Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war
Roman
Lettland im Herzen, Amerika vor der Nase, irgendwo zwischen Wodka und Bourbon: eine wunderbar komische Geschichte vom Erwachsenwerden.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war “
Lettland im Herzen, Amerika vor der Nase, irgendwo zwischen Wodka und Bourbon: eine wunderbar komische Geschichte vom Erwachsenwerden.
Klappentext zu „Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war “
Weise, komisch, hochprozentig - eine berührende Geschichte vom Erwachsenwerden, erzählt mit dem wunderbar tragischen Humor der Osteuropäer."Für mich, einen ängstlichen Teenager mit einer übervorsichtigen Ostblockmutter und einem trinkenden Vater, lag der Gedanke an Sex in einer unfassbar fernen Zukunft. Ehrlich gesagt rechnete ich nicht wirklich damit."
"Toutonghi ist ein warmherziger Erzähler und ein Meister des Dialogs." Moscow Times
Lese-Probe zu „Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war “
Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war von Pauls Toutonghi 1Mittwoch, 16. August 1989
Milwaukee ist nicht berühmt. Glauben Sie der Joseph Schlitz Brewing Company, die seit 1871 behauptet, Schlitz sei «das Bier, das Milwaukee berühmt gemacht hat», kein Wort. Es handelt sich hier unbestreitbar um eine Lüge. Als ein in der Innenstadt von Milwaukee ansässiger Teenager - als Einwohner des Postleitzahlenbezirks 53202 - war ich genauso anonym wie jeder andere Amerikaner auch. Keinerlei Ruhm, der sich wundersamerweise durch die verroste- ten Wasserrohre in meine Stadt ergossen hätte. Keinerlei Ruhm in den mit Brettern vernagelten Wohnhäusern und den Betonlagerhallen meines Viertels.
Schlitz hin, Schlitz her - meine Familie lebte in einem viergeschossigen Haus an der Grenze zu einer Neubausiedlung mit Sozialwohnungen. Wir bewohnten einen Teil des Obergeschosses. Direkt über unserem Briefkasten hatte meine Mom mit Tesafilm ein mit fröhlich roter Tinte beschriebenes Schild befestigt:
DIE FAMILIE BALODIS HEISST SIE HERZLICH WILLKOMMEN!
Besuchen Sie unser Heim im Apartment Nummer 7!Grüße!
Balodis bedeutet auf Lettisch «Taube». Wir waren ein kleiner Schwarm sowjetischer Einwanderertauben, nur wir drei, inmitten des urbanen Zerfalls hockten wir eng aneinander- gedrängt in unserem Schlag.
... mehr
Ja, die Wohnung war ärmlich. Aber ärmlich auf eine hoffnungsvolle Art, ärmlich mit Herz. Wenn ich fünfzehn Jahre später an unsere Wohnung zurückdenke, muss ich zugeben, dass sie einen gewissen Billigcharme verströmte. Überall waren Poster an die Wände geheftet oder vielmehr D I N-A4- große Anzeigen, die meine Mom in der Bibliothek vorsichtig aus Zeitschriften herausgetrennt hatte. Es handelte sich um Werbung verschiedenster Art: für Coca-Cola, Wrangler Jeans, den neuen Toyota Camry. Hauptsache, sie war leuchtend bunt und vermittelte das Gefühl von Kaufkraft. Mom heftete sie unter Plastikfolie fest, und abends reflektierten die schimmernden Plastikoberflächen das Licht. «Das, mein Liebling», pflegte sie zu sagen, «ist die allerschönste Anzeigentafel, findest du nicht?»
An der breiten Wohnzimmerwand hing ein riesiger vainags, ein gelber, hauptsächlich aus Stroh und getrockneten Blumen zusammengesteckter Kranz. Angeblich brachte es Glück, über den Kranz zu streichen, deswegen zog sich ständig eine Spur aus heruntergerieseltem Stroh über den Boden. Dazu der immer offene Salztiegel auf dem Esstisch - Salz sollte unserem Heim Geschmack und Fruchtbarkeit bescheren -, ich fühlte mich manchmal wie ein Tier auf dem Bauernhof.
