Der Hexenteich
Nach dem Unfalltod ihres Mannes ist die junge Lehrerin Sarah Grey mit ihrem kleinen Sohn Alfie nach Leigh-on-Sea an der Themsemündung gezogen, um ein neues Leben anzufangen. Doch etwas scheint in den Ritzen ihres neuen Hauses zu lauern. Es...
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Produktinformationen zu „Der Hexenteich “
Nach dem Unfalltod ihres Mannes ist die junge Lehrerin Sarah Grey mit ihrem kleinen Sohn Alfie nach Leigh-on-Sea an der Themsemündung gezogen, um ein neues Leben anzufangen. Doch etwas scheint in den Ritzen ihres neuen Hauses zu lauern. Es drängt sich mit grauenhaften Erscheinungen und Visionen immer mehr in ihren Alltag, ihre Freundschaften und ihre Beziehungen. Und irgendwann lässt es selbst ihren Sohn nicht mehr in Ruhe schlafen. Bis Sarah von dem furchtbaren Schicksal einer angeblichen Hexe erfährt, die im 19. Jahrhundert in Leigh gelebt hat. Von einem Tag auf den anderen muss sie begreifen, dass es in dieser Geschichte keine Zufälle gibt. Denn die Hexe trug ihren Namen: Sarah Grey.
"Eine umwerfende Neuerfindung des Horror-Romans."
The Guardian
Lese-Probe zu „Der Hexenteich “
Der Hexenteich von Syd MooreAus dem Englischen von Marie Henriksen
Auszug aus White's Directory of Essex, 1848
... mehr
Leigh, eine kleine alte Stadt mit Hafen und Fischerei, mit einem Zollhaus und einer Station der Küstenwache, liegt im Wesentlichen am Fuß eines bewaldeten Hangs an der Nordküste der Hadleigh Bay oder Leigh Roads, gegenüber dem östlichsten Punkt von Canvey Island, in der Mündung der geschäftigen Themse, vier Meilen westlich von Southend, fünf Meilen südwestlich von Rochford und 39 Meilen östlich von London. Die Häuser am Ufer sind fast alle klein, mit Ausnahme einiger stattlicher Herrenhäuser mit parkähnlichen Gärten am Hang, der sich zu einiger Höhe aufschwingt und an einigen Stellen einen weiten Blick über die Themse und die zahlreichen Schiffe erlaubt, die ständig über die Wasserfläche eilen. Die Wirtschaft des Ortes besteht hauptsächlich aus Krabben-, Austern- und Schneckenfischerei. ... Abgesehen von großen Mengen Austern in der Saison werden jede Woche fast 1000 Gallonen Krabben nach London geschickt. Der Grenzstein, der die Ausdehnung des Amtsbereich des Lord Mayor von London markiert, des Bewahrers der Themse, liegt etwa anderthalb Meilen östlich von Leigh auf einem steinigen Ufer, etwas höher als die Hochwassermarke, und wird jährlich offiziell von der Corporation besucht. Lady Olivia Bernard Sparrow ist die Herrin von Leigh oder Lee, das im Domesday Book Ralph Peverall zugeschrieben wurde und später nacheinander den Familien Rochford, Bohon, Boteler, Bullen, Rich und Bernard gehörte. Drei reichlich sprudelnde Quellen versorgen die Einwohner mit sauberem Wasser. Die Gemeinde umfasst 1271 Bewohner und 2331Morgen Land, darin eingeschlossen eine schmale Insel namens Leigh Marsh; zwischen dieser Insel und Canvey Island liegen die Austernbänke. Jedes Jahr am zweiten Dienstag im Mai wird in der Stadt ein Markt für reisende Händler usw. abgehalten.
Die Kirche St. Clement ist ein großer Steinbau unweit des höchsten Punktes der Anhöhe mit einem stolzen, efeubewachsenen Turm, der fünf Glocken enthält. Sie umfasst das Hauptschiff, zwei Seitenschiffe und eine Kanzel im spätgotischen Stil, die mit zwei Buntglasfenstern und geschnitzten Pfeilern aus Eichenholz versehen ist. Die Kirche enthält einige schöne Standbilder; das Schiff ist sorgfältig aufgeführt und hat eine gute Orgel, die vom gegenwärtigen Patronatsinhaber gestiftet wurde. Das Pfarramt ... untersteht dem Bischof von London; Amtsinhaber ist der Rev. Robert Eden, der gleichzeitig das Amt des Dekans innehat und ein schönes Pfarrhaus im Elisabethanischen Stil errichten ließ. Der Zehnte wurde 1847 umgewandelt. Die Wesleyaner haben eine Kapelle in der Stadt, und es gibt eine große Freie Schule, die von etwa 170 Kindern besucht und von Lady O.B. Sparrow unterstützt wird, die sie vor sechzehn Jahren stiftete, damit die Kinder aus der Gemeinde und aus Hadleigh nach den Grundsätzen der Church of England ohne Zahlung von Schulgebühren unterrichtet werden können.
George Gifford: Über Hexen und Hexerei, 1593
Wir leben wahrhaftig in einer schlimmen Gegend, ich glaube sogar, in der schlimmsten in ganz England. ... Diese Hexen, diese bösartigen alten Hexen beunruhigen mich sehr. ... Sie lähmen Männer und töten das Vieh, ja, sie zerstören sowohl Erwachsene als auch Kinder. Angeblich gibt es nur wenige in den Städten und Dörfern, aber ein oder zwei Hexen gibt es mindestens hier.
1
In der Nacht, als es geschah, ging Rob, ein Freund von Sharon, unten am Bahndamm mit seinem Hund spazieren. Er sagte später, die Lichter und das Gekreisch hätten seinen Terrier so sehr erschreckt, dass er zu bellen anfing. Ich erinnere mich nicht, irgendetwas gehört zu haben, aber er hat uns gehört. »Ihr habt einen Lärm veranstaltet, mit dem man Tote hätte aufwecken können«, sagte Rob.
Was echt lustig ist, denn genau das haben wir ja getan.
Obwohl, um ehrlich zu sein, wir waren so zu, dass keiner von uns den Nebel oder den Schatten bemerkte, der zwischen uns hindurcheilte. Wir wollten eigentlich nur weitertrinken. Ich habe immer gedacht, wenn jemand mal einen Film über mein Leben machen würde, wäre das ein passender Titel. Obwohl - jetzt sieht die Sache anders aus. Zerr mich in die Hölle wäre auch nicht schlecht.
Was ziemlich gut illustriert, wie viel sich verändert hat.
Ich sitze hier am Fenster, und der kühle Kuss des Morgens liegt auf meiner Wange. Ich beobachte das Sonnenlicht, das die Farbe von getrockneten Zitronen hat, und der Sommer scheint Welten entfernt. Es ist ziemlich schwierig, mich zu erinnern. Aber darum geht es beim Schreiben: Ich will es aus dem Kopf bekommen und zu Papier bringen, wo ich es kontrollieren, erklären und bearbeiten kann. Ich will den Sinn erkennen, bevor sich alles auflöst und ich auch noch den Rest vergesse. Denn sie sagen, genau das wird passieren.
Aber die Sache mit dem Sinn macht mir Schwierigkeiten. Kann man wirklich in der Sinnlosigkeit einen Sinn erkennen? Manches war schlicht und einfach Pech - der falsche Mensch, der falsche Zeitpunkt, das falsche Selbstvertrauen und falsches Vertrauen in andere Leute. Man könnte es wohl auch Chaostheorie nennen, den Schmetterlingseffekt oder (das wäre mein Favorit) das Shit-happens-Modell. Man kann es nicht erklären, weil schlimme Dinge von Zeit zu Zeit eben einfach passieren.
Ich vermute, unter dieser Überschrift könnte man ziemlich viel zusammenfassen.
Aber dann gibt es eben auch noch diese anderen Erfahrungen, die auch nicht kategorisiert oder rationalisiert werden können. Ja, klar, shit happens, aber es gibt eben auch echt unheimliche Sachen. Gute unheimliche Sachen. Zufälle, oder was Jung als Synchronizitäten bezeichnet hat - zwei oder mehr Ereignisse, die scheinbar unverbunden sind und trotzdem zusammen passieren und einen Sinn ergeben. Ich weiß, dass es das gibt, aber das heißt nicht, dass man es einfach so erklären kann. Sie werden das schon noch verstehen.
»Du wirst es vergessen«, sagen sie. Dass ich nicht lache! Als ob ich jemals vergessen könnte! Natürlich gibt es eine Menge Dinge, die ich so schnell wie möglich auslöschen würde. Glauben Sie's mir, ich habe Sachen im Kopf, bei denen sich die meisten Leute in die Hose machen würden vor Angst. Aber es gibt auch Einiges, das will ich behalten. Dinge, die so erstaunlich sind, dass sie einem das Hirn wegblasen, wenn man darüber richtig nachdenkt.
Nicht, dass ich das schon könnte. Nicht so bald. Ich muss das bisschen geistige Gesundheit, das mir noch bleibt, gut beschützen. Wobei viele sagen würden, es war schon vorher nicht weit her damit. Also werde ich es Stück für Stück abarbeiten. Es aufschreiben, bevor es verschwindet.
Aber ich schweife ab.
Also los, Sarah, reiß dich zusammen. Fang vorne an. Ganz vorne.
Wer war dabei? Ich glaube, wir waren zu viert. Erst einmal Martha. Sie ist einfach reizend. Eine hochbegabte Landschaftsgärtnerin, Mutter zweier Kinder, liebt Rottöne und hier und da ein bisschen Haschisch, um sich zu erholen. Großes Haus, netter Ehemann. Ziemlich zufrieden mit ihrem Leben, vermisst aber die Raver-Szene.
Dann Corinne, die ich irgendwann im Park kennengelernt habe: mein Alfie spielte mit ihrem Ewan. Wir haben ein bisschen geplaudert, und danach haben wir uns ein paar Mal richtig heftig betrunken, beginnend mit dem Chili-Wodka, den sie aus Moskau mitgebracht hatte. Später war es eher Rotwein, und eigentlich hat es nie mehr aufgehört.
Corinne ist so eine Art hohes Tier in der Lokalpolitik. Die Grace Kelly in unserem Klub. Sie versieht die Gemeindepolitik mit dem, was der Hollywood-Star dem boxergesichtigen Fürsten Rainier mitbrachte: Glamour und Herz. Corinne ist mit einem unaussprechlich guten Geschmack gesegnet, was ihre Kleidung angeht. Sie trägt einen platinblonden Pagenkopf, sieht aus wie ein Supermodel und kann trinken wie ein Fan von Millwall. Glückskind! An diesem Abend hatte sie ihre Jungs Ewan und Jack ihrem abtrünnigen Ehemann angehängt und war mehr als bereit, einen ihrer seltenen freien Momente zu genießen. Ich glaube, sie schlug das Schloss vor. Sie hatte es einfach ziemlich nötig.
Und so ging es auch der einzigen Kinderlosen unter uns, Ms Sharon Casey. Sie und Corinne waren schon seit Jahrzehnten enge Freundinnen. Sharon machte irgendwas, was ihr viel Ansehen in der Stadt einbrachte, ich habe allerdings keine Ahnung, was. Corinne hatte mal was mit Telekommunikation angedeutet, blieb aber immer im Ungefähren. Ich vermute, es ging um Geschäfte, Gastfreundschaft und jede Menge Stress. An diesem Abend war Sharon wieder Single. Ich vermute, er hatte Schluss gemacht, obwohl sie dazu nichts sagte, aber man konnte merken, dass etwas los war. Sie machte einen sehr entschlossenen Eindruck.
Das war's glaube ich. Oh, abgesehen von mir, natürlich. Mein Name ist Sarah Grey, und dieser Name ist ein sehr wichtiges Teil in unserem Puzzle.
Losgegangen war es mit einem ruhigen Schluck im Pub. Nach der dritten Runde wurden wir ein bisschen provozierend. Sharon war voll wie eine Haubitze, als sie auftauchte, und tanzte mit einem dicken »Geburtstagskind«-Orden an der Brust an unserem Tisch vorbei. Dabei hatte sie gar nicht Geburtstag. Corinne merkte, dass die Bedienung uns böse ansah, aber wir machten einfach noch ein Weilchen weiter. Es ging uns richtig gut.
Damals machte mir die flauschig-weiche Stimmung vom Alkohol viel Spaß, und so ging es uns allen. Es störte mich ziemlich, wenn irgendwer so tat, als wäre es eine Krücke, oder behauptete, man würde vor irgendwas flüchten. Natürlich flüchteten wir; das Leben war schließlich hart. Mutter sein war hart, Witwe sein war hart. Im ständigen Lebenskampf mit Arbeit und Familie war es doch wohl nicht zu viel verlangt, ab und zu mal ein paar Stunden Aufmunterung und Spaß zu kriegen. Beides brachte uns die Weinfee an diesem Abend, und ehrlich gesagt, wir kümmerten uns einen Dreck darum, was die Leute hinter der Bar dazu sagten. Um Himmels willen, das hier war schließlich ein Pub!
