Der freundliche Feind
Wehrmachtssoldaten im besetzten Europa
Wie erlebten Wehrmachtssoldaten ihre Zeit in Paris, Norwegen oder Holland? Was waren ihre täglichen Erfahrungen als Besatzer? Und was dachten Zeitzeugen in den besetzten Ländern über sie?
Berichte vom (kampffreien) Alltag der deutschen Soldaten.
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Produktinformationen zu „Der freundliche Feind “
Wie erlebten Wehrmachtssoldaten ihre Zeit in Paris, Norwegen oder Holland? Was waren ihre täglichen Erfahrungen als Besatzer? Und was dachten Zeitzeugen in den besetzten Ländern über sie?
Berichte vom (kampffreien) Alltag der deutschen Soldaten.
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Der freundliche Feind von Ebba D. DrolshagenDer andere Krieg
Ein Vorwort
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Nur sechs Nationen in Europa wurden nicht in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen, und trotzdem sind die Worte »Wehrmacht« und »Wehrmachtssoldat« in Deutschland eng, beinahe ausschließlich mit den besetzten Ostgebieten, der Ostfront und jenen Verbrechen der Wehrmacht verbunden, die Gegenstand der gleichnamigen Ausstellung waren. Aber während im Osten und Südosten Europas ein Vernichtungskrieg geführt wurde, handelte es sich im Westen und Norden um einen quasi konventionellen »Normalkrieg«. Nach dem Einmarsch der Deutschen fanden in diesen Ländern keine Kriegshandlungen mehr statt. 1
Dem Deutschen Reich lag viel daran, sich in Nord- und Westeuropa gewissermaßen als »korrekte Besatzungsmacht« zu präsentieren. Das hatte ebenso politische wie militärische Gründe, sicherte es doch die Disziplin der Truppe und sparte Ressourcen. Je weniger konkreten Anlass man der Bevölkerung zu Unzufriedenheit, Aufbegehren und Widerstand gab, umso weniger militärische Kräfte musste man für die Besatzung dieses Landes binden. 2 Den Wehrmachtssoldaten wurde unter Androhung strengster Strafen befohlen, sich der Zivilbevölkerung gegenüber »korrekt und höflich« zu verhalten. Man habe, sagte ein deutscher Zeitzeuge, »die Franzosen nicht wie Besiegte behandeln« dürfen, in Norwegen bestätigten nach dem Krieg selbst renommierte Historiker und ehemalige Widerstandskämpfer, dass sich die Wehrmacht im Land »als nahezu mustergültige Besatzungsarmee« aufgeführt habe und »die Norweger sich ohne Angst vor Übergriffen sicher auf den Straßen bewegen konnten«. 3
Aber was heißt in einer solchen Situation eigentlich »korrekt«? In Deutschland stehen derartige Äußerungen schnell im Verdacht, dem Mythos der sauberen Wehrmacht das Wort reden zu wollen, während sie doch wenig mehr sagen als dies: In Ländern wie Norwegen und Frankreich waren die Bürger nicht völlig entrechtet. Sie mussten nicht fürchten, auf der Straße willkürlich bedroht, schikaniert oder erschossen zu werden. Die Soldaten mussten ihre Einkäufe bezahlen und konnten nicht nach Belieben in Privathäuser eindringen.
Manche Zivilisten waren auch dort entrechtet, denn Menschen, die als »rassisch minderwertig« verfemt wurden sowie all jene, die das Besatzungsregime als widerständig einschätzte, wurden selbstredend nirgends und zu keinem Zeitpunkt »korrekt« behandelt. Zu den wenigen Konstanten in allen deutsch besetzten Ländern zählte die Verfolgung der Juden.
Verschiedene Nationen litten verschieden stark unter dem Krieg und der Okkupation, aber auch eine »milde« Besatzung brachte Leid und Entbehrungen. Es fielen hie und da Bomben, die Menschen hungerten, diese »Milde« der Besatzer konnte jederzeit und ohne (für die Zivilbevölkerung erkennbaren) Anlass in Brutalität umschlagen. Wegen dieser latenten, aber nicht immer sichtbaren Gewalt bezeichneten die Norweger die Politik des deutschen Besatzungsregimes als »Eisenfaust im Samthandschuh«.
Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzung veränderten das Leben der Zivilbevölkerung in diesen Ländern schlagartig und radikal. Sie musste mit den Regeln, Befehlen und Drohungen der neuen Machthaber, der Anwesenheit zahlloser (meist junger) fremder Männer und oft genug auch der Abwesenheit der eigenen Männer zurechtkommen, die zum Beispiel als Kriegsgefangene in Deutschland waren. Doch das Leben muss weitergehen, wie es ebenso banal wie zutreffend heißt. Daher begann die überwiegende Mehrheit der Zivilisten sofort, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und einen neuen Alltag zu konstruieren. Sie taten dies mit bemerkenswertem Erfindungsreichtum, aber auch mit ständiger Vorsicht sowie mit Misstrauen, um dem Besatzungsregime keinen Anlass zu geben, den Samthandschuh abzuwerfen und mit voller Wucht zuzuschlagen. Diese Wachsamkeit gehört zu den immensen Leistungen jener Abermillionen Europäer, die im Zweiten Weltkrieg unter anormalen Umständen eine neue Art von Normalität errichteten und lebten. Sie geschah so leise und unauffällig, dass sie von Historikern selten angemessen gewürdigt wird.
Die Deutschen richteten sich nach dem Einmarsch und der Kapitulation des jeweiligen Landes auf Dauer ein. Soldaten verhandelten mit Bauern, Fischern und Fabrikanten, die ihre Waren an die Wehrmacht verkaufen mussten, sie beaufsichtigten Einheimische, die auf den Baustellen und in den Kasernen der Deutschen arbeiteten. Sie gingen dienstlich wie privat dieselben Hauptstraßen auf und ab wie die Zivilisten, sie frequentierten dieselben Gasthäuser und Geschäfte. Dies schuf ein enges Neben- und Miteinander, dem weder Soldaten noch Zivilisten völlig entkommen konnten. Jede neue Situation zwang sie, einander bewusst wahrzunehmen. Sie konnten nicht umhin, füreinander ein Gesicht, einen Namen, oft genug auch eine Lebensgeschichte zu bekommen. Wenn Soldaten, was häufig der Fall war, in Privathäusern einquartiert wurden, mussten jene, die einander feind waren oder doch sein sollten, Wand an Wand leben und oft am selben Tisch essen (das allerdings selten, vielleicht sogar nie gleichzeitig und gemeinsam). Man wurde vertraut miteinander, entdeckte Gemeinsamkeiten, kurz: Man begann zu fraternisieren. »Man kann nicht fünf Jahre Seite an Seite leben und Feind bleiben«, sagte eine Frau von den Kanalinseln am Ende der fünfjährigen deutschen Besatzung. Und doch bleibt diese »andere Seite« des Zweiten Weltkriegs in den Geschichtsbüchern aller am Krieg beteiligten Nationen meist ausgeklammert.
Seit etwa fünfzehn Jahren frage ich Zeitzeugen nach ihren Erinnerungen an den Krieg im Allgemeinen und an solche Fraternisierungen im Besonderen. Ich habe ehemalige Soldaten in Deutschland aufgesucht, und vor allem in Norwegen mit Menschen gesprochen, die die Besatzungszeit erlebt haben. Solche Gespräche sind inzwischen kaum noch möglich, es bleiben private Briefe und Tagebücher aus jenen Jahren sowie Lebenserinnerungen, die einige Zeitzeugen lange nach dem Krieg für ihre Kinder und Enkelkinder niedergeschrieben haben.
Es hat mich zunächst erstaunt, wie selten die ausländischen Zivilisten von persönlichen Kontakten zu deutschen Soldaten berichteten. Sie sprachen vor allem von der Bewältigung des Alltags, der Ablehnung des deutschen Besatzungsregimes, kleinen Widerstandshandlungen. Diese Schwerpunkte passten lückenlos zu der jeweiligen nationalen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Alle befreiten Nationen versuchten ab 1945, sich von den deutschen Besatzern zu distanzieren und sich dabei ungebrochen als »Nation im Widerstand« darzustellen. Sie machten sich die eigene Kriegsvergangenheit mit einer offiziellen » Geschichtspolitik« passend, um ihre zwischen Kollaboration und Widerstand zerrissenen Gesellschaften zu einen. 4 Da standen freundliche Worte über Feindsoldaten nicht hoch im Kurs.