Es gab fünf Räume bei uns: Küche, Bad, zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer. Wir nahmen unsere Mahlzeiten an einem Tisch in der Küche ein, nur wir drei, eine ziemlich einsame Veranstaltung. Für meinen Dad aber war es der reinste Luxus. «Yuri», sagte er einmal zu mir, «für eine vergleichbare Wohnung in Riga müsste man mindestens vier Nachbarn beim KGB verraten.» Er liebte den dicken, olivgrünen Florteppich. Barfuß - so war er zu Hause am liebsten. Er hatte riesige, behaarte Füße, die leicht nach Verwesung riechen konnten. Gern schob er diese Füße über den Teppich, um seine verwesende Haut mit den weichen Kunstfasern zu verwöhnen.
Letztendlich aber landete mein Dad immer auf dem Balkon, wo er sich dann betrank. Ich bin fest davon überzeugt, dass er, wäre das Wetter nur ein bisschen kooperativer gewesen, auf dem Balkon sogar geschlafen hätte, eingewickelt in seinen Nylonschlafsack, den Blick zum Sternenhimmel gerichtet. An manchen Sommerabenden, wenn meine Eltern sich nicht gerade stritten, standen sie unangenehm dicht beieinander auf dem Balkon und tranken Wein. In solchen Fällen sah ich mich gezwungen, in mein Zimmer zu flüchten, mich aus Scham für ihre Gefühle unter der Bettdecke zu verkriechen und zu versuchen, im Licht der Taschenlampe zu lesen.
Wie mein Dad mir oft erklärt hatte, waren die ersten Letten im Jahr 1903 nach Wisconsin gekommen. Die Wisconsin Valley Land Company hatte sie auf die Ackerflächen westlich von Milwaukee gelockt. Sie kamen zusammen mit den Kroaten und den Litauern, den Bulgaren und den Slowaken, den Armeniern und den Finnen, den Polen, Ukrainern und Montenegrinern. Als Teil einer osteuropäischen Völkerwanderung - eines beständigen Stroms von Einwanderern aus den Gebieten östlich der Donau - wurden die Letten zu Fabrikarbeitern, Farmern und grundsoliden Mittelstandsbürgern des Mittleren Westens. Sie gründeten eine eigene lettisch- lutherische Kirche, ziemlich weit draußen in Wauwasota, einem kleinen Vorort etwa dreißig Kilometer westlich vom Stadtzentrum. Sie eröffneten Delikatessengeschäfte und gaben eine lettische Zeitung heraus.
Aber bis 1989 hatten die meisten der Geschäfte dichtgemacht. Die Zeitung war schon 1971 eingestellt worden. Die wenigen älteren Kirchgänger, die sich jeden Sonntag versammelten und mit zittrigen Stimmen durch «Ein feste Burg ist unser Gott» quälten, wurden jährlich gebrechlicher. Und als Innenstadt-Letten wohnten wir sowieso zu weit weg. Mein Dad ging lieber in die katholische Kirche, nur zwei Blocks von unserer Wohnung entfernt. «Da haben sie die besseren Oblaten», erklärte er mir. «Die schmecken nach Brot und nicht bloß nach Pappe und Leid.» Wenn wir tatsächlich einmal zur Messe gingen - an den höchsten der hohen Feiertage -, marschierten wir geschlossen zur St. Philippe's hinüber. Majestätisch erhoben sich die Türme der Kathedrale über dem Lake Michigan; sie zollten der viktorianischen Gotik in all ihrer fratzenüberladenen Pracht architektonischen Tribut.
