Das Lied der Klagefrau
Roman
Eine große Liebe, ein altes Unrecht und mysteriöse Todesfälle Göttingen, 1786. Die schöne Klagefrau Alena kommt mit ihrem Ehemann Julius in die Stadt. Julius will nach Jahrzehnten sein Medizinstudium wieder aufnehmen, um eine...
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Produktinformationen zu „Das Lied der Klagefrau “
Eine große Liebe, ein altes Unrecht und mysteriöse Todesfälle Göttingen, 1786. Die schöne Klagefrau Alena kommt mit ihrem Ehemann Julius in die Stadt. Julius will nach Jahrzehnten sein Medizinstudium wieder aufnehmen, um eine alte Schande zu tilgen: den unberechtigten, ehrverletzenden Verweis von der Universität. Doch das erneute Studium steht unter einem unheilvollen Stern, und Alena muss wie eine Löwin für Julius kämpfen. Für Wahrheit und Gerechtigkeit.
Klappentext zu „Das Lied der Klagefrau “
Eine große Liebe, ein altes Unrecht und mysteriöse TodesfälleGöttingen, 1786. Die schöne Klagefrau Alena kommt mit ihrem Ehemann Julius in die Stadt. Julius will nach Jahrzehnten sein Medizinstudium wieder aufnehmen, um eine alte Schande zu tilgen: den unberechtigten, ehrverletzenden Verweis von der Universität. Doch das erneute Studium steht unter einem unheilvollen Stern, und Alena muss wie eine Löwin für Julius kämpfen. Für Wahrheit und Gerechtigkeit
Lese-Probe zu „Das Lied der Klagefrau “
Das Lied der Klagefrau von Wolf SernoProlog
Es war an einem jener bitterkalten Morgen zu Beginn des Jahres 1786. Die Nacht war sternenklar gewesen, im ersten Licht des Tages schälten sich langsam die Konturen eines hohen Bauwerks heraus. Es war ein Turm, der da Gestalt annahm, ein steinerner Überrest, von dem manch einer behauptete, sein Alter betrage über achthundert Jahre und deshalb sei er nutzlos und überflüssig. Doch das stimmte nicht. Denn wer genau hinsah, erkannte, dass sein Mauerwerk noch immer festgefügt war und dass er viele weitere Jahrhunderte auf seinem Hügel aus Muschelkalk stehen würde. Die weiße Farbe des Muschelkalks inmitten der dunkleren Landschaft erinnerte an die Blesse auf der Stirn eines Pferds, weshalb die Burg, deren Mittelpunkt der Turm bildete, Burg Plesse genannt wurde. Der Turm diente als Bergfried, er hatte den Herrschaften derer von Plesse oftmals in Zeiten höchster Not Zuflucht und Schutz geboten, denn sein Eingangstor befand sich in über dreißig Fuß Höhe. Niemand, der nicht willkommen war, hatte ihn betreten können, und wer sich ihm in feindlicher Absicht näherte, wurde mit einem Hagel von Pfeilen begrüßt und mit fl üssigem Pech übergossen. Von der Burg und ihren weitläufigen Befestigungen war im Jahr 1786 schon vieles durch Witterung und Winde eingeebnet worden, und die Bewohner aus den umliegenden Dörfern hatten ein Übriges getan, indem sie die Burganlagen als Steinbruch benutzten.
Doch der Turm stand unerschütterlich da, auch wenn der Zahn der Zeit selbst an ihm nicht ganz spurlos vorübergegangen war. Hoch oben, siebzig Fuß über dem Hügelgrund, waren Teile seiner Mauer herausgebrochen, und aus einer der dadurch entstandenen Lücken wuchsen zwei Lindenbäume in den Himmel empor. Ihre Wurzeln mussten viele Ellen tief in den Turm hinabreichen, vielleicht sogar
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so tief, dass sie Halt in dem verschütteten Brunnen fanden.
Der untere Teil des Turms jedoch war völlig unversehrt. Er bestand aus gewaltigen behauenen Steinen, die Unverrückbarkeit, Wehrhaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Diese Eigenschaften mochten auch der Grund dafür sein, warum an seinem Fuß eine seltsame Reisegruppe übernachtet hatte. Sie bestand aus einem Bauchredner und seiner Gefährtin, dazu aus sieben lebensgroßen Puppen, die abseits auf einem Karren Platz gefunden hatten. Der Name des Bauchredners lautete Julius Klingenthal.
Klingenthal war kein junger Mann mehr, denn im Frühsommer sollte er seinen fünfzigsten Geburtstag begehen. Gleichwohl galt er als einer der besten Ventriloquisten seiner Zeit. Die Menschen in Stadt und Land nannten ihn »Puppenkönig«, was er als große Auszeichnung empfand.
Seine Gefährtin hieß Alena. Sie war eine ehemalige Novizin vom Kölner Karmel Maria vom Frieden, die sich ihr tägliches Brot als Klagefrau verdiente. Alena war bedeutend jünger als Klingenthal, erst fünfundzwanzig Jahre alt, was ihrer Liebe zu ihm aber nicht im Wege stand. Wer sie ansah, sah zunächst nur ihre Augen. Sie hatte außergewöhnliche Augen, die in der Lage waren, alle Gefühle und Gedanken, deren ein Mensch fähig ist, auszudrücken. Sie waren schwarz wie Ebenholz und konnten lachen und weinen, lieben und hassen, streiten und schlichten, anklagen und verzeihen, je nachdem, wie ihrer Besitzerin zumute war. Nase und Mund dagegen waren weniger außergewöhnlich, doch durchaus wohlgeraten: die Nase war fein und gerade, der Mund weich und geschwungen. Alenas Figur war filigran, sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper, hübsche runde Schultern und lange schwarze Haare, die sie aus praktischen Gründen zu einem Dutt verknotet hatte. Alles in allem wirkte sie sehr zerbrechlich - was sie in Wirklichkeit nicht war. »Klingenthal«, sagte sie, denn sie nannte ihren Geliebten meistens beim Nachnamen, »bist du schon wach?«
»Nein«, sagte Klingenthal.