Erst als Sharon ein paar Stammgäste anrempelte und ein Glas kaputt schmiss, taten wir schließlich das einzig Vernünftige: wir lallten ein paar Beleidigungen, gingen noch mal zur Toilette, griffen uns die schon erwähnte sturzbetrunkene Freundin und verließen das Lokal.
Die Luft war warm, und auf der Hauptstraße brummte der Verkehr. Einige Grüppchen Frauen zogen in kurzen Kleidern und Sandalen die Straße entlang. Die älteren Männer trugen helle Leinenhosen, und selbst die Emo-Kids am Büchereigarten hatten ihre schwarzen Kapuzenpullis ausgezogen und hockten auf den Bänken. Es war einer dieser Frühsommerabende, die niemals enden sollten.
Da standen wir also, und eine von uns, ich kann mich nicht mehr erinnern, wer ... sehen Sie, es geht schon los mit dem Vergessen ... wahrscheinlich war es Corinne, sie ist immer so gut organisiert ... ja, Corinne schlug vor, wir könnten uns ein paar Flaschen aus dem Laden holen und zum Schloss raufgehen. Normalerweise machten wir so was nicht, aber wie ich schon sagte, irgendwas lag in der Luft. Die Sonne war noch gar nicht hinter den Hadleigh Downs untergegangen, es war also draußen noch hell genug, um den Fußweg zu erkennen.
Ich machte einen kleinen Umweg zu mir nach Hause und griff mir noch eine Decke, während die anderen Wein und Plastikbecher kauften. Eine Dreiviertelstunde später saßen wir im hohen Gras im Schatten von Hadleigh Castle. Ich sage immer »Schloss«, aber das ist eigentlich eine Übertreibung. Das Ding steht seit dem 13. Jahrhundert, ist aber nicht viel mehr als eine Ruine: anderthalb Türme und ein paar alte Steine.
Während die Dämmerung in die Nacht überging, konnte ich zu meiner Linken gerade noch die winzigen weißen Punkte der Fischerbuden ausmachen, die auf dem dunklen Abhang von Leigh standen, von dem schartigen Turm der St.-Clements- Kirche oben auf dem Hügel bis hinunter zu den Schuppen am Wasser. Dutzende von winzigen Booten lagen in der Bucht im Wasser.
Um uns herum flüsterte der Weißdorn im Wind wie kleine brechende Wellen.
Corinne schlug vor, ein Feuer zu machen. Ihr Mann Pat macht ständig so Survival-Sachen und schleppt sie im Regen durch den Wald. Pat findet, dass es eine wichtige erzieherische Wirkung auf die Jungs hat, kommt aber allein mit den beiden nicht klar, und deshalb muss Corinne immer mit. Was zur Folge hat, dass sie eine wunderbar weiche Haut hat und selbst mit den widerspenstigsten Holzstücken und Zweigen noch ein Feuer zustande bringt.
Im letzten Dämmerlicht hatte sie Erfolg - ein perfektes Timing, denn der Mond ging gerade auf, und es wurde kalt. Es waren keine Wolken am Himmel, und abgesehen von dem Dunst der orangefarbenen Straßenbeleuchtung auf dem buckligen Hügel leuchtete das eisige Licht der Sommer-Sternbilder klar und strahlend. Der Mond warf sogar Schatten.
Die Flut war durch das Watt von Two Tree Island hereingekommen, und das leise Klimpern der festgemachten Boote auf dem Benfleet Creek war bis zu uns hinauf zu hören. Auf der anderen Seite der Mündung leuchteten die stecknadelgroßen Lichter der Dörfer im nördlichen Kent wie Hunderte von nervösen Augen
Ich weiß noch, dass Sharon sagte, wie sehr sie diesen Blick liebte. Abgesehen von der Fabrik auf Canvey Island. »Die ist eine elende Schande fürs Auge«, sagte sie.
Martha warf eine Kippe ins Feuer und sagte: »Mir gefällt das, es ist doch ein schöner Kontrast - Industrie und Romantik.«
»Hässlich ist das Ding«, erwiderte Sharon. »Ein Blick wie ein Gemälde von Constable, und dann das! Schrecklich!«
Ein häufiges Missverständnis. Tatsächlich hatte Constable das Schloss in Öl gemalt, ich hatte mal eine Skizze in der Tate Gallery gesehen. Aber es handelte sich nicht um eine seiner romantischen Idyllen. Das Bild war nach dem Tod seiner Frau entstanden, und er hatte Brauntöne verwendet, in der Farbe verrottender Blätter, ein wütendes Rabenschwarz und düsteres Aschgrau. Das Schloss stand als skelettartige Ruine da, verlassen und einsam. Und dieser seltsame Himmel: Wenn man genau hinsah, konnte man Constables Pinselstriche überall sehen. Die Luft war wie aufgewühlt, mit dunklen Gewitterwolken, wie schwanger mit schrecklicher Kraft.
Als lauerte etwas da drinnen und wartete nur darauf, herauszukommen.
Ich habe das schon beim ersten Mal gespürt, als ich das Bild sah, und ich weiß, das Constable es auch gespürt haben muss.
Damals, in den 1820er-Jahren, muss sie noch jung und schön gewesen sein. Sie ist oft dort herumspaziert, um der Stadt zu entkommen. Vielleicht haben sie sich mal getroffen. Vielleicht hat ihre Geschichte ihn bewegt und entsetzt.
Sharon faselte also irgendwas über die verletzte ländliche Schönheit, und Martha redete weiter von dem Kontrast zwischen Natur und Industrialisierung, und dann sagte ich etwas darüber, dass mich der größte Schornstein mit der Gasflamme darüber an Mordor erinnere. An das Auge von Sauron, um es ganz genau zu sagen. »Ich mag dieses Gefühl von anderer Welt«, sagte ich.
Sharon stieg sofort darauf ein: »Ooh, hört euch unsere Geisterfrau an!« Und alle lachten, ich weiß gar nicht, warum. Normalerweise sage ich solche Sachen nicht. »Ich meine ja gar nicht, dass es mir Angst macht«, fuhr ich fort und klang wie ein bockiger Teenager, mit dem ganzen Wein im Blut. »Hier gibt es allerdings jede Menge andere Sachen, die mir Angst einjagen könnten.«
Sharon musste meinen beleidigten Ton gehört haben, denn sie versuchte mich sofort mit irgendwelchen Plattitüden zu beruhigen. »Ja ja«, sagte sie. »Ich weiß. Die Kuriositäten der Lokalgeschichte. « Sie warf Corinne einen Blick zu. »Ist das hier nicht der Ort, an dem irgendein alter Earl ermordet wurde?«
Wir alle sahen Corinne an, die mit den Schultern zuckte. Obwohl die beiden nicht miteinander verwandt waren, waren ihre Familien unentwirrbar miteinander verbunden, wie es nun mal geschieht, wenn sich die Generationen lange genug damit zufriedengeben, an einem Ort zu leben. Corinne kam aus einer sehr alten Familie in Leigh, sodass wir uns automatisch an sie wandten, wenn es um irgendwelche Lokalgeschichten ging.
»Wahrscheinlich«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass irgendwann ein geheimnisvoller Bleisarkophag am Strand von Leigh auftauchte. Einige Leute hier haben behauptet, es läge ein ermordeter Adliger darin. Mein Dad hat immer gesagt, es wäre Thomas, der Duke of Gloucester, der von den Männern Richards II. in Calais ermordet worden war. Er war mit einem Laken so heftig stranguliert worden, dass sein Kopf abgetrennt wurde. Der Sarg wurde zum Schloss raufgebracht, und am nächsten Tag war er verschwunden.«
»Üble Geschichte«, sagte Martha und trank einen großen Schluck von ihrem Wein.
Sharon zog an ihrer Zigarette, musste husten und erzählte dann, dass sie sich auf den Stufen zur Kirche entsetzlich fürchtete. Es handelte sich um einen steilen Pfad, der die Altstadt am Meer mit den neueren, höher gelegenen Teilen der Stadt verband. »Ich fühle mich immer, als würde ich einen Herzanfall kriegen, wenn ich oben ankomme. Anderen Leuten ist das ja auch schon passiert. Früher hat man die Särge immer auf einem anderen Weg hochgebracht, wo es nicht so steil war. Aber dann hat irgendein neureicher Idiot ein neues Haus gebaut und den Weg zugemacht, weil er einen größeren Garten haben wollte.«
»Der Reverend Robert Eden«, sagte Corinne. »Und er hat nicht einfach ein Haus gebaut, sondern ein neues Pfarrhaus, weil das alte eine Ruine war. Da ist jetzt die Bücherei drin.«
»Stimmt«, sagte Sharon vollkommen desinteressiert. »Auf jeden Fall mussten von da an die Leute aus der Altstadt die Stufen nehmen, um die Toten in die Kirche zu bringen, aber der Weg war so steil, dass ein paar Sargträger bei der Beerdigung ihrer Freunde selbst das Zeitliche gesegnet haben. Das muss man sich mal vorstellen! Mein Nachbar schwört Stein und Bein, dass es auf dem Kirchberg spukt.« Die letzten Worte sprach sie mit einer Stimme wie Vincent Price in seinen schlimmsten Gruselfilmen und beendete den Satz mit einem bösen, gackernden Lachen.
Alle sahen wieder Corinne an. Diesmal lächelte sie. »Stimmt ja vielleicht auch. Wenn man bedenkt, wie klein der Ort ist, gibt es hier schon eine Menge Geschichten. Denkt nur an die Fürstin Beatrice im 13. Jahrhundert. Sie war eine Tochter von Heinrich III. und sollte gut verheiratet werden. Heinrich hatte für sie die Hochzeit mit einem spanischen Grafen arrangiert, aber sie verliebte sich in einen jungen Mann, Ralph de Binley, und flüchtete mit ihm nach Leigh. Irgendjemand kam dahinter, und das Paar wurde am Strand Wharf gestellt. Ralph wurde nach Colchester gebracht und wegen Mordes angeklagt, konnte aber entkommen und wurde auf Lebenszeit aus England verbannt. Einige behaupten, man könne Beatrice in hellen Nächten da unten sehen. Sie wartet immer noch auf ihren Liebsten, läuft hin und her und weint sich die Augen aus.«
Ich mochte in einer so schönen betrunkenen Nacht keine traurigen Geschichten hören und wollte gerade eine blöde Bemerkung machen, um die Stimmung aufzuheitern, aber Sharon kam mir zuvor. Sie war wohl noch empfindlich, weil sie ja gerade erst sitzen gelassen worden war.
»Gib mir mal den Eimer. Das ist doch nicht gruselig, ich dachte, wir wollten es richtig unheimlich haben.«
Corinne setzte eine beleidigte Miene auf, also nahm ich die Weinflasche und schenkte ihr wieder ein. Sie fixierte mich mit ihren grauen Augen wie eine Katze, die eine verletzte Taube entdeckt. Ihre Augen wurden immer größer, sie machte eine dramatische Pause, und dann sagte sie: »Na, wenn ihr eine wirklich gruselige Geschichte hören wollt ...« Mit ihren Fingern machte sie eine theatralische Geste in meine Richtung. »... dann müsst ihr nicht weit gehen. Denkt nur einmal an die Namensvetterin von unserer Sarah Grey.«
Ich stöhnte und verdrehte die Augen. Ja, ich hieß genau wie eine Gestalt aus der Lokalgeschichte, nach der sogar ein Pub benannt worden war. Und ich kannte schon ziemlich viele Scherze darüber.
»Die andere Sarah Grey ...« Corinne grinste und stupste mich in die Rippen. »... war eine richtige alte Hexe. Hast du die Geschichte schon mal gehört?«
Natürlich hatte ich. Ich konnte kaum durch die Stadt gehen, ohne dass irgendwer einen blöden Kommentar über meine schrägen Beziehungen zu den Seeleuten machte. Aber Sharon meinte, sie würde die Geschichte noch nicht vollständig kennen, und Martha wollte alle blutrünstigen Details hören. Also versammelte Corinne uns dichter um das Feuer und fragte, ob wir bequem säßen.
»Dann fange ich mal an«, flüsterte sie mit ihrer schönsten Geschichtenerzählerstimme. »Wir wissen, dass Sarah Grey im 19. Jahrhundert lebte. Sie war eine Meereshexe, die davon lebte, dass die Seeleute ihr ein paar Pennys für guten Wind zahlten. Sie saß am Rand von Bell Wharf und braute Segenssprüche für jeden zusammen, der sie bezahlte. Bis der Kapitän des Schiffs The Smack vorbeikam. Und er war ein Eiferer.«
»Was für ein Eiferer«, fragte Sharon und hickste. Wir ignorierten sie.
