Die Larve / Harry Hole Bd.9
Kriminalroman. Harry Holes neunter Fall
Du siehst ihn nicht. Er jagt dich. Unerbittlich - Kommissar Harry Hole in tödlicher Gefahr.
Nach drei Jahren in Hongkong kehrt Kommissar Harry Hole nach Oslo zurück. Der Prozess zu einem inzwischen abgeschlossenen Fall...
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Produktinformationen zu „Die Larve / Harry Hole Bd.9 “
Du siehst ihn nicht. Er jagt dich. Unerbittlich - Kommissar Harry Hole in tödlicher Gefahr.
Nach drei Jahren in Hongkong kehrt Kommissar Harry Hole nach Oslo zurück. Der Prozess zu einem inzwischen abgeschlossenen Fall lässt ihn nicht los. Ein Jugendlicher wurde wegen Mordes verurteilt, es gilt als erwiesen, dass er einen gleichaltrigen Drogendealer im Streit erschossen hat. Doch Harry Hole glaubt nicht an diese einfache Geschichte und rollt den Fall gegen alle Widerstände noch einmal auf. Er besucht den angeblichen Mörder im Gefängnis und ist schockiert, als er sieht, wen er vor sich hat.
Klappentext zu „Die Larve / Harry Hole Bd.9 “
Harry Hole ist endgültig aus dem Polizeidienst ausgestiegen und lebt in Hongkong. Doch dann erreicht ihn ein Alarmruf: Oleg, der Sohn seiner großen Liebe Rakel, sitzt im Gefängnis. Angeklagt wegen Mordes an einem Freund. Sämtliche Indizien deuten darauf hin, dass Oleg tatsächlich der Täter ist. Harry Hole glaubt nicht an diese einfache Lösung. Er kehrt nach Oslo zurück, um den wahren Mörder zu finden - und muss sich seiner eigenen Vergangenheit stellen.Besuchen Sie auch www.nesbo.de
Lese-Probe zu „Die Larve / Harry Hole Bd.9 “
Die Larve von Jo NesbøKAPITEL 3
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Der Mann mit dem Leinenanzug verließ den Flughafenzug am Osloer Hauptbahnhof und stellte fest, dass der Tag in seiner alten Heimatstadt warm und sonnig gewesen sein musste, denn die Luft war noch immer weich und samtig. Er hatte einen beinah komisch wirkenden Lederkoffer bei sich und verließ den Bahnhof schnell und zielstrebig durch den südlichen Ausgang. Draußen schlug ruhig und gleichmäßig das Herz von Oslo - dessen Vorhandensein von manchen Menschen bezweifelt wurde. Ruhepuls, Nachtrhythmus. Die wenigen Autos, die oben auf dem höher gelegenen Verteiler herumkurvten, bogen eines nach dem anderen ab, nach Osten in Richtung Stockholm oder Trondheim, nach Norden in andere Stadtteile oder nach Westen in Richtung Drammen und Kristiansand. In Größe und Form erinnerte dieser Verteiler an einen Brontosaurus, ein aussterbender Gigant, der bald Wohnungen und Büros weichen musste, die hier entstehen sollten, in Oslos neuem Glamourviertel, nahe der glamourösen neuen Oper. Der Mann blieb stehen und starrte auf den weißen Eisberg, der zwischen Verteiler und Fjord lag. Die neue Oper hatte bereits weltweit Architekturpreise eingestrichen, und die Menschen kamen von weit her, um über das italienische Marmordach zu laufen, das schräg bis in den Fjord abfiel. Das Licht hinter den großen Fenstern war ebenso intensiv wie das Mondlicht, das auf das Gebäude fiel.
Es war verdammt noch mal wahr, dieser Bau war ein Gewinn, dachte der Mann. Dabei ging es ihm nicht um die hochfliegenden Erwartungen an einen neuen Stadtteil, sondern um die Vergangenheit. Denn früher hatte sich hier die Osloer shooting gallery befunden, das Reich der Junkies, der verlorenen Kinder der Stadt. Im Schutz der Bretterwände billiger Baracken, die sie von ihren wohlmeinenden, sozialdemokratischen Eltern trennten, hatten sie sich ihre Spritzen gesetzt und ihre Trips geritten. Gewinn, dachte er. Jetzt gingen sie in netteren Gegenden vor die Hunde. Es war drei Jahre her, dass er zuletzt an diesem Ort gewesen war. Alles war neu. Nichts war anders. Sie hatten sich auf einem Fleckchen Gras eingerichtet, das zwischen Autobahn und Bahnhof wuchs. Beinahe eine Rabatte. Nicht weniger stoned und abwesend als früher. Auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen, als brenne die Sonne vom Himmel. Andere knieten und suchten nach einer Ader, die sich noch nicht ganz verabschiedet hatte, oder standen gebeugt da, mit leicht angewinkelten Junkieknien und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne zu wissen, ob sie kommen oder gehen sollten. Es waren die gleichen Gesichter. Nicht dieselben lebenden Toten wie damals, als er noch in der Stadt wohnte, denn die waren längst wirklich tot. Aber die gleichen Gesichter. Auf dem Weg in Richtung Tollbugata stieß er auf noch mehr von ihnen, und da ihre Welt mit dem Grund seiner Rückkehr zusammenhing, versuchte er, sich einen Eindruck zu verschaffen. Zu erkennen, ob sie zahlreicher geworden waren oder nicht. Er registrierte, dass auch auf der Plata wieder einiges lief. Das kleine viereckige, weißgestrichene Asphaltplateau auf der Westseite des Bahnhofs war so etwas wie das Taiwan Oslos gewesen, eine Freihandelszone für Drogen, eingerichtet, damit die Behörden einen gewissen Überblick hatten, was los war. Und vielleicht auch, um die jungen Erstkäufer abzufangen. Als sich der Handel jedoch immer prächtiger entwickelte und die Plata Oslos wahres Gesicht enthüllt hatte, nämlich das einer brutalen europäischen Drogenmetropole, war aus diesem Ort die reinste Touristenattraktion geworden. Der Heroinumsatz und die Überdosis-Statistik waren schon