Alena lachte leise und strich ihm über die Wange. »Natürlich bist du wach, sonst würdest du mir ja nicht antworten. Oder willst du etwa behaupten, du redest im Schlaf?«
»Ja, das will ich.« Klingenthal schob seinen Arm unter Alenas Taille und zog sie auf sich. Als sie über ihm lag, ihr Gesicht ganz nahe dem seinen, sagte er: »Ich habe gerade geträumt, wir wären verheiratet. Es war ein schöner Traum, also lass mich weiterschlafen.«
»Ach, Klingenthal.« In Alenas Augen trat Trauer. »Wenn das mit dem Heiraten so einfach wäre. Du bist Jude, und ich bin Katholikin, wie soll das gehen?«
»Das hast du mich schon oft gefragt, und immer habe ich dir dieselbe Antwort gegeben: Es wird sich fi nden.« Er küsste sie sanft auf die Nase. »Es muss sich fi nden. Denn nur als Ehepaar können wir während meines Studiums in Göttingen zusammenbleiben.«
»Du und dein Studium.« Alena drehte den Kopf zur Seite. »Ich habe ja nichts dagegen, dass du es noch einmal ver suchen willst, ein Doktor der Medizin zu werden, aber sind das nicht Luftschlösser, die du da baust?«
Klingenthal schüttelte ernst den Kopf. »Wir waren uns einig, dass wir heiraten wollen und ich danach studiere. Dafür habe ich in den letzten Monaten jeden Pfennig und jeden Guten Groschen beiseitegelegt. Du weißt, wie wichtig mir das Studium ist. Ich werde nicht jünger.«
»Du wirst der älteste Student sein, der jemals in Göttingen Vorlesungen hörte.«
»Nirgendwo steht geschrieben, dass man mit Ende vierzig nicht studieren darf.«
»Und ebenso steht nirgendwo geschrieben, dass man mit Ende vierzig noch studieren muss.«
»Doch, ich muss es. Du weißt, warum.«
Alena seufzte. Natürlich wusste sie es. Klingenthal hatte es ihr oft genug gesagt. Er stammte aus ehrbarer Familie, sein Vater, Abraham Klingenthal, war Pfandleiher in der Elbestadt Tangermünde gewesen und hatte mit Judith, seiner Frau, eine überaus harmonische Ehe geführt. Aus der Verbindung waren sieben Kinder hervorgegangen, von denen alle eine große Liebe zur Musik entwickelten. Einzig Klingenthal war aus der Art geschlagen. Er hatte sich von Kindesbeinen an der Medizin verschrieben. So war es nur folgerichtig gewesen, dass er als junger Mann an die Universität Göttingen ging, um eine Ausbildung als Arzt zu beginnen. Das Unglück wollte es, dass er dem Professor Hermannus Tatzel bei einer Tumor-Operation assistierte, die tödlich ausging. Dem berühmten Lehrer war das Skalpell ausgerutscht, der Patient verblutete, und Klingenthal wurde dafür verantwortlich gemacht. Es hatte ihm nichts genützt, dass er wieder und wieder seine Unschuld beteuerte, denn das Wort des Professors stand gegen das seine - das Wort eines hochgeachteten Ordinarius gegen das eines kleinen Branders, wie man die Studenten im zweiten Semester nannte. Klingenthal hatte die Universität verlassen müssen, verbittert bis ins Herz, und sich daraufhin in vielen Berufen versucht. Schließlich hatte er die Kunst des Bauchredens für sich entdeckt. Seitdem zog er mit seinen Puppen durch die Lande. Über ein Jahr lag es zurück, dass er Alena von seiner Absicht erzählt hatte, das Studium neu zu beginnen. Gewissermaßen aus einer späten Trotzreaktion, wie er sagte, aber auch, weil er der endlosen Tippelei auf den Chausseen überdrüssig war.
Klingenthal strich Alena über das vom Schlaf zerzauste Haar. »Wir schaffen es schon. Irgendwie schaffen wir es schon. Wir müssen nur daran glauben.«
»Ja, Klingenthal.« Alena klang nicht sehr überzeugt. Sie küsste ihn auf den Mund und spürte seine kratzenden Bartstoppeln. »Mir ist kalt.«
»Ich wärme dich.« Er umfing sie noch stärker und drückte seinen Unterleib gegen ihren.
Sie kicherte. »So stark musst du mich nun auch wieder nicht wärmen.«
»Oh, doch. Unser altes Armeezelt hält doch kaum den Frost ab.«
»Am besten, ich stehe jetzt auf. Das Feuer draußen hat bestimmt keine Glut mehr.«
»Das Feuer vielleicht nicht, aber ich.«
»Alles zu seiner Zeit, Julius Klingenthal!« Energisch löste sich Alena aus seiner Umarmung und erhob sich halb, denn das alte preußische Infanteriezelt maß kaum fünf Fuß in der Höhe. »Ich werde mich mal nach trockenem Geäst umsehen. Ob Glut oder nicht, Feuerung brauchen wir in jedem Fall.«
Er grinste und versuchte, nach ihr zu greifen, doch Alena war schneller. Sie öffnete den Zelteingang einen Spaltbreit und stieß einen Laut des Entzückens aus. »Oh, wie wunderschön! Die ganze Umgebung ist mit Rauhreif bedeckt! Es sieht aus, als hätte der liebe Gott Zucker über die Landschaft gestreut.«
»Scheint die Sonne?«, fragte Klingenthal, der weniger gefühlvoll veranlagt war.