»Ein glühender Christ, der nichts mit Hexerei zu tun haben wollte. Also verbot er seiner Mannschaft, ihr Geld zu geben.« Corinne leckte sich die Lippen und sprach noch leiser weiter. »Es war ein stiller, sonniger Tag, als sie die Segel setzten. Aber als sie in die Mündung hinausfuhren, kam ganz plötzlich ein starker Wind auf und warf das Schiff hin und her. Die Seeleute versuchten verzweifelt, die Segel herunterzulassen, aber der Wind hatte sie verheddert, und die The Smack taumelte durch die Wellen wie ...« Sie hielt inne, um einen guten Vergleich zu finden.
»Plastikente?«, schlug Sharon wenig hilfreich vor.
»Damals gab es noch kein Plastik«, sagte Martha und entkorkte die nächste Weinflasche. »Wie ein Korken vielleicht?«
Corinne war irritiert, wir hatten ihren Rhythmus gestört. »Okay, wie ein Korken.«
»Ein Korken ist aber klein«, sagte ich freundlich. »Und so ein Schiff ist ziemlich groß ...«
»Wollt ihr die Geschichte hören oder nicht?«, schnauzte sie uns an.
Wir murmelten Entschuldigungen und versuchten, uns wieder zu konzentrieren.
Corinne räusperte sich und fuhr fort: »Sie waren also in diesen schrecklichen Sturm geraten. Einer aus der Mannschaft schrie: ›Die Hexe! Das hat die Hexe gemacht!‹ Der Kapitän griff zur Axt und kappte den Mast. Die Seeleute sahen ihm zu und dachten, jetzt wäre er vollends verrückt geworden, aber als der Mast beim dritten Schlag endlich fiel, ließ der Wind sofort nach. Als das Schiff endlich wieder am Bell Wharf ankam - wisst ihr, was die Seeleute dort fanden? Die Leiche der Sarah Grey mit drei Wunden von Axtschlägen am Kopf.«
Wir machten anerkennende Geräusche und zogen die Augenbrauen hoch. »Da kriegt man schon echt eine Gänsehaut«, sagte Sharon.
»Na ja«, sagte Martha, »es ist ja auch kalt. Aber weißt du was, Corinne, ich kenne die Geschichte mit einem anderen Ausgang. Deanos Cousine hat mir mal erzählt, der Kapitän hätte seinen Männern verboten, Sarah Geld zu geben, und daraufhin hätte sie das Schiff verflucht. Dann kam Wind auf, als sie aufs Meer hinausfuhren, und sie konnten den Mast nicht kappen, und die ganze Mannschaft kam um, bis auf den Kapitän. Und als der Kapitän schließlich wieder an Land kam, schwor er Rache. Am nächsten Tag wurde Sarah Greys Körper ohne Kopf im Doom Pond gefunden, wo sie früher die zänkischen Frauen untergetaucht haben.«
»Sie haben zänkische Frauen untergetaucht?«
»Natürlich! Die meisten Dörfer hatten so einen Teich. Wenn eine Frau mit ihrem Mann oder ihren Nachbarn stritt, wurde sie auf einen hölzernen Stuhl gebunden und untergetaucht.«
Ein kleines Holzstück explodierte im Feuer und überschüttete Martha mit Funken. Wir sprangen alle auf. Martha klopfte sich die Jeans ab und lachte. »Will mir da jemand recht geben oder mir widersprechen?«
»Ich fürchte, das ist wahr«, sagte Corinne. »Wer weiß. Diese Sache mit dem Doom Pond ist jedenfalls eine einzige Schande.«
Da ich noch ziemlich neu in der Stadt war, hatte ich den Teich noch gar nicht bemerkt und fragte, wo er sei. Corinnes Stimme nahm einen klagenden Ton an. »Unter diesen schrecklichen nachgemachten Tudor-Wohnhäusern in der Leigh Road.«
Wir alle machten »Ah!« und nickten.
Ich erzählte, dass ich mir dort mal eine Wohnung angesehen hatte.
»Und wie war sie?«, fragte Sharon. »Ich bin nie in diesen Häusern gewesen.«
Ich versuchte mich zu erinnern. Herrgott, die Wohnung war schrecklich gewesen. Nicht unbedingt die Inneneinrichtung oder der Schnitt, sondern die Atmosphäre. In den Ecken lauerte das blanke Elend. Es hatte mich angesprungen, sobald ich hineingegangen war, aber damals war ich auch noch ziemlich empfindlich gewesen. Ich dachte, es sei die Ähnlichkeit mit meiner Wohnung in London und dem emotionalen Grauen, das mich dort umgeben hatte. Laut sagte ich: »Sie war zu klein. Eigentlich ganz hübsch, und gut ausgestattet.«
Corinne war schon wieder sauer, also wandten wir unsere Aufmerksamkeit wieder ihrem hübschen Gesicht zu, das im Feuerschein flackerte. »Bevor die Mietshäuser dort gebaut wurden, stand da ein Supermarkt. Die Mutter meiner Freundin hat dort gearbeitet, und sie hat gesagt, die Regale waren komisch. Wenn man Konservendosen am einen Ende hinstellte, rutschten sie hinunter und auf den Boden. Eines Tages wollte sie zur Arbeit gehen, und da war der Supermarkt weg. Das ganze Ding war in den Teich gerutscht.«
Martha verlagerte ihr Gewicht von der linken Backe auf die rechte. »Und deshalb nennen sie es den Hexenteich?«
Corinne schüttelte den Kopf. »Ach was. Der Name ist schon alt.«
Ein Schwirren von unsichtbaren Flügeln war irgendwo im Dunkeln zu hören.
»Ehrlich?« Jetzt kriegte ich wirklich eine Gänsehaut. Der Name ließ mich schaudern. »Warum das denn? Was ist denn da noch passiert, außer dass sie zänkische Frauen ins Wasser getaucht haben? Haben sie da wirklich Leute ertränkt?«
Corinne zog die Schultern hoch. »Ich vermute, es hat was mit den Hexen zu tun.«
»Den Hexen?« Die beiläufige Bemerkung zog mich magisch an. »Du sagst das, als wäre es vollkommen selbstverständlich.«
Corinnes Blick eilte zu Martha und Sharon und kehrte dann zu mir zurück.
»Sarah, die ganze Region ist voll mit solchen Geschichten. Ich weiß, man würde heute nicht mehr darauf kommen, aber Essex war früher einmal als Hexengegend verschrien. Das Dorf Canewdon ist angeblich der Ort mit den meisten Spukerscheinungen in ganz England. Und dann war da noch der weise Mann und Zauberer Cunning Murrell in Hadleigh.«
Sharon richtete sich auf. »Hat man ihn hingerichtet? Als Hexer?«
»Nein«, erwiderte Corinne. »Er war tatsächlich sehr angesehen bei den Leuten, wenn man ihn auch ein bisschen fürchtete. «
Martha beugte sich vor und warf ein paar Zweige aufs Feuer. »Hexen wurden also auf jede mögliche Weise schlecht behandelt, aber Mr Murrells Künste wurden, sagen wir, mehr geschätzt? «
Corinne machte den Mund auf, um zu antworten, aber Sharon kam ihr zuvor. »Natürlich, meine liebe Martha, er hatte ja schließlich einen Schwanz.«
Ich kicherte, Martha lachte und stocherte im Feuer herum. »Da hast du vermutlich recht.«
»Also«, sagte ich und brachte das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück. »Warum Hexenteich? Was hatten die Hexen mit dem Teich zu tun?«
»Ach ja.« Corinne nickte und nahm einen Schluck aus ihrem Plastikbecher. Man konnte ihr ansehen, dass sie es genoss, im Rampenlicht zu stehen. »Man hat sie dort ›schwimmen‹ lassen. Sie wurden gefesselt, manchmal in der Diagonale vom rechten Daumen zum linken großen Zeh. Manchmal wurden sie auch an einem Stuhl festgebunden, und dann warf man sie in den Teich. Wenn sie untergingen und ertranken, waren sie unschuldig. Wenn sie an der Oberfläche trieben, waren sie eine Hexe, dann zog man sie aus dem Wasser und schleppte sie zum Galgen, um sie zu hängen.«
Martha sagte: »Sie konnten es also keinem recht machen. Arme Frauen.« Ich schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass ich diese Wohnung nicht gekauft hatte.
»Also«, sagte Corinne, die offensichtlich einigermaßen leicht über die Tragödie hinweggehen wollte, um wieder zu ihren Gruselgeschichten zu kommen. »Deshalb meinen die Leute hier, es würde dort spuken. Von den ruhelosen Seelen der Hexen und der Unschuldigen, die man dort ertränkt hat.«
»Und von Sarah Grey«, sagte Sharon mit trauriger Stimme.
Aber diesmal lachte keine von uns.
Martha erzählte etwas von einem Gespenst auf dem Friedhof, und wir stiegen alle darauf ein. Die Geschichten wurden immer wilder und wirbelten durcheinander, bis es Mitternacht wurde. Der Wein floss in Strömen, die Mädels brüllten vor Lachen und das Feuer prasselte.
Wenn ich das heute so niederschreibe, verstehe ich, dass wir, ohne es überhaupt zu merken, eine Art Séance veranstalteten. Wir rührten die Dinge auf, öffneten einen Spalt. Und sorgten dafür, dass etwas durchsickern konnte.
Aber das sehe ich natürlich erst jetzt, in der Rückschau. Wenn ich damals nur einen Funken Ahnung gehabt hätte! Natürlich passierte da etwas, aber wir bemerkten es erst, als das brennende Mädchen auftauchte.
Aber bevor ich davon erzähle, brauche ich was zu trinken.
2
Es war der heißeste Juni seit Jahren, was bedeutete, dass Alfie und ich ziemlich viel Zeit in der Altstadt verbringen konnten, jenem Stückchen Kopfsteinpflaster-Nostalgie, das vom Rest der Stadt durch die Bahnlinie von Shoebury nach Fenchurch Street abgetrennt war. Wir waren gern dort, fischten Krabben, paddelten und bauten Sandburgen am Strand. Obwohl Alfie zu jung war, um seinen Vater zu vermissen, schmerzte Joshs Abwesenheit noch wie eine frische Wunde, und ich versuchte das zu überwinden, indem ich minutiös organisierte Spiele und ernsthafte Quality Time einschob. Aber eigentlich machte es Spaß. Alfie war vier, ein niedlicher Junge mit der gutgelaunten Lebenseinstellung seines Vaters und einem Strom von Geplapper, das mir selbst an schlechten Tagen ein Lächeln entlockte.
Schlecht an der Hitze war die üble Stimmung, die unter den Schülern und Kollegen an der Privatschule herrschte, wo ich Musik und Medien unterrichtete. St. John's lag ein paar Meilen im Hinterland, umgeben von hektarweise wohlgepflegten Landschaftsgärten. Es war ursprünglich eines der letzten großen Herrenhäuser in der Gegend gewesen, bis es während des Ersten Weltkriegs von der Familienresidenz in ein Krankenhaus umgewandelt worden war. 1947 hatte man eine private Mittelschule daraus gemacht. Seitdem hatten sich die Gebäude stetig, aber in eher zufälliger Anordnung und in höchst unsympathischer Weise über die Rasenflächen ausgebreitet. Der Block, in dem ich arbeitete, war ein Betonwürfel aus den Achtzigerjahren, der überraschend gut dazu geeignet war, hervorragende Lernergebnisse hervorzubringen und sich allmählich mit einer weiteren hässlichen Glaskonstruktion in den Chrysanthemengarten hinein ausbreitete.
Allen Neubauplänen zum Trotz fraß sich jedoch die Wirtschaftskrise ins öffentliche Bewusstsein, und die Auswirkungen nahmen allmählich zu. So wurden unsere Tagesschüler an allen Ecken und Enden weniger.
Mein Chef war Andrew McWhittard, ein vierzigjähriger, lediger, verbitterter Schotte mit einem boshaften Mundwerk. Er war groß und schlank, hatte einen schwarzen Haarschopf und hatte einige Unruhe in die Gruppe der weiblichen Angestellten gebracht, als er zum ersten Mal aufgetaucht war. Aber die Flitterwochen hatten nur zwei Wochen gedauert, dann hatte er sich als Roboter erwiesen, bei dem man den Humor-Chip vergessen hatte. Er war ausschließlich darauf programmiert, die Politik der Schule herunterzubeten. Ich persönlich fand ihn extrem arrogant. Bei unserer Vorstellung hatte er mich angesehen, als könnte er nicht glauben, dass ein Mensch mit meinem Akzent tatsächlich in einer Privatschule arbeitete.
Aber man lernt eben nie aus.
McWhittard war schon an guten Tagen ein Tyrann, und in letzter Zeit hatte er sich darauf verlegt, uns ständig daran zu erinnern, dass Schüler Jobs bedeuteten und dass die Verringerung ihrer Zahl nichts Gutes für unsere Anstellungsverhältnisse verhieß. Man konnte sehen, dass er die Angst genoss, die er uns damit einjagte.
