Das Mädchen im roten Mantel
Auf der Flucht vor den Nazis wird Romas roter Mantel zum Lebensretter, weil "die kleine Erdbeere" eine polnische Familie so rührt, dass sie sie versteckt. Jahre später sieht Roma im Film "Schindlers Liste" die Szene mit dem...
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Produktinformationen zu „Das Mädchen im roten Mantel “
Auf der Flucht vor den Nazis wird Romas roter Mantel zum Lebensretter, weil "die kleine Erdbeere" eine polnische Familie so rührt, dass sie sie versteckt. Jahre später sieht Roma im Film "Schindlers Liste" die Szene mit dem Mädchen im roten Mantel und erkennt sich.
Lese-Probe zu „Das Mädchen im roten Mantel “
Das Mädchen im roten Mantel von Roma Ligocka WIE EIN RIESIGES, WEISSES SCHIFF thront das Hotel Negresco über der Promenade des Anglais an der Cöte d'Azur in Nizza.
Bunt gekleidete Pagen, mit Federn auf den Hüten, laufen über rote Teppiche. Weiße Markisen flattern leicht im Morgenwind. Das Meer leuchtet in einem fast übernatürlichen Blau.
Ich gehe durch die riesige Empfangshalle mit dem glänzenden Marmorfußboden, vorbei an großen Blumenvasen, aus denen rote Rosen quellen, in den Frühstücksraum.
Er ist rund, ganz in Rosa- und Brauntönen gehalten, und wirkt wie ein altes Biedermeierkarussell. Weiße Pferde drehen sich zu leiser Drehorgelmusik, die sanfte Walzer spielt. Unzählige kleine Glühbirnen beleuchten die Szenerie. Die Gemälde an den Wänden zeigen liebliche Landschaften in warmen Pastelltönen. In der Mitte des Raumes steht eine lebensgroße Puppe im Biedermeierkostüm, sie hat lange, lockige Haare, ihr Mund bewegt sich. Sie lächelt, immer wieder.
Die Fenster sind mit schweren, roten Samtvorhängen umrahmt, die Jalousien halb heruntergelassen. Sonnenstrahlen malen goldene Streifen auf den Fußboden, auf die rosa Tische. Die Kellnerinnen sehen alle aus wie die große Puppe, sie tragen die gleichen rosa Biedermeierröcke mit darunter hervorschauender Spitzenhose, nur ihr Lächeln ist echt und ein wenig müde. Sie laufen eifrig hin und her.
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Es duftet nach Schokolade und Himbeeren, nach Kaffee und Parfüm.
Ich setze mich an einen der gedeckten 'fische.
Das runde Frühstücksbuffet in der Mitte sieht aus wie ein Kunstwerk und versetzt mich sofort in euphorisch gute Laune.
Früchte in allen Farben, Ananas, Himbeeren, Erdbeeren. Melonenscheiben in Rot, Gelb und Grün. Zartrosa schimmernder Schinken, kunstfertig zu Rosetten geformt. Hauchdünner Lachs, zu Sternen gefaltet. Winzige Wachteleierhälften mit Kaviarklecksen darauf. Petits Fours wie Schmuckstücke, die man sich am liebsten um den Hals legen würde. Kleine, glänzende Rosinenbrötchen. Frischer Orangensaft, der wie ein Wasserfall über Eiswürfelfelsen fließt. Konfitüren in allen Farben, flüssiger Honig, goldgelbe Butterkugeln ... Und dieser Duft von Himbeeren und Schokolade! Ich schließe die Augen und lasse die Sonnenstrahlen auf meinen Wimpern spielen, zu goldenem Staub zerfallen. Seltsam fremd und unbeschwert glücklich fühle ich mich an diesem Ort. Aber dass ich glücklich bin, gestehe ich mir nicht laut ein, denn ich bin eine abergläubische, alte Jüdin. Ich denke an den Strand, an die große, grüne Liege, die dort auf mich wartet, an die Cocktails, die der Kellner mir servieren wird, während die Sonne meine Haut wärmt und ich das Blau des Himmels und den Salzgeruch des Meeres in mich aufsauge, mich darin auflöse. Mittags esse ich einen Salade Nicoise zu einem Glas Prosecco. Und dann war da noch bei Sonia Rykiel diese wunderschöne Handtasche ... An den Tisch gegenüber setzt sich ein elegantes Ehepaar, ein kleines Mädchen im Schlepptau. Es bleibt stehen und betrachtet lange die Puppe, bevor es sich zu den Eltern setzt. Die Mutter hat ihm einen riesigen Becher mit Erdbeeren hingestellt. Aber das kleine Mädchen isst nichts, es steckt nur den Löffel ins Glas, rührt gedankenverloren darin herum und schaut die ganze Zeit der Puppe zu, die ihm mit ihren hölzernen Lippen immer wieder ihr hölzernes Lächeln schenkt.