»Sie ist eben aufgegangen! Kein Wölkchen steht am Himmel, ein herrlicher Tag.«
»Dann werden wir heute die vier oder fünf Meilen nach Göttingen leicht schaffen.« Klingenthal ließ sich zurücksinken. »Wenn du schon nach Brennholz Ausschau hältst, Liebste, dann sieh auch gleich nach meinen Puppen. Ich hoffe, sie hatten eine erholsame Nacht.«
Alena nickte und schlüpfte mit einer anmutigen Bewegung aus dem Zelt. Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick schweifen. Von dem Hügel, auf dem der alte Turm stand, hatte man eine herrliche Aussicht. »Wie wunderschön!«, rief sie abermals, wobei sich weiße Atemwölkchen vor ihrem Gesicht bildeten. Dann wandte sie sich dem Karren zu, einem stabilen, zweirädrigen Wagen, auf dem neben den Puppen auch Klingenthals und ihre Habe verstaut war. Ein Pferd gab es nicht. Klingenthal legte sich grundsätzlich selbst ins Geschirr und steuerte mit festen Schritten das nächste Ziel an - mochte es auch noch so weit entfernt sein. Diese Art der Fortbewegung hatte ihn gestählt. Anders als die meisten Männer seines Alters hatte er kein Gramm Fett am Körper, er verfügte über einen breiten Brustkorb, kräftige Oberarme und muskulöse Schenkel. Sein Gesicht hatte durch die vielen Jahre auf der Straße eine gesunde, immerwährende Bräune angenommen, die ihn jünger aussehen ließ, als er war.
Alena trat auf den Karren zu und schlug die Plane zurück. Ja, die Puppen waren vollzählig. Sie saßen da in ihrer typischen Haltung und in genau festgeschriebener Ordnung. Diese Ordnung war wichtig, wie Klingenthal wiederholt betont hatte, denn jede Puppe besaß nicht nur eine eigene Stimme, sondern auch einen eigenen Charakter, der sich nicht unbedingt mit dem der anderen vertrug.
Auf der Rückbank in der Mitte saß Friedrich der Große, eine Figur von ganz besonderem Reiz: knorrig, knurrig, krumm. Friedrich trug einen abgewetzten, mit Niesspuren übersäten Uniformrock, auf dem der Schwarze-Adler-Orden glänzte, dazu einen Dreispitz mit weißer Generalsfeder. Seine Froschaugen über der langen Nase blickten neugierig und grimmig zugleich, während sich seine gichtigen Hände um einen dünnen Spazierstock, ein sogenanntes spanisches Röhrchen, spannten.
Flankiert wurde der Alte Fritz, der eine scharfe Zunge führte und die Frauen verachtete, vom Schultheiß, der ein ausgleichendes Wesen besaß und zum Zeichen seiner Würde eine schwere goldene Amtskette trug, sowie von einem im Harnisch steckenden Söldner, der mit Friedrichs derber Sprache spielend mithalten konnte.
Das Burgfräulein, eine ältliche Jungfer mit blasiertem Blick, Spitzhut und einem zerknüllten Taschentuch in der Hand, war möglichst weit entfernt von Friedrich plaziert worden, nämlich ganz vorn links, wodurch sie mehr oder weniger außer Reichweite seiner Beleidigungen war. Der Rest der Puppenschar verteilte sich auf dem Wagen. Er bestand aus dem Schiffer, der ähnlich wie der Söldner kein Kind von Traurigkeit war und die Dinge gern beim Namen nannte, dem Landmann, der eine Forke in der Faust hielt und, ganz gegen seine Profession, gerne und lange schlief, und nicht zuletzt der Magd. Sie war ein liebes, blondes Ding, das einen Kittel aus verblasstem Blautuch anhatte und eine gestärkte weiße Haube trug.
Alena nahm die Plane vollends ab und faltete sie zusammen. Dann schreckte sie auf, denn Friedrich der Große blaffte sie von hinten an: »Hat Sie nichts Besseres zu tun? Accellerire Sie Ihre Arbeit, ich will Frühstück!«
Alena schaute zum Zelt. Wie sie vermutet hatte, zeigte sich in der Öffnung der grinsende Klingenthal. Sie wollte ihm etwas Passendes antworten, doch plötzlich erwachten auch die anderen Puppen zum Leben. Sie sprachen, scherzten, fluchten jede auf ihre Art, und wie immer war Klingenthal dabei nicht die geringste Lippenbewegung anzusehen. Er hatte ihr einmal erklärt, dass ein guter Bauchredner bei der Ausübung seiner Kunst keinen Gesichtsmuskel verziehen dürfe, ein sehr guter Bauchredner es darüber hinaus verstünde, die Worte zu lenken, als kämen sie aus einem ganz bestimmten Mund, ein Meisterbauchredner aber die Worte mit individueller Stimme lenke und forme, ebenso wie er in der Lage sei, sämtliche Geräusche dieser Welt zu imitieren.
»Jawoll, Frühstück!«, brüllte der Söldner. »Antreten zum Essenfassen! Was gibt's denn, Kameraden?«
Der Schiffer rief: »Qualle, Seetang, Heringsblut ...« - »Mon Dieu, wie ordinär«, unterbrach das Burgfräulein - »... füllen Seemannsmägen gut!« Der Schiffer lachte und setzte gleich noch einen drauf: »Auf, auf, ihr müden Leiber, die Pier steht voller nackter Weiber!«
Das Burgfräulein schnappte nach Luft. »Impertinent, impertinent.«
»Silentium, alte Dörrpflaume!«, schnauzte Friedrich.