Einige Verwaltungskräfte waren in Elternzeit gegangen, ohne dass es eine Vertretung gab. Unausgesprochen schien der Plan zu sein, dass wir uns gefälligst selbst verwalten sollten. Ich unterrichtete nur drei Tage in der Woche, aber der Papierkram wurde immer mehr, und wenn man die Notengebung, Prüfungen, Berichte, Tage der offenen Tür und Elternabende noch dazunahm, dann war der Juni wie immer der grausamste Monat überhaupt.
Und dann kam noch dazu, dass eines meiner Augenlider anfing zu sacken. Am Anfang bemerkte es niemand außer mir, und selbst ich dachte zuerst, ich wäre einfach müde. Aber nach einer Woche ohne Wein und fünf durchgeschlafenen Nächten hing das Lid immer noch, und ich rief in der Arztpraxis an. Die Sprechstundenhilfe sagte mir, der früheste Termin wäre Freitagmorgen vor der Schule, also nahm ich den.
Sie sehen also, ich hatte ziemlich was um die Ohren. Wohl auch deshalb brauchte ich eine Weile, bis ich bemerkte, dass Alfie so komisch vor sich hin murmelte.
Wie ich schon sagte, war der Junge eine echte Plaudertasche. Schon bevor er richtig sprechen gelernt hatte, hatte er mit seinen Actionpuppen, Feuerwehrleuten und Teddys im Wohnzimmer gesessen und hatte Geschichten nachgespielt, bei denen sie alle verschiedene Rollen und Stimmen hatten. Das Erdgeschoss unseres Dreißiger-Jahre-Hauses bestand aus einem einzigen großen Raum mit großen Terrassentüren nach draußen, sodass ich mit dem Staubsauger herumfahren oder den Abwasch machen konnte und gleichzeitig mit einem Ohr dem Radio und mit dem anderen meinem Sohn zuhören konnte. Wobei Alfie in letzter Zeit oft im Garten spielte statt drinnen.
Am Montag vor meinem Arzttermin stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, warum er das tat. Zuerst dachte ich, er wolle nur die Sonne genießen, aber das war eigentlich eher Erwachsenenart. Ich erinnerte mich an die heißen Sommersamstage meiner Kindheit, an denen ich mit meiner Schwester Charlotte (oder Lottie, wie sie sich nennen ließ) auf dem Sofa vor dem Fernseher saß, ohne mich um die Düsternis im Zimmer zu kümmern. Wie oft hatte unsere Mum die Vorhänge aufgerissen und uns getadelt, dass wir an einem so schönen Tag im Haus blieben? Wie oft hatten wir mit den Schultern gezuckt und einfach weitergeschaut?
Kinder spielen gern draußen, aber sie ziehen keine Verbindung zum Wetter. Man muss viele Jahre älter werden, um sich mit den trügerischen Angewohnheiten des britischen Wetters abzufinden. Mit vier Jahren ist man einfach noch nicht so weit.
Ich nahm also die Ringelblumen-Kompresse von meinen Augen und stellte mich an die Terrassentür. Alfie saß auf der Wiese neben unseren alten schmiedeeisernen Gartenmöbeln. Er hatte seine Puppen vor den Stühlen aufgereiht und war damit beschäftigt, ihnen eine Show vorzuführen. Nach ein paar Minuten bemerkte er mich, und dann forderte er mich förmlich dazu auf, mich dazuzusetzen und zuzuschauen.
Es gab dort vier Stühle, zwei an jeder Seite des Tisches. Ich nahm meinen Kaffeebecher und wollte mich gerade auf den Stuhl zur Linken setzen, als er rief: »Nein, nein, nein, Mummy, nein!«
Es ist ziemlich normal, dass kleine Kinder wegen irgendwelcher Kleinigkeiten einen Riesenaufstand machen; sie haben alle ihre ausgesprochenen Abneigungen, also ließ ich zu, dass Alfie mich am Rock zu dem weiter weg stehenden Stuhl zog.
»Tut mir leid, Alfie«, grinste ich und beugte mich vor, um meinen Becher auf den Tisch zu stellen, aber er war immer noch nicht zufrieden.
»Nein, Mummy, da nicht!«
Er warf seinen blonden Lockenkopf herum, man konnte sehen, dass er ärgerlich war. Er verzog das Gesicht, nahm mich an der Hand und führte mich auf die andere Seite des Tisches.
»Du sitzt da.«
»Sind Sie sicher, Sir?«, fragte ich todernst.
»Da nicht«, sagte er und zeigte auf den Stuhl, über den ich mich so unhöflich hinübergebeugt hatte. »Da sitzt doch das brennende Mädchen.«
Er rieb sich die Nase und ging zurück zu seinen Puppen.
»Tut mir leid«, lachte ich und ging auf sein Spiel ein. Ich hatte mich schon gefragt, wann er eingebildete Freunde entwickeln würde, und heimlich gehofft, dass es bald losginge. Lottie hatte sich als Kind mit einem eingebildeten Riesen namens Hoggy angefreundet, der Autos fraß und am Ende nach Australien auswandern musste. Ich hatte ihre Hoggy-Geschichten geliebt, und später waren sie ein sicheres Mittel gewesen, um meine Freunde zu amüsieren.
»Wie heißt sie denn?«, fragte ich Alfie. Hochkonzentriert zog er sich die Mr-Punch-Handpuppe über die Rechte und beachtete mich nicht.
Ich griff zu ihm hinüber und tippte ihm spielerisch auf den Kopf. »Hallo? Hallo? Jemand zu Hause?«
Alfie wich zurück.
»Wie heißt deine Freundin, Alfie?«
Er wandte der Störung den Rücken zu. »Weiß nich.«
Da ich so nicht weiterkam, gab ich mich damit zufrieden, ihn zu beobachten. Er war lustig und freundlich und wurde so schnell groß. In diesen ruhigen Augenblicken vermisste ich Josh. Die Erkenntnis, dass niemand da war, der mein zärtliches Lächeln mit mir teilte, schmerzte sehr.
Witwen sind einsame Menschen.
Nach einigen weiteren Versuchen hatte Alfie die Handpuppe endlich besiegt und drehte sich schwungvoll herum. »So macht man das!«, quiekte er in einer ziemlich guten Imitation. Dann fiel sein Blick auf den leeren Stuhl, sein Gesicht wurde ernst und seine Schultern sackten herunter. Er riss die Puppe von seiner Hand und warf sie auf den Boden. »Schau doch, was du angerichtet hast!« Er deutete mit seinem pummeligen Zeigefinder auf den schmiedeeisernen Stuhl. »Du hast sie verjagt! Mummy!«
Er sah so niedlich aus, wenn er wütend wurde, mit seinen blonden Locken und den Sommersprossen, dass ich ihn am liebsten in die Arme gerissen und ihm sein hübsches, schmollendes Gesicht abgeküsst hätte. Stattdessen schob ich die Unterlippe vor, entschuldigte mich überschwänglich und versprach ihm ein Spezial-Schokoladeneis zur Entschädigung. Das schien zu wirken, und ich dachte nicht mehr daran. Bis Donnerstagabend.
Ich hatte die Reste unserer Pizza weggeräumt und trank gerade das letzte Glas eines milden Rioja, bevor ich mich daran machte, Alfie nach oben zu locken. Er ging nicht gern ins Bett, begriff nicht, welchen Sinn es haben sollte, zu schlafen, wenn die Sonne noch schien. Keine noch so ausführliche Erklärung konnte ihn davon überzeugen, dass es tatsächlich Zeit war, ins Bett zu gehen.
Er hatte schon alle üblichen Techniken durchprobiert: den Protest (»Das ist nicht fair!«), die Ablenkungsmethode (»Kommen Roboter auch in den Himmel?«), die schlichte Lüge (»Aber ich habe doch heute Geburtstag!«) und die Erpressung (»Erst eine Geschichte!«). Aber er war blass und müde, also war es jetzt Zeit für brutale Gewaltanwendung.
Er stand bei der Terrassentür, und als ich ihn hochhob, griff er nach einer der Türklinken. Als ich einen Schritt von der Tür wegtreten wollte, klammerte er sich fest, sodass ich nicht weiterkam.
»Nein, Mummy, jetzt nicht! Das Mädchen ist krank! Schau doch!« Mit der freien Hand deutete er in den Garten, der leer war bis auf eine Mückenspirale über dem rostigen Grill.
Allmählich wurde es lästig - es war ein anstrengender Schultag gewesen. Mein Nacken tat weh, ich wollte in die Badewanne und meine schmerzenden Muskeln entspannen. »Da ist niemand, Schätzchen. Komm jetzt, es ist wirklich Schlafenszeit.«
»Aber das Mädchen!« Sein Griff wurde noch fester. »Das Mädchen brennt!«
Seine Stimme klang so traurig, und als ich ihn ansah, bemerkte ich zwei kleine Falten auf seiner Stirn. Ich löste seine Finger einen nach dem anderen vom Türgriff und öffnete die Tür. »Schau.«
Im Garten hing noch ein schwacher Geruch von Holzfeuer, und kurz fragte ich mich, ob der Duft vom Grill des Nachbarn seine Fantasie angeregt hatte. »Da ist niemand, Alf.«
Aber er ließ sich nicht überzeugen. »Rufst du die Feuerwehr, Mummy?«
Jetzt fiel bei mir der Groschen. Alle Kinder lieben Feuerwehrautos, Alfie war da keine Ausnahme, »Aber sicher, mein Schatz, ich rufe sie, sobald du gebadet hast.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt.« »Okay, ich rufe sie jetzt. Aber dann kommst du mit nach oben, ja?«
Er legte seine Finger auf mein Kinn und sah mir in die Augen. Ich streckte die Zunge heraus. Er lächelte. »Ja, aber du musst sie jetzt rufen.«
Nach einem schnellen Anruf bei Feuerwehrmann Sam (also bei niemandem) in der Feuerwache von Leigh gab er endlich nach, und eine Stunde später lag er im Bett und döste friedlich ein. Ich war ziemlich erschöpft; tatsächlich überkam mich eine schreckliche Müdigkeit, als ich in den Spiegel blickte und mich abschminkte, und plötzlich wollte ich nur noch eins: mit einem Buch ins Bett kriechen.
Ich erinnere mich gut daran. Ich erinnere mich an alles, was an diesem Abend geschah - die Sonnenflecken zwischen dem Blätterschatten des Eukalyptusbaums im Vorgarten, der Duft des Lavendelöls auf meinem Kopfkissen, der Geruch von frisch gewaschener Bettwäsche und der schwache rötliche Schimmer im Zimmer.
In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal davon.
Es ging so los, wie das bei Träumen üblich ist: mit vertrauten Orten und Leuten. Alfie und ich am Strand. Corinne, Ewan und Jack waren auch da. Und John, dieses seltene Exemplar eines Kollegen und Freundes gleichermaßen. Wir machten ein Picknick oder so. Dann war ich am Strand Wharf, nicht weit vom Strand, meine Füße eingebacken in holzkohlefarbenen Lehm. Ein Schrei war zu hören, und ein junges Mädchen kam aus einer der Fischerhütten gelaufen. Das Mädchen machte ein seltsames Geräusch, wie der Schrei einer hungrigen Möwe oder das Aufjaulen einer sterbenden Katze. Als ich wieder hinsah, sprangen Flammen aus ihrer Schürze. Sie leckten an den lockigen Zöpfen und an ihrem Gesicht. Erschrocken lief ich zu ihr hin. Ich hatte eine Baumwolltasche in der Hand, mit der ich nach den Flammen schlug. Aber das Feuer wollte nicht ausgehen. Es wurde schlimmer, wandte sich gegen mich, hüllte das Mädchen ganz ein. Meine Finger schmerzten entsetzlich, aber die fürchterlichen Schreie zwangen mich trotzdem zum Handeln.
Dann wurde ich plötzlich wach, fand mich schweißgebadet im Bett, keuchend in dem gelblichen Sonnenlicht, das durch die Jalousien drang. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mir klarzumachen, wo ich war. Und ich hätte schwören können, dass ich noch den Gestank von verbranntem Fleisch in der Nase hatte.
Der Albtraum hatte mich aufgewühlt, aber man musste kein Genie sein, um sich zu erklären, woher er gekommen war.
Der Wecker zeigte mir, dass es noch sehr früh am Morgen war, aber der Albtraum war sehr lebhaft gewesen, und ich begriff, dass ich bald würde aufstehen müssen. Schlafen konnte ich jetzt ohnehin nicht mehr.
Nachdem ich am Abend zuvor nicht mehr gebadet hatte, ließ ich mir jetzt ein Bad einlaufen, gab Badesalz mit Lavendel hinein und tauchte dankbar unter.
Nach einer Viertelstunde, als ich nach der Seife griff, sah ich etwas auf meinem Handballen unter dem rechten Daumen: eine mondsichelförmige Schwellung.
Ich berührte sie leicht mit den Fingerspitzen. Sie tat weh. Eine Brandwunde. Verwirrt hielt ich inne. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich mich verbrannt hatte, aber schließlich hatte ich am Abend vorher eine ganze Flasche Rotwein weggeputzt. Böse Sarah.
