Die Meeresflüsterin
Ein Roman so romantisch und unvergesslich wie ein Sommer an der See. Von der Autorin von "Die Muschelsammlerin" und "Das Schokoladenmädchen".
Ahlbeck, 1906: Die junge Fenja kommt nach dem Tod ihrer Mutter als Kindermädchen in...
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Produktinformationen zu „Die Meeresflüsterin “
Ein Roman so romantisch und unvergesslich wie ein Sommer an der See. Von der Autorin von "Die Muschelsammlerin" und "Das Schokoladenmädchen".
Ahlbeck, 1906: Die junge Fenja kommt nach dem Tod ihrer Mutter als Kindermädchen in den Haushalt der wohlhabenden Familie Hoschwitz. Liane, die Dame des Hauses, grämt sich darüber, nur ein einziges Kind zu haben. Sie wünscht sich sehnlichst ein weiteres Kind, doch ihr Mann verweigert sich ihr. Fenja bleiben die Spannungen in der Familie nicht verborgen. Als sie sich in Achim von Benting, einen Veteranen des Burenkriegs und Hausgast der Familie, verliebt, stellt sie verbittert fest, dass auch Liane ein Auge auf Achim geworfen hat.
Lese-Probe zu „Die Meeresflüsterin “
Die Meeresflüsterin von Katryn BerlingerKapitel 1
Niemand hatte am letzten Tag des Jahres 1904 die Kata strophe erahnen können. Es hätte eines Hellsehers bedurft, um zu wissen, was auf sie zukommen würde. Im guten wie im bösen Sinne.
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Müssen wir dir Beine machen, Fenja? Beeil dich gefälligst, Tochter!«
Die Stimme ihres Vaters klang fast so gemein wie die des Hausherrn, seines Freundes Matthies Hocks. Und der prustete los, als habe er schon wieder einen anzüglichen Witz gehört. Und weil Matthies Hocks, der klein und gedrungen war wie ein Klafter Holz, eine ansteckende Lache hatte, dröhnte kurz darauf die Stube vor Gelächter.
Fenja seufzte. Sie stand in der Küche des Segeltuchmachers und wischte verspritzte Punschflecken von den schwarz- weißen Steinfliesen. Den ganzen Tag über hatte sie gebacken und gekocht, und das war jetzt der Lohn! Eierpunsch kochen, und zwar jede Stunde ein Glas. Längst wurde ihr vom Dampf von Rum, Wasser, Eiern und Weißwein übel, zumal sie seit dem Frühstück, außer ein paar Happen während der Arbeit, kaum etwas Richtiges gegessen hatte. Und nun würde sie für die nächste Portion Punsch auch noch in die eisige Kälte hinaus auf den Hof gehen müssen, um frische Eier zu holen. Es ist und bleibt doch immer dasselbe, dachte sie. Ich bin die Magd, und Vater ist damit zufrieden. Schließlich bin ich das Einzige, was er den anderen als verarmter Leineweber zu bieten hat. Er nutzt mich aus, wie es auch die anderen tun. Und an einem Tag wie heute lassen sie sich natürlich bedienen, als seien sie Landjunker. Fressen, saufen, Karten spielen, das ist ihre Welt. Das können sie.
Wie erschöpft sie war. Ihre Füße brannten, und ihr Rücken schmerzte, als hätte sie seit dem Morgengrauen für ganz Ahlbeck Brunnenwasser geschöpft. Zwar hatte ihr bis zum Nachmittag die alte Grit geholfen, doch seit dem frühen Abend musste sie allein für die Männer sorgen. Beim Hocks wird Silvester gefeiert, hatte es geheißen. Und so waren alte Freunde gekommen, die verwitwet waren oder die das Zusammensein mit Kindern und Enkeln langweilte. Wenn wenigstens Mutter hier wäre, Hocks' Frau oder von mir aus auch Hiltrud, mein stolzes Schwesterherz. Aber nein, alle drei mussten ja kurz vor Weihnachten nach Oberschlesien reisen, um Spitzen zu kaufen. Spitzen! Als hätte das nicht Zeit bis zum Frühjahr gehabt. Aber das haben sie nun davon: Mutter und Hock's Frau liegen seit ihrer Rückkehr mit Fieber und Kopfschmerzen im Bett. Und Hiltrud muss zu Hause bleiben und ärgert sich, nicht Silvester feiern zu können.
Fenja versuchte sich vorzustellen, wie schön es wäre, könnte sie mit Edda, ihrer besten Freundin, im Ahlbecker Hof tanzen ... Aber selbst Edda würde in dieser Nacht genug zu tun haben. Wenigstens brauchte sie sich für ihre Arbeit als Dienstmädchen nicht zu schämen, im Gegensatz zu ihr, der Magd für alle ...