Das kleine Mädchen hat dunkles, lockiges Haar und große, schwarze Augen, die von dunklen Schatten umrandet sind. Es ist vielleicht fünf Jahre alt und wirkt sehr zerbrechlich. Es achtet nicht auf mich.
Mir wird übel. Ich habe das Gefühl, dass ich mir selbst gegenübersitze, in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit. Ich schaue das kleine Mädchen an, das ich einmal war, das ich hätte sein können, und ich weiß, dass es alles hat, was ich nie hatte, aber hätte haben sollen. Eine glückliche, geborgene Kindheit, ein schönes Zuhause mit Garten, irgendwo, Erdbeeren, Schokolade und Spielzeug, Eltern, die es lieben und genügend Geld haben, um ihrer kleinen Tochter Reisen, Klavierstun
den und Geburtstagspartys zu finanzieren ...
Wie ein bunter Film zieht das Leben des kleinen Mädchens an mir vorbei, mein Leben, um das mich das Schicksal betrogen hat. Ich verspüre keinen Neid, nur diesen stechenden Schmerz, die alte, offene Wunde. Das kleine Mädchen hat das Recht, hier zu sein, in dieser heilen, prachtvollen Welt, und ich bin nur ein Gast auf der Durchreise. Ich habe Angst. Sieht denn keiner, dass ich armselig bin und mich nur verkleidet habe, dass ich nicht hierher gehöre? Gleich werden sie mich entdecken, mir die Kleider vom Leib reißen, mich hinausjagen in den Schnee. Ich zittere, so kalt ist mir plötzlich, klammere mich unauffällig an die weichen Polster meines Stuhls. Mir wird schwindelig, die kleinen Glühbirnen beginnen zu flackern, die Drehorgelmusik wird lauter, schneller und schneller, sie dreht sich mit mir, reißt mich in einen Strudel, in den Abgrund, in die Erinnerung, in das schwarze, dumpfe Loch. Zurück ins Ghetto.
IM GHETTO IST ES IMMER KALT, eiskalt, drinnen wie draußen. Drinnen gibt es nur den Küchenherd für alle und fast keine Kohle. Draußen liegt Schnee. Es gibt keinen Sommer im Ghetto, es gibt überhaupt keine Jahreszeiten und kein Sonnenlicht. Alles ist immer dunkel und grau. Das Ghetto hat vier große Tore. Durch diese Tore dürfen wir nicht gehen. Das ist streng verboten. Auf der Hauptstraße fährt eine Straßenbahn, die Nummer 3. In die Straßenbahn dürfen wir nicht steigen. Das ist auch streng verboten. Deswegen hält sie nicht bei uns im Ghetto. Sie fährt einfach durch. Die Leute, die darin sitzen, schauen stumm durch die von der Kälte beschlagenen Fenster und starren uns an. Einmal wirft ein Junge ein paar Brote aus dem Fenster, uns vor die Füße.
Wir stehen auf der Straße und frieren. Viele, viele Menschen. Überall sind viele Menschen. Die einen haben große Hunde, tragen Gewehre und passen auf. Sie schießen, auf wen sie wollen, vielleicht auch auf mich. Die anderen, das sind wir. Die Juden. Wir müssen warten, immer warten.
