Das Licht in einem dunklen Haus / Kimmo Joentaa Bd.4
Ein Kimmo-Joentaa-Roman
Ein Mörder, der weint.
Kimmo Joentaa auf der Suche - nach einer unbekannten Toten, einer namenlosen Geliebten und einem Mörder, der sympathischer ist als seine Opfer
Der Mord an einer ohnehin todgeweihten Frau stellt die Polizei im finnischen Turku...
Kimmo Joentaa auf der Suche - nach einer unbekannten Toten, einer namenlosen Geliebten und einem Mörder, der sympathischer ist als seine Opfer
Der Mord an einer ohnehin todgeweihten Frau stellt die Polizei im finnischen Turku...
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Produktinformationen zu „Das Licht in einem dunklen Haus / Kimmo Joentaa Bd.4 “
Klappentext zu „Das Licht in einem dunklen Haus / Kimmo Joentaa Bd.4 “
Ein Mörder, der weint.Kimmo Joentaa auf der Suche - nach einer unbekannten Toten, einer namenlosen Geliebten und einem Mörder, der sympathischer ist als seine Opfer
Der Mord an einer ohnehin todgeweihten Frau stellt die Polizei im finnischen Turku gleich vor mehrere Rätsel: Wer dringt in ein Krankenhaus ein, um eine Komapatientin zu töten? Und was ist das für ein Mörder, der auf dem Bettlaken des Opfers eine einzige Spur hinterlässt - eine Substanz, die die Kriminaltechnik nach kurzem Zweifel als Tränenflüssigkeit identifiziert.
Eigentlich müsste Kimmo Joentaas ganze Aufmerksamkeit dem Versuch gelten, die ungewöhnliche Tat aufzuklären - aber der junge Ermittler hat gerade eine andere, für ihn viel existentiellere Sorge: Larissa, die Frau, die unvermutet wieder Licht in sein von Trauer verschattetes Leben brachte, ist spurlos verschwunden.
Während der rätselhaft souveräne Täter in verschiedenen Städten weitere Opfer findet, führt Kimmo Joentaa die beharrliche Suche schließlich in ein kleines Dorf in der tiefsten finnischen Provinz - und mitten hinein in die Dunkelheit eines lange vergangenen Sommers.
Lese-Probe zu „Das Licht in einem dunklen Haus / Kimmo Joentaa Bd.4 “
Das Licht in einem dunklen Haus von Jan Costin Wagner18. AUGUST 1985
Es ist etwas passiert. Ich muss es aufschreiben. Alles aufschreiben, um mich später daran erinnern zu können. Alles genau beschreiben, damit sich im Kopf ein Bild entwickeln kann. Hat Lauri gesagt.
Also. Sie weint nicht. Und sie lacht nicht. Sie sitzt nur da. Ich sitze auf dem Stuhl neben ihr, und in meinem Kopf ist so ein Summen. Wie von Bienen oder Fliegen oder so. Liebes Tagebuch. Wir sitzen nebeneinander. Vor dem Klavier.
Sie sieht ganz konzentriert die Tasten an. Und dann schlägt sie eine Taste an, und es klingt hell. Und es ist warm. Wir schwitzen beide. Ihr Kleid ist noch so ganz verknäult. Irgendwie durcheinander und faltig.
Es ist das blau-weiße Kleid, von dem ich Lauri erzählt habe. So ein leichtes Sommerkleid, und darunter kann man die Form ihrer Brüste ziemlich genau sehen oder ahnen vielleicht eher. Es ist ganz faltig und hochgerutscht, und ich sehe fast die Stelle, an der ihr Po beginnt. Der Ton klingt hell und ist etwas lauter als das Summen, und das Summen ist ja auch nicht wirklich da, es ist nur in meinem Kopf.
Das Fenster ist geöffnet. Wind weht rein, aber warm. Lachen und Planschen vom See. Das sind sicher die Kinder aus dem Nachbarhaus.
Draußen ist es ganz heiß, ich habe ziemlich geschwitzt, als ich mit dem Fahrrad zu ihr rausgeradelt bin.
Und dann sitzen wir schwitzend nebeneinander, nachdem das alles passiert ist. Aber sie zittert auch. Ihr ist sicher nicht kalt, weil sie ja schwitzt und irgendwie außer Atem ist, aber sie zittert ja auch, und schlägt wieder eine Taste an. Etwas höher als vorher, also noch heller. Es klingt irgendwie hell und leise. Also beides gleichzeitig.
Wie so ein geflüsterter Schrei.
HERBST - 1
Kimmo Joentaa lebte mit einer Frau ohne Namen in einem Herbst ohne Regen. Das Hoch wurde auf Magdalena getauft. Die Frau ließ sich Larissa
... mehr
nennen.
Sie kam und ging. Er wusste nicht, woher und wohin.
Abends, wenn er nach Hause zurückkehrte, blieb er für eine Weile im Wagen sitzen und suchte hinter den Fensterscheiben nach Anzeichen ihrer Anwesenheit. Manchmal brannte Licht, das nicht gebrannt hatte, als er am Morgen losgefahren war. Manchmal war es dunkel. Wenn Licht brannte, war sie meistens nicht da. War es dunkel, saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa und lachte, wenn er sie fragte, wie ihr Tag gewesen sei. Sie lachte und lachte, bis Kimmo Joentaa irgendwann einstimmte.
Einige Male fragte er sie, warum sie immer das Licht einschaltete, wenn sie ging, und warum sie im Dunkeln saß, wenn er nach Hause kam. Sie antwortete nicht. Sie sah ihn nur an und schwieg. Das tat sie häufig, wenn er Fragen stellte. Wenn er neu ansetzen wollte, kam sie auf ihn zu, umarmte ihn, zog ihn aus, schob ihn auf das Sofa und bewegte sich in rhythmischen, einstudierten Bewegungen über ihm, bis er kam.