Von der Stube scholl lautes Stimmengewirr herüber. Fäuste schlugen auf die Tischplatte.
»Wo bleibt der Eierpunsch?«, rief der alte Segeltuch macher. »Jau! Her mit den Eiern!«
»Ein Ei gibt das andere!« Lautes Gelächter.
»Je mehr, desto dicker!«
»Und ordentlich viel Rum! Das heizt ein!«
»Bring der Alten was hoch, Fenja!«
Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.
»Bin schon dabei!«, gab sie mit überlauter Stimme zurück, rüttelte mit dem Schürhaken die glühende Kohle durch und legte Holz nach. Dann setzte sie den noch halbvollen Topf mit Punsch zum Aufwärmen auf. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Matthies Hocks die angelehnte Küchentür mit dem Fuß aufschob. In seiner Hand hielt er sein leeres Glas.
»Eierpunsch und Silvester ist wie in 'ner Koje 'ne fesche Schwester!« Er schwenkte das Glas. »Gönn dir doch auch mal ein Glas, Fenjachen. Gehört doch dazu und macht launig!« Er prustete. Fenja schenkte ihm schweigend nach. Ihr Vater kam aus der rauchgeschwängerten Stube hinzu und legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter.
»Lass man. Sie soll noch stehen können ... nachher, und nicht gleich umfallen. Du weißt, was ich mein.«
»Bist ein guter Vater, Paul.« Anerkennend klopfte Matthies Hocks ihm gegen die Brust. »Für ihren guten Ruf tust du alles, wie?«
»So wahr die Ostsee Fische hat.« Matthies Hocks trank sein Glas in einem Zug leer, während Fenja den herausfordernden Blick ihres Vaters auffing.
»Und Ostsee und Fisch gehören zusammen wie Wohlgardt und Hocks«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.
Ihr graute. Diese Nacht würde nicht gut enden. Hastig füllte sie beide Gläser bis zum Rand. Die Männer staksten in die Stube zurück. Fenja atmete auf und begann den Topf abzuwaschen. Da schlug die Küchentür hart gegen den Rahmen. Erschrocken wandte sie sich um. Es war Baldur, Hocks' ältester Sohn. Er war gedrungen wie sein Vater, und sein Kinn war so breit wie seine vorgewölbte Stirn. Ihm war nie zu trauen, auch wenn er anscheinend freundlich war. Er war bei aller Hartnäckigkeit zwiespältig, konnte schöne Worte finden und gleichzeitig zuschlagen. Den ganzen Tag über hatte sie vor diesem Moment Angst gehabt. Und jetzt hielt er ihr auch noch einen zappelnden Silvesterkarpfen entgegen. Sie schrie auf.
»Baldur! Geh mit dem Karpfen in die Waschküche, köpf ihn im Steinbecken, nicht hier. Ich muss Punsch kochen. Willst du, dass mir auch noch vom Fischgestank schlecht wird?«
»Nichts musst du tun, Fenja. Eins nach dem anderen. Wir haben ja keine Eile, oder? Erst der Punsch, dann der Karpfen. Und dazwischen verschönern wir uns die Zeit.«
Sie wich vor ihm zurück, bis sie gegen die Anrichte stieß. Er lachte. Oh, wie sie seinen grausamen Spott hasste.
»Aber nicht doch, Fenja. Du brauchst keine Angst zu haben, du hast doch die Wahl.« Er fasste den sich windenden Karpfen fester, schwenkte ihn hin und her. Er ist mitleidlos, dachte Fenja, er wird anders mit mir umgehen als Martin. Sie versuchte, sich unter seinen Armen hinwegzuducken, doch Baldur schob wie beiläufig sein Knie vor, so dass sie ins Stolpern geriet und sich an der Tischkante festhalten musste. Wütend sah sie ihn an.
»Was fällt dir ein? Ich koche für euch, ich kümmere mich sogar um deine kranke Mutter - und du willst mich noch bei der Arbeit stören?«
»Fenja, nun stell dich nicht so an. Du weißt, dass ich dich mag und dass unsere Väter allerbeste Freunde sind. Du verstehst, was ich meine. Nichts würde sie stolzer machen, als wenn wir heirateten. Heute ist Silvester, da sollten wir uns das Wort geben.«
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals.