So stellte sich bei diesen Gesprächen oft erst auf konkrete Nachfrage heraus, dass es durchaus Kontakte gegeben hatte. Sie reichten von zufälligen und unvermeidlichen Begegnungen über gelegentliche freundliche Gespräche allgemeiner Natur und Schwarzmarktgeschäfte bis zu Freundschaften, die Familien mit einem oder mehreren Deutschen schlossen. Von den Nazis habe man sich ferngehalten, hörte ich immer wieder, aber die meisten Soldaten seien freundlich und »anständig« gewesen. Als »anständig« galt, wer sich der Wehrpflicht nicht hatte entziehen können und das Nazi-Regime nicht offen unterstützte. Der Satz, dass jeder Wehrmachtssoldat ein Mörder gewesen sei, fiel übrigens nie. Die europäischen Zeitzeugen waren im Gegenteil übereinstimmend der Ansicht, die allermeisten Soldaten seien »im Grunde ganz nette Kerle« gewesen.
In dem erzwungenen Miteinander war Pragmatismus wichtiger als Heldentum, es gab stillschweigende Verhaltensregeln, wie und wo Kontakte zu den Soldaten erlaubt und möglich waren und wie weit man dabei gehen durfte, ohne in den Verdacht der Kollaboration zu geraten. Soldaten und Zivilisten waren in vielfacher Weise aufeinander angewiesen, manchmal ging es ums Überleben, meist nur um Erleichterungen im Alltag. Die große Politik war oft weit weg; wichtig war, was hier und jetzt passierte. Schließlich hoffte jeder, mit seiner Familie heil durch den Krieg zu kommen.
Die Zeitzeugen zeichneten »ein Bild von den deutschen Soldaten, das nicht demjenigen entspricht, das die Wissenschaft rekonstruiert hat und das auch im kollektiven Gedächtnis überall in Europa verankert ist«. So fasst die finnische¬ Historikerin Marianne Junila die Ergebnisse ihrer eigenen Forschungsarbeit über das Zusammenleben von Finnen und Deutschen in Nordfinnland zusammen. Dieses Bild bestreitet weder die von der Wehrmacht begangenen Verbrechen noch bedeutet es, dass »der sogenannte Einmarsch der deutschen ›Wehrmacht‹ in andere europäische Länder dort von großen Teilen der Bevölkerung nicht nur nicht abgelehnt, sondern jubelnd begrüßt worden« wäre. 5 Es steht außer Frage: Das Besatzungsregime war bei den Völkern Europas nicht willkommen. Als die Deutschen kamen, waren sie verhasst, als sie Jahre später gehen mussten, kannte der Jubel keine Grenzen.
Auch die Erinnerungen der ehemaligen Wehrmachtssoldaten an ihren Dienst in den sogenannten »friedlich besetzten« Ländern kreisen vor allem um ihren eigenen Alltag. Es geht um Militärisches, das Verhältnis zu Kameraden und Vorgesetzten, um Unterkünfte, Verpflegung, Versetzungen, Beförderungen, das Warten auf den nächsten Heimaturlaub. Auffallend selten werden Widerstandshandlungen seitens der Zivilbevölkerung erwähnt; Berichte über Repressalien gegen die Zivilbevölkerung oder Übergriffe durch die Wehrmacht oder die SS fehlen völlig, obwohl es die auch in diesen Ländern gab.
Die »guten Beziehungen zu den Einheimischen« hingegen nehmen in den erzählten und geschriebenen Erinnerungen einen prominenten Platz ein, oft sind es die einzigen Soldatengeschichten, die die deutschen Väter ihren Kindern erzählt haben. Auch die Feldpostbriefe und Kriegsfotoalben, die in vielen Familien bis heute aufbewahrt werden, vermitteln einiges von dieser Begeisterung für Land und Leute.
