Der Kuss des Schokoladenmädchens
Madelaine bezaubert jeden mit ihren süßen Schokoladenkreationen und verdreht den Männern reihenweise den Kopf. Doch in ihrer Ehe mit dem Grafen Mazary kriselt es, da sie keinen Sohn bekommt. Verzweifelt flüchtet Madelaine in die Arme eines anderen Mannes.
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Produktinformationen zu „Der Kuss des Schokoladenmädchens “
Madelaine bezaubert jeden mit ihren süßen Schokoladenkreationen und verdreht den Männern reihenweise den Kopf. Doch in ihrer Ehe mit dem Grafen Mazary kriselt es, da sie keinen Sohn bekommt. Verzweifelt flüchtet Madelaine in die Arme eines anderen Mannes.
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Der Kuss des Schokoladenmädchens von Katryn Berlinger1
Juli 1902
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Madelaine stand an der Reling des schlanken Segelschiffes und beobachtete, wie die brasilianische
Küste im feinen Dunst des Meeres versank. Längst lagen die breiten, dicht mit Palmen gesäumten Sandstrände hinter ihr. Und die Erinnerung an das, was sie als Letztes gesehen hatte, verblasste mit jeder Seemeile schneller, als sie es für möglich gehalten hatte: Salvadors Altstadt mit den vergoldeten Barockkirchen und kolonialen Prachtbauten, das Lachen, die Rufe der Fischer und Händler im Getümmel des betriebsamen Hafens.
Nur das Gesicht ihres Vaters blieb ihr treu, sein leuchtender, zuversichtlicher Blick. Noch immer spürte sie seine feste Umarmung, so als wollte er nicht zulassen, dass die Entfernung zwischen ihnen unerbittlich größer wurde. Ich werde kommen, hörte sie seine Stimme, ich werde kommen. Allein dieser Klang tröstete sie, denn er blieb unberührt von Wind und Wellenschlag.
Für einen kurzen Moment verweilten ihre Gedanken bei ihm. Sie hatten im Laufe des letzten Dreivierteljahres ausreichend Zeit gehabt, miteinander zu sprechen und sich wieder wie in alten Kindertagen anzunähern, beinahe so, als sei nie etwas geschehen. Nun, da alles gesagt und für die Zukunft geplant war, hatten sie beschlossen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorn zu schauen. »Man muss die Zukunft im Sinn haben und die Vergangenheit in den Akten«, hatte er gemeint und sie fühlen lassen, wie stolz er auf sie war.
Aber es war merkwürdig: Je mehr sie seine Bewunderung genossen hatte, desto unruhiger war sie geworden. Sie wusste, sie brauchte sich keine Sorgen um Billes Kinder zu machen, die noch immer in Urs Martielis Obhut in Riga lebten. Doch fern von ihnen Bahias Schönheiten genießen zu können, ohne das zu tun, was sie für noch wichtiger hielt, hatte sie zusehends gequält. Sie wollte zurück nach Europa, um endlich in András' Heimat Wurzeln schlagen zu können.
Noch vor wenigen Tagen hatte sie mit ihm darüber gestritten, mit welchem Schiff sie heimreisen sollten. Er war zur Hafenkommandantur gegangen und hatte erfahren, dass erst vor kurzem eines der luxuriösen Passagierschiffe der von Albert Ballin geführten Hamburg-Amerikanischen-Paketfahrt-Actien-Gesellschaft aus Buenos Aires eingetroffen war und am übernächsten Tag gen Hamburg abfahren würde. Ohne sie zu fragen, hatte er sofort eine Suite in der ersten Klasse reservieren lassen, doch sie hatte sich geweigert: »Und wenn es auch die berühmteste Linie der Welt ist«, hatte sie ihm gesagt, »ich werde nicht mit ihr fahren! Niemals. Ich habe keinerlei Lust, wieder an das erinnert zu werden, was ich vor sechs Jahren erlebt habe!«
»Du denkst an den Untergang ...«
»Nein, nein!«, hatte sie ihn hektisch unterbrochen. »Sprich mich nie darauf an!«
»Ich weiß, verzeih. Aber schneller als mit der Ballin-Linie ginge es wohl kaum ...«
»Das ist mir gleich!«
»Wieso?«
»Ja, weißt du denn nicht, dass die Ballinsche Reederei im Laufe der letzten Jahre durch das Schicksal all jener reich geworden ist, denen es so ging wie mir und meinen Eltern? In all der Zeit ist der Zustrom deutscher und russischer Auswanderer nie abgerissen. Albert Ballins Idee, eigens für diese Armen Zwischendecks zu bauen, hat sich mehr als gelohnt. Zwischendeck! Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Ich werde niemals das Grauen auf den Pritschen in dieser stinkenden, lichtlosen Hölle vergessen! Und du verlangst von mir, wieder ein Passagierschiff zu betreten? Niemals!«
»Aber dies ist ein Luxusliner, Madelaine, kein Auswandererschiff.«
»Dass es ein Zwischendeck hat, reicht mir, um an Land zu bleiben!«
»Dann werden wir hier noch länger warten müssen, bis sich ein geeignetes Schiff für dich gefunden hat.« Sie erinnerte sich noch deutlich daran, dass der Ärger in seiner Stimme sie irritiert hatte. András hatte ihr noch nie eine Meinung oder eine Stimmung übel genommen.
»Hast du einen Grund, sofort abreisen zu wollen?«
»Ich habe nur an dich gedacht«, hatte er knapp geantwortet.