Er trat mit dem Karpfen sehr nah an sie heran. »Also, meine liebe, schöne Leineweberin, wähle: Küsst du mich, töte ich den Karpfen für dich. Küsst du mich nicht, musst du ihn töten. Bedenke: Wenn du das nicht schaffst, würden unsere Väter sehr ... verärgert sein. Nun?«
»Du weißt, ich bin arm.«
»Das stört mich nicht.«
»Ich habe noch nicht einmal eine Mitgift.«
»Ist mir egal. Dafür besitzt ihr noch Felder, die für Flachs viel zu gut sind. Man kann Bauland draus machen, so wie es die meisten von uns längst schon getan haben.«
»Vater wird sie nie verkaufen, das weißt du. Er will das Geld der Fremden nicht. Da bleibt er lieber arm.«
»Das ist sein Fehler, das sagt ihm mein Vater schon seit über zwanzig Jahren.«
»Da siehst du's. Ihr kennt ihn doch.«
»Aber wir sind die Jüngeren, Fenja. Wir entscheiden.« »Unsinn, Baldur.«
»Unsinn? Du glaubst, ich sei feige, würde vor den Alten kuschen? Täusche dich da nicht, Fenja Susann Wolgardt. Ich weiß, was ich will.«
Verzweifelt wich sie aus: »Du weißt, dass Vater meine Schwester viel lieber mag. Sie ist die Ältere, und mit ihr werde ich eines Tages das bisschen Land teilen müssen.«
Er lächelte. »Fenja, sorge dich nicht, mit Hiltrud werde ich schon noch fertig werden. Denke an dich, du bist es wert. Du bist anders als sie. Willst du denn immer noch ihre Kleider auftragen? Du bist schön, viel zu schön für solche Lumpen. Es wird Zeit, dass du dir eigene Wünsche erfüllst. Ich kann dir alles bieten, ein Haus, Geld, Sicherheit. Wir Hocks sind seit Generationen keine armen Leute, das weißt du.«
»Ich ... ich habe deinen Bruder geliebt«, erwiderte sie nervös.
»Martin? Das glaube ich dir nicht. Er war ein Luftikus, der jeder hier im Dorf unter die Röcke geguckt hat. Ein Angeber, der mich nächtelang mit seinen schmutzigen Phantasien vom Schlafen abhielt. Jetzt hat ihn das Meer behalten, und nun bin ich es, der sein Recht auf dich einfordert. Du weißt, ich mochte dich schon immer viel mehr als er. Also, Fenja, küsse mich oder ... du musst den Karpfen schlachten.«
Ohne noch länger zu überlegen, griff Fenja hinter sich, nahm die Schüssel und schüttete das Abwaschwasser auf Baldurs Brust. Der Karpfen entglitt seinen Händen und platschte auf die Fliesen. Baldur fluchte. Fenja nahm ein Küchentuch und kniete nieder, um den zappelnden Karpfen festzuhalten. Da schlug die Haustür auf, und polternde Schritte dröhnten über die Dielen. Eisige Winterluft, vermischt mit Schnee, strömte herein. Fenja hob ihren Kopf. Es waren drei Fischer in schneebedeckten Südwestern, die atemlos auf die Männer einredeten.
»Steht auf!«
»Ihr müsst mit!«
»Das Wasser steigt! «
»Schon starke Böen von Nordost!«
»Der Wind hat gedreht, und keiner hat's vorausgesagt!«
»Hinnech sagt, angeblich hätte die Hamburger Seewarte alle Ostseestationen über ein Tief über Südschweden benachrichtigt. Man hätte mit allem rechnen können, aber jetzt bläst es von Nordost! Das wird gefährlich.«
»Und schneien tut's wie schon lange nicht mehr!« »Es wird immer schlimmer!«
»Vergesst Silvester, das wird einen Orkan geben, Männer!« »Los, zieht euch an und kommt nach draußen!«
Fenja bemerkte, wie ihr Vater einen langen Blick mit seinem Freund Matthies wechselte. Dieser nickte unmerklich und rief ihr mit schwerer Zunge zu: »Hol frischen Punsch! Für alle. Und ihr, Männer, setzt euch. Der Sturm kommt, ob wir's wollen oder nicht. Und wenn das Schlimmste geschieht, wollen wir uns ihm mit einem guten Schluck stellen.«
Die Fischer zögerten. Fenja hielt noch immer den Karpfen unter dem Tuch fest. Da bückte sich Baldur über sie, einen Fleischklopfer in der Hand. »Das wirst du noch bereuen«, zischte er und schlug dem Karpfen auf den Kopf. Es knirschte ekelhaft, und unter ihren Händen tränkte sich das Tuch mit Blut. Mein Gott, was bist du nur für ein Ekel, Baldur Hocks, dachte sie, ich könnte mich jetzt geradezu vor dir übergeben. Du weißt genau, wie ich diesen Geruch von Fisch und Blut verabscheue. Angewidert sah sie ihm nach, wie er die Küche verließ und den Fischern in der Stube auf die Schultern klopfte. »Vater hat recht. Jetzt gibt's erst mal Eierpunsch, dann den Karpfen, und erst dann geht's raus!«
Die Männer zögerten noch, doch als Fenja aufstand und den toten Fisch auf die Arbeitsplatte legte, nickten sie und setzten sich.