lange dunkle Flecken auf der weißen Weste der Hauptstadt gewesen, aber kein so offensichtlicher Schandfleck wie die Plata. Zeitungen und Fernsehen fütterten den Rest des Landes mit Bildern von zu gedröhnten Jugendlichen, Zombies, die am helllichten Tage durch das Zentrum schwankten. Die Schuld wurde den Politikern zugeschoben. Wenn die Rechten das Heft in der Hand hatten, donnerten und protestierten die Linken: »zu wenig Behandlungsprogramme«, »Gefängnisstrafen schaffen uns nur noch mehr Abhängige«, »die neue Zwei-Klassen-Gesellschaft führt zu Gangbildung und zu vermehrtem Drogenkonsum unter Einwanderern«. Und waren die Linken an der Macht, brachten die Rechten lauthals ihre Slogans vor: »mehr Polizei«, »höhere Anforderungen an Flüchtlinge«, »sieben von zehn Häftlingen sind Ausländer«. Nach Jahren des offenen Grabenkampfes hatte die Osloer Stadtverwaltung sich schließlich zu einer klaren Selbstschutzmaßnahme entschlossen, den ganzen Scheiß unter den Teppich gekehrt und die Plata geschlossen. Der Mann in dem Leinenanzug beobachtete einen Mann, der in einem rotweißen Arsenal-Trikot auf einer Treppe stand, vor sich vier Menschen, die unruhig auf der Stelle traten. Der Kopf des Arsenal- Spielers drehte sich ruckartig wie bei einem Huhn nach links und rechts. Die Köpfe der vier anderen bewegten sich nicht, sie starrten nur den Jungen mit dem Trikot an. Ein Zug. Der Verkäufer auf der Treppe wartete, bis sie genug waren, bis der Zug voll war, fünf oder sechs Leute. Dann würde er das Geld für die Bestellungen entgegennehmen und sie zu dem Mann mit dem Dope führen, der irgendwo hinter der nächsten Ecke oder in einem Hinterhof wartete. Das Prinzip war einfach, derjenige, der das Dope hatte, kam nie in Kontakt mit dem Geld, und der mit dem Geld hatte nie Dope in den Taschen. Für die Polizei war es so deutlich schwieriger, auch nur einem von ihnen den Drogenhandel sicher nachzuweisen. Trotzdem stutzte der Mann in dem Leinenanzug, denn diese Methode war alt, sie war schon in den achtziger und neunziger Jahren angewandt worden. Als die Polizei aufgehört hatte, die kleinen Dealer auf der Straße zu jagen, ließen die Verkäufer die umständliche Vorgehensweise fallen und sammelten auch keine Leute mehr, sondern dealten einfach, sobald ein Kunde kam; das Geld in der einen Hand, den Stoff in der anderen. Hatte die Polizei den Kampf gegen die Kleindealer wieder aufgenommen?
Ein Mann in Fahrradklamotten näherte sich ihnen. Helm, orange Brille und atmungsaktives Trikot in Signalfarben. Kräftige Oberschenkelmuskeln zeichneten sich unter den engen Shorts ab, und das Fahrrad sah teuer aus. Vermutlich nahm er es deshalb mit, als er dem Arsenal-Spieler mitsamt dem kleinen Trupp um die Ecke hinter das Gebäude folgte. Alles war neu. Nichts war anders. Aber es schienen weniger zu sein, oder täuschte er sich da?
An der Ecke der Skippergata sprachen ihn die Huren in schlechtem Englisch an - „Hey baby!", Wait a minute, handsome!", der Mann in dem Leinenanzug antwortete ihnen nur mit einem Kopfschütteln. Anscheinend eilte ihm der Ruf seiner Keuschheit oder seiner fehlenden finanziellen Möglichkeiten voraus, denn etwas weiter die Straße hinunter interessierten sich die Mädchen schon nicht mehr für ihn. Zu seiner Zeit hatten die Osloer Huren noch Jeans und Windjacke getragen. Und so viele wie jetzt waren es auch nicht gewesen. Damals hatten sie noch den Markt bestimmt, doch inzwischen war die Konkurrenz hart. Mit kurzen Röcken, hohen Absätzen und Netzstrümpfen. Die Afrikanerinnen schienen bereits zu frieren. Wartet nur, bis es Dezember ist, dachte er. Immer tiefer drang er in das Viertel Kvadraturen vor, das ursprüngliche Zentrum Oslos, das heute nur noch eine Asphalt- und Mauerwüste mit Verwaltungsgebäuden und Büros für gut fünfundzwanzigtausend Arbeitsbienen war, die sich auf den Heimweg machten, kaum dass es vier oder fünf Uhr geschlagen hatte. Dann überließen sie den Stadtteil den nachtarbeitenden Nagern. Bis zu der Zeit, in der Christian IV. diesen Stadtteil nach den Idealen der Renaissance mit quadratisch angelegten Straßenzügen neu erbauen ließ, waren die Einwohner von Kvadraturen von Feuern in Schach gehalten worden. Einer alten Überlieferung zufolge konnte man hier in jeder Schaltjahrnacht brennende Menschen zwischen den Häusern hindurch laufen sehen und ihre Schreie hören, bis sie verbrannt und verdampft waren. Wenn es einem gelang, das Häuflein Asche aufzusammeln und hinunterzuschlucken, zu dem diese Menschen wurden, bevor der Wind sie fort trug, würde das Haus, in dem man selbst wohnte, niemals brennen. Wegen der Brandgefahr ließ Christian IV., gemessen an dem bescheidenen Osloer Standard, recht breite Straßen bauen. Außerdem bestanden die Gebäude ganz unnorwegisch aus Ziegelsteinen. Vor ihm lag eine Bar, deren Tür offen stand. Eine grauenhafte Dancereggae-Version von Guns N' Roses' Welcome To The Jungle, die sowohl Marley und Rose als auch Slash und Stradlin verhöhnte, strömte nach draußen zu den vor der Tür stehenden Rauchern. Er blieb vor einem ausgestreckten Arm stehen. »Feuer?