Die mit den Gewehren haben goldene Knöpfe und schwarze, glänzende Stiefel, die im Schnee knirschen, wenn sie marschieren. Aber das hört man meistens nicht, weil sie so brüllen. Sie brüllen, wir gehorchen. Wer nicht gehorcht, wird getötet. Das weiß ich genau, obwohl ich noch sehr klein bin. So klein, dass ich den Männern mit den glänzenden Stiefeln ungefähr bis ans Knie gehe. Wenn einer von ihnen neben mir steht und ich die schwarzen Stiefel an meiner Seite knirschen höre, die Hundeschnauze mit den scharfen Zähnen direkt neben meinem Kopf hechelt, fühle ich mich sogar noch kleiner als sonst. Ich versuche dann, mich unsichtbar zu machen. Manchmal gelingt es mir wirklich, dann löse ich mich auf und verschmelze mit dem eisigen Wind und dem Gebrüll und der kalten, dünnen Hand meiner Großmutter. Sie hält mich fest, aber ich bin gar nicht mehr da. Ich habe meinen Körper längst verlassen.
Großmutter ist immer da. Wenn das Warten vorbei ist, bringt sie mich zurück in die Küche, zieht mir meinen roten Mantel aus. Es ist ein wunderschöner Mantel aus rotem, weichem Wollstoff, mit Kapuze. Sie hat ihn mir selbst genäht. Großmutter wärmt mit ihren dünnen, kalten Händen meine Füße, die ich schon längst nicht mehr fühle. Sie setzt mich auf den Tisch und rührt in einem Topf auf dem Herd. Dann kommt sie mit einer Schale wieder, in der ein dampfender Brei mit kleinen Klumpen schwimmt. Sie will mich füttern. Ich wende den Kopf ab, der Brei ist widerlich, die Klumpen sind ekelhaft, ich will sie nicht essen, mir ist übel. Die anderen Leute schimpfen. Die dampfende Küche ist voller fremder, lauter Menschen, schwitzender, stinkender Leiber. Einer der Männer reißt der Großmutter die Schüssel aus der Hand, kippt die Suppe in einem Zug herunter. Meine Großmutter sagt nichts. Sie setzt sich wieder an die Nähmaschine und fängt an zu rattern. Ich bin froh, dass der Mann das eklige Zeug gegessen hat. Jetzt ist zum Glück nichts mehr übrig. Irgendwann kommt meine Mutter nach Hause, es ist schon dunkel draußen, ich liege in meinem kleinen Gitterbett, kann nicht schlafen, denn die fremden Menschen sind überall. Sie schnupfen, stöhnen, schimpfen, fluchen, schlürfen, schmatzen und weinen. Meine Mutter umarmt mich müde, ihre weichen braunen Haare duften nicht mehr nach Blumen wie sonst, sie riechen komisch und scharf. »Du riechst komisch«, sage ich. Meine Mutter lächelt, ich weiß, dass sie traurig ist. Sie ist immer traurig. »Das ist nur das Desinfektionsmittel«, sagt sie. »Was ist das?«, frage ich. Sie antwortet nicht. Stattdessen holt sie ihren Koffer unter dein Bett hervor, nimmt eine kleine Flasche heraus und öffnet sie vorsichtig. Sie lässt einen Tropfen daraus auf ihr Handgelenk fallen und verreibt ihn andächtig. Dann schließt sie die Flasche, versteckt sie wieder im Koffer und nimmt mich aus dem Bett. »Besser?«, fragt sie. Jetzt duftet sie wieder nach Blumen.