Bevor der Schnee und das Eis schmolzen, spielte sie auf dem See mit den Kindern Eishockey. Sie aß Unmengen Eiscreme, am liebsten Vanille und Tundrabeere. Sie mochte Actionfilme, Ballerei und explodierende Autos. Komödien mochte sie nicht, aber sie lachte viel.
Meistens über ihn. Er musste gar nichts sagen, ihr reichte oft sein Gesichtsausdruck oder eine Bewegung, die er machte. Sie hatte strohblonde Haare und bestand darauf, einen Meter und sechzig groß zu sein - und nicht einen Meter und einundfünfzig, wie Joentaa ab und zu in den Raum stellte, weil er ihren wütenden Blick mochte - und sie war sehr schmal, was Joentaa wunderte, angesichts ihres Süßwarenkonsums.
Manchmal verschwand sie. Unter ihrer Handynummer erreichte er die fremde, anonyme Stimme einer Mailbox. Er sprach Nachrichten auf und spürte, wie seine Worte in der Stille versickerten. Unter der Mailadresse, die sie ihm gegeben hatte, schrieb er Texte, die nie beantwortet wurden. Er saß in einem leeren Haus, mit dem Handy in der Hand, vor dem Laptop, und wartete.
Er begann, morgens das Licht anzuschalten, wenn er ging, und er spürte das Stechen im Magen, wenn das Haus irgendwann, nach Tagen oder Wochen, wieder im Dunkel lag, als er zurückkehrte. Dann saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa, wendete den Blick in seine Richtung und sagte, sie sei wieder da.
Wenn er sie fragte, wo sie gewesen sei, schwieg sie.
Sie ging gern spazieren. Stundenlang stapften sie an den Wochenenden gemeinsam durch den Wald, und sie erzählte von Filmen, die sie gesehen hatte, oder von Büchern, die sie las. Sie las alles Mögliche, es mussten nur Geschichten sein, Geschichten, die sie ihm erzählen konnte.
Die Bücher stapelten sich in verschiedenen Ecken des Hauses. Er hörte ihr aufmerksam zu und versuchte, hinter den Figuren, die auf der Bühne ihrer Fantasie zu leben begannen, die Erzählerin zu finden.
Sie arbeitete als Prostituierte, Joentaa wusste nicht, wo. Irgendwann begann er, sie danach zu fragen, aber sie grinste nur schief und sagte, das wolle er nicht wissen. Als der Sommer begonnen hatte, hatte sie ihm gesagt, dass sie zusätzlich einen Halbtagesjob angenommen habe, als Eisverkäuferin, und Joentaa sagte, dass ihn das freue.
»Wenn ich es geschickt anstelle, kann ich so viel Süßes essen, wie ich will«, sagte sie. Er fragte sie nach ihrem Namen, ihrem richtigen Namen, und sie sagte, dass Namen keine Rolle spielen. Im Schlaf weinte sie, und wenn er sie weckte oder nach dem Erwachen darauf ansprach, konnte sie sich nicht erinnern, etwas geträumt zu haben.
2
Mitte September gingen sie gemeinsam zu einem Geburtstagsfest. Der Polizeichef von Turku, Nurmela, feierte seinen Fünfzigsten im riesigen Garten seines Hauses, das direkt am Fluss lag und eine malerische Aussicht bot.
Als sie ankamen, empfing sie Nurmelas Frau, Katriina, die Joentaa einige Male bei den Weihnachtsfeiern der Polizeibelegschaft gesehen hatte. Sie war groß gewachsen und schlank und schien sich immer im Bewusstsein ihrer körperlichen Präsenz zu bewegen.
Der Garten war schon bevölkert von Gästen, und Joentaa steuerte auf Petri Grönholm und Paavo Sundström zu, die an einem breiten Tisch in der Sonne saßen. Larissa drückte fest seine Hand, während sie liefen, und als Joentaa ihr einen kurzen Blick zuwarf, lachte sie ihn an. Er spürte ihre Hand in seiner und die Wärme eines viel zu warmen Herbstes und freute sich plötzlich, dass sie zu dem Fest gegangen waren. Er trat an den Tisch heran, an dem Sundström und Grönholm saßen, und stellte die Frau, die neben ihm stand und sich an ihn schmiegte, als Larissa vor.
»Hallo«, sagte Grönholm.
»Wow«, sagte Sundström.
Larissa lachte. Dieses laute, abrupte Lachen, das er mochte, weil es echt war und ihm für Momente das Gefühl gab, sie zu kennen. Sundström starrte Larissa an, bis ihn ein Gedanke in die Realität zurückzuholen schien:
»Meine schlechtere Hälfte ist hier auch irgendwo«, sagte er und sah sich halbherzig um.
»Wahrscheinlich an der Proseccotheke.«
»Da will ich auch hin«, sagte Larissa.
»Ja ... gleich«, sagte Joentaa.
»Heute besaufen wir uns«, sagte Larissa.
Sundström lachte, Grönholm lachte, Joentaa nickte, und Larissa löste ihre Hand aus seiner und ging den Abhang hinauf auf die Getränkestände zu. Joentaa sah ihr nach und spürte, dass Sundström und Grönholm dasselbe taten.
»Respekt, Kimmo, Respekt. Die neue Frau in deinem Leben, was?«, fragte Sundström. Joentaa nickte. Die neue Frau. Oder was auch immer.
»Es freut mich«, sagte Grönholm. »Es freut mich für dich ...«
»Was für eine ...«, unterbrach Sundström.
»Was?«, fragte Grönholm.
»Was für eine ... Höllenmaus«, sagte Sundström.