« Eine etwas füllige, vorderlastige Frau Ende dreißig sah zu ihm auf. Die Zigarette wippte auffordernd zwischen ihren rot geschminkten Lippen. Er zog eine Augenbraue hoch und warf der Freundin der Frau einen Blick zu, die lachend mit einer glühenden Zigarette hinter ihr stand. Die Vorderlastige bemerkte es und musste, einen Schritt zur Seite taumelnd, selber lachen. »Komm schon, zier dich nicht so«, sagte sie in dem Sørlandsdialekt der Kronprinzessin. Angeblich hatte sich eine Hure der Stadt eine goldene Nase damit verdient, wie die Kronprinzessin auszusehen, wie sie zu sprechen und sich wie sie zu kleiden. Die fünftausend Kronen, die sie pro Stunde verlangte, sollten ein Plastikzepter einschließen, mit dem ihre Kunden so ziemlich alles anstellen durften. Die Hand der Frau legte sich auf seinen Arm, als er weitergehen wollte. Sie lehnte sich zu ihm vor und blies ihm ihren Rotweinatem ins Gesicht. »Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Willst du mir nicht ... Feuer geben?« Er wandte ihr die andere Seite seines Gesichts zu. Die schlechte Seite. Die Nicht-so-netter-Kerl-Seite. Sie zuckte zurück und ließ ihn los, als sie das Andenken aus dem Kongo sah, die Narbe, die der Nagel hinterlassen hatte und die sich als schlecht genähter Riss vom Mund bis hinauf zum Ohr zog. Er ging weiter, und ein anderes Lied wurde gespielt. Nirvana. Come As You Are. Die Originalversion. »Hasch?« Die Stimme drang aus einer Toreinfahrt zu ihm, doch er ging weiter, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben. »Speed?« Er war seit drei Jahren clean und hatte nicht vor, jetzt wieder anzufangen. »Violin?« Ganz sicher nicht jetzt.
Vor ihm auf dem Bürgersteig war ein junger Mann neben zwei Dealern stehen geblieben. Er redete mit ihnen und zeigte ihnen etwas. Der Junge blickte auf, als er näher kam, und richtete seine grauen Augen prüfend auf ihn. Polizeiblick, dachte der Mann und schaute zu Boden. Sicher war das reichlich paranoid, denn es war höchst unwahrscheinlich, dass ein derart junger Polizist ihn erkannte. Da war das Hotel. Die Herberge. Das Leons. Dieser Abschnitt der Straße war fast menschenleer. Nur auf der anderen Straßenseite standen zwei Leute. Einer davon war der Dopekäufer in der Fahrradmontur. Er stand breitbeinig über seinem Rad und half einem anderen Fahrradfahrer in ebenso professioneller Bekleidung, sich eine Spritze in den Hals zu setzen. Der Mann in dem Leinenanzug schüttelte den Kopf und blickte an der Fassade vor ihm empor. Noch immer hing das gleiche verdreckte Banner zwischen der vierten und der obersten Etage. »Vierhundert Kronen pro Tag!« Alles war neu. Nichts war anders. Der junge Mann an der Rezeption des Leons war neu. Er empfing den Gast im Leinenanzug mit einem überraschend freundlichen Lächeln und - für das Leons - erstaunlich wenig Misstrauen. Ohne eine Spur von Ironie in der Stimme begrüßte er ihn mit einem »Welcome« und bat um seinen Pass. Der Mann nahm an, dass er wegen seiner braungebrannten Haut und dem Leinenanzug für einen Ausländer gehalten wurde, und hielt dem Hotelangestellten seinen roten norwegischen Pass hin. Er sah abgenutzt aus und hatte viele Stempel. Zu viele, um von einem guten Leben zu zeugen. »Oh«, sagte der Mann an der Rezeption und gab ihm den Pass zurück. Legte ein Formular auf die Theke vor sich und reichte ihm einen Stift. »Die angekreuzten Felder reichen.« Ein Eincheckformular im Leons?, dachte der Mann. Vielleicht war doch etwas anders geworden. Er nahm den Stift entgegen und sah, wie der Blick des Mannes auf seinem Mittelfinger ruhte. Auf dem, was einmal sein Mittelfinger gewesen war, ehe dieser ihm in einem Haus am Holmenkollåsen abgetrennt worden war. Das untere Glied war durch eine matte blaugraue Titanprothese ersetzt worden. Gut zu gebrauchen war sie nicht, diente aber immerhin als Stütze für Ring- und Zeigefinger, wenn er etwas greifen wollte, und war - da eher kurz - nicht im Weg. Der einzige Nachteil waren die unvermeidlichen Erklärungen, die er an jedem Flughafen abgeben musste, wenn er durch die Sicherheitskontrolle wollte. Er schrieb seinen Namen hinter First Name und Last Name. Date of Birth. Als er das Datum notierte, dachte er, dass er wieder mehr wie ein Mann Mitte vierzig aussah und weniger wie der mitgenommene, verletzte Alte, der hier drei Jahre zuvor ausgecheckt hatte. Seither hatte er sich einem strengen Regime unterzogen. Training, gesundes Essen, ausreichend Schlaf und - selbstverständlich - hundertprozentige Abstinenz. Das Regime zielte nicht darauf ab, jünger auszusehen, sondern zu überleben, nicht zu sterben. Außerdem passte es ihm ganz gut in den Kram. Feste Tagesabläufe, Disziplin und Ordnung waren ihm schon immer entgegengekommen. Deshalb hatte er auch keine Erklärung dafür, warum sein Leben zu einem solchen Chaos aus Selbstzerstörung und kaputten Beziehungen geworden war, immer wieder unterbrochen von tiefschwarzen Phasen voller Drogen und Alkohol. Die folgenden leeren Rubriken starrten ihn fragend an. Aber sie waren viel zu kurz für die Antworten, die sie forderten. Permanent Address. Nun. Die Wohnung in der Sofiesgate war direkt nach seiner Abreise vor drei Jahren verkauft worden, desgleichen sein Elternhaus oben in Oppsal. Bei seinem aktuellen Job hätte eine feste, offizielle Adresse ein gewisses Risiko dargestellt. Also schrieb er auf, was er immer aufschrieb, wenn er in ein Hotel zog: Chungking Mansion, Hongkong. Eine Angabe, die im Grunde nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Profession. Mord. Er ließ das Feld leer. Es war nicht angekreuzt. Phone Number. Er notierte eine beliebige Zahl. Handys können aufgespürt werden, so dass weder die Gespräche noch der Aufenthaltsort geheim bleiben. Phone Number Next of Kin. Nächste Angehörige? Welcher Ehemann gab freiwillig die Nummer seiner Frau an, wenn er im Leons eincheckte? Dieser Ort war doch fast so etwas wie ein Bordell inmitten von Oslo. Der Mann hinter dem Empfangstresen las offensichtlich seine Gedanken: »Nur für den Fall, dass Sie krank werden sollten und wir jemanden rufen müssen.