»Tosia«, sagt eine dunkle Stimme. »Ich bin wieder da.« Es ist mein Vater. Er kommt ins Zimmer, hebt mich hoch, gibt mir einen Kuss. Mein Vater hat schwarze Augen, wie ich. Er umarmt meine Mutter. »Du riechst gut«, sagt er. »Ich habe Kartoffeln mitgebracht.« Sie gehen in die Küche, zu den anderen Menschen. Ich höre ihre Stimmen, doch ich kann nur Wortfetzen verstehen, weil es immer so laut ist. Aber ich fühle, dass sie von mir sprechen. »Diese Augen!«, sagt meine Mutter. »Wenn sie nur blaue Augen hätte, so wie Irene!« »Und so dunkle Haare hat sie«, sagtt eine fremde Frauenstimme. »Das taugt nicht zum Überleben. Aber da kann man vielleicht was machen.« - »Gift?«, fragt meine Mutter, Entsetzen in der Stimme. »Kommt nicht in Frage!«, ruft mein Vater laut. Ein dumpfer Schlag lässt mich zusammenzucken, er hat wohl mit der Faust auf den Tisch geschlagen, das tut er manchmal, wenn er sehr wütend ist. Sicher ist er wütend auf mich, weil ich nicht so bin, wie ich sein sollte. Ich bin falsch. Draußen auf der Straße fallen Schüsse, ein Schrei gellt durch die Nacht. Das Gespräch in der Küche ist verstummt. Nach und nach beginnen sie wieder zu reden, und ich schlafe endlich ein.
Copyright © 2000 by Droemer Verlag, München
Ich setze mich an einen der gedeckten 'fische.
Das runde Frühstücksbuffet in der Mitte sieht aus wie ein Kunstwerk und versetzt mich sofort in euphorisch gute Laune.
Früchte in allen Farben, Ananas, Himbeeren, Erdbeeren. Melonenscheiben in Rot, Gelb und Grün. Zartrosa schimmernder Schinken, kunstfertig zu Rosetten geformt. Hauchdünner Lachs, zu Sternen gefaltet. Winzige Wachteleierhälften mit Kaviarklecksen darauf. Petits Fours wie Schmuckstücke, die man sich am liebsten um den Hals legen würde. Kleine, glänzende Rosinenbrötchen. Frischer Orangensaft, der wie ein Wasserfall über Eiswürfelfelsen fließt. Konfitüren in allen Farben, flüssiger Honig, goldgelbe Butterkugeln ... Und dieser Duft von Himbeeren und Schokolade! Ich schließe die Augen und lasse die Sonnenstrahlen auf meinen Wimpern spielen, zu goldenem Staub zerfallen. Seltsam fremd und unbeschwert glücklich fühle ich mich an diesem Ort. Aber dass ich glücklich bin, gestehe ich mir nicht laut ein, denn ich bin eine abergläubische, alte Jüdin. Ich denke an den Strand, an die große, grüne Liege, die dort auf mich wartet, an die Cocktails, die der Kellner mir servieren wird, während die Sonne meine Haut wärmt und ich das Blau des Himmels und den Salzgeruch des Meeres in mich aufsauge, mich darin auflöse. Mittags esse ich einen Salade Nicoise zu einem Glas Prosecco. Und dann war da noch bei Sonia Rykiel diese wunderschöne Handtasche ... An den Tisch gegenüber setzt sich ein elegantes Ehepaar, ein kleines Mädchen im Schlepptau. Es bleibt stehen und betrachtet lange die Puppe, bevor es sich zu den Eltern setzt. Die Mutter hat ihm einen riesigen Becher mit Erdbeeren hingestellt. Aber das kleine Mädchen isst nichts, es steckt nur den Löffel ins Glas, rührt gedankenverloren darin herum und schaut die ganze Zeit der Puppe zu, die ihm mit ihren hölzernen Lippen immer wieder ihr hölzernes Lächeln schenkt.
Das kleine Mädchen hat dunkles, lockiges Haar und große, schwarze Augen, die von dunklen Schatten umrandet sind. Es ist vielleicht fünf Jahre alt und wirkt sehr zerbrechlich. Es achtet nicht auf mich.
Mir wird übel. Ich habe das Gefühl, dass ich mir selbst gegenübersitze, in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit. Ich schaue das kleine Mädchen an, das ich einmal war, das ich hätte sein können, und ich weiß, dass es alles hat, was ich nie hatte, aber hätte haben sollen. Eine glückliche, geborgene Kindheit, ein schönes Zuhause mit Garten, irgendwo, Erdbeeren, Schokolade und Spielzeug, Eltern, die es lieben und genügend Geld haben, um ihrer kleinen Tochter Reisen, Klavierstun
den und Geburtstagspartys zu finanzieren ...