Wegen des Mangels an lettischen Händlern im Zentrum Milwaukees kaufte meine Mom notgedrungen in den pol- nischen Läden auf der South Kinnickinnic Avenue ein. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paar polnische Redewendun- gen aufgeschnappt, und so feilschte sie mit den Verkäufern und forderte in einem herablassenden, aber begrenzten Polnisch Preisnachlass. Wenn ich schulfrei hatte, begleitete ich sie. An diesem bestimmten Mittwoch überquerten wir den Milwaukee River zweimal und liefen sowohl über die Zugbrücke an der Wisconsin Avenue als auch über die Stahlträgerbrücke, die dahinter lag. Als wir bei Zigorski's ankamen, ihr Favorit unter den kleinen Läden, taten mir die Füße schrecklich weh. Aber sie war nun einmal meine Mom, und sie brauchte einen gewissen Vorrat an osteuropäischen Lebensmitteln.
Zigorski's war ein polnisches Delikatessengeschäft ersten Ranges. Von der Decke baumelten Würstchenketten. Das
Kühlregal war mit eingelegten Produkten vollgestopft - Eier, Gurken, Pilze, es gab sogar ein großes Glas mit einem Schweinehirn, das in dillgetrübter Lake vor sich hin dümpelte. Niemand kaufte das Schweinehirn. Ich hielt es für Dekoration. Meine Mom war auf der Suche nach frischem Hering. Sie wollte keinen Hering aus der Dose - den bekam man, wie sie mir erklärte, in jedem Supermarkt. «Wir werden ein gutes Mahl essen, nach dem ich mich kürzlich gesehnt habe.»
Als meine Mom den Mann hinter dem Tresen nach He- ring fragte, runzelte er die Stirn und antwortete, Hering sei aus. Nächste Woche käme vielleicht eine neue Lieferung herein, erklärte er und verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust. Er trug eine weiße Schürze und eine kleine, drei- eckige Mütze. Die Schürze war bedeckt von riesigen Blutflecken. Mir fiel auf, dass dem Mann seine graumelierten Koteletten bis an den Kiefer reichten.
«Du Lump», sagte meine Mutter, «lüge mich nicht an.»
Wäre ich weniger erfahren gewesen, was das Einkaufen mit meiner Mom anging, wäre ich an diesem Punkt be- stimmt nervös geworden. Und tatsächlich schnappte eine Frau in der Nähe des Backwarenregals hörbar nach Luft und ließ eine Torte fallen. Die Torte zerplatzte und verspritzte ihren Zuckerguss in einem weißen, weiten Bogen. Ein Angestellter von Zigorski's kam mit einem Mopp in der Hand aus den Hinterräumen des Ladens gehuscht.
«Beschimpfen Sie mich bitte nicht», sagte der Verkäufer. Dann, etwas lauter: «Kann ich sonst noch irgendwem helfen?» Obwohl sich einige Kunden im Laden aufhielten, wollte wohl keiner von ihnen in die Auseinandersetzung hineingezogen werden. Meine Mutter blieb resolut stehen.
«Ich weiß, dass du welchen hast, du Lump», wiederholte sie. Dann schickte sie ein paar Sätze auf Polnisch hinterher.
Sie klangen kehlig und boshaft, und aus dem Gesichtsausdruck des Mannes schloss ich, dass sie nicht besonders höflich sein konnten. Er schüttelte den Kopf und verschwand wortlos nach hinten.
So gingen wir seinerzeit einkaufen. Meine Mom erinnerte sich an das im sowjetischen Lettland Gelernte und wendete es auf dem amerikanischen Lebensmittelmarkt an. Als der Verkäufer verschwunden war, tätschelte sie zärtlich meinen Arm. «Keine Sorge, Yuri», sagte sie, « der kommt jeden Moment mit unserem Hering zurück.»
Im Zigorski's gab es außerdem ein breitgefächertes Olivenangebot. Die Oliven standen in offenen Fässern neben der Tür, grün, braun und schwarz. Ich mochte es, neben den Oliven zu stehen und tief einzuatmen. Ich sog den Essigduft in meine Lunge und zuckte zusammen, wenn mich der leichte Schwindel überkam. Ich betrachtete die Wände. Jeder verfügbare Platz hier war mit Waren gefüllt - mit abgepackten Kräckern und Keksen und mit Streifen getrockneten Fleisches, die lose verkauft wurden. Das Geschäft hatte Produkte aus verschiedenen osteuropäischen Ländern im Angebot. Unter der Decke hing eine Reihe von Flaggen, Flaggen, die ich als bulgarisch, albanisch, polnisch und jugoslawisch identifizierte.