« Harry nickte. Für den Fall eines Herzinfarktes während des Aktes. »Sie brauchen da nichts einzutragen, wenn es niemanden gibt ...« »Nein«, sagte der Mann und starrte die Worte an. Nächste Angehörige. Er hatte Søs. Eine Schwester mit einem - wie sie es selbst nannte - »Anflug von Down-Syndrom«, die ihr Leben aber weitaus besser gemeistert hatte als ihr großer Bruder. Sonst hatte er niemanden. Wirklich niemanden. Tja, nächste Angehörige. Er kreuzte an, cash zahlen zu wollen, unterzeichnete und gab dem Mann das Formular zurück, der es kurz überflog. Und endlich sah er so etwas wie Misstrauen aufflackern. »Sie sind ... Harry Hole?« Harry Hole nickte. »Ist das ein Problem?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. Schluckte. »Gut«, sagte Harry Hole. »Geben Sie mir dann einen Schlüssel?« »Oh, entschuldigen Sie! Hier, die 301.« Harry nahm den Schlüssel entgegen und registrierte, dass sich die Pupillen des Jungen geweitet hatten und seine Stimme gequälter klang. »Das ist ... wegen meinem Onkel«, sagte der junge Mann. »Er betreibt das Hotel und hat früher immer hier gesessen. Er hat mir von Ihnen erzählt.« »Nur Gutes, hoffe ich«, sagte Harry, lächelte, nahm seinen kleinen Koffer und ging die Treppe hoch. »Der Fahrstuhl ...« »Mag keine Fahrstühle«, sagte Harry, ohne sich umzudrehen. Der Raum war wie früher. Abgelebt, klein, aber einigermaßen sauber. Nein, nicht ganz, es gab eine neue Gardine. Grün und steif. Sicher bügelfrei. Apropos. Er hängte den Anzug ins Badezimmer und drehte die Dusche auf, damit der Dampf die Falten glättete. Der Anzug hatte ihn im Punjab House in der Nathan Road achthundert Hongkong-Dollar gekostet, aber in seinem Job war das eine notwendige Investition. Niemand respektierte einen Mann in Lumpen. Dann stieg er selbst unter die Dusche und ließ das heiße Wasser auf seine Haut prasseln, bis sie sich noppte. Anschließend ging er nackt durch den Raum, trat ans Fenster und öffnete es. Zweiter Stock. Hinterhof. Aus einem geöffneten Fenster drang gekünsteltes enthusiastisches Stöhnen. Er legte die Hände an die Gardinenstange und lehnte sich nach draußen. Direkt unter ihm stand ein offener Müllcontainer. Der süßliche Gestank drang bis zu ihm nach oben. Er spuckte aus und hörte den Speichel unten auf Papier klatschen. Dann folgten ein Knistern, das nichts mit dem Papier zu tun hatte, ein Knacken, und die grüne, steife Gardine ging rechts und links neben ihm zu Boden. Verdammt! Er zog die dünne Gardinenstange aus den Ringen. Die alte, hölzerne Stange mit den zwiebelartigen Spitzen an jedem Ende war gebrochen. Aber nicht zum ersten Mal, wie er an dem einfachen Klebeband sehen konnte, mit dem sie geflickt worden war. Harry setzte sich aufs Bett und öffnete die Schublade des Nachtschränkchens. Eine Bibel mit hellblauem Skaibezug und ein Nähset in Form einer Nadel und eines schwarzen Fadens, der um ein Stückchen Pappe gewickelt war, lagen darin. Gar nicht so unpassend, dachte Harry nach einer Weile. So konnten die Gäste abgerissene Hosenknöpfe wieder annähen und sich anschließend über die Vergebung der Sünden informieren. Er legte sich hin und sah an die Decke. Alles war neu, und doch war nichts anders. Er schloss die Augen. Er hatte im Flugzeug nicht geschlafen, und mit oder ohne Jetlag, mit oder ohne Gardinen würde er jetzt schlafen und wieder den Traum träumen, den er im Laufe der letzten drei Jahre jede Nacht geträumt hatte. Ein langer Flur, über den er vor einer donnernden Lawine davonzulaufen versuchte, die alle Luft aufsog, so dass er nicht atmen konnte. Er musste nur noch ein bisschen durchhalten, nur die Augen geschlossen halten. Dann verlor er die Kontrolle über seine Gedanken, sie glitten weg. Nächste Angehörige. Angehören. Gehören. An-ge-hö-ri-ge.
Ja, das war er. Und genau deshalb war er zurück. Sergej fuhr über die E6 in Richtung Oslo. Er sehnte sich nach seinem Bett in Furuset. Beachtete die Geschwindigkeitsbegrenzung, fuhr nie schneller als einhundertundzwanzig, obwohl so spätabends viel Platz war. Dann klingelte sein Handy. Das Handy. Es war Andrej. Er hatte mit dem Onkel gesprochen, dem ataman - dem Anführer -, den Andrej Onkel nannte. Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, konnte Sergej sich nicht länger beherrschen. Er drückte das Gaspedal durch. Schrie vor Freude. Der Mann war gekommen. Heute, an diesem Abend. Er war hier! Sergej sollte vorerst noch nichts unternehmen, hatte Andrej gesagt, es sei möglich, dass die Situation sich ganz von allein wieder entspannte. Aber er sollte jederzeit bereit sein, mental wie körperlich, mit dem Messer trainieren, schlafen und sich konzentrieren. Für den Fall, dass das Notwendige notwendig wurde.