Wie ein bunter Film zieht das Leben des kleinen Mädchens an mir vorbei, mein Leben, um das mich das Schicksal betrogen hat. Ich verspüre keinen Neid, nur diesen stechenden Schmerz, die alte, offene Wunde. Das kleine Mädchen hat das Recht, hier zu sein, in dieser heilen, prachtvollen Welt, und ich bin nur ein Gast auf der Durchreise. Ich habe Angst. Sieht denn keiner, dass ich armselig bin und mich nur verkleidet habe, dass ich nicht hierher gehöre? Gleich werden sie mich entdecken, mir die Kleider vom Leib reißen, mich hinausjagen in den Schnee. Ich zittere, so kalt ist mir plötzlich, klammere mich unauffällig an die weichen Polster meines Stuhls. Mir wird schwindelig, die kleinen Glühbirnen beginnen zu flackern, die Drehorgelmusik wird lauter, schneller und schneller, sie dreht sich mit mir, reißt mich in einen Strudel, in den Abgrund, in die Erinnerung, in das schwarze, dumpfe Loch. Zurück ins Ghetto.
IM GHETTO IST ES IMMER KALT, eiskalt, drinnen wie draußen. Drinnen gibt es nur den Küchenherd für alle und fast keine Kohle. Draußen liegt Schnee. Es gibt keinen Sommer im Ghetto, es gibt überhaupt keine Jahreszeiten und kein Sonnenlicht. Alles ist immer dunkel und grau. Das Ghetto hat vier große Tore. Durch diese Tore dürfen wir nicht gehen. Das ist streng verboten. Auf der Hauptstraße fährt eine Straßenbahn, die Nummer 3. In die Straßenbahn dürfen wir nicht steigen. Das ist auch streng verboten. Deswegen hält sie nicht bei uns im Ghetto. Sie fährt einfach durch. Die Leute, die darin sitzen, schauen stumm durch die von der Kälte beschlagenen Fenster und starren uns an. Einmal wirft ein Junge ein paar Brote aus dem Fenster, uns vor die Füße.
Wir stehen auf der Straße und frieren. Viele, viele Menschen. Überall sind viele Menschen. Die einen haben große Hunde, tragen Gewehre und passen auf. Sie schießen, auf wen sie wollen, vielleicht auch auf mich. Die anderen, das sind wir. Die Juden. Wir müssen warten, immer warten.
Die mit den Gewehren haben goldene Knöpfe und schwarze, glänzende Stiefel, die im Schnee knirschen, wenn sie marschieren. Aber das hört man meistens nicht, weil sie so brüllen. Sie brüllen, wir gehorchen. Wer nicht gehorcht, wird getötet. Das weiß ich genau, obwohl ich noch sehr klein bin. So klein, dass ich den Männern mit den glänzenden Stiefeln ungefähr bis ans Knie gehe. Wenn einer von ihnen neben mir steht und ich die schwarzen Stiefel an meiner Seite knirschen höre, die Hundeschnauze mit den scharfen Zähnen direkt neben meinem Kopf hechelt, fühle ich mich sogar noch kleiner als sonst. Ich versuche dann, mich unsichtbar zu machen. Manchmal gelingt es mir wirklich, dann löse ich mich auf und verschmelze mit dem eisigen Wind und dem Gebrüll und der kalten, dünnen Hand meiner Großmutter. Sie hält mich fest, aber ich bin gar nicht mehr da. Ich habe meinen Körper längst verlassen.