»Was bitte?«, fragte Grönholm lachend und warf Joentaa einen verunsicherten Blick zu.
»Ich mein ja nur ... oh, hallo, Schatz«, sagte Sundström. »Darf ich dir Kimmo Joentaa
vorstellen, einen weiteren meiner bedauernswerten Untergebenen. Kimmo, Sabrina. Sabrina,
Kimmo.«
»Hallo«, sagte Joentaa.
Sabrina Sundström führte ein Glas mit Prosecco zum Mund, nahm einen Schluck, ließ das Glas sinken und lächelte offen. Joentaa kannte sie nicht, wusste aber, dass sie Humor haben musste. Eine Menge davon. Wie hätte sie sonst mit Paavo Sundström zusammenleben können? Im Hintergrund setzte die Musik von Violinen ein, und danach sprach ein glänzend gelaunter Polizeichef Nurmela, auf der Terrasse stehend, in ein Mikrofon und bedankte sich bei allen für ihr Kommen und für die großzügigen Geschenke, die er zu gegebener Zeit auspacken werde. Er hoffe nur, dass nicht zu viele Anspielungen auf Rente, Abschied und Lebensabend dabei seien, denn er mache erst Halbzeit und habe noch jede Menge vor. Seine Frau, Katriina, stand neben ihm und sagte abschließend, dass in wenigen Minuten das Buffet eröffnet werde.
Die Violinen setzten wieder ein, das ganz in schwarz gekleidete Musikerquartett saß am Rand der breiten Terrasse, drei junge Frauen und ein junger Mann. Larissa kehrte zurück, ein Tablett mit einer Sektflasche und Gläsern balancierend.
»Genug für alle«, sagte sie.
Sundström lachte, Grönholm schenkte ein, und Larissa setzte sich und war sofort in ein Gespräch mit Sundströms Frau vertieft. Ein Gespräch über Sommerkleider, wenn Joentaa die Worte richtig deutete, die ihn von Zeit zu Zeit streiften.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Nurmela an der Seite seiner Frau auf sie zukam. Beschwingten Schrittes, in einem beigen Anzug, mit einer gelben Krawatte, auf der blaue Donald- Ducks lachten. Katriina bewegte sich fließend und graziös und hielt mühelos mit dem Tempo seiner Stakkatoschritte mit.
»Tolles Outfit«, sagte Sundström, als die beiden in Hörweite waren. »Die Krawatte, meine ich. Und natürlich das Kleid deiner Frau.«
»Danke, danke«, sagte Nurmela, Katriina lächelte, und Joentaa hatte den Eindruck, dass sich in Nurmelas Gesicht eine plötzliche Veränderung vollzog.
»Hey, Mann, August«, sagte Larissa.
»Hm?« Das war Grönholm.
»Wer?«, fragte Sundström, und Grönholm ließ den Blick schweifen, vermutlich auf der Suche nach dem August.
»Ups«, sagte Larissa und hielt sich die Hand vor den Mund, und Joentaa spürte, dass Nurmela neben ihm ins Wanken geriet und sich fahrig entschuldigte. Katriina starrte Larissa an. »Komme gleich, Schatz, ich muss mal nach ... den Gästen sehen ...«, sagte Nurmela. Er lief in Richtung der Getränkestände.
Alle sahen ihm nach, Katriina riss sich los und folgte ihm.
»Was war das denn?«, fragte Grönholm.
»Seit wann heißt Nurmela August?«, fragte Sundström.
»Er heißt doch gar nicht August«, sagte Grönholm und wendete sich Larissa zu.
»Mein Fehler«, sagte sie und warf Kimmo Joentaa ein breites Lächeln zu. »Wer will noch Sekt?« Sie nahm die Flasche und schenkte nach. Joentaa hielt dankbar sein Glas hin und leerte es in einem Zug. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, diesen Sommerherbsttag angemessen nur im Zustand eines leichten Rauschs verleben zu können.
»Prost«, sagte Larissa, und alle stießen an.
»Heißt der nun August oder nicht?«, fragte Sabrina Sundström.
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Grönholm.
»Nö«, sagte Sundström.
»Ein Irrtum«, sagte Larissa.
»Namen spielen keine Rolle«, sagte Joentaa.
Er fing einen Blick von Larissa auf, den er nicht deuten konnte, und ging, um eine weitere Flasche Alkohol zu holen.
3
Essbestecke, die Menschenschlange auf dem frisch gemähten Rasen, an den schneeweißen Buffettischen. Larissa aß mit gutem Appetit und mochte vor allem die Eier auf Lachs und die Heringe in Curry.
»Mhm, lecker«, sagte sie mehrfach und lachte, und Joentaa spürte den Impuls, sie zu umarmen und an sich zu drücken, bis ihnen beiden die Luft wegbleiben würde. Er hatte innerhalb recht kurzer Zeit acht bis zwölf Mal sein Sektglas geleert, er wusste nicht genau, wie oft, weil er sich irgendwann verzählt hatte, und nahm vage wahr, dass Sundström die Augenbrauen anhob.
»Äh, Kimmo ... alles klar so weit?«, fragte er.
Joentaa nickte. Er fühlte sich merkwürdig nüchtern, abgesehen von dem sanften Schleier, der sich über seine Gedanken gelegt hatte.
Larissa unterhielt sich angeregt mit Sundströms Frau, und Grönholm saß entspannt zurückgelehnt, trank ein Bier nach dem anderen und zwischenzeitlich den einen oder anderen Sekt, und schien den beiden aufmerksam zuzuhören. Joentaa fragte sich, warum Grönholm nie in Begleitung einer Frau zu derartigen Anlässen erschien. Er erwog, ob Grönholms gute Laune und weitgehend ausgeglichene Art darauf zurückzuführen sei, verwarf den Gedanken aber und betrachtete für eine Weile Nurmela, der im Zentrum des Gartens mit Gästen sprach, die ihn umringten. Ab und zu warf er Blicke zum Tisch, an dem Joentaa saß. Vermutlich bemühte er sich, herauszufinden, auf welche Weise die kleine Blonde zu seinem Geburtstag hatte kommen können.