»Dann tue es bitte auch jetzt. Es ist mir wichtig.« »Aber ja, mein Liebes.«
»Mein Liebes - András, du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du das sagst. Das klingt, als sei ich schwindsüchtig und bräuchte Trost.«
»Den gebe ich dir, wenn wir wieder in einen Sturm geraten.«
»Willst du mir etwa Angst machen?«
»Ich würde mich gern von deiner Furchtlosigkeit überzeugen lassen, Madelaine.«
»Nur auf dieser Fahrt oder für alle Zeit?«
»Hm.« Er hatte nichts weiter gesagt, nur dieses »Hm«. Sie fand es sehr merkwürdig, doch bevor sie noch weiter in ihn dringen konnte, hatte sich ihr Vater eingemischt. »Madelaine braucht frischen Wind, András. Das ist alles. Fahrt noch ein wenig spazieren, ruht euch aus. Ich werde zum Hafen gehen und mich nach einem Schiff erkundigen, das ihr weniger Angst macht.«
Damit war die Missstimmung behoben. Sie waren in die Stadt gefahren und hatten Souvenirs eingekauft. Am Abend überraschte sie ihr Vater mit der Nachricht, er habe auf dem Weg zur Hafenkommandantur zufällig einen alten Bekannten getroffen, der Heizer auf einem Hamburger Postschiff sei. Glücklicherweise hatte dieser gerade Landgang, und so seien sie in ein Hafen-Café gegangen, um Erinnerungen auszutauschen. Währenddessen sei eines der schnellen, zuverlässigen Flying-P-Liner der Hamburger Reederei Laeisz eingelaufen. Das hätte ihn auf eine Idee gebracht. Noch ein wenig zu plaudern, den Kapitän abzufangen und zu fragen, ob er auf seiner Rückfahrt außer Kaffee und Baumwolle auch zwei heimwehkranke Passagiere mitnehmen könne, habe kaum eine Zigarettenlänge gedauert.
Madelaine lächelte. Nun segeln wir also heim, dachte sie freudig, wie die Möwen, im Auf und Ab des Windes.
Sie hielt ihr Gesicht dem Wind, der Sonne entgegen, holte tief Luft. Nichts als lichtbesprenkeltes Blau um sie herum. Keine malmenden Schiffsschrauben, kein Rauch, kein Lärm, kein Gestank. Nur Licht und Wärme: Herrlich!
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie sich zwei Männer dem Hochdeck in der Mitte des Schiffes näherten, wo die Kommandobrücke untergebracht war. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und erkannte András an der Seite eines Schiffsoffiziers. Er erwiderte ihren Blick, grüßte. Lächelnd winkte sie zurück. Wie immer, wenn sie ihn sah, klopfte ihr Herz ein wenig heftiger.
Sie beobachtete, wie der Offi zier ihm die schmale weiße Tür der Kommandobrücke aufhielt und András seine hohe Gestalt beugte, um hindurchzutreten. Er wird sich nie an die Enge gewöhnen können, dachte sie, genauso wie ich. Und auch wenn er es nicht zeigt: Ich weiß, wie sehr er die Weite seiner Heimat vermisst, von der er mir so viel erzählt hat - und ich bin sicher: Ich werde mich dort mit ihm wohl fühlen.
Eine plötzliche Böe riss dem Offizier die Tür aus der Hand. Mit einem lauten Knall schlug sie hinter den beiden Männern zu.
Madelaines Geduld wurde in den nächsten Stunden auf eine harte Probe gestellt. Die Überquerung des Atlantiks zog sich trotz stetig geblähter Segel hin, und nach dem vierzigsten Tag setzte das ein, was sie die ganze Zeit über verdrängt hatte: ein Sturm, der alle in Atem hielt.
Von Deck hörten sie die gebrüllten Befehle des Kapitäns und die Rufe der Mannschaft, das Flattern des Kleinsegels und Knarzen der Maste. Ihre leeren Champagnergläser rollten klirrend über den schwankenden Boden, der Eiskübel war umgestürzt, und die immer kleiner werdenden Eisstückchen rollten im Raum umher, schlugen leise gegen Stuhl- und Tischbeine. Madelaine hielt die Augen geschlossen. Sie war benommen von Lust und Angst zugleich. Sie sog sich an András' Lippen fest, hielt ihn an den Schultern, umklammerte seinen Rücken mit ihren Beinen, schob sich vor und glitt zurück, um sich seinen Bewegungen anzupassen. Kein Wellental konnte tief genug sein, um ihn ganz in sich aufzunehmen. Kein Wellenkamm so hoch, um ihn noch weiter zu reizen. Und sie hoffte, ihre Lust würde nie mehr aufhören.
Der Rausch verflog, als der Sturm nach mehreren Stunden und einer kurzen Pause noch einmal auflebte. Schlagartig änderte sich Madelaines Befinden. Sie bat András, sie allein zu lassen. Mehrmals ging sie trotz des heftigen Wellenschlages hinaus an die Reling, schaute in Richtung französischer Küste. All die entsetzlichen Bilder vom Untergang der Eleonora tauchten wieder in ihr auf. Der Puls des Meeres ... die Strömung des Ärmelkanals, der Wellenschlag, die Dunkelheit, der Tod. Es war schwierig, den Schmerz auszuhalten. Um ihn zu bekämpfen, rief Madelaine sich immer wieder den Moment ihrer Rettung und das erste Gespräch mit Urs in Erinnerung. Hatte er nicht gesagt: »Der Zauber von Schönheit, Wahrheit und Süße ist immer stärker als das Böse, das Feuer und der Sturm«? Nie hätte sie András sagen können, wie viel Kraft es sie kostete, ihre Erinnerungen zu ertragen, nie hätte sie sie in Worte fassen können.
Das Schwanken des Bodens unter ihren Füßen hatte zwar im Laufe der letzten Stunden nachgelassen, doch noch immer schien es ihr, als schlüge in ihr der fremde Puls des Meeres. Am frühen Abend kam András zu ihr und bat sie, sich anzukleiden.
»Warum? Ich fühle mich nicht wohl.«
Prüfend musterte er sie.
»Du siehst gut aus, Madelaine, wenn auch erschöpft. Ich glaube, du brauchst ein wenig Ablenkung.« Er hob den Arm und schwenkte ein seidenes Tuch. »Hast du Lust?« »Jetzt?«
»Ja, aber nicht hier.«
Fragend sah sie ihn an. Er sagte nichts, lächelte und spielte mit dem Tuch. Sie wurde schwach. Wieder einmal gelang es ihm, sie zu verführen. Sie atmete auf. Ja, es wurde Zeit, die bittere Erinnerung der letzten Stunden zu vergessen. Sie schlug ihr Seidenbett beiseite und ließ sich von ihm die Augen verbinden.