Jetzt kam der Verkäufer zurück. In der Hand hielt er ein säuberlich in Zeitungspapier eingeschlagenes Päckchen.
«Bitte sehr, Mrs. Balodis», sagte er. Alle Feindseligkeit war aus seiner Stimme verschwunden. «Haben wir erst heute Morgen bekommen. Wir hatten sie noch nicht in den Kühltresen umgepackt.» Er lächelte. Wahrscheinlich war diese Transaktion nur eine von vielen ähnlichen, die er im Lauf eines Tages über sich ergehen lassen musste. Vor meinem geistigen Auge marschierte eine Armee von osteuropäischen Müttern im mittleren Alter auf; alle wurden sie auf gemütliche Weise ausfallend und verlangten nach Produkten, die nicht im vorderen Teil des Geschäfts auslagen.
An jenem Abend aßen wir Hering in Senfsauce, ein besonderes Lieblingsgericht meiner Mom. Mein Dad nahm ein Stück trockenes Roggenbrot, um die Senfsauce aufzuwischen. Danach leckte er sich jeden Finger einzeln ab - genüsslich, sehr genüsslich - und trug seinen Teller in die Küche. Er schenkte sich zwei Finger breit Bourbon ein.
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Eva Bonné
An der breiten Wohnzimmerwand hing ein riesiger vainags, ein gelber, hauptsächlich aus Stroh und getrockneten Blumen zusammengesteckter Kranz. Angeblich brachte es Glück, über den Kranz zu streichen, deswegen zog sich ständig eine Spur aus heruntergerieseltem Stroh über den Boden. Dazu der immer offene Salztiegel auf dem Esstisch - Salz sollte unserem Heim Geschmack und Fruchtbarkeit bescheren -, ich fühlte mich manchmal wie ein Tier auf dem Bauernhof.
Es gab fünf Räume bei uns: Küche, Bad, zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer. Wir nahmen unsere Mahlzeiten an einem Tisch in der Küche ein, nur wir drei, eine ziemlich einsame Veranstaltung. Für meinen Dad aber war es der reinste Luxus. «Yuri», sagte er einmal zu mir, «für eine vergleichbare Wohnung in Riga müsste man mindestens vier Nachbarn beim KGB verraten.» Er liebte den dicken, olivgrünen Florteppich. Barfuß - so war er zu Hause am liebsten. Er hatte riesige, behaarte Füße, die leicht nach Verwesung riechen konnten. Gern schob er diese Füße über den Teppich, um seine verwesende Haut mit den weichen Kunstfasern zu verwöhnen.
Letztendlich aber landete mein Dad immer auf dem Balkon, wo er sich dann betrank. Ich bin fest davon überzeugt, dass er, wäre das Wetter nur ein bisschen kooperativer gewesen, auf dem Balkon sogar geschlafen hätte, eingewickelt in seinen Nylonschlafsack, den Blick zum Sternenhimmel gerichtet. An manchen Sommerabenden, wenn meine Eltern sich nicht gerade stritten, standen sie unangenehm dicht beieinander auf dem Balkon und tranken Wein. In solchen Fällen sah ich mich gezwungen, in mein Zimmer zu flüchten, mich aus Scham für ihre Gefühle unter der Bettdecke zu verkriechen und zu versuchen, im Licht der Taschenlampe zu lesen.