»Aber, aber, Majestät.« Der Schultheiß versuchte, die Wogen zu glätten. »Höflichkeit ist die Tugend der Könige, und dem wollen wir doch Genüge tun. Ich für meinen Teil hätte gegen eine gute Bouillon mit eingeschnittenem Weißbrot nichts einzuwenden, dazu vielleicht einen Kaffee mit Kardamom.«
Die Magd pflichtete ihm bei: »O ja, Kaffee! Aber heiß müsste er sein, direkt aus einer Kanne mit Kohlebecken.«
»Papperlapapp!« Schon wieder meckerte Friedrich. »Ihr solltet froh sein, wenn ihr Gänsewein kriegt.
Den habe ich im Siebenjährigen Krieg auch immer getrunken.«
»Gänsewein, was für Gänsewein?« Der Landmann gähnte, er war gerade erst wach geworden.
»Gänsewein ist Wasser, du Döskopp.«
»Ach ja, richtig«, brummte der Landmann, »ach ja, richtig. «
Und während die Puppen all das sagten, lächelte Klingenthal scheinheilig, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Alena schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht lassen, Klingenthal, aber eines sage ich dir: Damit verblüffst du mich nicht mehr. Erteile deinen Puppen Sprechverbot, sonst kümmere ich mich nicht um das Feuer - und Frühstück gibt es dann schon gar nicht.«
»Verzeih mir, Liebste«, sagte Klingenthal mit seiner eigenen Stimme und tat zerknirscht.
»Und rasiere dich mal. Du hast dich seit drei Tagen nicht rasiert, siehst ja aus wie ein Kaktus.«
»Jawohl, Liebste.«
Alena wandte sich um und ging hangabwärts, passierte die Öffnung in der Mauer, die den Fuß der Bergkuppe stützte, und strebte dem nahen Wald zu. Es hatte vor ein paar Tagen in der Gegend kräftig gestürmt, weshalb sie hoffte, eine Menge herabgefallener Zweige zu fi nden. Der Wald war groß, aber jetzt im Winter wirkte er licht, denn die Bäume waren kahl, und das Laub lag in dichten Haufen auf dem Boden. Es ging sich gut auf dem federnden Waldboden, angenehmer als auf den vielen Chausseen, die das Land durchzogen. Über ein Jahr waren Klingenthal und sie unterwegs gewesen, seit sie am Heiligen Abend 1784 Potsdam verlassen mussten. Klingenthal war der Stadt verwiesen worden, weil er der Obrigkeit verschwiegen hatte, dass er Jude war. Alena rümpfte die Nase. Das angeblich so liberale Preußen war wie alle anderen Länder: voller Vorurteile. Immerhin hatte Klingenthal in den vergangenen Monaten mit seinen Darbietungen gut verdient, sehr gut sogar. Sie musste es wissen, denn nach jeder Stegreifvorstellung, die er gegeben hatte, war sie mit dem Hut herumgegangen und hatte beobachtet, wie so mancher Pfennig und so manches Vier-Groschen-Stück hineinfielen. Ein paarmal war es sogar vorgekommen, dass sich ein besonders spendabler Zuschauer von einem Mariengulden trennte. So hatte sich im Laufe der Zeit Taler für Taler angesammelt, und Klingenthal machte sich Hoffnung, dass seine Barschaft, die hauptsächlich aus landeseigener Cassen-Münze bestand, fürs Erste zum Studium reichen möge.
Alena hielt inne, denn vor ihr erstreckte sich ein besonders hoher Laubhaufen. Sie fragte sich, ob sie ihn besser umgehen solle, entschloss sich aber dann, die Richtung beizubehalten. Die Kuppe des Hügels lockte, dort lag viel heruntergefallenes, totes Geäst.
Sie ging weiter und merkte, dass sie mit jedem Schritt tiefer einsank. Es raschelte und knisterte, aber sie war sicher, es würde sich lohnen. Sie würde ein schönes Feuer entfachen und ein schönes Frühstück zubereiten, während Klin genthal schon das Zelt abbaute und die Sachen zusammenpackte. Sie würde ...
Und dann dachte Alena überhaupt nicht mehr daran, was sie alles machen würde, denn etwas wurde mit ihr gemacht: Irgendjemand packte sie an den Füßen und riss sie zu Boden. Es ging so schnell, dass ihr der Schreckensruf im Hals stecken blieb. Sie fiel der Länge nach hin, Laub wirbelte auf, und zwischen den herabfallenden Blättern erschien das Gesicht eines blonden Jünglings. Der Kerl musterte sie argwöhnisch. Dann aber, als er sah, dass von Alena keine Gefahr ausging, griente er über das ganze Gesicht. Mit heller Stimme rief er: »Gott zum Gruße, Gevatterin! Wohin des Wegs vor Tau und Tag?«
»W... woher kommst du denn so plötzlich?«, stotterte Alena.
»Ich lag gerade in Morpheus' Armen, schöne Unbekannte. « Der Jüngling richtete sich halb auf und klopfte sich das Blattwerk von der Jacke. »Ich nächtigte im Bett des Waldes, wenn du das besser verstehst.«
Alena fand langsam ihre Sicherheit wieder, denn auch sie spürte, dass von ihrem Gegenüber keine Bedrohung ausging. »Wie kommst du dazu, eine wehrlose Frau zu überfallen? «
»Wie kommst du dazu, einen wehrlosen Schläfer mit Füßen zu treten?«
Alena musste lachen. Der Blonde schien nicht auf den Mund gefallen zu sein. Sie streckte die Hand aus, damit er ihr aufhelfe, aber er machte keinerlei Anstalten dazu. Er grinste sie nur fortwährend an. Alenas Augen tadelten ihn. »Ein Kavalier scheinst du nicht gerade zu sein.«
»Vielleicht bin ich einer, der's gern wär, aber nicht sein kann.«
»Du sprichst in Rätseln.« Alena stand allein auf und schickte sich an weiterzugehen.