Sie ging, ihren Unterarm auf den seinen gelegt, mit ihm durch die Gänge des Oberdecks. Von irgendwoher erklangen Stimmen und Pianomusik. Sie erinnerte sich daran, im Salon einen kleinen Stutzflügel gesehen zu haben, und zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Es hätte nur schmerzliche Erinnerungen heraufbeschworen. Wie gut, dass András sie jetzt fest um ihre Taille fasste.
»Bleib bitte stehen, Madelaine«, flüsterte er in ihr Ohr. »Komm, eine Stufe, noch eine ...«
Bereitwillig folgte sie ihm. Mit sanftem Druck schob er sie weiter, bis vor ihnen knarrend eine Tür aufging. Madelaine roch Blumen, Pfeifenrauch und den Duft frischherben Eau de Toilettes. Sie hörte Wispern, Tuscheln, unterdrücktes Lachen und stellte sich die Gesichter vor, die sie neugierig und amüsiert zugleich musterten: Kapitän, Offiziere, der britische Botaniker Hermes, der deutsche Holzhändler Grämmel, die beiden katholischen Priester Bruder Ambrosius und Bruder Martinus sowie Leonardo, der reiche Sohn eines Fazendeiros, eines Kaffeebarons, aus São Paulo, mit seinem mulattischen Freund und Diener Gilberto.
Im ersten Moment war es ihr peinlich, doch dann, als ein Wiener Walzer einsetzte und András dicht hinter sie trat, wurde sie kribbelig vor Aufregung.
Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er seine Hände über ihre Schultern zu ihrem Kopf emporhob. Und obwohl er sie nicht berührte, hatte sie das Gefühl, die Hitze seiner Hände auf ihrer Haut zu spüren. Am liebsten hätte sie sich rücklings an ihn gelehnt, wären da nicht die zahlreichen Zuschauer gewesen. So richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Bewegung seiner Fingerspitzen, mit denen er den Knoten des Seidentuches löste, mit dem er vor wenigen Minuten ihre Augen verbunden hatte.
Sie schaute auf. Sie stand auf einem kleinen Podest, vor ihr ein runder Tisch, daneben zwei Stühle. Im Halbkreis um sie herum, stehend oder mit übereinandergeschlagenen Beinen in Sesseln sitzend, all die anderen. Ihr wurde heiß, und sie fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.
»Bitte, setz dich, Madelaine.« András rückte einen der Stühle für sie zurecht, dann nahm er ihr gegenüber Platz. »Ich habe die tapferste Frau geheiratet, die ich mir je hätte wünschen können«, begann er und legte ein dunkelblaues Samtkästchen in die Mitte des Tischchens. »Als Dank für deine Liebe und den Mut, den du bewiesen hast, diese Reise zu machen. Ich war mir immer bewusst, dass sie alte Schmerzen in dir aufreißen würde. Umso mehr freue ich mich, dass sie dich nicht überwältigt haben. Ich liebe dich, Madelaine ... und bitte dich, dieses Geschenk anzunehmen.«
Sie zögerte, hörte leises Tuscheln. Irgendwo knallte ein Champagnerkorken. Einen Moment lang wusste sie nicht, ob sie sich ärgern oder freuen sollte. Warum musste András ihr seine Gefühle vor Publikum offenbaren? Das hatte er noch nie getan. Sie suchte seinen Blick.
»Frankreich liegt also hinter uns?« Sie wagte nicht, den Namen der bretonischen Hafenstadt auszusprechen, in der sie nach dem Untergang der Eleonora vor sechs Jahren wieder zum Leben erweckt worden war.
»Ja, seit genau einer Stunde und sechsundvierzig Minuten. Du hast es doch geahnt, oder nicht?«
Sie nickte, bildete sich sogar ein, den markanten bretonischen Küstenstreifen von damals wiedererkannt zu haben. Sie beugte sich vor.
»Warum hier, vor aller Augen? Warum jetzt?«, flüsterte sie vorwurfsvoll.
Er riss die Augen auf, als verstünde er ihr Unbehagen nicht.
»Warum nicht?«, entgegnete er ebenso leise. »Du bist es mir wert, vor aller Augen gefeiert zu werden. Du bist schließlich eine besondere Frau. Meine Frau.«
Madelaine bemühte sich zu lächeln. Sie griff zum Kästchen, öffnete es und stieß einen leisen Schrei aus. »Gefällt er dir, Madelaine?«
Sie begegnete seinem Blick, nahm den Doppelring, den Diamanten und Perlen verzierten, drehte ihn hin und her. Sie suchte nach den passenden Worten.
»Ja, András, er ist herrlich ... weiß wie Schaumkronen und glitzernd wie die Sonnenflecken auf dem Meer.«
András lächelte. »Genau darauf habe ich angespielt: auf deinen Mut, dem Meer zu trotzen.«
Er hob seine Hand, woraufhin ein Steward herbeigeeilt kam und Champagner ausschenkte. Madelaine fühlte sich nicht wohl dabei, dass András sie auf diese Art und Weise zu dieser Stunde an das erinnerte, wogegen sie die letzten Tage angekämpft hatte. Da sie ihn aber nicht enttäuschen wollte, und zudem aller Augen auf ihr ruhten, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Spiel mitzumachen. Sie ließ sich von den Anwesenden beglückwünschen und beschloss, ihre trüben Erinnerungen für den Rest der Nacht fortzutanzen.
Als András sie zu dem Takt eines Wiener Walzers herumschwenkte, sagte er unvermittelt: »Mein Vater erwartet uns sehnlichst. Er ist sehr neugierig auf dich.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu.