Wie mein Dad mir oft erklärt hatte, waren die ersten Letten im Jahr 1903 nach Wisconsin gekommen. Die Wisconsin Valley Land Company hatte sie auf die Ackerflächen westlich von Milwaukee gelockt. Sie kamen zusammen mit den Kroaten und den Litauern, den Bulgaren und den Slowaken, den Armeniern und den Finnen, den Polen, Ukrainern und Montenegrinern. Als Teil einer osteuropäischen Völkerwanderung - eines beständigen Stroms von Einwanderern aus den Gebieten östlich der Donau - wurden die Letten zu Fabrikarbeitern, Farmern und grundsoliden Mittelstandsbürgern des Mittleren Westens. Sie gründeten eine eigene lettisch- lutherische Kirche, ziemlich weit draußen in Wauwasota, einem kleinen Vorort etwa dreißig Kilometer westlich vom Stadtzentrum. Sie eröffneten Delikatessengeschäfte und gaben eine lettische Zeitung heraus.
Aber bis 1989 hatten die meisten der Geschäfte dichtgemacht. Die Zeitung war schon 1971 eingestellt worden. Die wenigen älteren Kirchgänger, die sich jeden Sonntag versammelten und mit zittrigen Stimmen durch «Ein feste Burg ist unser Gott» quälten, wurden jährlich gebrechlicher. Und als Innenstadt-Letten wohnten wir sowieso zu weit weg. Mein Dad ging lieber in die katholische Kirche, nur zwei Blocks von unserer Wohnung entfernt. «Da haben sie die besseren Oblaten», erklärte er mir. «Die schmecken nach Brot und nicht bloß nach Pappe und Leid.» Wenn wir tatsächlich einmal zur Messe gingen - an den höchsten der hohen Feiertage -, marschierten wir geschlossen zur St. Philippe's hinüber. Majestätisch erhoben sich die Türme der Kathedrale über dem Lake Michigan; sie zollten der viktorianischen Gotik in all ihrer fratzenüberladenen Pracht architektonischen Tribut.
Wegen des Mangels an lettischen Händlern im Zentrum Milwaukees kaufte meine Mom notgedrungen in den pol- nischen Läden auf der South Kinnickinnic Avenue ein. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paar polnische Redewendun- gen aufgeschnappt, und so feilschte sie mit den Verkäufern und forderte in einem herablassenden, aber begrenzten Polnisch Preisnachlass. Wenn ich schulfrei hatte, begleitete ich sie. An diesem bestimmten Mittwoch überquerten wir den Milwaukee River zweimal und liefen sowohl über die Zugbrücke an der Wisconsin Avenue als auch über die Stahlträgerbrücke, die dahinter lag. Als wir bei Zigorski's ankamen, ihr Favorit unter den kleinen Läden, taten mir die Füße schrecklich weh. Aber sie war nun einmal meine Mom, und sie brauchte einen gewissen Vorrat an osteuropäischen Lebensmitteln.
Zigorski's war ein polnisches Delikatessengeschäft ersten Ranges. Von der Decke baumelten Würstchenketten. Das
Kühlregal war mit eingelegten Produkten vollgestopft - Eier, Gurken, Pilze, es gab sogar ein großes Glas mit einem Schweinehirn, das in dillgetrübter Lake vor sich hin dümpelte. Niemand kaufte das Schweinehirn. Ich hielt es für Dekoration. Meine Mom war auf der Suche nach frischem Hering. Sie wollte keinen Hering aus der Dose - den bekam man, wie sie mir erklärte, in jedem Supermarkt. «Wir werden ein gutes Mahl essen, nach dem ich mich kürzlich gesehnt habe.»
Als meine Mom den Mann hinter dem Tresen nach He- ring fragte, runzelte er die Stirn und antwortete, Hering sei aus. Nächste Woche käme vielleicht eine neue Lieferung herein, erklärte er und verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust. Er trug eine weiße Schürze und eine kleine, drei- eckige Mütze. Die Schürze war bedeckt von riesigen Blutflecken. Mir fiel auf, dass dem Mann seine graumelierten Koteletten bis an den Kiefer reichten.
«Du Lump», sagte meine Mutter, «lüge mich nicht an.»