Joentaa hatte das Gefühl, dass Nurmelas Blick in kürzer werdenden Abständen auf seinem Gesicht haften blieb, aber er wich nicht aus, seine Augen waren zu träge und die Wärme des Abends zu lau und weich. Er spürte Larissas Umarmungen, sie streiften ihn, wenn sie ging, um sich Nachschub vom Buffet zu holen. Manchmal hielt er ihre Hand fest und wartete einige Sekunden, bis er sie losließ.
»Ich muss zum Buffe-e-t«, sagte Larissa mahnend.
»Dann will ich dich nicht auf-hal-ten«, erwiderte Joentaa. Er sah ihr nach und registrierte, dass sie prätentiös mit dem Po wackelte. Was sie sonst nie tat. Eine Show für die anderen. Für August vielleicht. Die meisten der anwesenden Männer wendeten den Blick in ihre Richtung, einige lachten, andere waren bemüht, sich ungerührt zu geben.
»Die Frau ist der Hammer«, flüsterte Sundström, in unmittelbarer Nähe seines Ohres. Er spürte den Luftzug seines Atems und nickte.
»Was sagst du?«, fragte Sabrina neben ihm.
Larissa kehrte zurück, einen weißen Teller balancierend, mit Eiern und Heringen. Er sah sie an und dachte plötzlich, dass er noch nie einen so fröhlichen Menschen gesehen hatte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Hm?«
»Du siehst mich so komisch an«, sagte sie.
»Nichts«, sagte er.
Noch nie einen so fröhlichen Menschen, dachte er. Und noch nie einen, der so oft weint im Schlaf. Dann mampfte sie Heringe und Eier, und Sundströms Witze begannen, die Grenze zum Zotigen zu streifen. Der Abend und die Dunkelheit kamen, Fackeln spendeten Wärme und ein wenig Licht, und als es zu kalt und zu dunkel wurde, zog der harte Kern ins Haus um, das hell erleuchtet war. Joentaa ging auf schwachen Beinen und nahm vage wahr, dass Nurmela ihn auf die Seite zog.
»Komm mal, Kimmo«, sagte er.
»Hm?«
Sie standen zu zweit auf dem Rasen, aus dem Innern des Hauses drang Gelächter. Hinter ihnen klirrte Geschirr, Bedienstete räumten die Reste des Buffets beiseite.
»Hast du die angeschleppt?«
»Hm?«
»Die ... Frau, mit der du gekommen bist ...«
»Larissa.«
Nurmela starrte ihn an. Schien Mühe zu haben, Worte über seine Lippen zu bringen. Schien sich auf irgendeinen fernen Punkt zu konzentrieren. Joentaa betrachtete die Enten in ihren Matrosenanzügen. Auf Nurmelas Krawatte. Im flackenden Licht der Fackeln.
»Bist du irre?«, fragte Nurmela.
»Hm?«
»Hier mit einer ... Nutte anzutanzen ...«
»Ach so«, sagte Joentaa.
»Ja, ach so.«
»Ja.«
»Ja, genau, ach so.«
»Larissa arbeitet auch als Eisverkäuferin. Halbtags«, sagte Joentaa.
Nurmela schwieg. Starrte sich die Augen aus dem Kopf.
»Die Donalds tanzen«, sagte Joentaa.
»Bitte?«
»Auf deiner Krawatte.«
Nurmela sah an sich hinab. Hob den Blick.
»Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt«, sagte Joentaa.
»Wie bitte?«
»Ich wusste nicht, dass Larissa und du ... dass ihr euch ... kennt.«
Nurmelas Arme zuckten nach vorn und würgten Joentaa am Hals. Er spürte ein Stechen in der Brust und hörte sich röcheln. Betrachtete die blauen Enten. Nurmelas Atem roch nach Alkohol, seine Stimme klang präzise und nüchtern. »Arschloch«, sagte er.
Dann ließ er ihn los. Joentaa folgte seinem Blick auf die Fensterfront. Katriina im Zentrum des Raums, im Licht, das die Kronleuchter spendeten. Schlank und groß gewachsen. Für jeden Gast ein Lächeln.
»Tut mir leid, falls Katriina ...«, sagte Joentaa.
Nurmela ließ sich auf einen weißen Klappstuhl fallen. Joentaa ging ein paar Schritte und zog sich einen heran. Setzte sich.
»Tut mir leid, falls Katriina ... irgendwie irritiert war ...«
»Hat nichts gemerkt«, sagte Nurmela.
»Nicht?«
»Nein. Doch. Aber ich kann das regeln«, sagte Nurmela.
Regeln, dachte Joentaa. Weicher, sanfter Regen fiel, der erste seit Langem. Im Haus schien niemand den Gastgeber zu vermissen.
»Ich erzähle einfach irgendeine Scheiße«, sagte Nurmela.
Joentaa nickte.
»Spielt doch keine Rolle«, sagte Nurmela.
Joentaa nickte und sah Larissa hinter der Fensterfront. In ein angeregtes Gespräch mit Nurmelas Frau vertieft. Sie lachten gemeinsam. Nurmela starrte in die Dunkelheit und hatte jetzt doch begonnen, über Worte zu stolpern.
»Spielt doch alles keine Rolle«, nuschelte er.
»Ja«, sagte Joentaa. Sah Larissa hinter der Fensterscheibe. Larissa. Mit Nurmela. Es fiel ihm schwer, dem Bild Konturen zu geben.