»Hat er dir geschrieben?«
»Er sagte es mir schon in seinem letzten Brief nach Riga.« In ihren Ohren klang seine Antwort seltsam hohl, doch in diesem Moment verspürte sie kein Verlangen, darauf einzugehen. »Wie kann ich ihn ansprechen? Mit seinem Vornamen - Imre?«
»Ich empfehle dir, ihn zunächst einmal mit seinem Titel anzusprechen. Du hast es dadurch etwas leichter.« Er lächelte aufmunternd.
»Wie meinst du das?«
»Es ist so üblich«, entgegnete András und hielt in der Bewegung inne, um Madelaine kurz darauf links herumzuschwenken.
»Du meinst, ich soll mich an die Konvention halten?« »Ja, mein Liebes.«
Sie drohte ihm mit dem Finger.
Lachend tat er, als wolle er nach ihm schnappen. »Du siehst süß aus, wenn du so zornig guckst.«
»Ich hoffe, das sieht dein Vater ebenso, wenn es mir bei ihm nicht gefallen sollte.«
»Bestimmt«, gab András zurück, doch ihr entging nicht, wie sein Blick flackerte. » Du klingst nicht sehr überzeugt, András. Er wird mich nicht mögen, hab ich recht?«
»Du wirst ihn überzeugen, auch ohne einen einzigen Tropfen blauen Blutes.« Er drückte sie kurz an sich. »Ich wünsche mir, wir würden unsere Reise irgendwann mit einem Spiel würzen.«
Fragend sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«
»Nun, damit es dir nicht langweilig wird ... Außerdem möchte ich dich ein wenig mit meinem Land vertraut machen. Natürlich nur, wenn es dich wirklich interessiert.« Forschend sah er ihr in die Augen, hielt sie einen Moment lang im Wiegeschritt. »Und? Was meinst du dazu?«
»Aber ja, natürlich, András. Aber bitte, tu es auf deine Weise, amüsant, ja?«
»So wie heute Abend? Lustvoll und mit Qualen?« Madelaine lachte. »Warum nicht?«
»Gut, das hatte ich eigentlich auch vor. Ich weiß nur noch nicht genau, wo und wie.«
»Überlegen Sie es sich, Graf«, gab sie schelmisch zurück, während einer der Offi ziere an sie herantrat und um den nächsten Tanz bat. Als Madelaine nach einer Polka und einem langsamen Walzer wieder bei András war, sagte sie: »Ich würde gern noch ein paar Tage in Hamburg bleiben. Mich interessiert, wie sich die Stadt seit meinem letzten Besuch verändert hat. Außerdem hätte ich Lust, Ausschau nach einem Haus für meinen Vater zu halten.«
»Glaubst du, er wird wirklich sein Versprechen halten, innerhalb eines halben Jahres seine Tabakplantage aufzulösen? Es wird nicht ganz einfach sein ... vielleicht dauert es länger. Wir haben offen darüber gesprochen, wie du weißt.«
»Was er verspricht, wird er halten.«
András bedachte Madelaine mit einem zweifelnden Blick. »Das hat er dir und deiner Mutter schon einmal gesagt, und es kam anders, wie du dich erinnern kannst. Aber, wie dem auch sei: Mein Vater erwartet uns. Und wir sollten uns beeilen.«
Madelaine spürte den festen Druck seiner Hand in ihrem Rücken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er machte sie besinnungslos vor Begehren, und es schien ihr unvorstellbar, dass ihr Glück jemals an den Klippen des Schicksals zerschellen könnte.
Spät in der Nacht wachte sie auf und ließ die letzten Stunden Revue passieren. Ihr Champagnerrausch war verflogen, stattdessen hatte sie Durst. Doch obwohl ihr Kopf ein wenig schmerzte, schossen ihr mit gleißender Klarheit Fragen ins Bewusstsein. Warum, fragte sie sich, hatte ihr András diesen kostbaren Ring nicht schon am Tag ihrer Trauung an Bord, auf der Hinfahrt nach Brasilien, geschenkt? Warum erst heute? Warum war es ihm so wichtig, sich von ihrem Mut zu überzeugen? Was, fragte sie sich mit zunehmender Beklemmung, erwartete sie in Ungarn, und warum war es ihm so wichtig, sie auf den alten Grafen vorzubereiten? War ihre Entscheidung richtig? Wäre es nicht doch besser, András' Widerstand zu ignorieren und in Hamburg auf die Ankunft ihres Vaters zu warten?
Es waren zu viele Fragen, zu viele in einer Nacht wie dieser. Vorsichtig erhob sie sich, trat ans Bullauge und schob die schweren Brokatgardinen beiseite. Der Himmel über dem Meer füllte mal ein Viertel, dann wieder ein Drittel der Aussicht. Unter ihm wogten die Nordseewellen ruhelos auf und ab wie das Raunen eines unberechenbaren Schicksals. Plötzlich verspürte sie Angst. Dieses Mal hatte sie nicht Angst vor der Gegenwart wie vor sechs Jahren, sondern vor der Zukunft.
Im Halbdunkel der Kabine entdeckte sie auf dem Fußboden neben András' ungestüm abgestreiften Frack etwas Helles. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie erkannte, dass es sich um eine Depesche handelte, die in Salvador sechs Tage vor ihrer Abreise eingetroffen war:
Erwarte dich. Dringende Unterredung erforderlich. Mazary
Madelaine fühlte Kälte in sich aufsteigen. András hatte sie an diesem Abend belogen: Der alte Graf hatte ihm doch geschrieben. Deshalb hatte er also in Salvadors Hafen sofort auf dem nächstbesten Passagierschiff Plätze reserviert. Ihr Gefühl hatte sie also doch nicht getrogen: Er wollte noch schneller heimkehren als sie! Viel schlimmer aber war es, dass sie erkennen musste, dass nicht sie von Imre Graf Mazary erwartet wurde, sondern András allein. Dabei hatte er ihr noch in Riga versichert, dass sein Vater ihm vergeben hatte und sich auf die Frau freue, die er - András - aus tiefstem Herzen liebe.
