»Aha. Tja ... also ... ich würde sagen ... ein Heineken.«
Die Stimme war so dünn und straff wie eine Telefonleitung, und die Worte kamen heraus wie Vögel, die in diskretem Abstand zueinander darauf hockten. Dabei schwang ein Ton mit, bei dem es sich um Bestürzung handeln mochte.
Als Rooney das Bier brachte, hatte der Fremde bereits Geld auf die Theke gelegt. »Stimmt so«, sagte er.
Ein zweites Glas kam offenbar nicht infrage.
Während Rooney wegging, umschloss der Fremde das Bierglas mit der Rechten. Er nahm keinen einzigen Schluck.
Tim war ein Nuckelbaby. Mit diesem Titel verspottete ihn Rooney jedenfalls gern, weil er es schaffte, während eines ganzen, langen Abends gerade mal zwei Glas Bier zu konsumieren. Manchmal bestellte er sich ein paar Eiswürfel dazu, wenn das Gebräu zu warm geworden war.
Selbst wenn man kein Gewohnheitstrinker war, wollte man den ersten Schluck doch genießen, solange das Bier frisch gezapft und ordentlich kühl war. Wie ein auf sein Ziel fixierter Scharfschütze betrachtete Tim sein eigenes Glas, doch wie ein guter Scharfschütze verfügte auch er über ein ausgezeichnetes peripheres Sehvermögen. Deshalb konnte er sehen, dass der Fremde sein Glas
immer noch nicht gehoben hatte.
Offenbar war es dieser Kerl nicht gewohnt, in Kneipen zugehen, und hier wollte er an diesem Abend und zu dieser Stunde schon gar nicht sein.
Endlich sagte er: »Ich bin zu früh dran.«
Tim war sich nicht sicher, ob das eine Unterhaltung war, die er führen wollte.
»Wahrscheinlich«, fuhr der Fremde fort, »will jeder früh dran sein, um die Lage zu peilen. «
Tim hatte ein schlechtes Gefühl. Nicht, dass er den Eindruck hatte, sich vor dem Kerl da hüten zu müssen, weil er gefährlich war, aber lästig konnte er vielleicht schon werden.
»Ich bin mal mit meinem Hund aus einem Flugzeug gesprungen«, sagte der Fremde.
Allerdings kam ein denkwürdiges Kneipengespräch am ehesten dann zustande, wenn man das Glück hatte, einem Exzentriker zu begegnen.
Tims Stimmung hob sich. Er wandte sich dem Fallschirmspringer zu und fragte: »Wie hieß er denn?«»Wer?«
»Der Hund.« » Larry. «
»Komischer Name für einen Hund.«
»Ich hab ihn nach meinem Bruder benannt.« »Und was hat ihr Bruder dazu gesagt?« »Mein Bruder ist tot. « »Das tut mir leid«, sagte Tim. »Ist schon lange her.«
»Mochte Larry Fallschirmspringen?«
»Er ist nie gesprungen. Er starb, als er sechzehn war.« I
„ch meinte den Hund.«
»Ach so. Ja, dem hat es offenbar gefallen. Ich hab es nur erwähnt, weil mir gerade genauso flau im Magen ist wie damals vor dem Sprung. «
»Sie hatten einen ziemlich üblen Tag, was?«
Der Fremde runzelte die Stirn. »Meinen Sie?« Tim nickte. »Ein übler Tag.«
Mit weiterhin gerunzelter Stirn fragte der Fallschirmspringer: » Sie sind es doch, oder? «
Die Kunst des Wortgeplänkels in einer Kneipe war nicht damit vergleichbar, auf dem Klavier Mozart zu spielen. Es läuft eher wie bei einer Jamsession. Die Rhythmen ergeben sich instinktiv.
»Sie sind es, ja?«, wiederholte der Fremde.
»Wer soll ich denn sonst sein?«, entgegnete Tim.
»Sie sehen so ... normal aus.«
»Ich gebe mir alle Mühe«, versicherte Tim.
Der Fallschirmspringer starrte ihn einen Moment lang aufmerksam an, senkte dann jedoch gleich wieder den Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, jemand wie Sie zu sein.«
»Ein Zuckerschlecken ist es nicht«, sagte Tim in ernsterem Ton und runzelte ebenfalls die Stirn, weil er das ziemlich ehrlich gemeint hatte.
Endlich hob der Fremde sein Glas. Während er es zum Mund führte, schwappte Bier auf die Theke; dann schüttete er die Hälfte in sich hinein.
»Außerdem ist das nur so eine Phase«, sagte Tim mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner.
Irgendwann würde der Kerl seinen Fehler erkennen, woraufhin Tim so tun würde, als hätte er sich ebenfalls geirrt. Inzwischen konnte er sich ja ein wenig amüsieren.
Der Mann schob den braunen Umschlag über die Theke. »Das ist die Hälfte. Zehntausend. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist. «
Sobald er seinen Satz beendet hatte, drehte er sich auf seinem Barhocker um, stand auf und ging auf die Tür zu.