Großmutter ist immer da. Wenn das Warten vorbei ist, bringt sie mich zurück in die Küche, zieht mir meinen roten Mantel aus. Es ist ein wunderschöner Mantel aus rotem, weichem Wollstoff, mit Kapuze. Sie hat ihn mir selbst genäht. Großmutter wärmt mit ihren dünnen, kalten Händen meine Füße, die ich schon längst nicht mehr fühle. Sie setzt mich auf den Tisch und rührt in einem Topf auf dem Herd. Dann kommt sie mit einer Schale wieder, in der ein dampfender Brei mit kleinen Klumpen schwimmt. Sie will mich füttern. Ich wende den Kopf ab, der Brei ist widerlich, die Klumpen sind ekelhaft, ich will sie nicht essen, mir ist übel. Die anderen Leute schimpfen. Die dampfende Küche ist voller fremder, lauter Menschen, schwitzender, stinkender Leiber. Einer der Männer reißt der Großmutter die Schüssel aus der Hand, kippt die Suppe in einem Zug herunter. Meine Großmutter sagt nichts. Sie setzt sich wieder an die Nähmaschine und fängt an zu rattern. Ich bin froh, dass der Mann das eklige Zeug gegessen hat. Jetzt ist zum Glück nichts mehr übrig. Irgendwann kommt meine Mutter nach Hause, es ist schon dunkel draußen, ich liege in meinem kleinen Gitterbett, kann nicht schlafen, denn die fremden Menschen sind überall. Sie schnupfen, stöhnen, schimpfen, fluchen, schlürfen, schmatzen und weinen. Meine Mutter umarmt mich müde, ihre weichen braunen Haare duften nicht mehr nach Blumen wie sonst, sie riechen komisch und scharf. »Du riechst komisch«, sage ich. Meine Mutter lächelt, ich weiß, dass sie traurig ist. Sie ist immer traurig. »Das ist nur das Desinfektionsmittel«, sagt sie. »Was ist das?«, frage ich. Sie antwortet nicht. Stattdessen holt sie ihren Koffer unter dein Bett hervor, nimmt eine kleine Flasche heraus und öffnet sie vorsichtig. Sie lässt einen Tropfen daraus auf ihr Handgelenk fallen und verreibt ihn andächtig. Dann schließt sie die Flasche, versteckt sie wieder im Koffer und nimmt mich aus dem Bett. »Besser?«, fragt sie. Jetzt duftet sie wieder nach Blumen.
»Tosia«, sagt eine dunkle Stimme. »Ich bin wieder da.« Es ist mein Vater. Er kommt ins Zimmer, hebt mich hoch, gibt mir einen Kuss. Mein Vater hat schwarze Augen, wie ich. Er umarmt meine Mutter. »Du riechst gut«, sagt er. »Ich habe Kartoffeln mitgebracht.« Sie gehen in die Küche, zu den anderen Menschen. Ich höre ihre Stimmen, doch ich kann nur Wortfetzen verstehen, weil es immer so laut ist. Aber ich fühle, dass sie von mir sprechen. »Diese Augen!«, sagt meine Mutter. »Wenn sie nur blaue Augen hätte, so wie Irene!« »Und so dunkle Haare hat sie«, sagtt eine fremde Frauenstimme. »Das taugt nicht zum Überleben. Aber da kann man vielleicht was machen.« - »Gift?«, fragt meine Mutter, Entsetzen in der Stimme. »Kommt nicht in Frage!«, ruft mein Vater laut. Ein dumpfer Schlag lässt mich zusammenzucken, er hat wohl mit der Faust auf den Tisch geschlagen, das tut er manchmal, wenn er sehr wütend ist. Sicher ist er wütend auf mich, weil ich nicht so bin, wie ich sein sollte. Ich bin falsch. Draußen auf der Straße fallen Schüsse, ein Schrei gellt durch die Nacht. Das Gespräch in der Küche ist verstummt. Nach und nach beginnen sie wieder zu reden, und ich schlafe endlich ein.
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Autoren-Porträt von Roma Ligocka
Roma Ligocka, 1938 in Krakau geboren, hat als Kostümbildnerin für Theater, Oper, Film und Fernsehen gearbeitet und viele Preise bekommen. 2000 erschien ihre Autobiografie "Das Mädchen im roten Mantel" Heute lebt Roma Ligocka als Malerin in München und Krakau.
Bibliographische Angaben
- Autor: Roma Ligocka
- 2005, 1, 463 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,4 x 21,8 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828978835
- ISBN-13: 9783828978836
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