Sie war geschockt: András hatte sie noch nie belogen. Doch da sie ihm vertraute, sagte sie sich, dass er dafür einen wichtigen Grund haben musste, den er ihr aus Rücksicht auf ihre Gefühle verschwieg. Irgendetwas musste seit seinem letztem Brief vor mehr als einem Jahr geschehen sein, das den Stimmungswechsel seines Vaters bewirkt hatte. Nur was? Und würde sie dem, was sie erwartete, gewachsen sein?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Madelaine stand an der Reling des schlanken Segelschiffes und beobachtete, wie die brasilianische
Küste im feinen Dunst des Meeres versank. Längst lagen die breiten, dicht mit Palmen gesäumten Sandstrände hinter ihr. Und die Erinnerung an das, was sie als Letztes gesehen hatte, verblasste mit jeder Seemeile schneller, als sie es für möglich gehalten hatte: Salvadors Altstadt mit den vergoldeten Barockkirchen und kolonialen Prachtbauten, das Lachen, die Rufe der Fischer und Händler im Getümmel des betriebsamen Hafens.
Nur das Gesicht ihres Vaters blieb ihr treu, sein leuchtender, zuversichtlicher Blick. Noch immer spürte sie seine feste Umarmung, so als wollte er nicht zulassen, dass die Entfernung zwischen ihnen unerbittlich größer wurde. Ich werde kommen, hörte sie seine Stimme, ich werde kommen. Allein dieser Klang tröstete sie, denn er blieb unberührt von Wind und Wellenschlag.
Für einen kurzen Moment verweilten ihre Gedanken bei ihm. Sie hatten im Laufe des letzten Dreivierteljahres ausreichend Zeit gehabt, miteinander zu sprechen und sich wieder wie in alten Kindertagen anzunähern, beinahe so, als sei nie etwas geschehen. Nun, da alles gesagt und für die Zukunft geplant war, hatten sie beschlossen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorn zu schauen. »Man muss die Zukunft im Sinn haben und die Vergangenheit in den Akten«, hatte er gemeint und sie fühlen lassen, wie stolz er auf sie war.
Aber es war merkwürdig: Je mehr sie seine Bewunderung genossen hatte, desto unruhiger war sie geworden. Sie wusste, sie brauchte sich keine Sorgen um Billes Kinder zu machen, die noch immer in Urs Martielis Obhut in Riga lebten. Doch fern von ihnen Bahias Schönheiten genießen zu können, ohne das zu tun, was sie für noch wichtiger hielt, hatte sie zusehends gequält. Sie wollte zurück nach Europa, um endlich in András' Heimat Wurzeln schlagen zu können.
Noch vor wenigen Tagen hatte sie mit ihm darüber gestritten, mit welchem Schiff sie heimreisen sollten. Er war zur Hafenkommandantur gegangen und hatte erfahren, dass erst vor kurzem eines der luxuriösen Passagierschiffe der von Albert Ballin geführten Hamburg-Amerikanischen-Paketfahrt-Actien-Gesellschaft aus Buenos Aires eingetroffen war und am übernächsten Tag gen Hamburg abfahren würde. Ohne sie zu fragen, hatte er sofort eine Suite in der ersten Klasse reservieren lassen, doch sie hatte sich geweigert: »Und wenn es auch die berühmteste Linie der Welt ist«, hatte sie ihm gesagt, »ich werde nicht mit ihr fahren! Niemals. Ich habe keinerlei Lust, wieder an das erinnert zu werden, was ich vor sechs Jahren erlebt habe!«
»Du denkst an den Untergang ...«
»Nein, nein!«, hatte sie ihn hektisch unterbrochen. »Sprich mich nie darauf an!«
»Ich weiß, verzeih. Aber schneller als mit der Ballin-Linie ginge es wohl kaum ...«
»Das ist mir gleich!«
»Wieso?«
»Ja, weißt du denn nicht, dass die Ballinsche Reederei im Laufe der letzten Jahre durch das Schicksal all jener reich geworden ist, denen es so ging wie mir und meinen Eltern? In all der Zeit ist der Zustrom deutscher und russischer Auswanderer nie abgerissen. Albert Ballins Idee, eigens für diese Armen Zwischendecks zu bauen, hat sich mehr als gelohnt. Zwischendeck! Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Ich werde niemals das Grauen auf den Pritschen in dieser stinkenden, lichtlosen Hölle vergessen! Und du verlangst von mir, wieder ein Passagierschiff zu betreten? Niemals!«
»Aber dies ist ein Luxusliner, Madelaine, kein Auswandererschiff.«
»Dass es ein Zwischendeck hat, reicht mir, um an Land zu bleiben!«
»Dann werden wir hier noch länger warten müssen, bis sich ein geeignetes Schiff für dich gefunden hat.« Sie erinnerte sich noch deutlich daran, dass der Ärger in seiner Stimme sie irritiert hatte. András hatte ihr noch nie eine Meinung oder eine Stimmung übel genommen.
»Hast du einen Grund, sofort abreisen zu wollen?«
»Ich habe nur an dich gedacht«, hatte er knapp geantwortet.
»Dann tue es bitte auch jetzt. Es ist mir wichtig.« »Aber ja, mein Liebes.«
»Mein Liebes - András, du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du das sagst. Das klingt, als sei ich schwindsüchtig und bräuchte Trost.«
»Den gebe ich dir, wenn wir wieder in einen Sturm geraten.«
»Willst du mir etwa Angst machen?«
»Ich würde mich gern von deiner Furchtlosigkeit überzeugen lassen, Madelaine.«
»Nur auf dieser Fahrt oder für alle Zeit?«
»Hm.« Er hatte nichts weiter gesagt, nur dieses »Hm«. Sie fand es sehr merkwürdig, doch bevor sie noch weiter in ihn dringen konnte, hatte sich ihr Vater eingemischt. »Madelaine braucht frischen Wind, András. Das ist alles. Fahrt noch ein wenig spazieren, ruht euch aus. Ich werde zum Hafen gehen und mich nach einem Schiff erkundigen, das ihr weniger Angst macht.«
Damit war die Missstimmung behoben. Sie waren in die Stadt gefahren und hatten Souvenirs eingekauft. Am Abend überraschte sie ihr Vater mit der Nachricht, er habe auf dem Weg zur Hafenkommandantur zufällig einen alten Bekannten getroffen, der Heizer auf einem Hamburger Postschiff sei. Glücklicherweise hatte dieser gerade Landgang, und so seien sie in ein Hafen-Café gegangen, um Erinnerungen auszutauschen. Währenddessen sei eines der schnellen, zuverlässigen Flying-P-Liner der Hamburger Reederei Laeisz eingelaufen. Das hätte ihn auf eine Idee gebracht. Noch ein wenig zu plaudern, den Kapitän abzufangen und zu fragen, ob er auf seiner Rückfahrt außer Kaffee und Baumwolle auch zwei heimwehkranke Passagiere mitnehmen könne, habe kaum eine Zigarettenlänge gedauert.