»Ich würd dir gern helfen, Gott ist mein Zeuge. Aber ich kann es nicht, Gott sei's geklagt.« Jetzt grinste der Jüngling nicht mehr. Immer noch sitzend, stützte er sich mit den Armen nach hinten ab und hob langsam seine ausgestreckten Beine. Alena sah, dass er keine Füße hatte. Sie schluckte und sah noch einmal hin. Dann keimte ein Gedanke in ihr auf. »Sag mir deinen Namen.«
»Wenn ich ihn dir nenn, wirst du nicht glauben, dass es ein Name ist.«
»Vielleicht doch.«
»Ich bin Listig.«
Für eine Weile sagte Alena nichts. Sie betrachtete den spargeldünnen Jüngling und musste an die Erzählungen von Klingenthal denken, der oftmals von zwei ungewöhnlichen Freunden berichtet hatte. Der eine hieß Listig - genau so, wie der Jüngling hier vorgab zu heißen - , der andere Pausback. Beide waren ein Gespann, das sich treffl ich ergänzte, denn Listig war ein heller Kopf, und Pausback war ein wenig schlicht. Er trug Listig stets auf seinen Schultern, und Listig schützte Pausback vor Betrügern, die ihn beim Verkauf seiner Balsame, Tinkturen und Pfl aster übers Ohr hauen wollten. Alena beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen, und sagte: »Mag sein, dass du listig bist, aber ich glaube nicht, dass du Listig heißt.«
»Dacht ich mir's doch. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Weil der Listig, von dem ich gehört habe, niemals allein daherkommt.«
»Was du nicht sagst.« Der blonde Jüngling zog die Brauen hoch. »Und wer sagt dir, dass ich allein bin?«
»Nun ... bist du etwa nicht der Einzige hier?«
© 2011 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Der untere Teil des Turms jedoch war völlig unversehrt. Er bestand aus gewaltigen behauenen Steinen, die Unverrückbarkeit, Wehrhaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Diese Eigenschaften mochten auch der Grund dafür sein, warum an seinem Fuß eine seltsame Reisegruppe übernachtet hatte. Sie bestand aus einem Bauchredner und seiner Gefährtin, dazu aus sieben lebensgroßen Puppen, die abseits auf einem Karren Platz gefunden hatten. Der Name des Bauchredners lautete Julius Klingenthal.
Klingenthal war kein junger Mann mehr, denn im Frühsommer sollte er seinen fünfzigsten Geburtstag begehen. Gleichwohl galt er als einer der besten Ventriloquisten seiner Zeit. Die Menschen in Stadt und Land nannten ihn »Puppenkönig«, was er als große Auszeichnung empfand.
Seine Gefährtin hieß Alena. Sie war eine ehemalige Novizin vom Kölner Karmel Maria vom Frieden, die sich ihr tägliches Brot als Klagefrau verdiente. Alena war bedeutend jünger als Klingenthal, erst fünfundzwanzig Jahre alt, was ihrer Liebe zu ihm aber nicht im Wege stand. Wer sie ansah, sah zunächst nur ihre Augen. Sie hatte außergewöhnliche Augen, die in der Lage waren, alle Gefühle und Gedanken, deren ein Mensch fähig ist, auszudrücken. Sie waren schwarz wie Ebenholz und konnten lachen und weinen, lieben und hassen, streiten und schlichten, anklagen und verzeihen, je nachdem, wie ihrer Besitzerin zumute war. Nase und Mund dagegen waren weniger außergewöhnlich, doch durchaus wohlgeraten: die Nase war fein und gerade, der Mund weich und geschwungen. Alenas Figur war filigran, sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper, hübsche runde Schultern und lange schwarze Haare, die sie aus praktischen Gründen zu einem Dutt verknotet hatte. Alles in allem wirkte sie sehr zerbrechlich - was sie in Wirklichkeit nicht war. »Klingenthal«, sagte sie, denn sie nannte ihren Geliebten meistens beim Nachnamen, »bist du schon wach?«
»Nein«, sagte Klingenthal.
Alena lachte leise und strich ihm über die Wange. »Natürlich bist du wach, sonst würdest du mir ja nicht antworten. Oder willst du etwa behaupten, du redest im Schlaf?«
»Ja, das will ich.« Klingenthal schob seinen Arm unter Alenas Taille und zog sie auf sich. Als sie über ihm lag, ihr Gesicht ganz nahe dem seinen, sagte er: »Ich habe gerade geträumt, wir wären verheiratet. Es war ein schöner Traum, also lass mich weiterschlafen.«
»Ach, Klingenthal.« In Alenas Augen trat Trauer. »Wenn das mit dem Heiraten so einfach wäre. Du bist Jude, und ich bin Katholikin, wie soll das gehen?«
»Das hast du mich schon oft gefragt, und immer habe ich dir dieselbe Antwort gegeben: Es wird sich fi nden.« Er küsste sie sanft auf die Nase. »Es muss sich fi nden. Denn nur als Ehepaar können wir während meines Studiums in Göttingen zusammenbleiben.«
»Du und dein Studium.« Alena drehte den Kopf zur Seite. »Ich habe ja nichts dagegen, dass du es noch einmal ver suchen willst, ein Doktor der Medizin zu werden, aber sind das nicht Luftschlösser, die du da baust?«
Klingenthal schüttelte ernst den Kopf. »Wir waren uns einig, dass wir heiraten wollen und ich danach studiere. Dafür habe ich in den letzten Monaten jeden Pfennig und jeden Guten Groschen beiseitegelegt. Du weißt, wie wichtig mir das Studium ist. Ich werde nicht jünger.«