Der Harmlosigkeit dieser Quellen widersprechen die Forschungsergebnisse über die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Das hat mehrere Gründe. Zum einen war der Besatzungsalltag in Nord- und Westeuropa für die Wehrmachtssoldaten tatsächlich selten kriegerisch, und selbstverständlich empfanden sie ihn als weitaus weniger belastend als die Zivilisten. Zum Zweiten haben sich die deutschen Historiker kaum dafür interessiert, was die Wehrmachtssoldaten in diesen »friedlich besetzten« Ländern eigentlich getan haben und wie das Leben der Bevölkerung in den vier beziehungsweise fünf Jahren deutscher Besatzung aussah. Und schließlich kannte die öffentliche Debatte, die in Deutschland über Wehrmacht und Wehrmachtssoldaten geführt wurde, lange Zeit nur ein Entweder-oder: Entweder gab es eine saubere Wehrmacht, und alle Soldaten waren grundanständige Kerle, oder die Wehrmacht war eine Verbrecherorganisation, dann waren alle Soldaten zumindest potenzielle Mörder. War dieser Gedanke, auf den eigenen Vater angewandt, fünfzig Jahre lang fast undenkbar, konnte 1995 mit der Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht keiner mehr darauf beharren, »nur ein einfacher Landser« gewesen und daher zwingend frei von Schuld zu sein. Die objektive Wahrheit - die Beteiligung der Wehrmachtssoldaten am Vernichtungskrieg - und die subjektive Wahrheit - was der Vater erzählt und welches Bild seine Kinder von ihm als Soldat und Mensch haben - kommen nicht zur Deckung.
Dieses Entweder-oder, wonach ein Wehrmachtssoldat entweder »Teilnehmer an Kriegsverbrechen« oder »freundlicher Landser« gewesen sein musste, verkennt die Realitäten des Zweiten Weltkriegs. Beides trifft zu. Es handelt sich nicht um unvereinbare Gegensätze, sondern um zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit. Ob ein Soldat zwischen 1939 und 1945 das eine oder das andere, vielleicht sogar erst das eine und dann das andere war, hing ausschließlich davon ab, wann er wo stationiert war. Der Zweite Weltkrieg war in jedem Land, ja sogar in jeder Region und jeder Stadt etwas anders, man kann fast von vielen verschiedenen Zweiten Weltkriegen sprechen. 6 Überall entstanden aber auch Besatzungsgesellschaften, die - ungeachtet aller sonstigen Unterschiede - eine Reihe erstaunlicher Ähnlichkeiten aufwiesen.
Ich werde mich in diesem Buch auf den Besatzungsalltag in zwei sehr verschiedenen Nationen beschränken, die im Abstand von wenigen Wochen von den Deutschen okkupiert wurden: Norwegen und Frankreich. Norwegen hatte sich 1940 als neutral erklärt, es hatte, anders als Frankreich, nahezu keine Erfahrung mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Viele Norweger waren ausgesprochen deutschfreundlich, Deutschland war neben England die kulturelle Leitnation und traditionell ein begehrter Aufenthaltsort für Künstler, Wissenschaftler und Studenten. Es gab also weder eine »Erbfeindschaft« zwischen den beiden Staaten, noch verachtete man die Deutschen als »Barbaren«, wie das offenbar in Frankreich der Fall war. Und doch gibt es verblüffend viele Parallelen zwischen den Erzählungen von Franzosen und Norwegern einerseits und denen der Soldaten, die in einem der beiden Länder stationiert gewesen waren, andererseits.
1968 drehte der Filmemacher Marcel Ophüls eine vierstündige Dokumentation über den Kriegsalltag in der französischen Provinz. Sie verursachte einen Skandal, denn die Geschichten vom Krieg, die Ophüls gefunden hatte, waren weder klar noch einfach, und sie passten nicht zum französischen Nachkriegsmythos der tapferen Nation im Widerstand. Auch die Geschichten, die ich selbst vom Krieg gehört und gelesen habe, wirken, wenn überhaupt, nur im ersten Moment einfach. Bei genauerem Hinsehen sind sie voller Ambivalenzen, ringen um eine Definition, wer Held, wer Feigling, wer Patriot und wer Verräter ist. Wie Ophüls seinen Film damit begründete, dass ihn nicht die SchwarzWeiß-Geschichten, sondern das unerbittliche Grau jener Zeit interessiert hätten, interessiert auch mich jenes weite Feld zwischen Kollaboration und Widerstand, zwischen Schwarz und Weiß, das Besatzer und Besetzte Tag für Tag miteinander gestalten mussten. Geschichte, schrieb Carlo Levi, ist das Muster, das man hinterher in das Chaos webt.