»Halbzeit«, sagte Nurmela.
»Ja«, sagte Joentaa.
»Halbzeit mache ich.« Offensichtlich in dem Bemühen, die Ankündigung in die Tat umzusetzen, richtete er sich auf, mühsam, und stiefelte auf das Haus zu. »Komm, Kimmo, wir trinken noch einen«, rief er. Joentaa folgte ihm.
»Seid ihr ... zusammen?«, fragte Nurmela im Gehen.
Larissa hinter der Fensterwand. Sie tanzte im Rhythmus einer lautlosen Musik. Joentaa nickte.
»Mhm. Mhm«, sagte Nurmela, und Joentaa dachte, dass Larissa möglicherweise einen ihrer besten Kunden verlieren würde. Obwohl, warum eigentlich? Jetzt, wo alles hinreichend geklärt war.Nurmela, Larissa.
Nurmela nickte vor sich hin. Die blauen Enten lachten schallend, ähnlich, wie Larissa hinter der Fensterwand.
Als Nurmela die Tür öffnete und sie endlich die Musik hören konnten, zu der Larissa und Katriina tanzten, dachte Joentaa, dass er ihm irgendwann zwei Fragen stellen musste. Warum sein Haus eine derart schalldichte Verglasung hatte.
Und warum ... warum August?
© Verlag Galiani Berlin bei Kiepenheuer & Witsch, 2011
Sie kam und ging. Er wusste nicht, woher und wohin.
Abends, wenn er nach Hause zurückkehrte, blieb er für eine Weile im Wagen sitzen und suchte hinter den Fensterscheiben nach Anzeichen ihrer Anwesenheit. Manchmal brannte Licht, das nicht gebrannt hatte, als er am Morgen losgefahren war. Manchmal war es dunkel. Wenn Licht brannte, war sie meistens nicht da. War es dunkel, saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa und lachte, wenn er sie fragte, wie ihr Tag gewesen sei. Sie lachte und lachte, bis Kimmo Joentaa irgendwann einstimmte.
Einige Male fragte er sie, warum sie immer das Licht einschaltete, wenn sie ging, und warum sie im Dunkeln saß, wenn er nach Hause kam. Sie antwortete nicht. Sie sah ihn nur an und schwieg. Das tat sie häufig, wenn er Fragen stellte. Wenn er neu ansetzen wollte, kam sie auf ihn zu, umarmte ihn, zog ihn aus, schob ihn auf das Sofa und bewegte sich in rhythmischen, einstudierten Bewegungen über ihm, bis er kam.
Bevor der Schnee und das Eis schmolzen, spielte sie auf dem See mit den Kindern Eishockey. Sie aß Unmengen Eiscreme, am liebsten Vanille und Tundrabeere. Sie mochte Actionfilme, Ballerei und explodierende Autos. Komödien mochte sie nicht, aber sie lachte viel.
Meistens über ihn. Er musste gar nichts sagen, ihr reichte oft sein Gesichtsausdruck oder eine Bewegung, die er machte. Sie hatte strohblonde Haare und bestand darauf, einen Meter und sechzig groß zu sein - und nicht einen Meter und einundfünfzig, wie Joentaa ab und zu in den Raum stellte, weil er ihren wütenden Blick mochte - und sie war sehr schmal, was Joentaa wunderte, angesichts ihres Süßwarenkonsums.
Manchmal verschwand sie. Unter ihrer Handynummer erreichte er die fremde, anonyme Stimme einer Mailbox. Er sprach Nachrichten auf und spürte, wie seine Worte in der Stille versickerten. Unter der Mailadresse, die sie ihm gegeben hatte, schrieb er Texte, die nie beantwortet wurden. Er saß in einem leeren Haus, mit dem Handy in der Hand, vor dem Laptop, und wartete.
Er begann, morgens das Licht anzuschalten, wenn er ging, und er spürte das Stechen im Magen, wenn das Haus irgendwann, nach Tagen oder Wochen, wieder im Dunkel lag, als er zurückkehrte. Dann saß sie mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa, wendete den Blick in seine Richtung und sagte, sie sei wieder da.
Wenn er sie fragte, wo sie gewesen sei, schwieg sie.
Sie ging gern spazieren. Stundenlang stapften sie an den Wochenenden gemeinsam durch den Wald, und sie erzählte von Filmen, die sie gesehen hatte, oder von Büchern, die sie las. Sie las alles Mögliche, es mussten nur Geschichten sein, Geschichten, die sie ihm erzählen konnte.
Die Bücher stapelten sich in verschiedenen Ecken des Hauses. Er hörte ihr aufmerksam zu und versuchte, hinter den Figuren, die auf der Bühne ihrer Fantasie zu leben begannen, die Erzählerin zu finden.
Sie arbeitete als Prostituierte, Joentaa wusste nicht, wo. Irgendwann begann er, sie danach zu fragen, aber sie grinste nur schief und sagte, das wolle er nicht wissen. Als der Sommer begonnen hatte, hatte sie ihm gesagt, dass sie zusätzlich einen Halbtagesjob angenommen habe, als Eisverkäuferin, und Joentaa sagte, dass ihn das freue.
»Wenn ich es geschickt anstelle, kann ich so viel Süßes essen, wie ich will«, sagte sie. Er fragte sie nach ihrem Namen, ihrem richtigen Namen, und sie sagte, dass Namen keine Rolle spielen. Im Schlaf weinte sie, und wenn er sie weckte oder nach dem Erwachen darauf ansprach, konnte sie sich nicht erinnern, etwas geträumt zu haben.
2
Mitte September gingen sie gemeinsam zu einem Geburtstagsfest. Der Polizeichef von Turku, Nurmela, feierte seinen Fünfzigsten im riesigen Garten seines Hauses, das direkt am Fluss lag und eine malerische Aussicht bot.