(c) Ullstein HC Verlag
Der Mann mit dem Leinenanzug verließ den Flughafenzug am Osloer Hauptbahnhof und stellte fest, dass der Tag in seiner alten Heimatstadt warm und sonnig gewesen sein musste, denn die Luft war noch immer weich und samtig. Er hatte einen beinah komisch wirkenden Lederkoffer bei sich und verließ den Bahnhof schnell und zielstrebig durch den südlichen Ausgang. Draußen schlug ruhig und gleichmäßig das Herz von Oslo - dessen Vorhandensein von manchen Menschen bezweifelt wurde. Ruhepuls, Nachtrhythmus. Die wenigen Autos, die oben auf dem höher gelegenen Verteiler herumkurvten, bogen eines nach dem anderen ab, nach Osten in Richtung Stockholm oder Trondheim, nach Norden in andere Stadtteile oder nach Westen in Richtung Drammen und Kristiansand. In Größe und Form erinnerte dieser Verteiler an einen Brontosaurus, ein aussterbender Gigant, der bald Wohnungen und Büros weichen musste, die hier entstehen sollten, in Oslos neuem Glamourviertel, nahe der glamourösen neuen Oper. Der Mann blieb stehen und starrte auf den weißen Eisberg, der zwischen Verteiler und Fjord lag. Die neue Oper hatte bereits weltweit Architekturpreise eingestrichen, und die Menschen kamen von weit her, um über das italienische Marmordach zu laufen, das schräg bis in den Fjord abfiel. Das Licht hinter den großen Fenstern war ebenso intensiv wie das Mondlicht, das auf das Gebäude fiel.
Es war verdammt noch mal wahr, dieser Bau war ein Gewinn, dachte der Mann. Dabei ging es ihm nicht um die hochfliegenden Erwartungen an einen neuen Stadtteil, sondern um die Vergangenheit. Denn früher hatte sich hier die Osloer shooting gallery befunden, das Reich der Junkies, der verlorenen Kinder der Stadt. Im Schutz der Bretterwände billiger Baracken, die sie von ihren wohlmeinenden, sozialdemokratischen Eltern trennten, hatten sie sich ihre Spritzen gesetzt und ihre Trips geritten. Gewinn, dachte er. Jetzt gingen sie in netteren Gegenden vor die Hunde. Es war drei Jahre her, dass er zuletzt an diesem Ort gewesen war. Alles war neu. Nichts war anders. Sie hatten sich auf einem Fleckchen Gras eingerichtet, das zwischen Autobahn und Bahnhof wuchs. Beinahe eine Rabatte. Nicht weniger stoned und abwesend als früher. Auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen, als brenne die Sonne vom Himmel. Andere knieten und suchten nach einer Ader, die sich noch nicht ganz verabschiedet hatte, oder standen gebeugt da, mit leicht angewinkelten Junkieknien und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne zu wissen, ob sie kommen oder gehen sollten. Es waren die gleichen Gesichter. Nicht dieselben lebenden Toten wie damals, als er noch in der Stadt wohnte, denn die waren längst wirklich tot. Aber die gleichen Gesichter. Auf dem Weg in Richtung Tollbugata stieß er auf noch mehr von ihnen, und da ihre Welt mit dem Grund seiner Rückkehr zusammenhing, versuchte er, sich einen Eindruck zu verschaffen. Zu erkennen, ob sie zahlreicher geworden waren oder nicht. Er registrierte, dass auch auf der Plata wieder einiges lief. Das kleine viereckige, weißgestrichene Asphaltplateau auf der Westseite des Bahnhofs war so etwas wie das Taiwan Oslos gewesen, eine Freihandelszone für Drogen, eingerichtet, damit die Behörden einen gewissen Überblick hatten, was los war. Und vielleicht auch, um die jungen Erstkäufer abzufangen. Als sich der Handel jedoch immer prächtiger entwickelte und die Plata Oslos wahres Gesicht enthüllt hatte, nämlich das einer brutalen europäischen Drogenmetropole, war aus diesem Ort die reinste Touristenattraktion geworden. Der Heroinumsatz und die Überdosis-Statistik waren schon lange dunkle Flecken auf der weißen Weste der Hauptstadt gewesen, aber kein so offensichtlicher Schandfleck wie die Plata. Zeitungen und Fernsehen fütterten den Rest des Landes mit Bildern von zu gedröhnten Jugendlichen, Zombies, die am helllichten Tage durch das Zentrum schwankten. Die Schuld wurde den Politikern zugeschoben. Wenn die Rechten das Heft in der Hand hatten, donnerten und protestierten die Linken: »zu wenig Behandlungsprogramme«, »Gefängnisstrafen schaffen uns nur noch mehr Abhängige«, »die neue Zwei-Klassen-Gesellschaft führt zu Gangbildung und zu vermehrtem Drogenkonsum unter Einwanderern«. Und waren die Linken an der Macht, brachten die Rechten lauthals ihre Slogans vor: »mehr Polizei«, »höhere Anforderungen an Flüchtlinge«, »sieben von zehn Häftlingen sind Ausländer«. Nach Jahren des offenen Grabenkampfes hatte die Osloer Stadtverwaltung sich schließlich zu einer klaren Selbstschutzmaßnahme entschlossen, den ganzen Scheiß unter den Teppich gekehrt und die Plata geschlossen. Der Mann in dem Leinenanzug beobachtete einen Mann, der in einem rotweißen Arsenal-Trikot auf einer Treppe stand, vor sich vier Menschen, die unruhig auf der Stelle traten. Der Kopf des Arsenal- Spielers drehte sich ruckartig wie bei einem Huhn nach links und rechts. Die Köpfe der vier anderen bewegten sich nicht, sie starrten nur den Jungen mit dem Trikot an. Ein Zug. Der Verkäufer auf der Treppe wartete, bis sie genug waren, bis der Zug voll war, fünf oder sechs Leute. Dann würde er das Geld für die Bestellungen entgegennehmen und sie zu dem Mann mit dem Dope führen, der irgendwo hinter der nächsten Ecke oder in einem Hinterhof wartete. Das Prinzip war einfach, derjenige, der das Dope hatte, kam nie in Kontakt mit dem Geld, und der mit dem Geld hatte nie Dope in den Taschen. Für die Polizei war es so deutlich schwieriger, auch nur einem von ihnen den Drogenhandel sicher nachzuweisen. Trotzdem stutzte der Mann in dem Leinenanzug, denn diese Methode war alt, sie war schon in den achtziger und neunziger Jahren angewandt worden. Als die Polizei aufgehört hatte, die kleinen Dealer auf der Straße zu jagen, ließen die Verkäufer die umständliche Vorgehensweise fallen und sammelten auch keine Leute mehr, sondern dealten einfach, sobald ein Kunde kam; das Geld in der einen Hand, den Stoff in der anderen. Hatte die Polizei den Kampf gegen die Kleindealer wieder aufgenommen?