»Du wirst der älteste Student sein, der jemals in Göttingen Vorlesungen hörte.«
»Nirgendwo steht geschrieben, dass man mit Ende vierzig nicht studieren darf.«
»Und ebenso steht nirgendwo geschrieben, dass man mit Ende vierzig noch studieren muss.«
»Doch, ich muss es. Du weißt, warum.«
Alena seufzte. Natürlich wusste sie es. Klingenthal hatte es ihr oft genug gesagt. Er stammte aus ehrbarer Familie, sein Vater, Abraham Klingenthal, war Pfandleiher in der Elbestadt Tangermünde gewesen und hatte mit Judith, seiner Frau, eine überaus harmonische Ehe geführt. Aus der Verbindung waren sieben Kinder hervorgegangen, von denen alle eine große Liebe zur Musik entwickelten. Einzig Klingenthal war aus der Art geschlagen. Er hatte sich von Kindesbeinen an der Medizin verschrieben. So war es nur folgerichtig gewesen, dass er als junger Mann an die Universität Göttingen ging, um eine Ausbildung als Arzt zu beginnen. Das Unglück wollte es, dass er dem Professor Hermannus Tatzel bei einer Tumor-Operation assistierte, die tödlich ausging. Dem berühmten Lehrer war das Skalpell ausgerutscht, der Patient verblutete, und Klingenthal wurde dafür verantwortlich gemacht. Es hatte ihm nichts genützt, dass er wieder und wieder seine Unschuld beteuerte, denn das Wort des Professors stand gegen das seine - das Wort eines hochgeachteten Ordinarius gegen das eines kleinen Branders, wie man die Studenten im zweiten Semester nannte. Klingenthal hatte die Universität verlassen müssen, verbittert bis ins Herz, und sich daraufhin in vielen Berufen versucht. Schließlich hatte er die Kunst des Bauchredens für sich entdeckt. Seitdem zog er mit seinen Puppen durch die Lande. Über ein Jahr lag es zurück, dass er Alena von seiner Absicht erzählt hatte, das Studium neu zu beginnen. Gewissermaßen aus einer späten Trotzreaktion, wie er sagte, aber auch, weil er der endlosen Tippelei auf den Chausseen überdrüssig war.
Klingenthal strich Alena über das vom Schlaf zerzauste Haar. »Wir schaffen es schon. Irgendwie schaffen wir es schon. Wir müssen nur daran glauben.«
»Ja, Klingenthal.« Alena klang nicht sehr überzeugt. Sie küsste ihn auf den Mund und spürte seine kratzenden Bartstoppeln. »Mir ist kalt.«
»Ich wärme dich.« Er umfing sie noch stärker und drückte seinen Unterleib gegen ihren.
Sie kicherte. »So stark musst du mich nun auch wieder nicht wärmen.«
»Oh, doch. Unser altes Armeezelt hält doch kaum den Frost ab.«
»Am besten, ich stehe jetzt auf. Das Feuer draußen hat bestimmt keine Glut mehr.«
»Das Feuer vielleicht nicht, aber ich.«
»Alles zu seiner Zeit, Julius Klingenthal!« Energisch löste sich Alena aus seiner Umarmung und erhob sich halb, denn das alte preußische Infanteriezelt maß kaum fünf Fuß in der Höhe. »Ich werde mich mal nach trockenem Geäst umsehen. Ob Glut oder nicht, Feuerung brauchen wir in jedem Fall.«
Er grinste und versuchte, nach ihr zu greifen, doch Alena war schneller. Sie öffnete den Zelteingang einen Spaltbreit und stieß einen Laut des Entzückens aus. »Oh, wie wunderschön! Die ganze Umgebung ist mit Rauhreif bedeckt! Es sieht aus, als hätte der liebe Gott Zucker über die Landschaft gestreut.«
»Scheint die Sonne?«, fragte Klingenthal, der weniger gefühlvoll veranlagt war.
»Sie ist eben aufgegangen! Kein Wölkchen steht am Himmel, ein herrlicher Tag.«
»Dann werden wir heute die vier oder fünf Meilen nach Göttingen leicht schaffen.« Klingenthal ließ sich zurücksinken. »Wenn du schon nach Brennholz Ausschau hältst, Liebste, dann sieh auch gleich nach meinen Puppen. Ich hoffe, sie hatten eine erholsame Nacht.«
Alena nickte und schlüpfte mit einer anmutigen Bewegung aus dem Zelt. Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick schweifen. Von dem Hügel, auf dem der alte Turm stand, hatte man eine herrliche Aussicht. »Wie wunderschön!«, rief sie abermals, wobei sich weiße Atemwölkchen vor ihrem Gesicht bildeten. Dann wandte sie sich dem Karren zu, einem stabilen, zweirädrigen Wagen, auf dem neben den Puppen auch Klingenthals und ihre Habe verstaut war. Ein Pferd gab es nicht. Klingenthal legte sich grundsätzlich selbst ins Geschirr und steuerte mit festen Schritten das nächste Ziel an - mochte es auch noch so weit entfernt sein. Diese Art der Fortbewegung hatte ihn gestählt. Anders als die meisten Männer seines Alters hatte er kein Gramm Fett am Körper, er verfügte über einen breiten Brustkorb, kräftige Oberarme und muskulöse Schenkel. Sein Gesicht hatte durch die vielen Jahre auf der Straße eine gesunde, immerwährende Bräune angenommen, die ihn jünger aussehen ließ, als er war.
Alena trat auf den Karren zu und schlug die Plane zurück. Ja, die Puppen waren vollzählig. Sie saßen da in ihrer typischen Haltung und in genau festgeschriebener Ordnung. Diese Ordnung war wichtig, wie Klingenthal wiederholt betont hatte, denn jede Puppe besaß nicht nur eine eigene Stimme, sondern auch einen eigenen Charakter, der sich nicht unbedingt mit dem der anderen vertrug.