Madelaine lächelte. Nun segeln wir also heim, dachte sie freudig, wie die Möwen, im Auf und Ab des Windes.
Sie hielt ihr Gesicht dem Wind, der Sonne entgegen, holte tief Luft. Nichts als lichtbesprenkeltes Blau um sie herum. Keine malmenden Schiffsschrauben, kein Rauch, kein Lärm, kein Gestank. Nur Licht und Wärme: Herrlich!
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie sich zwei Männer dem Hochdeck in der Mitte des Schiffes näherten, wo die Kommandobrücke untergebracht war. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und erkannte András an der Seite eines Schiffsoffiziers. Er erwiderte ihren Blick, grüßte. Lächelnd winkte sie zurück. Wie immer, wenn sie ihn sah, klopfte ihr Herz ein wenig heftiger.
Sie beobachtete, wie der Offi zier ihm die schmale weiße Tür der Kommandobrücke aufhielt und András seine hohe Gestalt beugte, um hindurchzutreten. Er wird sich nie an die Enge gewöhnen können, dachte sie, genauso wie ich. Und auch wenn er es nicht zeigt: Ich weiß, wie sehr er die Weite seiner Heimat vermisst, von der er mir so viel erzählt hat - und ich bin sicher: Ich werde mich dort mit ihm wohl fühlen.
Eine plötzliche Böe riss dem Offizier die Tür aus der Hand. Mit einem lauten Knall schlug sie hinter den beiden Männern zu.
Madelaines Geduld wurde in den nächsten Stunden auf eine harte Probe gestellt. Die Überquerung des Atlantiks zog sich trotz stetig geblähter Segel hin, und nach dem vierzigsten Tag setzte das ein, was sie die ganze Zeit über verdrängt hatte: ein Sturm, der alle in Atem hielt.
Von Deck hörten sie die gebrüllten Befehle des Kapitäns und die Rufe der Mannschaft, das Flattern des Kleinsegels und Knarzen der Maste. Ihre leeren Champagnergläser rollten klirrend über den schwankenden Boden, der Eiskübel war umgestürzt, und die immer kleiner werdenden Eisstückchen rollten im Raum umher, schlugen leise gegen Stuhl- und Tischbeine. Madelaine hielt die Augen geschlossen. Sie war benommen von Lust und Angst zugleich. Sie sog sich an András' Lippen fest, hielt ihn an den Schultern, umklammerte seinen Rücken mit ihren Beinen, schob sich vor und glitt zurück, um sich seinen Bewegungen anzupassen. Kein Wellental konnte tief genug sein, um ihn ganz in sich aufzunehmen. Kein Wellenkamm so hoch, um ihn noch weiter zu reizen. Und sie hoffte, ihre Lust würde nie mehr aufhören.
Der Rausch verflog, als der Sturm nach mehreren Stunden und einer kurzen Pause noch einmal auflebte. Schlagartig änderte sich Madelaines Befinden. Sie bat András, sie allein zu lassen. Mehrmals ging sie trotz des heftigen Wellenschlages hinaus an die Reling, schaute in Richtung französischer Küste. All die entsetzlichen Bilder vom Untergang der Eleonora tauchten wieder in ihr auf. Der Puls des Meeres ... die Strömung des Ärmelkanals, der Wellenschlag, die Dunkelheit, der Tod. Es war schwierig, den Schmerz auszuhalten. Um ihn zu bekämpfen, rief Madelaine sich immer wieder den Moment ihrer Rettung und das erste Gespräch mit Urs in Erinnerung. Hatte er nicht gesagt: »Der Zauber von Schönheit, Wahrheit und Süße ist immer stärker als das Böse, das Feuer und der Sturm«? Nie hätte sie András sagen können, wie viel Kraft es sie kostete, ihre Erinnerungen zu ertragen, nie hätte sie sie in Worte fassen können.
Das Schwanken des Bodens unter ihren Füßen hatte zwar im Laufe der letzten Stunden nachgelassen, doch noch immer schien es ihr, als schlüge in ihr der fremde Puls des Meeres. Am frühen Abend kam András zu ihr und bat sie, sich anzukleiden.
»Warum? Ich fühle mich nicht wohl.«
Prüfend musterte er sie.
»Du siehst gut aus, Madelaine, wenn auch erschöpft. Ich glaube, du brauchst ein wenig Ablenkung.« Er hob den Arm und schwenkte ein seidenes Tuch. »Hast du Lust?« »Jetzt?«
»Ja, aber nicht hier.«
Fragend sah sie ihn an. Er sagte nichts, lächelte und spielte mit dem Tuch. Sie wurde schwach. Wieder einmal gelang es ihm, sie zu verführen. Sie atmete auf. Ja, es wurde Zeit, die bittere Erinnerung der letzten Stunden zu vergessen. Sie schlug ihr Seidenbett beiseite und ließ sich von ihm die Augen verbinden.
Sie ging, ihren Unterarm auf den seinen gelegt, mit ihm durch die Gänge des Oberdecks. Von irgendwoher erklangen Stimmen und Pianomusik. Sie erinnerte sich daran, im Salon einen kleinen Stutzflügel gesehen zu haben, und zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Es hätte nur schmerzliche Erinnerungen heraufbeschworen. Wie gut, dass András sie jetzt fest um ihre Taille fasste.