Ein Mann in Fahrradklamotten näherte sich ihnen. Helm, orange Brille und atmungsaktives Trikot in Signalfarben. Kräftige Oberschenkelmuskeln zeichneten sich unter den engen Shorts ab, und das Fahrrad sah teuer aus. Vermutlich nahm er es deshalb mit, als er dem Arsenal-Spieler mitsamt dem kleinen Trupp um die Ecke hinter das Gebäude folgte. Alles war neu. Nichts war anders. Aber es schienen weniger zu sein, oder täuschte er sich da?
An der Ecke der Skippergata sprachen ihn die Huren in schlechtem Englisch an - „Hey baby!", Wait a minute, handsome!", der Mann in dem Leinenanzug antwortete ihnen nur mit einem Kopfschütteln. Anscheinend eilte ihm der Ruf seiner Keuschheit oder seiner fehlenden finanziellen Möglichkeiten voraus, denn etwas weiter die Straße hinunter interessierten sich die Mädchen schon nicht mehr für ihn. Zu seiner Zeit hatten die Osloer Huren noch Jeans und Windjacke getragen. Und so viele wie jetzt waren es auch nicht gewesen. Damals hatten sie noch den Markt bestimmt, doch inzwischen war die Konkurrenz hart. Mit kurzen Röcken, hohen Absätzen und Netzstrümpfen. Die Afrikanerinnen schienen bereits zu frieren. Wartet nur, bis es Dezember ist, dachte er. Immer tiefer drang er in das Viertel Kvadraturen vor, das ursprüngliche Zentrum Oslos, das heute nur noch eine Asphalt- und Mauerwüste mit Verwaltungsgebäuden und Büros für gut fünfundzwanzigtausend Arbeitsbienen war, die sich auf den Heimweg machten, kaum dass es vier oder fünf Uhr geschlagen hatte. Dann überließen sie den Stadtteil den nachtarbeitenden Nagern. Bis zu der Zeit, in der Christian IV. diesen Stadtteil nach den Idealen der Renaissance mit quadratisch angelegten Straßenzügen neu erbauen ließ, waren die Einwohner von Kvadraturen von Feuern in Schach gehalten worden. Einer alten Überlieferung zufolge konnte man hier in jeder Schaltjahrnacht brennende Menschen zwischen den Häusern hindurch laufen sehen und ihre Schreie hören, bis sie verbrannt und verdampft waren. Wenn es einem gelang, das Häuflein Asche aufzusammeln und hinunterzuschlucken, zu dem diese Menschen wurden, bevor der Wind sie fort trug, würde das Haus, in dem man selbst wohnte, niemals brennen. Wegen der Brandgefahr ließ Christian IV., gemessen an dem bescheidenen Osloer Standard, recht breite Straßen bauen. Außerdem bestanden die Gebäude ganz unnorwegisch aus Ziegelsteinen. Vor ihm lag eine Bar, deren Tür offen stand. Eine grauenhafte Dancereggae-Version von Guns N' Roses' Welcome To The Jungle, die sowohl Marley und Rose als auch Slash und Stradlin verhöhnte, strömte nach draußen zu den vor der Tür stehenden Rauchern. Er blieb vor einem ausgestreckten Arm stehen. »Feuer?« Eine etwas füllige, vorderlastige Frau Ende dreißig sah zu ihm auf. Die Zigarette wippte auffordernd zwischen ihren rot geschminkten Lippen. Er zog eine Augenbraue hoch und warf der Freundin der Frau einen Blick zu, die lachend mit einer glühenden Zigarette hinter ihr stand. Die Vorderlastige bemerkte es und musste, einen Schritt zur Seite taumelnd, selber lachen. »Komm schon, zier dich nicht so«, sagte sie in dem Sørlandsdialekt der Kronprinzessin. Angeblich hatte sich eine Hure der Stadt eine goldene Nase damit verdient, wie die Kronprinzessin auszusehen, wie sie zu sprechen und sich wie sie zu kleiden. Die fünftausend Kronen, die sie pro Stunde verlangte, sollten ein Plastikzepter einschließen, mit dem ihre Kunden so ziemlich alles anstellen durften. Die Hand der Frau legte sich auf seinen Arm, als er weitergehen wollte. Sie lehnte sich zu ihm vor und blies ihm ihren Rotweinatem ins Gesicht. »Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Willst du mir nicht ... Feuer geben?« Er wandte ihr die andere Seite seines Gesichts zu. Die schlechte Seite. Die Nicht-so-netter-Kerl-Seite. Sie zuckte zurück und ließ ihn los, als sie das Andenken aus dem Kongo sah, die Narbe, die der Nagel hinterlassen hatte und die sich als schlecht genähter Riss vom Mund bis hinauf zum Ohr zog. Er ging weiter, und ein anderes Lied wurde gespielt. Nirvana. Come As You Are. Die Originalversion. »Hasch?« Die Stimme drang aus einer Toreinfahrt zu ihm, doch er ging weiter, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben. »Speed?« Er war seit drei Jahren clean und hatte nicht vor, jetzt wieder anzufangen. »Violin?« Ganz sicher nicht jetzt.