Als sie ankamen, empfing sie Nurmelas Frau, Katriina, die Joentaa einige Male bei den Weihnachtsfeiern der Polizeibelegschaft gesehen hatte. Sie war groß gewachsen und schlank und schien sich immer im Bewusstsein ihrer körperlichen Präsenz zu bewegen.
Der Garten war schon bevölkert von Gästen, und Joentaa steuerte auf Petri Grönholm und Paavo Sundström zu, die an einem breiten Tisch in der Sonne saßen. Larissa drückte fest seine Hand, während sie liefen, und als Joentaa ihr einen kurzen Blick zuwarf, lachte sie ihn an. Er spürte ihre Hand in seiner und die Wärme eines viel zu warmen Herbstes und freute sich plötzlich, dass sie zu dem Fest gegangen waren. Er trat an den Tisch heran, an dem Sundström und Grönholm saßen, und stellte die Frau, die neben ihm stand und sich an ihn schmiegte, als Larissa vor.
»Hallo«, sagte Grönholm.
»Wow«, sagte Sundström.
Larissa lachte. Dieses laute, abrupte Lachen, das er mochte, weil es echt war und ihm für Momente das Gefühl gab, sie zu kennen. Sundström starrte Larissa an, bis ihn ein Gedanke in die Realität zurückzuholen schien:
»Meine schlechtere Hälfte ist hier auch irgendwo«, sagte er und sah sich halbherzig um.
»Wahrscheinlich an der Proseccotheke.«
»Da will ich auch hin«, sagte Larissa.
»Ja ... gleich«, sagte Joentaa.
»Heute besaufen wir uns«, sagte Larissa.
Sundström lachte, Grönholm lachte, Joentaa nickte, und Larissa löste ihre Hand aus seiner und ging den Abhang hinauf auf die Getränkestände zu. Joentaa sah ihr nach und spürte, dass Sundström und Grönholm dasselbe taten.
»Respekt, Kimmo, Respekt. Die neue Frau in deinem Leben, was?«, fragte Sundström. Joentaa nickte. Die neue Frau. Oder was auch immer.
»Es freut mich«, sagte Grönholm. »Es freut mich für dich ...«
»Was für eine ...«, unterbrach Sundström.
»Was?«, fragte Grönholm.
»Was für eine ... Höllenmaus«, sagte Sundström.
»Was bitte?«, fragte Grönholm lachend und warf Joentaa einen verunsicherten Blick zu.
»Ich mein ja nur ... oh, hallo, Schatz«, sagte Sundström. »Darf ich dir Kimmo Joentaa
vorstellen, einen weiteren meiner bedauernswerten Untergebenen. Kimmo, Sabrina. Sabrina,
Kimmo.«
»Hallo«, sagte Joentaa.
Sabrina Sundström führte ein Glas mit Prosecco zum Mund, nahm einen Schluck, ließ das Glas sinken und lächelte offen. Joentaa kannte sie nicht, wusste aber, dass sie Humor haben musste. Eine Menge davon. Wie hätte sie sonst mit Paavo Sundström zusammenleben können? Im Hintergrund setzte die Musik von Violinen ein, und danach sprach ein glänzend gelaunter Polizeichef Nurmela, auf der Terrasse stehend, in ein Mikrofon und bedankte sich bei allen für ihr Kommen und für die großzügigen Geschenke, die er zu gegebener Zeit auspacken werde. Er hoffe nur, dass nicht zu viele Anspielungen auf Rente, Abschied und Lebensabend dabei seien, denn er mache erst Halbzeit und habe noch jede Menge vor. Seine Frau, Katriina, stand neben ihm und sagte abschließend, dass in wenigen Minuten das Buffet eröffnet werde.
Die Violinen setzten wieder ein, das ganz in schwarz gekleidete Musikerquartett saß am Rand der breiten Terrasse, drei junge Frauen und ein junger Mann. Larissa kehrte zurück, ein Tablett mit einer Sektflasche und Gläsern balancierend.
»Genug für alle«, sagte sie.
Sundström lachte, Grönholm schenkte ein, und Larissa setzte sich und war sofort in ein Gespräch mit Sundströms Frau vertieft. Ein Gespräch über Sommerkleider, wenn Joentaa die Worte richtig deutete, die ihn von Zeit zu Zeit streiften.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Nurmela an der Seite seiner Frau auf sie zukam. Beschwingten Schrittes, in einem beigen Anzug, mit einer gelben Krawatte, auf der blaue Donald- Ducks lachten. Katriina bewegte sich fließend und graziös und hielt mühelos mit dem Tempo seiner Stakkatoschritte mit.
»Tolles Outfit«, sagte Sundström, als die beiden in Hörweite waren. »Die Krawatte, meine ich. Und natürlich das Kleid deiner Frau.«
»Danke, danke«, sagte Nurmela, Katriina lächelte, und Joentaa hatte den Eindruck, dass sich in Nurmelas Gesicht eine plötzliche Veränderung vollzog.
»Hey, Mann, August«, sagte Larissa.
»Hm?« Das war Grönholm.
»Wer?«, fragte Sundström, und Grönholm ließ den Blick schweifen, vermutlich auf der Suche nach dem August.
»Ups«, sagte Larissa und hielt sich die Hand vor den Mund, und Joentaa spürte, dass Nurmela neben ihm ins Wanken geriet und sich fahrig entschuldigte. Katriina starrte Larissa an. »Komme gleich, Schatz, ich muss mal nach ... den Gästen sehen ...«, sagte Nurmela. Er lief in Richtung der Getränkestände.
Alle sahen ihm nach, Katriina riss sich los und folgte ihm.