Ebba D. Drolshagen
Frankfurt am Main, im Dezember 2008
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Nur sechs Nationen in Europa wurden nicht in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen, und trotzdem sind die Worte »Wehrmacht« und »Wehrmachtssoldat« in Deutschland eng, beinahe ausschließlich mit den besetzten Ostgebieten, der Ostfront und jenen Verbrechen der Wehrmacht verbunden, die Gegenstand der gleichnamigen Ausstellung waren. Aber während im Osten und Südosten Europas ein Vernichtungskrieg geführt wurde, handelte es sich im Westen und Norden um einen quasi konventionellen »Normalkrieg«. Nach dem Einmarsch der Deutschen fanden in diesen Ländern keine Kriegshandlungen mehr statt. 1
Dem Deutschen Reich lag viel daran, sich in Nord- und Westeuropa gewissermaßen als »korrekte Besatzungsmacht« zu präsentieren. Das hatte ebenso politische wie militärische Gründe, sicherte es doch die Disziplin der Truppe und sparte Ressourcen. Je weniger konkreten Anlass man der Bevölkerung zu Unzufriedenheit, Aufbegehren und Widerstand gab, umso weniger militärische Kräfte musste man für die Besatzung dieses Landes binden. 2 Den Wehrmachtssoldaten wurde unter Androhung strengster Strafen befohlen, sich der Zivilbevölkerung gegenüber »korrekt und höflich« zu verhalten. Man habe, sagte ein deutscher Zeitzeuge, »die Franzosen nicht wie Besiegte behandeln« dürfen, in Norwegen bestätigten nach dem Krieg selbst renommierte Historiker und ehemalige Widerstandskämpfer, dass sich die Wehrmacht im Land »als nahezu mustergültige Besatzungsarmee« aufgeführt habe und »die Norweger sich ohne Angst vor Übergriffen sicher auf den Straßen bewegen konnten«. 3
Aber was heißt in einer solchen Situation eigentlich »korrekt«? In Deutschland stehen derartige Äußerungen schnell im Verdacht, dem Mythos der sauberen Wehrmacht das Wort reden zu wollen, während sie doch wenig mehr sagen als dies: In Ländern wie Norwegen und Frankreich waren die Bürger nicht völlig entrechtet. Sie mussten nicht fürchten, auf der Straße willkürlich bedroht, schikaniert oder erschossen zu werden. Die Soldaten mussten ihre Einkäufe bezahlen und konnten nicht nach Belieben in Privathäuser eindringen.
Manche Zivilisten waren auch dort entrechtet, denn Menschen, die als »rassisch minderwertig« verfemt wurden sowie all jene, die das Besatzungsregime als widerständig einschätzte, wurden selbstredend nirgends und zu keinem Zeitpunkt »korrekt« behandelt. Zu den wenigen Konstanten in allen deutsch besetzten Ländern zählte die Verfolgung der Juden.
Verschiedene Nationen litten verschieden stark unter dem Krieg und der Okkupation, aber auch eine »milde« Besatzung brachte Leid und Entbehrungen. Es fielen hie und da Bomben, die Menschen hungerten, diese »Milde« der Besatzer konnte jederzeit und ohne (für die Zivilbevölkerung erkennbaren) Anlass in Brutalität umschlagen. Wegen dieser latenten, aber nicht immer sichtbaren Gewalt bezeichneten die Norweger die Politik des deutschen Besatzungsregimes als »Eisenfaust im Samthandschuh«.
Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzung veränderten das Leben der Zivilbevölkerung in diesen Ländern schlagartig und radikal. Sie musste mit den Regeln, Befehlen und Drohungen der neuen Machthaber, der Anwesenheit zahlloser (meist junger) fremder Männer und oft genug auch der Abwesenheit der eigenen Männer zurechtkommen, die zum Beispiel als Kriegsgefangene in Deutschland waren. Doch das Leben muss weitergehen, wie es ebenso banal wie zutreffend heißt. Daher begann die überwiegende Mehrheit der Zivilisten sofort, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und einen neuen Alltag zu konstruieren. Sie taten dies mit bemerkenswertem Erfindungsreichtum, aber auch mit ständiger Vorsicht sowie mit Misstrauen, um dem Besatzungsregime keinen Anlass zu geben, den Samthandschuh abzuwerfen und mit voller Wucht zuzuschlagen. Diese Wachsamkeit gehört zu den immensen Leistungen jener Abermillionen Europäer, die im Zweiten Weltkrieg unter anormalen Umständen eine neue Art von Normalität errichteten und lebten. Sie geschah so leise und unauffällig, dass sie von Historikern selten angemessen gewürdigt wird.
Die Deutschen richteten sich nach dem Einmarsch und der Kapitulation des jeweiligen Landes auf Dauer ein. Soldaten verhandelten mit Bauern, Fischern und Fabrikanten, die ihre Waren an die Wehrmacht verkaufen mussten, sie beaufsichtigten Einheimische, die auf den Baustellen und in den Kasernen der Deutschen arbeiteten. Sie gingen dienstlich wie privat dieselben Hauptstraßen auf und ab wie die Zivilisten, sie frequentierten dieselben Gasthäuser und Geschäfte. Dies schuf ein enges Neben- und Miteinander, dem weder Soldaten noch Zivilisten völlig entkommen konnten. Jede neue Situation zwang sie, einander bewusst wahrzunehmen. Sie konnten nicht umhin, füreinander ein Gesicht, einen Namen, oft genug auch eine Lebensgeschichte zu bekommen. Wenn Soldaten, was häufig der Fall war, in Privathäusern einquartiert wurden, mussten jene, die einander feind waren oder doch sein sollten, Wand an Wand leben und oft am selben Tisch essen (das allerdings selten, vielleicht sogar nie gleichzeitig und gemeinsam). Man wurde vertraut miteinander, entdeckte Gemeinsamkeiten, kurz: Man begann zu fraternisieren. »Man kann nicht fünf Jahre Seite an Seite leben und Feind bleiben«, sagte eine Frau von den Kanalinseln am Ende der fünfjährigen deutschen Besatzung. Und doch bleibt diese »andere Seite« des Zweiten Weltkriegs in den Geschichtsbüchern aller am Krieg beteiligten Nationen meist ausgeklammert.
Seit etwa fünfzehn Jahren frage ich Zeitzeugen nach ihren Erinnerungen an den Krieg im Allgemeinen und an solche Fraternisierungen im Besonderen. Ich habe ehemalige Soldaten in Deutschland aufgesucht, und vor allem in Norwegen mit Menschen gesprochen, die die Besatzungszeit erlebt haben. Solche Gespräche sind inzwischen kaum noch möglich, es bleiben private Briefe und Tagebücher aus jenen Jahren sowie Lebenserinnerungen, die einige Zeitzeugen lange nach dem Krieg für ihre Kinder und Enkelkinder niedergeschrieben haben.
Es hat mich zunächst erstaunt, wie selten die ausländischen Zivilisten von persönlichen Kontakten zu deutschen Soldaten berichteten. Sie sprachen vor allem von der Bewältigung des Alltags, der Ablehnung des deutschen Besatzungsregimes, kleinen Widerstandshandlungen. Diese Schwerpunkte passten lückenlos zu der jeweiligen nationalen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Alle befreiten Nationen versuchten ab 1945, sich von den deutschen Besatzern zu distanzieren und sich dabei ungebrochen als »Nation im Widerstand« darzustellen. Sie machten sich die eigene Kriegsvergangenheit mit einer offiziellen » Geschichtspolitik« passend, um ihre zwischen Kollaboration und Widerstand zerrissenen Gesellschaften zu einen. 4 Da standen freundliche Worte über Feindsoldaten nicht hoch im Kurs.