Vor ihm auf dem Bürgersteig war ein junger Mann neben zwei Dealern stehen geblieben. Er redete mit ihnen und zeigte ihnen etwas. Der Junge blickte auf, als er näher kam, und richtete seine grauen Augen prüfend auf ihn. Polizeiblick, dachte der Mann und schaute zu Boden. Sicher war das reichlich paranoid, denn es war höchst unwahrscheinlich, dass ein derart junger Polizist ihn erkannte. Da war das Hotel. Die Herberge. Das Leons. Dieser Abschnitt der Straße war fast menschenleer. Nur auf der anderen Straßenseite standen zwei Leute. Einer davon war der Dopekäufer in der Fahrradmontur. Er stand breitbeinig über seinem Rad und half einem anderen Fahrradfahrer in ebenso professioneller Bekleidung, sich eine Spritze in den Hals zu setzen. Der Mann in dem Leinenanzug schüttelte den Kopf und blickte an der Fassade vor ihm empor. Noch immer hing das gleiche verdreckte Banner zwischen der vierten und der obersten Etage. »Vierhundert Kronen pro Tag!« Alles war neu. Nichts war anders. Der junge Mann an der Rezeption des Leons war neu. Er empfing den Gast im Leinenanzug mit einem überraschend freundlichen Lächeln und - für das Leons - erstaunlich wenig Misstrauen. Ohne eine Spur von Ironie in der Stimme begrüßte er ihn mit einem »Welcome« und bat um seinen Pass. Der Mann nahm an, dass er wegen seiner braungebrannten Haut und dem Leinenanzug für einen Ausländer gehalten wurde, und hielt dem Hotelangestellten seinen roten norwegischen Pass hin. Er sah abgenutzt aus und hatte viele Stempel. Zu viele, um von einem guten Leben zu zeugen. »Oh«, sagte der Mann an der Rezeption und gab ihm den Pass zurück. Legte ein Formular auf die Theke vor sich und reichte ihm einen Stift. »Die angekreuzten Felder reichen.« Ein Eincheckformular im Leons?, dachte der Mann. Vielleicht war doch etwas anders geworden. Er nahm den Stift entgegen und sah, wie der Blick des Mannes auf seinem Mittelfinger ruhte. Auf dem, was einmal sein Mittelfinger gewesen war, ehe dieser ihm in einem Haus am Holmenkollåsen abgetrennt worden war. Das untere Glied war durch eine matte blaugraue Titanprothese ersetzt worden. Gut zu gebrauchen war sie nicht, diente aber immerhin als Stütze für Ring- und Zeigefinger, wenn er etwas greifen wollte, und war - da eher kurz - nicht im Weg. Der einzige Nachteil waren die unvermeidlichen Erklärungen, die er an jedem Flughafen abgeben musste, wenn er durch die Sicherheitskontrolle wollte. Er schrieb seinen Namen hinter First Name und Last Name. Date of Birth. Als er das Datum notierte, dachte er, dass er wieder mehr wie ein Mann Mitte vierzig aussah und weniger wie der mitgenommene, verletzte Alte, der hier drei Jahre zuvor ausgecheckt hatte. Seither hatte er sich einem strengen Regime unterzogen. Training, gesundes Essen, ausreichend Schlaf und - selbstverständlich - hundertprozentige Abstinenz. Das Regime zielte nicht darauf ab, jünger auszusehen, sondern zu überleben, nicht zu sterben. Außerdem passte es ihm ganz gut in den Kram. Feste Tagesabläufe, Disziplin und Ordnung waren ihm schon immer entgegengekommen. Deshalb hatte er auch keine Erklärung dafür, warum sein Leben zu einem solchen Chaos aus Selbstzerstörung und kaputten Beziehungen geworden war, immer wieder unterbrochen von tiefschwarzen Phasen voller Drogen und Alkohol. Die folgenden leeren Rubriken starrten ihn fragend an. Aber sie waren viel zu kurz für die Antworten, die sie forderten. Permanent Address. Nun. Die Wohnung in der Sofiesgate war direkt nach seiner Abreise vor drei Jahren verkauft worden, desgleichen sein Elternhaus oben in Oppsal. Bei seinem aktuellen Job hätte eine feste, offizielle Adresse ein gewisses Risiko dargestellt. Also schrieb er auf, was er immer aufschrieb, wenn er in ein Hotel zog: Chungking Mansion, Hongkong. Eine Angabe, die im Grunde nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Profession. Mord. Er ließ das Feld leer. Es war nicht angekreuzt. Phone Number. Er notierte eine beliebige Zahl. Handys können aufgespürt werden, so dass weder die Gespräche noch der Aufenthaltsort geheim bleiben. Phone Number Next of Kin. Nächste Angehörige? Welcher Ehemann gab freiwillig die Nummer seiner Frau an, wenn er im Leons eincheckte? Dieser Ort war doch fast so etwas wie ein Bordell inmitten von Oslo. Der Mann hinter dem Empfangstresen las offensichtlich seine Gedanken: »Nur für den Fall, dass Sie krank werden sollten und wir jemanden rufen müssen.« Harry nickte. Für den Fall eines Herzinfarktes während des Aktes. »Sie brauchen da nichts einzutragen, wenn es niemanden gibt ...« »Nein«, sagte der Mann und starrte die Worte an. Nächste Angehörige. Er hatte Søs. Eine Schwester mit einem - wie sie es selbst nannte - »Anflug von Down-Syndrom«, die ihr Leben aber weitaus besser gemeistert hatte als ihr großer Bruder. Sonst hatte er niemanden. Wirklich niemanden. Tja, nächste Angehörige. Er kreuzte an, cash zahlen zu wollen, unterzeichnete und gab dem Mann das Formular zurück, der es kurz überflog. Und endlich sah er so etwas wie Misstrauen aufflackern. »Sie sind ... Harry Hole?« Harry Hole nickte. »Ist das ein Problem?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. Schluckte. »Gut«, sagte Harry Hole. »Geben Sie mir dann einen Schlüssel?