Ich genoss das warme Wasser noch eine Weile, stieg dann aus der Wanne und suchte im Schränkchen unter dem Waschbecken nach antiseptischer Salbe. Ein bisschen Savlon linderte den Schmerz.
Alfie kam ins Bad getappt und pinkelte, während ich mir eine Mullbinde um die Wunde wickelte.
»Was hast du gemacht?« Er hatte ein großes Interesse an Verletzungen aller Art.
»Mummy hat sich gestern Abend wehgetan.«
Er ließ den Toilettensitz fallen. »Wie?«
»Ich glaube, ich habe mich verbrannt, als ich die Pizza gebacken habe.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Leigh, eine kleine alte Stadt mit Hafen und Fischerei, mit einem Zollhaus und einer Station der Küstenwache, liegt im Wesentlichen am Fuß eines bewaldeten Hangs an der Nordküste der Hadleigh Bay oder Leigh Roads, gegenüber dem östlichsten Punkt von Canvey Island, in der Mündung der geschäftigen Themse, vier Meilen westlich von Southend, fünf Meilen südwestlich von Rochford und 39 Meilen östlich von London. Die Häuser am Ufer sind fast alle klein, mit Ausnahme einiger stattlicher Herrenhäuser mit parkähnlichen Gärten am Hang, der sich zu einiger Höhe aufschwingt und an einigen Stellen einen weiten Blick über die Themse und die zahlreichen Schiffe erlaubt, die ständig über die Wasserfläche eilen. Die Wirtschaft des Ortes besteht hauptsächlich aus Krabben-, Austern- und Schneckenfischerei. ... Abgesehen von großen Mengen Austern in der Saison werden jede Woche fast 1000 Gallonen Krabben nach London geschickt. Der Grenzstein, der die Ausdehnung des Amtsbereich des Lord Mayor von London markiert, des Bewahrers der Themse, liegt etwa anderthalb Meilen östlich von Leigh auf einem steinigen Ufer, etwas höher als die Hochwassermarke, und wird jährlich offiziell von der Corporation besucht. Lady Olivia Bernard Sparrow ist die Herrin von Leigh oder Lee, das im Domesday Book Ralph Peverall zugeschrieben wurde und später nacheinander den Familien Rochford, Bohon, Boteler, Bullen, Rich und Bernard gehörte. Drei reichlich sprudelnde Quellen versorgen die Einwohner mit sauberem Wasser. Die Gemeinde umfasst 1271 Bewohner und 2331Morgen Land, darin eingeschlossen eine schmale Insel namens Leigh Marsh; zwischen dieser Insel und Canvey Island liegen die Austernbänke. Jedes Jahr am zweiten Dienstag im Mai wird in der Stadt ein Markt für reisende Händler usw. abgehalten.
Die Kirche St. Clement ist ein großer Steinbau unweit des höchsten Punktes der Anhöhe mit einem stolzen, efeubewachsenen Turm, der fünf Glocken enthält. Sie umfasst das Hauptschiff, zwei Seitenschiffe und eine Kanzel im spätgotischen Stil, die mit zwei Buntglasfenstern und geschnitzten Pfeilern aus Eichenholz versehen ist. Die Kirche enthält einige schöne Standbilder; das Schiff ist sorgfältig aufgeführt und hat eine gute Orgel, die vom gegenwärtigen Patronatsinhaber gestiftet wurde. Das Pfarramt ... untersteht dem Bischof von London; Amtsinhaber ist der Rev. Robert Eden, der gleichzeitig das Amt des Dekans innehat und ein schönes Pfarrhaus im Elisabethanischen Stil errichten ließ. Der Zehnte wurde 1847 umgewandelt. Die Wesleyaner haben eine Kapelle in der Stadt, und es gibt eine große Freie Schule, die von etwa 170 Kindern besucht und von Lady O.B. Sparrow unterstützt wird, die sie vor sechzehn Jahren stiftete, damit die Kinder aus der Gemeinde und aus Hadleigh nach den Grundsätzen der Church of England ohne Zahlung von Schulgebühren unterrichtet werden können.
George Gifford: Über Hexen und Hexerei, 1593
Wir leben wahrhaftig in einer schlimmen Gegend, ich glaube sogar, in der schlimmsten in ganz England. ... Diese Hexen, diese bösartigen alten Hexen beunruhigen mich sehr. ... Sie lähmen Männer und töten das Vieh, ja, sie zerstören sowohl Erwachsene als auch Kinder. Angeblich gibt es nur wenige in den Städten und Dörfern, aber ein oder zwei Hexen gibt es mindestens hier.
1
In der Nacht, als es geschah, ging Rob, ein Freund von Sharon, unten am Bahndamm mit seinem Hund spazieren. Er sagte später, die Lichter und das Gekreisch hätten seinen Terrier so sehr erschreckt, dass er zu bellen anfing. Ich erinnere mich nicht, irgendetwas gehört zu haben, aber er hat uns gehört. »Ihr habt einen Lärm veranstaltet, mit dem man Tote hätte aufwecken können«, sagte Rob.
Was echt lustig ist, denn genau das haben wir ja getan.
Obwohl, um ehrlich zu sein, wir waren so zu, dass keiner von uns den Nebel oder den Schatten bemerkte, der zwischen uns hindurcheilte. Wir wollten eigentlich nur weitertrinken. Ich habe immer gedacht, wenn jemand mal einen Film über mein Leben machen würde, wäre das ein passender Titel. Obwohl - jetzt sieht die Sache anders aus. Zerr mich in die Hölle wäre auch nicht schlecht.
Was ziemlich gut illustriert, wie viel sich verändert hat.
Ich sitze hier am Fenster, und der kühle Kuss des Morgens liegt auf meiner Wange. Ich beobachte das Sonnenlicht, das die Farbe von getrockneten Zitronen hat, und der Sommer scheint Welten entfernt. Es ist ziemlich schwierig, mich zu erinnern. Aber darum geht es beim Schreiben: Ich will es aus dem Kopf bekommen und zu Papier bringen, wo ich es kontrollieren, erklären und bearbeiten kann. Ich will den Sinn erkennen, bevor sich alles auflöst und ich auch noch den Rest vergesse. Denn sie sagen, genau das wird passieren.
Aber die Sache mit dem Sinn macht mir Schwierigkeiten. Kann man wirklich in der Sinnlosigkeit einen Sinn erkennen? Manches war schlicht und einfach Pech - der falsche Mensch, der falsche Zeitpunkt, das falsche Selbstvertrauen und falsches Vertrauen in andere Leute. Man könnte es wohl auch Chaostheorie nennen, den Schmetterlingseffekt oder (das wäre mein Favorit) das Shit-happens-Modell. Man kann es nicht erklären, weil schlimme Dinge von Zeit zu Zeit eben einfach passieren.
Ich vermute, unter dieser Überschrift könnte man ziemlich viel zusammenfassen.
Aber dann gibt es eben auch noch diese anderen Erfahrungen, die auch nicht kategorisiert oder rationalisiert werden können. Ja, klar, shit happens, aber es gibt eben auch echt unheimliche Sachen. Gute unheimliche Sachen. Zufälle, oder was Jung als Synchronizitäten bezeichnet hat - zwei oder mehr Ereignisse, die scheinbar unverbunden sind und trotzdem zusammen passieren und einen Sinn ergeben. Ich weiß, dass es das gibt, aber das heißt nicht, dass man es einfach so erklären kann. Sie werden das schon noch verstehen.
»Du wirst es vergessen«, sagen sie. Dass ich nicht lache! Als ob ich jemals vergessen könnte! Natürlich gibt es eine Menge Dinge, die ich so schnell wie möglich auslöschen würde. Glauben Sie's mir, ich habe Sachen im Kopf, bei denen sich die meisten Leute in die Hose machen würden vor Angst. Aber es gibt auch Einiges, das will ich behalten. Dinge, die so erstaunlich sind, dass sie einem das Hirn wegblasen, wenn man darüber richtig nachdenkt.
Nicht, dass ich das schon könnte. Nicht so bald. Ich muss das bisschen geistige Gesundheit, das mir noch bleibt, gut beschützen. Wobei viele sagen würden, es war schon vorher nicht weit her damit. Also werde ich es Stück für Stück abarbeiten. Es aufschreiben, bevor es verschwindet.
Aber ich schweife ab.
Also los, Sarah, reiß dich zusammen. Fang vorne an. Ganz vorne.
Wer war dabei? Ich glaube, wir waren zu viert. Erst einmal Martha. Sie ist einfach reizend. Eine hochbegabte Landschaftsgärtnerin, Mutter zweier Kinder, liebt Rottöne und hier und da ein bisschen Haschisch, um sich zu erholen. Großes Haus, netter Ehemann. Ziemlich zufrieden mit ihrem Leben, vermisst aber die Raver-Szene.
Dann Corinne, die ich irgendwann im Park kennengelernt habe: mein Alfie spielte mit ihrem Ewan. Wir haben ein bisschen geplaudert, und danach haben wir uns ein paar Mal richtig heftig betrunken, beginnend mit dem Chili-Wodka, den sie aus Moskau mitgebracht hatte. Später war es eher Rotwein, und eigentlich hat es nie mehr aufgehört.
Corinne ist so eine Art hohes Tier in der Lokalpolitik. Die Grace Kelly in unserem Klub. Sie versieht die Gemeindepolitik mit dem, was der Hollywood-Star dem boxergesichtigen Fürsten Rainier mitbrachte: Glamour und Herz. Corinne ist mit einem unaussprechlich guten Geschmack gesegnet, was ihre Kleidung angeht. Sie trägt einen platinblonden Pagenkopf, sieht aus wie ein Supermodel und kann trinken wie ein Fan von Millwall. Glückskind! An diesem Abend hatte sie ihre Jungs Ewan und Jack ihrem abtrünnigen Ehemann angehängt und war mehr als bereit, einen ihrer seltenen freien Momente zu genießen. Ich glaube, sie schlug das Schloss vor. Sie hatte es einfach ziemlich nötig.
Und so ging es auch der einzigen Kinderlosen unter uns, Ms Sharon Casey. Sie und Corinne waren schon seit Jahrzehnten enge Freundinnen. Sharon machte irgendwas, was ihr viel Ansehen in der Stadt einbrachte, ich habe allerdings keine Ahnung, was. Corinne hatte mal was mit Telekommunikation angedeutet, blieb aber immer im Ungefähren. Ich vermute, es ging um Geschäfte, Gastfreundschaft und jede Menge Stress. An diesem Abend war Sharon wieder Single. Ich vermute, er hatte Schluss gemacht, obwohl sie dazu nichts sagte, aber man konnte merken, dass etwas los war. Sie machte einen sehr entschlossenen Eindruck.
Das war's glaube ich. Oh, abgesehen von mir, natürlich. Mein Name ist Sarah Grey, und dieser Name ist ein sehr wichtiges Teil in unserem Puzzle.
Losgegangen war es mit einem ruhigen Schluck im Pub. Nach der dritten Runde wurden wir ein bisschen provozierend. Sharon war voll wie eine Haubitze, als sie auftauchte, und tanzte mit einem dicken »Geburtstagskind«-Orden an der Brust an unserem Tisch vorbei. Dabei hatte sie gar nicht Geburtstag. Corinne merkte, dass die Bedienung uns böse ansah, aber wir machten einfach noch ein Weilchen weiter. Es ging uns richtig gut.
Damals machte mir die flauschig-weiche Stimmung vom Alkohol viel Spaß, und so ging es uns allen. Es störte mich ziemlich, wenn irgendwer so tat, als wäre es eine Krücke, oder behauptete, man würde vor irgendwas flüchten. Natürlich flüchteten wir; das Leben war schließlich hart. Mutter sein war hart, Witwe sein war hart. Im ständigen Lebenskampf mit Arbeit und Familie war es doch wohl nicht zu viel verlangt, ab und zu mal ein paar Stunden Aufmunterung und Spaß zu kriegen. Beides brachte uns die Weinfee an diesem Abend, und ehrlich gesagt, wir kümmerten uns einen Dreck darum, was die Leute hinter der Bar dazu sagten. Um Himmels willen, das hier war schließlich ein Pub!
Erst als Sharon ein paar Stammgäste anrempelte und ein Glas kaputt schmiss, taten wir schließlich das einzig Vernünftige: wir lallten ein paar Beleidigungen, gingen noch mal zur Toilette, griffen uns die schon erwähnte sturzbetrunkene Freundin und verließen das Lokal.
Die Luft war warm, und auf der Hauptstraße brummte der Verkehr. Einige Grüppchen Frauen zogen in kurzen Kleidern und Sandalen die Straße entlang. Die älteren Männer trugen helle Leinenhosen, und selbst die Emo-Kids am Büchereigarten hatten ihre schwarzen Kapuzenpullis ausgezogen und hockten auf den Bänken. Es war einer dieser Frühsommerabende, die niemals enden sollten.