Tim wollte den Mann schon zurückrufen, als ihm die schaurige Bedeutung der elf Worte klar wurde: Das ist die Hälfte. Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist.
Zuerst erstickte Verblüffung seine Stimme und dann ein für ihn untypisches Angstgefühl.
Der Fallschirmspringer hatte es offenbar eilig, die Kneipe zu verlassen. Er durchquerte rasch den Raum, trat durch die Tür und verschwand in der Nacht.
»He, warten Sie mal«, sagte Tim zu leise und zu spät. »Warten Sie.«
Wenn man durch die Tage gleitet und dabei nur eine Spur hinterlässt, die so fein ist wie Spinnweben, dann ist man es nicht gewohnt, laut zu rufen oder hinter Fremden herzulaufen, die einen Mord im Sinn haben.
Als Tim klar wurde, dass er nicht umhinkam, die Verfolgung aufzunehmen, erhob er sich von seinem Hocker, aber da war der richtige Zeitpunkt bereits verstrichen. Der Fremde schon zu weit weg.
Tim setzte sich wieder hin und trank sein Bier in einem langen Zug aus.
An den Wänden des Glases blieb Schaum haften. Bisher war ihm dieses flüchtige Muster nie besonders geheimnisvoll erschienen. Nun studierte er es, als sei es von großer Bedeutung.
Verwirrt warf er einen Blick auf den braunen Umschlag, der so unheilvoll aussah wie eine Rohrbombe.
Je einen Teller mit Cheeseburger und Fritten in den Händen, bediente Liam Rooney eines der jungen Paare an den Tischen. Weil montags nicht viel los war, kam an diesem Tag keine Kellnerin.
Tim hob die Hand, um Rooney ein Zeichen zu geben. Der Wirt nahm es nicht wahr und ging zu dem Durchgang in der Theke zurück, der sich am anderen Ende des Raums befand.
Der Umschlag besaß noch immer eine unheilvolle Bedeutung, aber Tim zweifelte inzwischen bereits daran, dass er das, was sich zwischen ihm und dem Fremden abgespielt hatte, richtig verstanden hatte. Ein Kerl mit einem fallschirmspringenden Hund namens Larry zahlte doch bestimmt nicht dafür, jemanden umbringen zu lassen. Das Ganze war ein Missverständnis.
Der Rest folgt, wenn sie erledigt ist. Das konnte eine Menge bedeuten. Es ließ nicht zwangsläufig darauf schließen, dass die betreffende Person tot sein sollte.
Im Vertrauen darauf, dass die Welt rasch wieder ins Lot käme, bog Tim die Messingklammer auf, die den Umschlag verschloss, öffnete die Klappe und griff hinein. Er zog ein dickes Bündel mit einem Gummiband zusammengehaltener Hundertdollarscheine heraus.
Vielleicht war das Geld ja gar nicht schmierig, aber es fühlte sich so an. Er schob es sofort wieder in den Umschlag zurück.
Neben dem Bargeld fand er ein dreizehn mal achtzehn Zentimeter großes Foto, das aussah wie der Abzug einer Passbildaufnahme. Es stellte eine Frau Ende zwanzig dar. Attraktiv.
Auf der Rückseite des Fotos stand in Druckschrift ein Name: LINDA PAQUETTE. Darunter war eine Adresse in Laguna Beach angegeben.
Obwohl Tim gerade erst sein Bier ausgetrunken hatte, fühlte sich sein Mund salzig-trocken und zitronensauer an. Sein Herz schlug langsam, aber ungewöhnlich heftig. In seinen Ohren dröhnte es.
Ohne vernünftigen Grund fühlte er sich schuldig, während er das Foto betrachtete. Als wäre er irgendwie daran beteiligt gewesen, den Tod dieser Frau zu planen. Er legte das Bild weg und schob auch den Umschlag beiseite.
Ein weiterer Mann betrat die Kneipe. Er war fast so groß wie Tim und hatte wie dieser kurz geschorenes, braunes Haar.
Rooney kam mit einem frischen Bier und sagte zu Tim: »Wenn du in dem Tempo weitertrinkst, zähle ich dich nicht mehr zu den Möbelstücken. Dann bist du ein echter Gast.«
Das hartnäckige Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, verlangsamte Tims Denkvermögen. Eigentlich wollte er Rooney erzählen, was gerade geschehen war, aber seine Zunge fühlte sich zu schwer an.
Der Neuankömmling kam näher und setzte sich auf den Hocker, auf dem auch der Fallschirmspringer gesessen hatte. Wie vorher blieb ein Hocker zwischen ihm und Tim frei. »Ein Budweiser«, sagte er zu Rooney.
Während der Wirt zum Zapfhahn trottete, starrte der Fremde erst auf den braunen Umschlag, dann sah er Tim ins Gesicht. Er hatte braune Augen, genau wie Tim.
»Sie sind früh dran«, sagte der Killer.
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Originalausgabe © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Bibliographische Angaben
- Autor: Dean Koontz
- 2009, 1, 399 Seiten, Maße: 14,2 x 21,8 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 382899489X
- ISBN-13: 9783828994898
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