Oh, wie sie ihn hasste, seine Art hasste, wie er ihr nachstellte, sie demütigte und in dieser Stunde auch noch alle Männer davon abhielt, aufzustehen und am Strand nach dem Rechten zu sehen. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich seinem Willen zu beugen. Sie lief hinaus, um Eier aus dem Stallgebäude zu holen. Es war eiskalt, das Heulen des Sturms und das Dröhnen der aufgewühlten Ostsee trieben sie zur Eile an.
Zurück in der Küche, hörte sie, wie Baldur die Älteren immer wieder mit derben Witzen ablenkte. War er feige oder bequem? Es half alles nichts, sie musste den Eierpunsch kochen. Endlich war er püriert, der Karpfen gar. Fenja stellte die Kasserolle mit dem Fisch in die Mitte des Tisches, holte die Schüssel mit den Salzkartoffeln. Noch während sie neben dem Tisch stand, die heiße Schüssel in den Händen, spürte sie, wie Baldur ihr unters Kleid fuhr und ihr in die Pobacken kniff. Sie biss die Zähne zusammen, stellte die dampfende Schüssel aufs Tischtuch. Dann aber glitt seine Hand zwischen ihre Beine und zwickte sie. Sie schrie auf vor Schmerz.
»Da siehst du's«, zischte er ihr belustigt zu. »Da du mich nicht geküsst hast, küsse ich dich auf meine Art. Ich verspreche dir, du kannst viel von mir lernen. Denk daran, noch hast du alles in der Hand! Ich kann's auch anders, nämlich viel besser!«
Die Männer lachten, sogar ihr Vater warf ihr einen aufmunternden Blick zu. »Nun mach nicht so ein Gesicht, Tochter. Bist auch nur ein Weib.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um, floh in die Diele und zog sich an. Noch nie war sie so schonungslos vor anderen gedemütigt worden.
Es war nicht mehr zu ertragen.
Weder dieser letzte Tag des Jahres 1904 noch ihr ganzes armseliges Leben.
Die Standuhr schlug Viertel nach elf. Weniger als eine Stunde trennte sie noch vom neuen Jahr. Nichts würde sich ändern. Sie war bereits zweiundzwanzig, und ihr Leben würde weitergehen wie bisher. Sie würde weiterhin dankbar sein müssen, wenn sie Leinen für die Aussteuer anderer weben durfte, weil dies immer noch besser war, als ständig als Dienstmagd herumgereicht zu werden.
Das war ihre Erkenntnis am Ende dieses Jahres.
Nein, sie konnte hier nicht mehr länger bleiben.
Nicht in diesem Haus.
Sollte Baldur sich doch selbst um seine Mutter kümmern. Aber zuvor musste sie etwas für sich tun. Entschlossen kehrte sie in die Küche zurück, nahm Kernseife und Wasser und wusch ausgiebig Hände und Gesicht. Dann lief sie in die kalte Diele zurück und suchte aus ihrem Korb die Dose mit dem spärlichen Rest Holunderblütencreme hervor, die sie Ende Mai angesetzt hatte. Nichts konnte ihr jetzt so guttun wie dieser Duft. Und es war, als locke er sie endgültig hinaus ins Freie. Fenja ergriff ihre Sturmlaterne und entzündete sie. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, war die Stimme ihres Vaters: »Nun geh schon, Baldur, fang sie dir wieder ein. Bist doch ein Kerl, oder?«
Sie rannte in das Schneetreiben hinaus. Natürlich würde er ihr folgen, sie war sich ganz sicher, doch noch hatte sie einen Vorsprung. Und sie würde nicht gleich zum Meer hinunterlaufen, sondern den kleinen Umweg über die Schulzenstraße nehmen. Kurz bevor sie in diese einbog, blickte sie über ihre Schulter, doch sie sah nichts außer Dunkelheit, hörte nichts als das Heulen des Sturms und das ohrenbetäubende Tosen der Wellen.