»Was war das denn?«, fragte Grönholm.
»Seit wann heißt Nurmela August?«, fragte Sundström.
»Er heißt doch gar nicht August«, sagte Grönholm und wendete sich Larissa zu.
»Mein Fehler«, sagte sie und warf Kimmo Joentaa ein breites Lächeln zu. »Wer will noch Sekt?« Sie nahm die Flasche und schenkte nach. Joentaa hielt dankbar sein Glas hin und leerte es in einem Zug. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, diesen Sommerherbsttag angemessen nur im Zustand eines leichten Rauschs verleben zu können.
»Prost«, sagte Larissa, und alle stießen an.
»Heißt der nun August oder nicht?«, fragte Sabrina Sundström.
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Grönholm.
»Nö«, sagte Sundström.
»Ein Irrtum«, sagte Larissa.
»Namen spielen keine Rolle«, sagte Joentaa.
Er fing einen Blick von Larissa auf, den er nicht deuten konnte, und ging, um eine weitere Flasche Alkohol zu holen.
3
Essbestecke, die Menschenschlange auf dem frisch gemähten Rasen, an den schneeweißen Buffettischen. Larissa aß mit gutem Appetit und mochte vor allem die Eier auf Lachs und die Heringe in Curry.
»Mhm, lecker«, sagte sie mehrfach und lachte, und Joentaa spürte den Impuls, sie zu umarmen und an sich zu drücken, bis ihnen beiden die Luft wegbleiben würde. Er hatte innerhalb recht kurzer Zeit acht bis zwölf Mal sein Sektglas geleert, er wusste nicht genau, wie oft, weil er sich irgendwann verzählt hatte, und nahm vage wahr, dass Sundström die Augenbrauen anhob.
»Äh, Kimmo ... alles klar so weit?«, fragte er.
Joentaa nickte. Er fühlte sich merkwürdig nüchtern, abgesehen von dem sanften Schleier, der sich über seine Gedanken gelegt hatte.
Larissa unterhielt sich angeregt mit Sundströms Frau, und Grönholm saß entspannt zurückgelehnt, trank ein Bier nach dem anderen und zwischenzeitlich den einen oder anderen Sekt, und schien den beiden aufmerksam zuzuhören. Joentaa fragte sich, warum Grönholm nie in Begleitung einer Frau zu derartigen Anlässen erschien. Er erwog, ob Grönholms gute Laune und weitgehend ausgeglichene Art darauf zurückzuführen sei, verwarf den Gedanken aber und betrachtete für eine Weile Nurmela, der im Zentrum des Gartens mit Gästen sprach, die ihn umringten. Ab und zu warf er Blicke zum Tisch, an dem Joentaa saß. Vermutlich bemühte er sich, herauszufinden, auf welche Weise die kleine Blonde zu seinem Geburtstag hatte kommen können.
Joentaa hatte das Gefühl, dass Nurmelas Blick in kürzer werdenden Abständen auf seinem Gesicht haften blieb, aber er wich nicht aus, seine Augen waren zu träge und die Wärme des Abends zu lau und weich. Er spürte Larissas Umarmungen, sie streiften ihn, wenn sie ging, um sich Nachschub vom Buffet zu holen. Manchmal hielt er ihre Hand fest und wartete einige Sekunden, bis er sie losließ.
»Ich muss zum Buffe-e-t«, sagte Larissa mahnend.
»Dann will ich dich nicht auf-hal-ten«, erwiderte Joentaa. Er sah ihr nach und registrierte, dass sie prätentiös mit dem Po wackelte. Was sie sonst nie tat. Eine Show für die anderen. Für August vielleicht. Die meisten der anwesenden Männer wendeten den Blick in ihre Richtung, einige lachten, andere waren bemüht, sich ungerührt zu geben.
»Die Frau ist der Hammer«, flüsterte Sundström, in unmittelbarer Nähe seines Ohres. Er spürte den Luftzug seines Atems und nickte.
»Was sagst du?«, fragte Sabrina neben ihm.
Larissa kehrte zurück, einen weißen Teller balancierend, mit Eiern und Heringen. Er sah sie an und dachte plötzlich, dass er noch nie einen so fröhlichen Menschen gesehen hatte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Hm?«
»Du siehst mich so komisch an«, sagte sie.
»Nichts«, sagte er.
Noch nie einen so fröhlichen Menschen, dachte er. Und noch nie einen, der so oft weint im Schlaf. Dann mampfte sie Heringe und Eier, und Sundströms Witze begannen, die Grenze zum Zotigen zu streifen. Der Abend und die Dunkelheit kamen, Fackeln spendeten Wärme und ein wenig Licht, und als es zu kalt und zu dunkel wurde, zog der harte Kern ins Haus um, das hell erleuchtet war. Joentaa ging auf schwachen Beinen und nahm vage wahr, dass Nurmela ihn auf die Seite zog.
»Komm mal, Kimmo«, sagte er.
»Hm?«
Sie standen zu zweit auf dem Rasen, aus dem Innern des Hauses drang Gelächter. Hinter ihnen klirrte Geschirr, Bedienstete räumten die Reste des Buffets beiseite.
»Hast du die angeschleppt?«
»Hm?«
»Die ... Frau, mit der du gekommen bist ...«
»Larissa.«
Nurmela starrte ihn an. Schien Mühe zu haben, Worte über seine Lippen zu bringen. Schien sich auf irgendeinen fernen Punkt zu konzentrieren. Joentaa betrachtete die Enten in ihren Matrosenanzügen. Auf Nurmelas Krawatte. Im flackenden Licht der Fackeln.
»Bist du irre?«, fragte Nurmela.
»Hm?«
»Hier mit einer ... Nutte anzutanzen ...«
»Ach so«, sagte Joentaa.