So stellte sich bei diesen Gesprächen oft erst auf konkrete Nachfrage heraus, dass es durchaus Kontakte gegeben hatte. Sie reichten von zufälligen und unvermeidlichen Begegnungen über gelegentliche freundliche Gespräche allgemeiner Natur und Schwarzmarktgeschäfte bis zu Freundschaften, die Familien mit einem oder mehreren Deutschen schlossen. Von den Nazis habe man sich ferngehalten, hörte ich immer wieder, aber die meisten Soldaten seien freundlich und »anständig« gewesen. Als »anständig« galt, wer sich der Wehrpflicht nicht hatte entziehen können und das Nazi-Regime nicht offen unterstützte. Der Satz, dass jeder Wehrmachtssoldat ein Mörder gewesen sei, fiel übrigens nie. Die europäischen Zeitzeugen waren im Gegenteil übereinstimmend der Ansicht, die allermeisten Soldaten seien »im Grunde ganz nette Kerle« gewesen.
In dem erzwungenen Miteinander war Pragmatismus wichtiger als Heldentum, es gab stillschweigende Verhaltensregeln, wie und wo Kontakte zu den Soldaten erlaubt und möglich waren und wie weit man dabei gehen durfte, ohne in den Verdacht der Kollaboration zu geraten. Soldaten und Zivilisten waren in vielfacher Weise aufeinander angewiesen, manchmal ging es ums Überleben, meist nur um Erleichterungen im Alltag. Die große Politik war oft weit weg; wichtig war, was hier und jetzt passierte. Schließlich hoffte jeder, mit seiner Familie heil durch den Krieg zu kommen.
Die Zeitzeugen zeichneten »ein Bild von den deutschen Soldaten, das nicht demjenigen entspricht, das die Wissenschaft rekonstruiert hat und das auch im kollektiven Gedächtnis überall in Europa verankert ist«. So fasst die finnische¬ Historikerin Marianne Junila die Ergebnisse ihrer eigenen Forschungsarbeit über das Zusammenleben von Finnen und Deutschen in Nordfinnland zusammen. Dieses Bild bestreitet weder die von der Wehrmacht begangenen Verbrechen noch bedeutet es, dass »der sogenannte Einmarsch der deutschen ›Wehrmacht‹ in andere europäische Länder dort von großen Teilen der Bevölkerung nicht nur nicht abgelehnt, sondern jubelnd begrüßt worden« wäre. 5 Es steht außer Frage: Das Besatzungsregime war bei den Völkern Europas nicht willkommen. Als die Deutschen kamen, waren sie verhasst, als sie Jahre später gehen mussten, kannte der Jubel keine Grenzen.
Auch die Erinnerungen der ehemaligen Wehrmachtssoldaten an ihren Dienst in den sogenannten »friedlich besetzten« Ländern kreisen vor allem um ihren eigenen Alltag. Es geht um Militärisches, das Verhältnis zu Kameraden und Vorgesetzten, um Unterkünfte, Verpflegung, Versetzungen, Beförderungen, das Warten auf den nächsten Heimaturlaub. Auffallend selten werden Widerstandshandlungen seitens der Zivilbevölkerung erwähnt; Berichte über Repressalien gegen die Zivilbevölkerung oder Übergriffe durch die Wehrmacht oder die SS fehlen völlig, obwohl es die auch in diesen Ländern gab.
Die »guten Beziehungen zu den Einheimischen« hingegen nehmen in den erzählten und geschriebenen Erinnerungen einen prominenten Platz ein, oft sind es die einzigen Soldatengeschichten, die die deutschen Väter ihren Kindern erzählt haben. Auch die Feldpostbriefe und Kriegsfotoalben, die in vielen Familien bis heute aufbewahrt werden, vermitteln einiges von dieser Begeisterung für Land und Leute.