Auf der Rückbank in der Mitte saß Friedrich der Große, eine Figur von ganz besonderem Reiz: knorrig, knurrig, krumm. Friedrich trug einen abgewetzten, mit Niesspuren übersäten Uniformrock, auf dem der Schwarze-Adler-Orden glänzte, dazu einen Dreispitz mit weißer Generalsfeder. Seine Froschaugen über der langen Nase blickten neugierig und grimmig zugleich, während sich seine gichtigen Hände um einen dünnen Spazierstock, ein sogenanntes spanisches Röhrchen, spannten.
Flankiert wurde der Alte Fritz, der eine scharfe Zunge führte und die Frauen verachtete, vom Schultheiß, der ein ausgleichendes Wesen besaß und zum Zeichen seiner Würde eine schwere goldene Amtskette trug, sowie von einem im Harnisch steckenden Söldner, der mit Friedrichs derber Sprache spielend mithalten konnte.
Das Burgfräulein, eine ältliche Jungfer mit blasiertem Blick, Spitzhut und einem zerknüllten Taschentuch in der Hand, war möglichst weit entfernt von Friedrich plaziert worden, nämlich ganz vorn links, wodurch sie mehr oder weniger außer Reichweite seiner Beleidigungen war. Der Rest der Puppenschar verteilte sich auf dem Wagen. Er bestand aus dem Schiffer, der ähnlich wie der Söldner kein Kind von Traurigkeit war und die Dinge gern beim Namen nannte, dem Landmann, der eine Forke in der Faust hielt und, ganz gegen seine Profession, gerne und lange schlief, und nicht zuletzt der Magd. Sie war ein liebes, blondes Ding, das einen Kittel aus verblasstem Blautuch anhatte und eine gestärkte weiße Haube trug.
Alena nahm die Plane vollends ab und faltete sie zusammen. Dann schreckte sie auf, denn Friedrich der Große blaffte sie von hinten an: »Hat Sie nichts Besseres zu tun? Accellerire Sie Ihre Arbeit, ich will Frühstück!«
Alena schaute zum Zelt. Wie sie vermutet hatte, zeigte sich in der Öffnung der grinsende Klingenthal. Sie wollte ihm etwas Passendes antworten, doch plötzlich erwachten auch die anderen Puppen zum Leben. Sie sprachen, scherzten, fluchten jede auf ihre Art, und wie immer war Klingenthal dabei nicht die geringste Lippenbewegung anzusehen. Er hatte ihr einmal erklärt, dass ein guter Bauchredner bei der Ausübung seiner Kunst keinen Gesichtsmuskel verziehen dürfe, ein sehr guter Bauchredner es darüber hinaus verstünde, die Worte zu lenken, als kämen sie aus einem ganz bestimmten Mund, ein Meisterbauchredner aber die Worte mit individueller Stimme lenke und forme, ebenso wie er in der Lage sei, sämtliche Geräusche dieser Welt zu imitieren.
»Jawoll, Frühstück!«, brüllte der Söldner. »Antreten zum Essenfassen! Was gibt's denn, Kameraden?«
Der Schiffer rief: »Qualle, Seetang, Heringsblut ...« - »Mon Dieu, wie ordinär«, unterbrach das Burgfräulein - »... füllen Seemannsmägen gut!« Der Schiffer lachte und setzte gleich noch einen drauf: »Auf, auf, ihr müden Leiber, die Pier steht voller nackter Weiber!«
Das Burgfräulein schnappte nach Luft. »Impertinent, impertinent.«
»Silentium, alte Dörrpflaume!«, schnauzte Friedrich.
»Aber, aber, Majestät.« Der Schultheiß versuchte, die Wogen zu glätten. »Höflichkeit ist die Tugend der Könige, und dem wollen wir doch Genüge tun. Ich für meinen Teil hätte gegen eine gute Bouillon mit eingeschnittenem Weißbrot nichts einzuwenden, dazu vielleicht einen Kaffee mit Kardamom.«
Die Magd pflichtete ihm bei: »O ja, Kaffee! Aber heiß müsste er sein, direkt aus einer Kanne mit Kohlebecken.«
»Papperlapapp!« Schon wieder meckerte Friedrich. »Ihr solltet froh sein, wenn ihr Gänsewein kriegt.
Den habe ich im Siebenjährigen Krieg auch immer getrunken.«
»Gänsewein, was für Gänsewein?« Der Landmann gähnte, er war gerade erst wach geworden.
»Gänsewein ist Wasser, du Döskopp.«
»Ach ja, richtig«, brummte der Landmann, »ach ja, richtig. «
Und während die Puppen all das sagten, lächelte Klingenthal scheinheilig, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Alena schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht lassen, Klingenthal, aber eines sage ich dir: Damit verblüffst du mich nicht mehr. Erteile deinen Puppen Sprechverbot, sonst kümmere ich mich nicht um das Feuer - und Frühstück gibt es dann schon gar nicht.«
»Verzeih mir, Liebste«, sagte Klingenthal mit seiner eigenen Stimme und tat zerknirscht.