»Bleib bitte stehen, Madelaine«, flüsterte er in ihr Ohr. »Komm, eine Stufe, noch eine ...«
Bereitwillig folgte sie ihm. Mit sanftem Druck schob er sie weiter, bis vor ihnen knarrend eine Tür aufging. Madelaine roch Blumen, Pfeifenrauch und den Duft frischherben Eau de Toilettes. Sie hörte Wispern, Tuscheln, unterdrücktes Lachen und stellte sich die Gesichter vor, die sie neugierig und amüsiert zugleich musterten: Kapitän, Offiziere, der britische Botaniker Hermes, der deutsche Holzhändler Grämmel, die beiden katholischen Priester Bruder Ambrosius und Bruder Martinus sowie Leonardo, der reiche Sohn eines Fazendeiros, eines Kaffeebarons, aus São Paulo, mit seinem mulattischen Freund und Diener Gilberto.
Im ersten Moment war es ihr peinlich, doch dann, als ein Wiener Walzer einsetzte und András dicht hinter sie trat, wurde sie kribbelig vor Aufregung.
Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er seine Hände über ihre Schultern zu ihrem Kopf emporhob. Und obwohl er sie nicht berührte, hatte sie das Gefühl, die Hitze seiner Hände auf ihrer Haut zu spüren. Am liebsten hätte sie sich rücklings an ihn gelehnt, wären da nicht die zahlreichen Zuschauer gewesen. So richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Bewegung seiner Fingerspitzen, mit denen er den Knoten des Seidentuches löste, mit dem er vor wenigen Minuten ihre Augen verbunden hatte.
Sie schaute auf. Sie stand auf einem kleinen Podest, vor ihr ein runder Tisch, daneben zwei Stühle. Im Halbkreis um sie herum, stehend oder mit übereinandergeschlagenen Beinen in Sesseln sitzend, all die anderen. Ihr wurde heiß, und sie fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.
»Bitte, setz dich, Madelaine.« András rückte einen der Stühle für sie zurecht, dann nahm er ihr gegenüber Platz. »Ich habe die tapferste Frau geheiratet, die ich mir je hätte wünschen können«, begann er und legte ein dunkelblaues Samtkästchen in die Mitte des Tischchens. »Als Dank für deine Liebe und den Mut, den du bewiesen hast, diese Reise zu machen. Ich war mir immer bewusst, dass sie alte Schmerzen in dir aufreißen würde. Umso mehr freue ich mich, dass sie dich nicht überwältigt haben. Ich liebe dich, Madelaine ... und bitte dich, dieses Geschenk anzunehmen.«
Sie zögerte, hörte leises Tuscheln. Irgendwo knallte ein Champagnerkorken. Einen Moment lang wusste sie nicht, ob sie sich ärgern oder freuen sollte. Warum musste András ihr seine Gefühle vor Publikum offenbaren? Das hatte er noch nie getan. Sie suchte seinen Blick.
»Frankreich liegt also hinter uns?« Sie wagte nicht, den Namen der bretonischen Hafenstadt auszusprechen, in der sie nach dem Untergang der Eleonora vor sechs Jahren wieder zum Leben erweckt worden war.
»Ja, seit genau einer Stunde und sechsundvierzig Minuten. Du hast es doch geahnt, oder nicht?«
Sie nickte, bildete sich sogar ein, den markanten bretonischen Küstenstreifen von damals wiedererkannt zu haben. Sie beugte sich vor.
»Warum hier, vor aller Augen? Warum jetzt?«, flüsterte sie vorwurfsvoll.
Er riss die Augen auf, als verstünde er ihr Unbehagen nicht.
»Warum nicht?«, entgegnete er ebenso leise. »Du bist es mir wert, vor aller Augen gefeiert zu werden. Du bist schließlich eine besondere Frau. Meine Frau.«
Madelaine bemühte sich zu lächeln. Sie griff zum Kästchen, öffnete es und stieß einen leisen Schrei aus. »Gefällt er dir, Madelaine?«
Sie begegnete seinem Blick, nahm den Doppelring, den Diamanten und Perlen verzierten, drehte ihn hin und her. Sie suchte nach den passenden Worten.
»Ja, András, er ist herrlich ... weiß wie Schaumkronen und glitzernd wie die Sonnenflecken auf dem Meer.«
András lächelte. »Genau darauf habe ich angespielt: auf deinen Mut, dem Meer zu trotzen.«
Er hob seine Hand, woraufhin ein Steward herbeigeeilt kam und Champagner ausschenkte. Madelaine fühlte sich nicht wohl dabei, dass András sie auf diese Art und Weise zu dieser Stunde an das erinnerte, wogegen sie die letzten Tage angekämpft hatte. Da sie ihn aber nicht enttäuschen wollte, und zudem aller Augen auf ihr ruhten, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Spiel mitzumachen. Sie ließ sich von den Anwesenden beglückwünschen und beschloss, ihre trüben Erinnerungen für den Rest der Nacht fortzutanzen.
Als András sie zu dem Takt eines Wiener Walzers herumschwenkte, sagte er unvermittelt: »Mein Vater erwartet uns sehnlichst. Er ist sehr neugierig auf dich.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu.
»Hat er dir geschrieben?«
»Er sagte es mir schon in seinem letzten Brief nach Riga.« In ihren Ohren klang seine Antwort seltsam hohl, doch in diesem Moment verspürte sie kein Verlangen, darauf einzugehen. »Wie kann ich ihn ansprechen? Mit seinem Vornamen - Imre?«
»Ich empfehle dir, ihn zunächst einmal mit seinem Titel anzusprechen. Du hast es dadurch etwas leichter.« Er lächelte aufmunternd.
»Wie meinst du das?«
»Es ist so üblich«, entgegnete András und hielt in der Bewegung inne, um Madelaine kurz darauf links herumzuschwenken.