»Ja, ach so.«
»Ja.«
»Ja, genau, ach so.«
»Larissa arbeitet auch als Eisverkäuferin. Halbtags«, sagte Joentaa.
Nurmela schwieg. Starrte sich die Augen aus dem Kopf.
»Die Donalds tanzen«, sagte Joentaa.
»Bitte?«
»Auf deiner Krawatte.«
Nurmela sah an sich hinab. Hob den Blick.
»Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt«, sagte Joentaa.
»Wie bitte?«
»Ich wusste nicht, dass Larissa und du ... dass ihr euch ... kennt.«
Nurmelas Arme zuckten nach vorn und würgten Joentaa am Hals. Er spürte ein Stechen in der Brust und hörte sich röcheln. Betrachtete die blauen Enten. Nurmelas Atem roch nach Alkohol, seine Stimme klang präzise und nüchtern. »Arschloch«, sagte er.
Dann ließ er ihn los. Joentaa folgte seinem Blick auf die Fensterfront. Katriina im Zentrum des Raums, im Licht, das die Kronleuchter spendeten. Schlank und groß gewachsen. Für jeden Gast ein Lächeln.
»Tut mir leid, falls Katriina ...«, sagte Joentaa.
Nurmela ließ sich auf einen weißen Klappstuhl fallen. Joentaa ging ein paar Schritte und zog sich einen heran. Setzte sich.
»Tut mir leid, falls Katriina ... irgendwie irritiert war ...«
»Hat nichts gemerkt«, sagte Nurmela.
»Nicht?«
»Nein. Doch. Aber ich kann das regeln«, sagte Nurmela.
Regeln, dachte Joentaa. Weicher, sanfter Regen fiel, der erste seit Langem. Im Haus schien niemand den Gastgeber zu vermissen.
»Ich erzähle einfach irgendeine Scheiße«, sagte Nurmela.
Joentaa nickte.
»Spielt doch keine Rolle«, sagte Nurmela.
Joentaa nickte und sah Larissa hinter der Fensterfront. In ein angeregtes Gespräch mit Nurmelas Frau vertieft. Sie lachten gemeinsam. Nurmela starrte in die Dunkelheit und hatte jetzt doch begonnen, über Worte zu stolpern.
»Spielt doch alles keine Rolle«, nuschelte er.
»Ja«, sagte Joentaa. Sah Larissa hinter der Fensterscheibe. Larissa. Mit Nurmela. Es fiel ihm schwer, dem Bild Konturen zu geben.
»Halbzeit«, sagte Nurmela.
»Ja«, sagte Joentaa.
»Halbzeit mache ich.« Offensichtlich in dem Bemühen, die Ankündigung in die Tat umzusetzen, richtete er sich auf, mühsam, und stiefelte auf das Haus zu. »Komm, Kimmo, wir trinken noch einen«, rief er. Joentaa folgte ihm.
»Seid ihr ... zusammen?«, fragte Nurmela im Gehen.
Larissa hinter der Fensterwand. Sie tanzte im Rhythmus einer lautlosen Musik. Joentaa nickte.
»Mhm. Mhm«, sagte Nurmela, und Joentaa dachte, dass Larissa möglicherweise einen ihrer besten Kunden verlieren würde. Obwohl, warum eigentlich? Jetzt, wo alles hinreichend geklärt war.Nurmela, Larissa.
Nurmela nickte vor sich hin. Die blauen Enten lachten schallend, ähnlich, wie Larissa hinter der Fensterwand.
Als Nurmela die Tür öffnete und sie endlich die Musik hören konnten, zu der Larissa und Katriina tanzten, dachte Joentaa, dass er ihm irgendwann zwei Fragen stellen musste. Warum sein Haus eine derart schalldichte Verglasung hatte.
Und warum ... warum August?
© Verlag Galiani Berlin bei Kiepenheuer & Witsch, 2011
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Autoren-Porträt von Jan Costin Wagner
Jan Costin Wagner, Jahrgang 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main. Seine Romane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa wurden von der Presse gefeiert, vielfach ausgezeichnet (u. a. Deutscher Krimipreis, Nominierung zum Los Angeles Times Book Prize) und in 14 Sprachen übersetzt. Tage des letzten Schnees und Das Licht in einem dunklen Haus wurden 2019 und 2022 vom ZDF u.a. mit Henry Hübchen und Bjarne Mädel verfilmt. Sommer bei Nacht erhielt den Radio Bremen Krimipreis, Am roten Strand ist nominiert für den Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jan Costin Wagner
- 2011, 3. Aufl., 320 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Galiani ein Imprint im Kiepenheuer & Witsch Verlag
- ISBN-10: 3869710160
- ISBN-13: 9783869710167
- Erscheinungsdatum: 19.07.2011
Rezension zu „Das Licht in einem dunklen Haus / Kimmo Joentaa Bd.4 “
"Magical. Better than Mankell" The Times "Die besten skandinavischen Kriminalromane schreibt ein Deutscher, nämlich Jan Costin Wagner." Tagesspiegel "Ein Meister der Spannung" Brigitte "Ein Hohepriester der Kälte" Die Welt "Jan Costin Wagner erweist sich als Meister moralischer Verunsicherung." Tobias Gohlis, Die Zeit "Die Literatur schaut in die menschlichen Abgründe ... Jan Costin Wagner ist darin unerhört gut." Andrea Maria Schenkel "Die Figur des finnischen Polizisten Kimmo Joentaa ist eine Sensation." Die Welt "Meisterhaft, höchst erstaunlich, ungeheuer dicht. Ein deutscher Spannungsschreiber der Extraklasse, der internationalen Vergleichen bestens standhält." Stern
Kommentar zu "Das Licht in einem dunklen Haus / Kimmo Joentaa Bd.4"
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