»Und rasiere dich mal. Du hast dich seit drei Tagen nicht rasiert, siehst ja aus wie ein Kaktus.«
»Jawohl, Liebste.«
Alena wandte sich um und ging hangabwärts, passierte die Öffnung in der Mauer, die den Fuß der Bergkuppe stützte, und strebte dem nahen Wald zu. Es hatte vor ein paar Tagen in der Gegend kräftig gestürmt, weshalb sie hoffte, eine Menge herabgefallener Zweige zu fi nden. Der Wald war groß, aber jetzt im Winter wirkte er licht, denn die Bäume waren kahl, und das Laub lag in dichten Haufen auf dem Boden. Es ging sich gut auf dem federnden Waldboden, angenehmer als auf den vielen Chausseen, die das Land durchzogen. Über ein Jahr waren Klingenthal und sie unterwegs gewesen, seit sie am Heiligen Abend 1784 Potsdam verlassen mussten. Klingenthal war der Stadt verwiesen worden, weil er der Obrigkeit verschwiegen hatte, dass er Jude war. Alena rümpfte die Nase. Das angeblich so liberale Preußen war wie alle anderen Länder: voller Vorurteile. Immerhin hatte Klingenthal in den vergangenen Monaten mit seinen Darbietungen gut verdient, sehr gut sogar. Sie musste es wissen, denn nach jeder Stegreifvorstellung, die er gegeben hatte, war sie mit dem Hut herumgegangen und hatte beobachtet, wie so mancher Pfennig und so manches Vier-Groschen-Stück hineinfielen. Ein paarmal war es sogar vorgekommen, dass sich ein besonders spendabler Zuschauer von einem Mariengulden trennte. So hatte sich im Laufe der Zeit Taler für Taler angesammelt, und Klingenthal machte sich Hoffnung, dass seine Barschaft, die hauptsächlich aus landeseigener Cassen-Münze bestand, fürs Erste zum Studium reichen möge.
Alena hielt inne, denn vor ihr erstreckte sich ein besonders hoher Laubhaufen. Sie fragte sich, ob sie ihn besser umgehen solle, entschloss sich aber dann, die Richtung beizubehalten. Die Kuppe des Hügels lockte, dort lag viel heruntergefallenes, totes Geäst.
Sie ging weiter und merkte, dass sie mit jedem Schritt tiefer einsank. Es raschelte und knisterte, aber sie war sicher, es würde sich lohnen. Sie würde ein schönes Feuer entfachen und ein schönes Frühstück zubereiten, während Klin genthal schon das Zelt abbaute und die Sachen zusammenpackte. Sie würde ...
Und dann dachte Alena überhaupt nicht mehr daran, was sie alles machen würde, denn etwas wurde mit ihr gemacht: Irgendjemand packte sie an den Füßen und riss sie zu Boden. Es ging so schnell, dass ihr der Schreckensruf im Hals stecken blieb. Sie fiel der Länge nach hin, Laub wirbelte auf, und zwischen den herabfallenden Blättern erschien das Gesicht eines blonden Jünglings. Der Kerl musterte sie argwöhnisch. Dann aber, als er sah, dass von Alena keine Gefahr ausging, griente er über das ganze Gesicht. Mit heller Stimme rief er: »Gott zum Gruße, Gevatterin! Wohin des Wegs vor Tau und Tag?«
»W... woher kommst du denn so plötzlich?«, stotterte Alena.
»Ich lag gerade in Morpheus' Armen, schöne Unbekannte. « Der Jüngling richtete sich halb auf und klopfte sich das Blattwerk von der Jacke. »Ich nächtigte im Bett des Waldes, wenn du das besser verstehst.«
Alena fand langsam ihre Sicherheit wieder, denn auch sie spürte, dass von ihrem Gegenüber keine Bedrohung ausging. »Wie kommst du dazu, eine wehrlose Frau zu überfallen? «
»Wie kommst du dazu, einen wehrlosen Schläfer mit Füßen zu treten?«
Alena musste lachen. Der Blonde schien nicht auf den Mund gefallen zu sein. Sie streckte die Hand aus, damit er ihr aufhelfe, aber er machte keinerlei Anstalten dazu. Er grinste sie nur fortwährend an. Alenas Augen tadelten ihn. »Ein Kavalier scheinst du nicht gerade zu sein.«
»Vielleicht bin ich einer, der's gern wär, aber nicht sein kann.«
»Du sprichst in Rätseln.« Alena stand allein auf und schickte sich an weiterzugehen.
»Ich würd dir gern helfen, Gott ist mein Zeuge. Aber ich kann es nicht, Gott sei's geklagt.« Jetzt grinste der Jüngling nicht mehr. Immer noch sitzend, stützte er sich mit den Armen nach hinten ab und hob langsam seine ausgestreckten Beine. Alena sah, dass er keine Füße hatte. Sie schluckte und sah noch einmal hin. Dann keimte ein Gedanke in ihr auf. »Sag mir deinen Namen.«
»Wenn ich ihn dir nenn, wirst du nicht glauben, dass es ein Name ist.«
»Vielleicht doch.«
»Ich bin Listig.«
Für eine Weile sagte Alena nichts. Sie betrachtete den spargeldünnen Jüngling und musste an die Erzählungen von Klingenthal denken, der oftmals von zwei ungewöhnlichen Freunden berichtet hatte. Der eine hieß Listig - genau so, wie der Jüngling hier vorgab zu heißen - , der andere Pausback. Beide waren ein Gespann, das sich treffl ich ergänzte, denn Listig war ein heller Kopf, und Pausback war ein wenig schlicht. Er trug Listig stets auf seinen Schultern, und Listig schützte Pausback vor Betrügern, die ihn beim Verkauf seiner Balsame, Tinkturen und Pfl aster übers Ohr hauen wollten. Alena beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen, und sagte: »Mag sein, dass du listig bist, aber ich glaube nicht, dass du Listig heißt.«
»Dacht ich mir's doch. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Weil der Listig, von dem ich gehört habe, niemals allein daherkommt.«
»Was du nicht sagst.« Der blonde Jüngling zog die Brauen hoch. »Und wer sagt dir, dass ich allein bin?«
»Nun ... bist du etwa nicht der Einzige hier?«
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Autoren-Porträt von Wolf Serno
Wolf Serno arbeitete 30 Jahre als Texter und Creative Director in der Werbung. Er zählt zu seinen Hobbys "viel lesen, weit reisen, gut essen" und lebt mit seiner Frau und seinen Hunden in Hamburg und in Nordjütland/Dänemark.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolf Serno
- 2011, 489 Seiten, 4 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342619807X
- ISBN-13: 9783426198070
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