»Du meinst, ich soll mich an die Konvention halten?« »Ja, mein Liebes.«
Sie drohte ihm mit dem Finger.
Lachend tat er, als wolle er nach ihm schnappen. »Du siehst süß aus, wenn du so zornig guckst.«
»Ich hoffe, das sieht dein Vater ebenso, wenn es mir bei ihm nicht gefallen sollte.«
»Bestimmt«, gab András zurück, doch ihr entging nicht, wie sein Blick flackerte. » Du klingst nicht sehr überzeugt, András. Er wird mich nicht mögen, hab ich recht?«
»Du wirst ihn überzeugen, auch ohne einen einzigen Tropfen blauen Blutes.« Er drückte sie kurz an sich. »Ich wünsche mir, wir würden unsere Reise irgendwann mit einem Spiel würzen.«
Fragend sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«
»Nun, damit es dir nicht langweilig wird ... Außerdem möchte ich dich ein wenig mit meinem Land vertraut machen. Natürlich nur, wenn es dich wirklich interessiert.« Forschend sah er ihr in die Augen, hielt sie einen Moment lang im Wiegeschritt. »Und? Was meinst du dazu?«
»Aber ja, natürlich, András. Aber bitte, tu es auf deine Weise, amüsant, ja?«
»So wie heute Abend? Lustvoll und mit Qualen?« Madelaine lachte. »Warum nicht?«
»Gut, das hatte ich eigentlich auch vor. Ich weiß nur noch nicht genau, wo und wie.«
»Überlegen Sie es sich, Graf«, gab sie schelmisch zurück, während einer der Offi ziere an sie herantrat und um den nächsten Tanz bat. Als Madelaine nach einer Polka und einem langsamen Walzer wieder bei András war, sagte sie: »Ich würde gern noch ein paar Tage in Hamburg bleiben. Mich interessiert, wie sich die Stadt seit meinem letzten Besuch verändert hat. Außerdem hätte ich Lust, Ausschau nach einem Haus für meinen Vater zu halten.«
»Glaubst du, er wird wirklich sein Versprechen halten, innerhalb eines halben Jahres seine Tabakplantage aufzulösen? Es wird nicht ganz einfach sein ... vielleicht dauert es länger. Wir haben offen darüber gesprochen, wie du weißt.«
»Was er verspricht, wird er halten.«
András bedachte Madelaine mit einem zweifelnden Blick. »Das hat er dir und deiner Mutter schon einmal gesagt, und es kam anders, wie du dich erinnern kannst. Aber, wie dem auch sei: Mein Vater erwartet uns. Und wir sollten uns beeilen.«
Madelaine spürte den festen Druck seiner Hand in ihrem Rücken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er machte sie besinnungslos vor Begehren, und es schien ihr unvorstellbar, dass ihr Glück jemals an den Klippen des Schicksals zerschellen könnte.
Spät in der Nacht wachte sie auf und ließ die letzten Stunden Revue passieren. Ihr Champagnerrausch war verflogen, stattdessen hatte sie Durst. Doch obwohl ihr Kopf ein wenig schmerzte, schossen ihr mit gleißender Klarheit Fragen ins Bewusstsein. Warum, fragte sie sich, hatte ihr András diesen kostbaren Ring nicht schon am Tag ihrer Trauung an Bord, auf der Hinfahrt nach Brasilien, geschenkt? Warum erst heute? Warum war es ihm so wichtig, sich von ihrem Mut zu überzeugen? Was, fragte sie sich mit zunehmender Beklemmung, erwartete sie in Ungarn, und warum war es ihm so wichtig, sie auf den alten Grafen vorzubereiten? War ihre Entscheidung richtig? Wäre es nicht doch besser, András' Widerstand zu ignorieren und in Hamburg auf die Ankunft ihres Vaters zu warten?
Es waren zu viele Fragen, zu viele in einer Nacht wie dieser. Vorsichtig erhob sie sich, trat ans Bullauge und schob die schweren Brokatgardinen beiseite. Der Himmel über dem Meer füllte mal ein Viertel, dann wieder ein Drittel der Aussicht. Unter ihm wogten die Nordseewellen ruhelos auf und ab wie das Raunen eines unberechenbaren Schicksals. Plötzlich verspürte sie Angst. Dieses Mal hatte sie nicht Angst vor der Gegenwart wie vor sechs Jahren, sondern vor der Zukunft.
Im Halbdunkel der Kabine entdeckte sie auf dem Fußboden neben András' ungestüm abgestreiften Frack etwas Helles. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie erkannte, dass es sich um eine Depesche handelte, die in Salvador sechs Tage vor ihrer Abreise eingetroffen war:
Erwarte dich. Dringende Unterredung erforderlich. Mazary
Madelaine fühlte Kälte in sich aufsteigen. András hatte sie an diesem Abend belogen: Der alte Graf hatte ihm doch geschrieben. Deshalb hatte er also in Salvadors Hafen sofort auf dem nächstbesten Passagierschiff Plätze reserviert. Ihr Gefühl hatte sie also doch nicht getrogen: Er wollte noch schneller heimkehren als sie! Viel schlimmer aber war es, dass sie erkennen musste, dass nicht sie von Imre Graf Mazary erwartet wurde, sondern András allein. Dabei hatte er ihr noch in Riga versichert, dass sein Vater ihm vergeben hatte und sich auf die Frau freue, die er - András - aus tiefstem Herzen liebe.
Sie war geschockt: András hatte sie noch nie belogen. Doch da sie ihm vertraute, sagte sie sich, dass er dafür einen wichtigen Grund haben musste, den er ihr aus Rücksicht auf ihre Gefühle verschwieg. Irgendetwas musste seit seinem letztem Brief vor mehr als einem Jahr geschehen sein, das den Stimmungswechsel seines Vaters bewirkt hatte. Nur was? Und würde sie dem, was sie erwartete, gewachsen sein?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Katryn Berlinger
Bibliographische Angaben
- Autor: Katryn Berlinger
- 521 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009698
- ISBN-13: 9783868009699
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