Da standen wir also, und eine von uns, ich kann mich nicht mehr erinnern, wer ... sehen Sie, es geht schon los mit dem Vergessen ... wahrscheinlich war es Corinne, sie ist immer so gut organisiert ... ja, Corinne schlug vor, wir könnten uns ein paar Flaschen aus dem Laden holen und zum Schloss raufgehen. Normalerweise machten wir so was nicht, aber wie ich schon sagte, irgendwas lag in der Luft. Die Sonne war noch gar nicht hinter den Hadleigh Downs untergegangen, es war also draußen noch hell genug, um den Fußweg zu erkennen.
Ich machte einen kleinen Umweg zu mir nach Hause und griff mir noch eine Decke, während die anderen Wein und Plastikbecher kauften. Eine Dreiviertelstunde später saßen wir im hohen Gras im Schatten von Hadleigh Castle. Ich sage immer »Schloss«, aber das ist eigentlich eine Übertreibung. Das Ding steht seit dem 13. Jahrhundert, ist aber nicht viel mehr als eine Ruine: anderthalb Türme und ein paar alte Steine.
Während die Dämmerung in die Nacht überging, konnte ich zu meiner Linken gerade noch die winzigen weißen Punkte der Fischerbuden ausmachen, die auf dem dunklen Abhang von Leigh standen, von dem schartigen Turm der St.-Clements- Kirche oben auf dem Hügel bis hinunter zu den Schuppen am Wasser. Dutzende von winzigen Booten lagen in der Bucht im Wasser.
Um uns herum flüsterte der Weißdorn im Wind wie kleine brechende Wellen.
Corinne schlug vor, ein Feuer zu machen. Ihr Mann Pat macht ständig so Survival-Sachen und schleppt sie im Regen durch den Wald. Pat findet, dass es eine wichtige erzieherische Wirkung auf die Jungs hat, kommt aber allein mit den beiden nicht klar, und deshalb muss Corinne immer mit. Was zur Folge hat, dass sie eine wunderbar weiche Haut hat und selbst mit den widerspenstigsten Holzstücken und Zweigen noch ein Feuer zustande bringt.
Im letzten Dämmerlicht hatte sie Erfolg - ein perfektes Timing, denn der Mond ging gerade auf, und es wurde kalt. Es waren keine Wolken am Himmel, und abgesehen von dem Dunst der orangefarbenen Straßenbeleuchtung auf dem buckligen Hügel leuchtete das eisige Licht der Sommer-Sternbilder klar und strahlend. Der Mond warf sogar Schatten.
Die Flut war durch das Watt von Two Tree Island hereingekommen, und das leise Klimpern der festgemachten Boote auf dem Benfleet Creek war bis zu uns hinauf zu hören. Auf der anderen Seite der Mündung leuchteten die stecknadelgroßen Lichter der Dörfer im nördlichen Kent wie Hunderte von nervösen Augen
Ich weiß noch, dass Sharon sagte, wie sehr sie diesen Blick liebte. Abgesehen von der Fabrik auf Canvey Island. »Die ist eine elende Schande fürs Auge«, sagte sie.
Martha warf eine Kippe ins Feuer und sagte: »Mir gefällt das, es ist doch ein schöner Kontrast - Industrie und Romantik.«
»Hässlich ist das Ding«, erwiderte Sharon. »Ein Blick wie ein Gemälde von Constable, und dann das! Schrecklich!«
Ein häufiges Missverständnis. Tatsächlich hatte Constable das Schloss in Öl gemalt, ich hatte mal eine Skizze in der Tate Gallery gesehen. Aber es handelte sich nicht um eine seiner romantischen Idyllen. Das Bild war nach dem Tod seiner Frau entstanden, und er hatte Brauntöne verwendet, in der Farbe verrottender Blätter, ein wütendes Rabenschwarz und düsteres Aschgrau. Das Schloss stand als skelettartige Ruine da, verlassen und einsam. Und dieser seltsame Himmel: Wenn man genau hinsah, konnte man Constables Pinselstriche überall sehen. Die Luft war wie aufgewühlt, mit dunklen Gewitterwolken, wie schwanger mit schrecklicher Kraft.
Als lauerte etwas da drinnen und wartete nur darauf, herauszukommen.
Ich habe das schon beim ersten Mal gespürt, als ich das Bild sah, und ich weiß, das Constable es auch gespürt haben muss.
Damals, in den 1820er-Jahren, muss sie noch jung und schön gewesen sein. Sie ist oft dort herumspaziert, um der Stadt zu entkommen. Vielleicht haben sie sich mal getroffen. Vielleicht hat ihre Geschichte ihn bewegt und entsetzt.
Sharon faselte also irgendwas über die verletzte ländliche Schönheit, und Martha redete weiter von dem Kontrast zwischen Natur und Industrialisierung, und dann sagte ich etwas darüber, dass mich der größte Schornstein mit der Gasflamme darüber an Mordor erinnere. An das Auge von Sauron, um es ganz genau zu sagen. »Ich mag dieses Gefühl von anderer Welt«, sagte ich.
Sharon stieg sofort darauf ein: »Ooh, hört euch unsere Geisterfrau an!« Und alle lachten, ich weiß gar nicht, warum. Normalerweise sage ich solche Sachen nicht. »Ich meine ja gar nicht, dass es mir Angst macht«, fuhr ich fort und klang wie ein bockiger Teenager, mit dem ganzen Wein im Blut. »Hier gibt es allerdings jede Menge andere Sachen, die mir Angst einjagen könnten.«
Sharon musste meinen beleidigten Ton gehört haben, denn sie versuchte mich sofort mit irgendwelchen Plattitüden zu beruhigen. »Ja ja«, sagte sie. »Ich weiß. Die Kuriositäten der Lokalgeschichte. « Sie warf Corinne einen Blick zu. »Ist das hier nicht der Ort, an dem irgendein alter Earl ermordet wurde?«
Wir alle sahen Corinne an, die mit den Schultern zuckte. Obwohl die beiden nicht miteinander verwandt waren, waren ihre Familien unentwirrbar miteinander verbunden, wie es nun mal geschieht, wenn sich die Generationen lange genug damit zufriedengeben, an einem Ort zu leben. Corinne kam aus einer sehr alten Familie in Leigh, sodass wir uns automatisch an sie wandten, wenn es um irgendwelche Lokalgeschichten ging.
»Wahrscheinlich«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass irgendwann ein geheimnisvoller Bleisarkophag am Strand von Leigh auftauchte. Einige Leute hier haben behauptet, es läge ein ermordeter Adliger darin. Mein Dad hat immer gesagt, es wäre Thomas, der Duke of Gloucester, der von den Männern Richards II. in Calais ermordet worden war. Er war mit einem Laken so heftig stranguliert worden, dass sein Kopf abgetrennt wurde. Der Sarg wurde zum Schloss raufgebracht, und am nächsten Tag war er verschwunden.«
»Üble Geschichte«, sagte Martha und trank einen großen Schluck von ihrem Wein.
Sharon zog an ihrer Zigarette, musste husten und erzählte dann, dass sie sich auf den Stufen zur Kirche entsetzlich fürchtete. Es handelte sich um einen steilen Pfad, der die Altstadt am Meer mit den neueren, höher gelegenen Teilen der Stadt verband. »Ich fühle mich immer, als würde ich einen Herzanfall kriegen, wenn ich oben ankomme. Anderen Leuten ist das ja auch schon passiert. Früher hat man die Särge immer auf einem anderen Weg hochgebracht, wo es nicht so steil war. Aber dann hat irgendein neureicher Idiot ein neues Haus gebaut und den Weg zugemacht, weil er einen größeren Garten haben wollte.«
»Der Reverend Robert Eden«, sagte Corinne. »Und er hat nicht einfach ein Haus gebaut, sondern ein neues Pfarrhaus, weil das alte eine Ruine war. Da ist jetzt die Bücherei drin.«
»Stimmt«, sagte Sharon vollkommen desinteressiert. »Auf jeden Fall mussten von da an die Leute aus der Altstadt die Stufen nehmen, um die Toten in die Kirche zu bringen, aber der Weg war so steil, dass ein paar Sargträger bei der Beerdigung ihrer Freunde selbst das Zeitliche gesegnet haben. Das muss man sich mal vorstellen! Mein Nachbar schwört Stein und Bein, dass es auf dem Kirchberg spukt.« Die letzten Worte sprach sie mit einer Stimme wie Vincent Price in seinen schlimmsten Gruselfilmen und beendete den Satz mit einem bösen, gackernden Lachen.
Alle sahen wieder Corinne an. Diesmal lächelte sie. »Stimmt ja vielleicht auch. Wenn man bedenkt, wie klein der Ort ist, gibt es hier schon eine Menge Geschichten. Denkt nur an die Fürstin Beatrice im 13. Jahrhundert. Sie war eine Tochter von Heinrich III. und sollte gut verheiratet werden. Heinrich hatte für sie die Hochzeit mit einem spanischen Grafen arrangiert, aber sie verliebte sich in einen jungen Mann, Ralph de Binley, und flüchtete mit ihm nach Leigh. Irgendjemand kam dahinter, und das Paar wurde am Strand Wharf gestellt. Ralph wurde nach Colchester gebracht und wegen Mordes angeklagt, konnte aber entkommen und wurde auf Lebenszeit aus England verbannt. Einige behaupten, man könne Beatrice in hellen Nächten da unten sehen. Sie wartet immer noch auf ihren Liebsten, läuft hin und her und weint sich die Augen aus.«
Ich mochte in einer so schönen betrunkenen Nacht keine traurigen Geschichten hören und wollte gerade eine blöde Bemerkung machen, um die Stimmung aufzuheitern, aber Sharon kam mir zuvor. Sie war wohl noch empfindlich, weil sie ja gerade erst sitzen gelassen worden war.
»Gib mir mal den Eimer. Das ist doch nicht gruselig, ich dachte, wir wollten es richtig unheimlich haben.«
Corinne setzte eine beleidigte Miene auf, also nahm ich die Weinflasche und schenkte ihr wieder ein. Sie fixierte mich mit ihren grauen Augen wie eine Katze, die eine verletzte Taube entdeckt. Ihre Augen wurden immer größer, sie machte eine dramatische Pause, und dann sagte sie: »Na, wenn ihr eine wirklich gruselige Geschichte hören wollt ...« Mit ihren Fingern machte sie eine theatralische Geste in meine Richtung. »... dann müsst ihr nicht weit gehen. Denkt nur einmal an die Namensvetterin von unserer Sarah Grey.«
Ich stöhnte und verdrehte die Augen. Ja, ich hieß genau wie eine Gestalt aus der Lokalgeschichte, nach der sogar ein Pub benannt worden war. Und ich kannte schon ziemlich viele Scherze darüber.
»Die andere Sarah Grey ...« Corinne grinste und stupste mich in die Rippen. »... war eine richtige alte Hexe. Hast du die Geschichte schon mal gehört?«
Natürlich hatte ich. Ich konnte kaum durch die Stadt gehen, ohne dass irgendwer einen blöden Kommentar über meine schrägen Beziehungen zu den Seeleuten machte. Aber Sharon meinte, sie würde die Geschichte noch nicht vollständig kennen, und Martha wollte alle blutrünstigen Details hören. Also versammelte Corinne uns dichter um das Feuer und fragte, ob wir bequem säßen.
»Dann fange ich mal an«, flüsterte sie mit ihrer schönsten Geschichtenerzählerstimme. »Wir wissen, dass Sarah Grey im 19. Jahrhundert lebte. Sie war eine Meereshexe, die davon lebte, dass die Seeleute ihr ein paar Pennys für guten Wind zahlten. Sie saß am Rand von Bell Wharf und braute Segenssprüche für jeden zusammen, der sie bezahlte. Bis der Kapitän des Schiffs The Smack vorbeikam. Und er war ein Eiferer.«
»Was für ein Eiferer«, fragte Sharon und hickste. Wir ignorierten sie.
»Ein glühender Christ, der nichts mit Hexerei zu tun haben wollte. Also verbot er seiner Mannschaft, ihr Geld zu geben.« Corinne leckte sich die Lippen und sprach noch leiser weiter. »Es war ein stiller, sonniger Tag, als sie die Segel setzten. Aber als sie in die Mündung hinausfuhren, kam ganz plötzlich ein starker Wind auf und warf das Schiff hin und her. Die Seeleute versuchten verzweifelt, die Segel herunterzulassen, aber der Wind hatte sie verheddert, und die The Smack taumelte durch die Wellen wie ...« Sie hielt inne, um einen guten Vergleich zu finden.
»Plastikente?«, schlug Sharon wenig hilfreich vor.
»Damals gab es noch kein Plastik«, sagte Martha und entkorkte die nächste Weinflasche. »Wie ein Korken vielleicht?«
Corinne war irritiert, wir hatten ihren Rhythmus gestört. »Okay, wie ein Korken.«
»Ein Korken ist aber klein«, sagte ich freundlich. »Und so ein Schiff ist ziemlich groß ...«
»Wollt ihr die Geschichte hören oder nicht?«, schnauzte sie uns an.