Der Harmlosigkeit dieser Quellen widersprechen die Forschungsergebnisse über die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Das hat mehrere Gründe. Zum einen war der Besatzungsalltag in Nord- und Westeuropa für die Wehrmachtssoldaten tatsächlich selten kriegerisch, und selbstverständlich empfanden sie ihn als weitaus weniger belastend als die Zivilisten. Zum Zweiten haben sich die deutschen Historiker kaum dafür interessiert, was die Wehrmachtssoldaten in diesen »friedlich besetzten« Ländern eigentlich getan haben und wie das Leben der Bevölkerung in den vier beziehungsweise fünf Jahren deutscher Besatzung aussah. Und schließlich kannte die öffentliche Debatte, die in Deutschland über Wehrmacht und Wehrmachtssoldaten geführt wurde, lange Zeit nur ein Entweder-oder: Entweder gab es eine saubere Wehrmacht, und alle Soldaten waren grundanständige Kerle, oder die Wehrmacht war eine Verbrecherorganisation, dann waren alle Soldaten zumindest potenzielle Mörder. War dieser Gedanke, auf den eigenen Vater angewandt, fünfzig Jahre lang fast undenkbar, konnte 1995 mit der Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht keiner mehr darauf beharren, »nur ein einfacher Landser« gewesen und daher zwingend frei von Schuld zu sein. Die objektive Wahrheit - die Beteiligung der Wehrmachtssoldaten am Vernichtungskrieg - und die subjektive Wahrheit - was der Vater erzählt und welches Bild seine Kinder von ihm als Soldat und Mensch haben - kommen nicht zur Deckung.
Dieses Entweder-oder, wonach ein Wehrmachtssoldat entweder »Teilnehmer an Kriegsverbrechen« oder »freundlicher Landser« gewesen sein musste, verkennt die Realitäten des Zweiten Weltkriegs. Beides trifft zu. Es handelt sich nicht um unvereinbare Gegensätze, sondern um zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit. Ob ein Soldat zwischen 1939 und 1945 das eine oder das andere, vielleicht sogar erst das eine und dann das andere war, hing ausschließlich davon ab, wann er wo stationiert war. Der Zweite Weltkrieg war in jedem Land, ja sogar in jeder Region und jeder Stadt etwas anders, man kann fast von vielen verschiedenen Zweiten Weltkriegen sprechen. 6 Überall entstanden aber auch Besatzungsgesellschaften, die - ungeachtet aller sonstigen Unterschiede - eine Reihe erstaunlicher Ähnlichkeiten aufwiesen.
Ich werde mich in diesem Buch auf den Besatzungsalltag in zwei sehr verschiedenen Nationen beschränken, die im Abstand von wenigen Wochen von den Deutschen okkupiert wurden: Norwegen und Frankreich. Norwegen hatte sich 1940 als neutral erklärt, es hatte, anders als Frankreich, nahezu keine Erfahrung mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Viele Norweger waren ausgesprochen deutschfreundlich, Deutschland war neben England die kulturelle Leitnation und traditionell ein begehrter Aufenthaltsort für Künstler, Wissenschaftler und Studenten. Es gab also weder eine »Erbfeindschaft« zwischen den beiden Staaten, noch verachtete man die Deutschen als »Barbaren«, wie das offenbar in Frankreich der Fall war. Und doch gibt es verblüffend viele Parallelen zwischen den Erzählungen von Franzosen und Norwegern einerseits und denen der Soldaten, die in einem der beiden Länder stationiert gewesen waren, andererseits.
1968 drehte der Filmemacher Marcel Ophüls eine vierstündige Dokumentation über den Kriegsalltag in der französischen Provinz. Sie verursachte einen Skandal, denn die Geschichten vom Krieg, die Ophüls gefunden hatte, waren weder klar noch einfach, und sie passten nicht zum französischen Nachkriegsmythos der tapferen Nation im Widerstand. Auch die Geschichten, die ich selbst vom Krieg gehört und gelesen habe, wirken, wenn überhaupt, nur im ersten Moment einfach. Bei genauerem Hinsehen sind sie voller Ambivalenzen, ringen um eine Definition, wer Held, wer Feigling, wer Patriot und wer Verräter ist. Wie Ophüls seinen Film damit begründete, dass ihn nicht die SchwarzWeiß-Geschichten, sondern das unerbittliche Grau jener Zeit interessiert hätten, interessiert auch mich jenes weite Feld zwischen Kollaboration und Widerstand, zwischen Schwarz und Weiß, das Besatzer und Besetzte Tag für Tag miteinander gestalten mussten. Geschichte, schrieb Carlo Levi, ist das Muster, das man hinterher in das Chaos webt.
Ebba D. Drolshagen
Frankfurt am Main, im Dezember 2008
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ebba D. Drolshagen
- 347 Seiten, Maße: 14,1 x 21,9 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828909256
- ISBN-13: 9783828909250
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