Wäre ich weniger erfahren gewesen, was das Einkaufen mit meiner Mom anging, wäre ich an diesem Punkt be- stimmt nervös geworden. Und tatsächlich schnappte eine Frau in der Nähe des Backwarenregals hörbar nach Luft und ließ eine Torte fallen. Die Torte zerplatzte und verspritzte ihren Zuckerguss in einem weißen, weiten Bogen. Ein Angestellter von Zigorski's kam mit einem Mopp in der Hand aus den Hinterräumen des Ladens gehuscht.
«Beschimpfen Sie mich bitte nicht», sagte der Verkäufer. Dann, etwas lauter: «Kann ich sonst noch irgendwem helfen?» Obwohl sich einige Kunden im Laden aufhielten, wollte wohl keiner von ihnen in die Auseinandersetzung hineingezogen werden. Meine Mutter blieb resolut stehen.
«Ich weiß, dass du welchen hast, du Lump», wiederholte sie. Dann schickte sie ein paar Sätze auf Polnisch hinterher.
Sie klangen kehlig und boshaft, und aus dem Gesichtsausdruck des Mannes schloss ich, dass sie nicht besonders höflich sein konnten. Er schüttelte den Kopf und verschwand wortlos nach hinten.
So gingen wir seinerzeit einkaufen. Meine Mom erinnerte sich an das im sowjetischen Lettland Gelernte und wendete es auf dem amerikanischen Lebensmittelmarkt an. Als der Verkäufer verschwunden war, tätschelte sie zärtlich meinen Arm. «Keine Sorge, Yuri», sagte sie, « der kommt jeden Moment mit unserem Hering zurück.»
Im Zigorski's gab es außerdem ein breitgefächertes Olivenangebot. Die Oliven standen in offenen Fässern neben der Tür, grün, braun und schwarz. Ich mochte es, neben den Oliven zu stehen und tief einzuatmen. Ich sog den Essigduft in meine Lunge und zuckte zusammen, wenn mich der leichte Schwindel überkam. Ich betrachtete die Wände. Jeder verfügbare Platz hier war mit Waren gefüllt - mit abgepackten Kräckern und Keksen und mit Streifen getrockneten Fleisches, die lose verkauft wurden. Das Geschäft hatte Produkte aus verschiedenen osteuropäischen Ländern im Angebot. Unter der Decke hing eine Reihe von Flaggen, Flaggen, die ich als bulgarisch, albanisch, polnisch und jugoslawisch identifizierte.
Jetzt kam der Verkäufer zurück. In der Hand hielt er ein säuberlich in Zeitungspapier eingeschlagenes Päckchen.
«Bitte sehr, Mrs. Balodis», sagte er. Alle Feindseligkeit war aus seiner Stimme verschwunden. «Haben wir erst heute Morgen bekommen. Wir hatten sie noch nicht in den Kühltresen umgepackt.» Er lächelte. Wahrscheinlich war diese Transaktion nur eine von vielen ähnlichen, die er im Lauf eines Tages über sich ergehen lassen musste. Vor meinem geistigen Auge marschierte eine Armee von osteuropäischen Müttern im mittleren Alter auf; alle wurden sie auf gemütliche Weise ausfallend und verlangten nach Produkten, die nicht im vorderen Teil des Geschäfts auslagen.
An jenem Abend aßen wir Hering in Senfsauce, ein besonderes Lieblingsgericht meiner Mom. Mein Dad nahm ein Stück trockenes Roggenbrot, um die Senfsauce aufzuwischen. Danach leckte er sich jeden Finger einzeln ab - genüsslich, sehr genüsslich - und trug seinen Teller in die Küche. Er schenkte sich zwei Finger breit Bourbon ein.
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Eva Bonné
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Autoren-Porträt von Pauls Toutonghi
Pauls Toutonghi, geboren 1976 als Sohn eines ägyptischen Vaters und einer lettischen Mutter, lebt in Portland, Oregon. Seine Texte wurden bereits mehrfach ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Pauls Toutonghi
- 2009, 368 Seiten, Maße: 12,7 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Dtsch. v. Eva Bonné
- Übersetzer: Eva Bonné
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871346349
- ISBN-13: 9783871346347
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