« »Oh, entschuldigen Sie! Hier, die 301.« Harry nahm den Schlüssel entgegen und registrierte, dass sich die Pupillen des Jungen geweitet hatten und seine Stimme gequälter klang. »Das ist ... wegen meinem Onkel«, sagte der junge Mann. »Er betreibt das Hotel und hat früher immer hier gesessen. Er hat mir von Ihnen erzählt.« »Nur Gutes, hoffe ich«, sagte Harry, lächelte, nahm seinen kleinen Koffer und ging die Treppe hoch. »Der Fahrstuhl ...« »Mag keine Fahrstühle«, sagte Harry, ohne sich umzudrehen. Der Raum war wie früher. Abgelebt, klein, aber einigermaßen sauber. Nein, nicht ganz, es gab eine neue Gardine. Grün und steif. Sicher bügelfrei. Apropos. Er hängte den Anzug ins Badezimmer und drehte die Dusche auf, damit der Dampf die Falten glättete. Der Anzug hatte ihn im Punjab House in der Nathan Road achthundert Hongkong-Dollar gekostet, aber in seinem Job war das eine notwendige Investition. Niemand respektierte einen Mann in Lumpen. Dann stieg er selbst unter die Dusche und ließ das heiße Wasser auf seine Haut prasseln, bis sie sich noppte. Anschließend ging er nackt durch den Raum, trat ans Fenster und öffnete es. Zweiter Stock. Hinterhof. Aus einem geöffneten Fenster drang gekünsteltes enthusiastisches Stöhnen. Er legte die Hände an die Gardinenstange und lehnte sich nach draußen. Direkt unter ihm stand ein offener Müllcontainer. Der süßliche Gestank drang bis zu ihm nach oben. Er spuckte aus und hörte den Speichel unten auf Papier klatschen. Dann folgten ein Knistern, das nichts mit dem Papier zu tun hatte, ein Knacken, und die grüne, steife Gardine ging rechts und links neben ihm zu Boden. Verdammt! Er zog die dünne Gardinenstange aus den Ringen. Die alte, hölzerne Stange mit den zwiebelartigen Spitzen an jedem Ende war gebrochen. Aber nicht zum ersten Mal, wie er an dem einfachen Klebeband sehen konnte, mit dem sie geflickt worden war. Harry setzte sich aufs Bett und öffnete die Schublade des Nachtschränkchens. Eine Bibel mit hellblauem Skaibezug und ein Nähset in Form einer Nadel und eines schwarzen Fadens, der um ein Stückchen Pappe gewickelt war, lagen darin. Gar nicht so unpassend, dachte Harry nach einer Weile. So konnten die Gäste abgerissene Hosenknöpfe wieder annähen und sich anschließend über die Vergebung der Sünden informieren. Er legte sich hin und sah an die Decke. Alles war neu, und doch war nichts anders. Er schloss die Augen. Er hatte im Flugzeug nicht geschlafen, und mit oder ohne Jetlag, mit oder ohne Gardinen würde er jetzt schlafen und wieder den Traum träumen, den er im Laufe der letzten drei Jahre jede Nacht geträumt hatte. Ein langer Flur, über den er vor einer donnernden Lawine davonzulaufen versuchte, die alle Luft aufsog, so dass er nicht atmen konnte. Er musste nur noch ein bisschen durchhalten, nur die Augen geschlossen halten. Dann verlor er die Kontrolle über seine Gedanken, sie glitten weg. Nächste Angehörige. Angehören. Gehören. An-ge-hö-ri-ge.
Ja, das war er. Und genau deshalb war er zurück. Sergej fuhr über die E6 in Richtung Oslo. Er sehnte sich nach seinem Bett in Furuset. Beachtete die Geschwindigkeitsbegrenzung, fuhr nie schneller als einhundertundzwanzig, obwohl so spätabends viel Platz war. Dann klingelte sein Handy. Das Handy. Es war Andrej. Er hatte mit dem Onkel gesprochen, dem ataman - dem Anführer -, den Andrej Onkel nannte. Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, konnte Sergej sich nicht länger beherrschen. Er drückte das Gaspedal durch. Schrie vor Freude. Der Mann war gekommen. Heute, an diesem Abend. Er war hier! Sergej sollte vorerst noch nichts unternehmen, hatte Andrej gesagt, es sei möglich, dass die Situation sich ganz von allein wieder entspannte. Aber er sollte jederzeit bereit sein, mental wie körperlich, mit dem Messer trainieren, schlafen und sich konzentrieren. Für den Fall, dass das Notwendige notwendig wurde.
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Autoren-Porträt von Jo Nesbø
Jo Nesbø, geb. 1960, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er ist der erfolgreichste Autor Norwegens, in 17 Ländern mit seinen Büchern vertreten, darunter die USA und England.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jo Nesbø
- 2011, 4. Aufl., 561 Seiten, Maße: 15 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: BLANK
- ISBN-10: 3550088736
- ISBN-13: 9783550088735
Rezension zu „Die Larve / Harry Hole Bd.9 “
»Ein großartiger Thriller voll spannender Wendungen von einem der besten Krimiautoren des Nordens!« BÜCHER, 10/2011 »Auf jeden Fall gehört das Buch in die erste Reihe der Werke des norwegischen Schriftstellers - eine echte Granate, die man nicht mehr aus der Hand legt, wenn einen die Geschichte beim Lesen erst einmal gefesselt hat.« Andreas Kurth, KRIMICOUCH.DE, Oktober 2011 »Der Stecker zur Starkstrom-Spannung seines Buches ist Nesbø als fantastischer Schreiber selbst« Christian Mückl, NÜRNBERGER ZEITUNG, 18.10.2011 »Spannung auf Höchstmaß.« DIE ZEIT, Urs Willmann, 03.11.2011 »Ein hoch brisanter, fesselnder Kriminalroman, der zugleich ein Sittengemälde und eine dramatische Abrechnung mit einer Welt von Gier und Verrat ist.« NDR 1, Margarethe von Schwarztkopf, 01.11.2011
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