Wir murmelten Entschuldigungen und versuchten, uns wieder zu konzentrieren.
Corinne räusperte sich und fuhr fort: »Sie waren also in diesen schrecklichen Sturm geraten. Einer aus der Mannschaft schrie: ›Die Hexe! Das hat die Hexe gemacht!‹ Der Kapitän griff zur Axt und kappte den Mast. Die Seeleute sahen ihm zu und dachten, jetzt wäre er vollends verrückt geworden, aber als der Mast beim dritten Schlag endlich fiel, ließ der Wind sofort nach. Als das Schiff endlich wieder am Bell Wharf ankam - wisst ihr, was die Seeleute dort fanden? Die Leiche der Sarah Grey mit drei Wunden von Axtschlägen am Kopf.«
Wir machten anerkennende Geräusche und zogen die Augenbrauen hoch. »Da kriegt man schon echt eine Gänsehaut«, sagte Sharon.
»Na ja«, sagte Martha, »es ist ja auch kalt. Aber weißt du was, Corinne, ich kenne die Geschichte mit einem anderen Ausgang. Deanos Cousine hat mir mal erzählt, der Kapitän hätte seinen Männern verboten, Sarah Geld zu geben, und daraufhin hätte sie das Schiff verflucht. Dann kam Wind auf, als sie aufs Meer hinausfuhren, und sie konnten den Mast nicht kappen, und die ganze Mannschaft kam um, bis auf den Kapitän. Und als der Kapitän schließlich wieder an Land kam, schwor er Rache. Am nächsten Tag wurde Sarah Greys Körper ohne Kopf im Doom Pond gefunden, wo sie früher die zänkischen Frauen untergetaucht haben.«
»Sie haben zänkische Frauen untergetaucht?«
»Natürlich! Die meisten Dörfer hatten so einen Teich. Wenn eine Frau mit ihrem Mann oder ihren Nachbarn stritt, wurde sie auf einen hölzernen Stuhl gebunden und untergetaucht.«
Ein kleines Holzstück explodierte im Feuer und überschüttete Martha mit Funken. Wir sprangen alle auf. Martha klopfte sich die Jeans ab und lachte. »Will mir da jemand recht geben oder mir widersprechen?«
»Ich fürchte, das ist wahr«, sagte Corinne. »Wer weiß. Diese Sache mit dem Doom Pond ist jedenfalls eine einzige Schande.«
Da ich noch ziemlich neu in der Stadt war, hatte ich den Teich noch gar nicht bemerkt und fragte, wo er sei. Corinnes Stimme nahm einen klagenden Ton an. »Unter diesen schrecklichen nachgemachten Tudor-Wohnhäusern in der Leigh Road.«
Wir alle machten »Ah!« und nickten.
Ich erzählte, dass ich mir dort mal eine Wohnung angesehen hatte.
»Und wie war sie?«, fragte Sharon. »Ich bin nie in diesen Häusern gewesen.«
Ich versuchte mich zu erinnern. Herrgott, die Wohnung war schrecklich gewesen. Nicht unbedingt die Inneneinrichtung oder der Schnitt, sondern die Atmosphäre. In den Ecken lauerte das blanke Elend. Es hatte mich angesprungen, sobald ich hineingegangen war, aber damals war ich auch noch ziemlich empfindlich gewesen. Ich dachte, es sei die Ähnlichkeit mit meiner Wohnung in London und dem emotionalen Grauen, das mich dort umgeben hatte. Laut sagte ich: »Sie war zu klein. Eigentlich ganz hübsch, und gut ausgestattet.«
Corinne war schon wieder sauer, also wandten wir unsere Aufmerksamkeit wieder ihrem hübschen Gesicht zu, das im Feuerschein flackerte. »Bevor die Mietshäuser dort gebaut wurden, stand da ein Supermarkt. Die Mutter meiner Freundin hat dort gearbeitet, und sie hat gesagt, die Regale waren komisch. Wenn man Konservendosen am einen Ende hinstellte, rutschten sie hinunter und auf den Boden. Eines Tages wollte sie zur Arbeit gehen, und da war der Supermarkt weg. Das ganze Ding war in den Teich gerutscht.«
Martha verlagerte ihr Gewicht von der linken Backe auf die rechte. »Und deshalb nennen sie es den Hexenteich?«
Corinne schüttelte den Kopf. »Ach was. Der Name ist schon alt.«
Ein Schwirren von unsichtbaren Flügeln war irgendwo im Dunkeln zu hören.
»Ehrlich?« Jetzt kriegte ich wirklich eine Gänsehaut. Der Name ließ mich schaudern. »Warum das denn? Was ist denn da noch passiert, außer dass sie zänkische Frauen ins Wasser getaucht haben? Haben sie da wirklich Leute ertränkt?«
Corinne zog die Schultern hoch. »Ich vermute, es hat was mit den Hexen zu tun.«
»Den Hexen?« Die beiläufige Bemerkung zog mich magisch an. »Du sagst das, als wäre es vollkommen selbstverständlich.«
Corinnes Blick eilte zu Martha und Sharon und kehrte dann zu mir zurück.
»Sarah, die ganze Region ist voll mit solchen Geschichten. Ich weiß, man würde heute nicht mehr darauf kommen, aber Essex war früher einmal als Hexengegend verschrien. Das Dorf Canewdon ist angeblich der Ort mit den meisten Spukerscheinungen in ganz England. Und dann war da noch der weise Mann und Zauberer Cunning Murrell in Hadleigh.«
Sharon richtete sich auf. »Hat man ihn hingerichtet? Als Hexer?«
»Nein«, erwiderte Corinne. »Er war tatsächlich sehr angesehen bei den Leuten, wenn man ihn auch ein bisschen fürchtete. «
Martha beugte sich vor und warf ein paar Zweige aufs Feuer. »Hexen wurden also auf jede mögliche Weise schlecht behandelt, aber Mr Murrells Künste wurden, sagen wir, mehr geschätzt? «
Corinne machte den Mund auf, um zu antworten, aber Sharon kam ihr zuvor. »Natürlich, meine liebe Martha, er hatte ja schließlich einen Schwanz.«
Ich kicherte, Martha lachte und stocherte im Feuer herum. »Da hast du vermutlich recht.«
»Also«, sagte ich und brachte das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück. »Warum Hexenteich? Was hatten die Hexen mit dem Teich zu tun?«
»Ach ja.« Corinne nickte und nahm einen Schluck aus ihrem Plastikbecher. Man konnte ihr ansehen, dass sie es genoss, im Rampenlicht zu stehen. »Man hat sie dort ›schwimmen‹ lassen. Sie wurden gefesselt, manchmal in der Diagonale vom rechten Daumen zum linken großen Zeh. Manchmal wurden sie auch an einem Stuhl festgebunden, und dann warf man sie in den Teich. Wenn sie untergingen und ertranken, waren sie unschuldig. Wenn sie an der Oberfläche trieben, waren sie eine Hexe, dann zog man sie aus dem Wasser und schleppte sie zum Galgen, um sie zu hängen.«
Martha sagte: »Sie konnten es also keinem recht machen. Arme Frauen.« Ich schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass ich diese Wohnung nicht gekauft hatte.
»Also«, sagte Corinne, die offensichtlich einigermaßen leicht über die Tragödie hinweggehen wollte, um wieder zu ihren Gruselgeschichten zu kommen. »Deshalb meinen die Leute hier, es würde dort spuken. Von den ruhelosen Seelen der Hexen und der Unschuldigen, die man dort ertränkt hat.«
»Und von Sarah Grey«, sagte Sharon mit trauriger Stimme.
Aber diesmal lachte keine von uns.
Martha erzählte etwas von einem Gespenst auf dem Friedhof, und wir stiegen alle darauf ein. Die Geschichten wurden immer wilder und wirbelten durcheinander, bis es Mitternacht wurde. Der Wein floss in Strömen, die Mädels brüllten vor Lachen und das Feuer prasselte.
Wenn ich das heute so niederschreibe, verstehe ich, dass wir, ohne es überhaupt zu merken, eine Art Séance veranstalteten. Wir rührten die Dinge auf, öffneten einen Spalt. Und sorgten dafür, dass etwas durchsickern konnte.
Aber das sehe ich natürlich erst jetzt, in der Rückschau. Wenn ich damals nur einen Funken Ahnung gehabt hätte! Natürlich passierte da etwas, aber wir bemerkten es erst, als das brennende Mädchen auftauchte.
Aber bevor ich davon erzähle, brauche ich was zu trinken.
2
Es war der heißeste Juni seit Jahren, was bedeutete, dass Alfie und ich ziemlich viel Zeit in der Altstadt verbringen konnten, jenem Stückchen Kopfsteinpflaster-Nostalgie, das vom Rest der Stadt durch die Bahnlinie von Shoebury nach Fenchurch Street abgetrennt war. Wir waren gern dort, fischten Krabben, paddelten und bauten Sandburgen am Strand. Obwohl Alfie zu jung war, um seinen Vater zu vermissen, schmerzte Joshs Abwesenheit noch wie eine frische Wunde, und ich versuchte das zu überwinden, indem ich minutiös organisierte Spiele und ernsthafte Quality Time einschob. Aber eigentlich machte es Spaß. Alfie war vier, ein niedlicher Junge mit der gutgelaunten Lebenseinstellung seines Vaters und einem Strom von Geplapper, das mir selbst an schlechten Tagen ein Lächeln entlockte.
Schlecht an der Hitze war die üble Stimmung, die unter den Schülern und Kollegen an der Privatschule herrschte, wo ich Musik und Medien unterrichtete. St. John's lag ein paar Meilen im Hinterland, umgeben von hektarweise wohlgepflegten Landschaftsgärten. Es war ursprünglich eines der letzten großen Herrenhäuser in der Gegend gewesen, bis es während des Ersten Weltkriegs von der Familienresidenz in ein Krankenhaus umgewandelt worden war. 1947 hatte man eine private Mittelschule daraus gemacht. Seitdem hatten sich die Gebäude stetig, aber in eher zufälliger Anordnung und in höchst unsympathischer Weise über die Rasenflächen ausgebreitet. Der Block, in dem ich arbeitete, war ein Betonwürfel aus den Achtzigerjahren, der überraschend gut dazu geeignet war, hervorragende Lernergebnisse hervorzubringen und sich allmählich mit einer weiteren hässlichen Glaskonstruktion in den Chrysanthemengarten hinein ausbreitete.
Allen Neubauplänen zum Trotz fraß sich jedoch die Wirtschaftskrise ins öffentliche Bewusstsein, und die Auswirkungen nahmen allmählich zu. So wurden unsere Tagesschüler an allen Ecken und Enden weniger.
Mein Chef war Andrew McWhittard, ein vierzigjähriger, lediger, verbitterter Schotte mit einem boshaften Mundwerk. Er war groß und schlank, hatte einen schwarzen Haarschopf und hatte einige Unruhe in die Gruppe der weiblichen Angestellten gebracht, als er zum ersten Mal aufgetaucht war. Aber die Flitterwochen hatten nur zwei Wochen gedauert, dann hatte er sich als Roboter erwiesen, bei dem man den Humor-Chip vergessen hatte. Er war ausschließlich darauf programmiert, die Politik der Schule herunterzubeten. Ich persönlich fand ihn extrem arrogant. Bei unserer Vorstellung hatte er mich angesehen, als könnte er nicht glauben, dass ein Mensch mit meinem Akzent tatsächlich in einer Privatschule arbeitete.
Aber man lernt eben nie aus.
McWhittard war schon an guten Tagen ein Tyrann, und in letzter Zeit hatte er sich darauf verlegt, uns ständig daran zu erinnern, dass Schüler Jobs bedeuteten und dass die Verringerung ihrer Zahl nichts Gutes für unsere Anstellungsverhältnisse verhieß. Man konnte sehen, dass er die Angst genoss, die er uns damit einjagte.
Einige Verwaltungskräfte waren in Elternzeit gegangen, ohne dass es eine Vertretung gab. Unausgesprochen schien der Plan zu sein, dass wir uns gefälligst selbst verwalten sollten. Ich unterrichtete nur drei Tage in der Woche, aber der Papierkram wurde immer mehr, und wenn man die Notengebung, Prüfungen, Berichte, Tage der offenen Tür und Elternabende noch dazunahm, dann war der Juni wie immer der grausamste Monat überhaupt.
Und dann kam noch dazu, dass eines meiner Augenlider anfing zu sacken. Am Anfang bemerkte es niemand außer mir, und selbst ich dachte zuerst, ich wäre einfach müde. Aber nach einer Woche ohne Wein und fünf durchgeschlafenen Nächten hing das Lid immer noch, und ich rief in der Arztpraxis an. Die Sprechstundenhilfe sagte mir, der früheste Termin wäre Freitagmorgen vor der Schule, also nahm ich den.
Sie sehen also, ich hatte ziemlich was um die Ohren. Wohl auch deshalb brauchte ich eine Weile, bis ich bemerkte, dass Alfie so komisch vor sich hin murmelte.
Wie ich schon sagte, war der Junge eine echte Plaudertasche. Schon bevor er richtig sprechen gelernt hatte, hatte er mit seinen Actionpuppen, Feuerwehrleuten und Teddys im Wohnzimmer gesessen und hatte Geschichten nachgespielt, bei denen sie alle verschiedene Rollen und Stimmen hatten. Das Erdgeschoss unseres Dreißiger-Jahre-Hauses bestand aus einem einzigen großen Raum mit großen Terrassentüren nach draußen, sodass ich mit dem Staubsauger herumfahren oder den Abwasch machen konnte und gleichzeitig mit einem Ohr dem Radio und mit dem anderen meinem Sohn zuhören konnte. Wobei Alfie in letzter Zeit oft im Garten spielte statt drinnen.
Am Montag vor meinem Arzttermin stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, warum er das tat. Zuerst dachte ich, er wolle nur die Sonne genießen, aber das war eigentlich eher Erwachsenenart. Ich erinnerte mich an die heißen Sommersamstage meiner Kindheit, an denen ich mit meiner Schwester Charlotte (oder Lottie, wie sie sich nennen ließ) auf dem Sofa vor dem Fernseher saß, ohne mich um die Düsternis im Zimmer zu kümmern. Wie oft hatte unsere Mum die Vorhänge aufgerissen und uns getadelt, dass wir an einem so schönen Tag im Haus blieben? Wie oft hatten wir mit den Schultern gezuckt und einfach weitergeschaut?
Kinder spielen gern draußen, aber sie ziehen keine Verbindung zum Wetter. Man muss viele Jahre älter werden, um sich mit den trügerischen Angewohnheiten des britischen Wetters abzufinden. Mit vier Jahren ist man einfach noch nicht so weit.
Ich nahm also die Ringelblumen-Kompresse von meinen Augen und stellte mich an die Terrassentür. Alfie saß auf der Wiese neben unseren alten schmiedeeisernen Gartenmöbeln. Er hatte seine Puppen vor den Stühlen aufgereiht und war damit beschäftigt, ihnen eine Show vorzuführen. Nach ein paar Minuten bemerkte er mich, und dann forderte er mich förmlich dazu auf, mich dazuzusetzen und zuzuschauen.
Es gab dort vier Stühle, zwei an jeder Seite des Tisches. Ich nahm meinen Kaffeebecher und wollte mich gerade auf den Stuhl zur Linken setzen, als er rief: »Nein, nein, nein, Mummy, nein!«
Es ist ziemlich normal, dass kleine Kinder wegen irgendwelcher Kleinigkeiten einen Riesenaufstand machen; sie haben alle ihre ausgesprochenen Abneigungen, also ließ ich zu, dass Alfie mich am Rock zu dem weiter weg stehenden Stuhl zog.
»Tut mir leid, Alfie«, grinste ich und beugte mich vor, um meinen Becher auf den Tisch zu stellen, aber er war immer noch nicht zufrieden.
»Nein, Mummy, da nicht!«
Er warf seinen blonden Lockenkopf herum, man konnte sehen, dass er ärgerlich war. Er verzog das Gesicht, nahm mich an der Hand und führte mich auf die andere Seite des Tisches.
»Du sitzt da.«
»Sind Sie sicher, Sir?«, fragte ich todernst.
»Da nicht«, sagte er und zeigte auf den Stuhl, über den ich mich so unhöflich hinübergebeugt hatte. »Da sitzt doch das brennende Mädchen.«
Er rieb sich die Nase und ging zurück zu seinen Puppen.
»Tut mir leid«, lachte ich und ging auf sein Spiel ein. Ich hatte mich schon gefragt, wann er eingebildete Freunde entwickeln würde, und heimlich gehofft, dass es bald losginge. Lottie hatte sich als Kind mit einem eingebildeten Riesen namens Hoggy angefreundet, der Autos fraß und am Ende nach Australien auswandern musste. Ich hatte ihre Hoggy-Geschichten geliebt, und später waren sie ein sicheres Mittel gewesen, um meine Freunde zu amüsieren.
»Wie heißt sie denn?«, fragte ich Alfie. Hochkonzentriert zog er sich die Mr-Punch-Handpuppe über die Rechte und beachtete mich nicht.
Ich griff zu ihm hinüber und tippte ihm spielerisch auf den Kopf. »Hallo? Hallo? Jemand zu Hause?«
Alfie wich zurück.
»Wie heißt deine Freundin, Alfie?«
Er wandte der Störung den Rücken zu. »Weiß nich.«
Da ich so nicht weiterkam, gab ich mich damit zufrieden, ihn zu beobachten. Er war lustig und freundlich und wurde so schnell groß. In diesen ruhigen Augenblicken vermisste ich Josh. Die Erkenntnis, dass niemand da war, der mein zärtliches Lächeln mit mir teilte, schmerzte sehr.
Witwen sind einsame Menschen.
Nach einigen weiteren Versuchen hatte Alfie die Handpuppe endlich besiegt und drehte sich schwungvoll herum. »So macht man das!«, quiekte er in einer ziemlich guten Imitation. Dann fiel sein Blick auf den leeren Stuhl, sein Gesicht wurde ernst und seine Schultern sackten herunter. Er riss die Puppe von seiner Hand und warf sie auf den Boden. »Schau doch, was du angerichtet hast!« Er deutete mit seinem pummeligen Zeigefinder auf den schmiedeeisernen Stuhl. »Du hast sie verjagt! Mummy!«
Er sah so niedlich aus, wenn er wütend wurde, mit seinen blonden Locken und den Sommersprossen, dass ich ihn am liebsten in die Arme gerissen und ihm sein hübsches, schmollendes Gesicht abgeküsst hätte. Stattdessen schob ich die Unterlippe vor, entschuldigte mich überschwänglich und versprach ihm ein Spezial-Schokoladeneis zur Entschädigung. Das schien zu wirken, und ich dachte nicht mehr daran. Bis Donnerstagabend.
Ich hatte die Reste unserer Pizza weggeräumt und trank gerade das letzte Glas eines milden Rioja, bevor ich mich daran machte, Alfie nach oben zu locken. Er ging nicht gern ins Bett, begriff nicht, welchen Sinn es haben sollte, zu schlafen, wenn die Sonne noch schien. Keine noch so ausführliche Erklärung konnte ihn davon überzeugen, dass es tatsächlich Zeit war, ins Bett zu gehen.
Er hatte schon alle üblichen Techniken durchprobiert: den Protest (»Das ist nicht fair!«), die Ablenkungsmethode (»Kommen Roboter auch in den Himmel?«), die schlichte Lüge (»Aber ich habe doch heute Geburtstag!«) und die Erpressung (»Erst eine Geschichte!«). Aber er war blass und müde, also war es jetzt Zeit für brutale Gewaltanwendung.
Er stand bei der Terrassentür, und als ich ihn hochhob, griff er nach einer der Türklinken. Als ich einen Schritt von der Tür wegtreten wollte, klammerte er sich fest, sodass ich nicht weiterkam.
»Nein, Mummy, jetzt nicht! Das Mädchen ist krank! Schau doch!« Mit der freien Hand deutete er in den Garten, der leer war bis auf eine Mückenspirale über dem rostigen Grill.
Allmählich wurde es lästig - es war ein anstrengender Schultag gewesen. Mein Nacken tat weh, ich wollte in die Badewanne und meine schmerzenden Muskeln entspannen. »Da ist niemand, Schätzchen. Komm jetzt, es ist wirklich Schlafenszeit.«
»Aber das Mädchen!« Sein Griff wurde noch fester. »Das Mädchen brennt!«
Seine Stimme klang so traurig, und als ich ihn ansah, bemerkte ich zwei kleine Falten auf seiner Stirn. Ich löste seine Finger einen nach dem anderen vom Türgriff und öffnete die Tür. »Schau.«
Im Garten hing noch ein schwacher Geruch von Holzfeuer, und kurz fragte ich mich, ob der Duft vom Grill des Nachbarn seine Fantasie angeregt hatte. »Da ist niemand, Alf.«
Aber er ließ sich nicht überzeugen. »Rufst du die Feuerwehr, Mummy?«
Jetzt fiel bei mir der Groschen. Alle Kinder lieben Feuerwehrautos, Alfie war da keine Ausnahme, »Aber sicher, mein Schatz, ich rufe sie, sobald du gebadet hast.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt.« »Okay, ich rufe sie jetzt. Aber dann kommst du mit nach oben, ja?«
Er legte seine Finger auf mein Kinn und sah mir in die Augen. Ich streckte die Zunge heraus. Er lächelte. »Ja, aber du musst sie jetzt rufen.«
Nach einem schnellen Anruf bei Feuerwehrmann Sam (also bei niemandem) in der Feuerwache von Leigh gab er endlich nach, und eine Stunde später lag er im Bett und döste friedlich ein. Ich war ziemlich erschöpft; tatsächlich überkam mich eine schreckliche Müdigkeit, als ich in den Spiegel blickte und mich abschminkte, und plötzlich wollte ich nur noch eins: mit einem Buch ins Bett kriechen.
Ich erinnere mich gut daran. Ich erinnere mich an alles, was an diesem Abend geschah - die Sonnenflecken zwischen dem Blätterschatten des Eukalyptusbaums im Vorgarten, der Duft des Lavendelöls auf meinem Kopfkissen, der Geruch von frisch gewaschener Bettwäsche und der schwache rötliche Schimmer im Zimmer.
In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal davon.
Es ging so los, wie das bei Träumen üblich ist: mit vertrauten Orten und Leuten. Alfie und ich am Strand. Corinne, Ewan und Jack waren auch da. Und John, dieses seltene Exemplar eines Kollegen und Freundes gleichermaßen. Wir machten ein Picknick oder so. Dann war ich am Strand Wharf, nicht weit vom Strand, meine Füße eingebacken in holzkohlefarbenen Lehm. Ein Schrei war zu hören, und ein junges Mädchen kam aus einer der Fischerhütten gelaufen. Das Mädchen machte ein seltsames Geräusch, wie der Schrei einer hungrigen Möwe oder das Aufjaulen einer sterbenden Katze. Als ich wieder hinsah, sprangen Flammen aus ihrer Schürze. Sie leckten an den lockigen Zöpfen und an ihrem Gesicht. Erschrocken lief ich zu ihr hin. Ich hatte eine Baumwolltasche in der Hand, mit der ich nach den Flammen schlug. Aber das Feuer wollte nicht ausgehen. Es wurde schlimmer, wandte sich gegen mich, hüllte das Mädchen ganz ein. Meine Finger schmerzten entsetzlich, aber die fürchterlichen Schreie zwangen mich trotzdem zum Handeln.
Dann wurde ich plötzlich wach, fand mich schweißgebadet im Bett, keuchend in dem gelblichen Sonnenlicht, das durch die Jalousien drang. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mir klarzumachen, wo ich war. Und ich hätte schwören können, dass ich noch den Gestank von verbranntem Fleisch in der Nase hatte.
Der Albtraum hatte mich aufgewühlt, aber man musste kein Genie sein, um sich zu erklären, woher er gekommen war.
Der Wecker zeigte mir, dass es noch sehr früh am Morgen war, aber der Albtraum war sehr lebhaft gewesen, und ich begriff, dass ich bald würde aufstehen müssen. Schlafen konnte ich jetzt ohnehin nicht mehr.
Nachdem ich am Abend zuvor nicht mehr gebadet hatte, ließ ich mir jetzt ein Bad einlaufen, gab Badesalz mit Lavendel hinein und tauchte dankbar unter.
Nach einer Viertelstunde, als ich nach der Seife griff, sah ich etwas auf meinem Handballen unter dem rechten Daumen: eine mondsichelförmige Schwellung.
Ich berührte sie leicht mit den Fingerspitzen. Sie tat weh. Eine Brandwunde. Verwirrt hielt ich inne. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich mich verbrannt hatte, aber schließlich hatte ich am Abend vorher eine ganze Flasche Rotwein weggeputzt. Böse Sarah.
Ich genoss das warme Wasser noch eine Weile, stieg dann aus der Wanne und suchte im Schränkchen unter dem Waschbecken nach antiseptischer Salbe. Ein bisschen Savlon linderte den Schmerz.
Alfie kam ins Bad getappt und pinkelte, während ich mir eine Mullbinde um die Wunde wickelte.
»Was hast du gemacht?« Er hatte ein großes Interesse an Verletzungen aller Art.
»Mummy hat sich gestern Abend wehgetan.«
Er ließ den Toilettensitz fallen. »Wie?«
»Ich glaube, ich habe mich verbrannt, als ich die Pizza gebacken habe.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Syd Moore
Syd Moore lebt als Verlagsfrau, Fernsehmoderatorin und Journalistin in England. „Der Hexenteich" ist ihr erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Syd Moore
- 2012, 1, 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365160X
- ISBN-13: 9783863651602
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