Noch nie hatte sie so ein Schneetreiben erlebt. Einmal bildete sie sich ein, Feuerwehrsirenen, dann wieder Schritte hinter sich zu hören. Dann vernahm sie plötzlich aus west licher Richtung, von der Kirchenstraße her, ein gewaltiges Krachen. Es klang, als hätte der Sturm ein Dach abgerissen. Wenige Minuten später wirbelte ihr der schneeschwere Nordost Reet und Zweige ins Gesicht. Sie stolperte über herabgefallene Dachziegel, eine abgerissene Bauplane und Holzlatten, ja sogar über eine rostige Dachrinne.
Endlich erreichte sie die Dünenstraße. Ängstlich drehte sie sich um. Bewegte sich dort eine Gestalt? Fenja raffte ihren Mantel, rannte über den breiten Strand, bis ihr die Wellen schwarz und meterhoch entgegenschlugen. Ihr Tosen war ungeheuerlich. Das eisige Wasser strudelte um Fenjas Stiefel. Es musste schon weit über einen Meter angestiegen sein.
Plötzlich entdeckte sie etwas Dunkles auf dem Wasser. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, trotz Schneetreiben und aufspritzender Gischt etwas zu erkennen. Tatsächlich, es war ein Rettungsboot, in dem ein hochgewachsener Mann unter Aufbietung all seiner Kräfte ruderte. Eine gedehnte Ewigkeit lang sah es aus, als käme er nicht vom Fleck, ja, als driftete er zurück ins Meer, doch endlich gelang es ihm, den Schub mehrerer heftig rollender Wellen zu nutzen, um an den Strand geworfen zu werden. Das Boot barst, der Sturm schleuderte eine Planke mit voller Wucht in die Höhe. Sie wirbelte wenige Meter an Fenja vorbei. Der Ruderer rappelte sich auf, taumelte.
Schiffbrüchige! Fenja ergriff Panik. Wie sollte sie ihnen helfen? Sie spürte, wie ihr das Wasser um die Knöchel stieg und den Sand unter den Füßen fortspülte. Sie sackte vornüber, der Wind riss ihren Haarknoten auf, eisige Gischt schlug ihr ins Gesicht. Sie krabbelte auf allen vieren durch das ablaufende Wasser auf die Gestrandeten zu. Der Ruderer zog einen reglosen Körper aus den Trümmern, stapfte mit ihm zwei, drei Schritte den Strand hinauf und sackte plötzlich in die Knie. Fenja stolperte durch das Schneetreiben auf ihn zu. Der Fremde trug eine Uniform, seine breiten Schultern bebten. Fenja beugte sich über ihn, hörte ihn keuchen. Sie bemerkte, dass der steife, hohe Umlegekragen seiner Uniformjacke lose am Nacken hing und ihm Blut aus einer Platzwunde an der Stirn rann. Sein linker Ärmel war bis zur Schulter aufgerissen, sein linkes Hosenbein zerfetzt. Als er vornüberzusacken drohte, kniete Fenja vor ihm nieder und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. Da schlug er die Augen auf.
Ihre Blicke begegneten sich.
Für einen Moment schien es Fenja, als hielten die Schneeflocken im Flug, die Wellen in ihrem Schlag inne. Alles war still.
Da umfasste der Fremde ihr Handgelenk, schloss die Augen und drückte sein Gesicht an ihre Handflächen. Fenja nahm nichts anderes mehr wahr als diese Berührung. Erst als er sie losließ, spürte sie wieder die Schneeböen und die Gischt auf ihrem Gesicht. Sie ballte die Finger zur Faust, als könne sie den Atem dieses Fremden, seine aufwühlende Wärme für immer festhalten.
»Ich hole Hilfe!«, murmelte sie ihm zu, schlang ihm ihren Schal um den Hals und drückte ihre Sturmlaterne dicht neben ihn in den Schnee. Sie würde alles tun, um ihn zu retten. Sie rannte zu den Dünen hoch, hielt nach Baldur Ausschau. Jetzt hätte sie ihn wirklich gebraucht, aber er war nirgends zu sehen, sie war allein. Feigling, rief sie wütend und rannte, ohne sich zu schonen, durch das Schneetreiben den ganzen Weg zurück. Als sie das Hockssche Haus erreichte, hatte sie stechende Schmerzen in Hals und Brust. Sie riss die Tür auf und stürzte in die warme Stube.
»Geht raus und helft! Draußen sind Schiffbrüchige! Einer von ihnen lebt noch!«
Die Männer sprangen auf, Stühle fielen um. Sie zwängten sich in ihre Stiefel, stülpten Mützen und Mäntel über und stürzten in den Orkan hinaus.
Fenja zitterte vor Kälte, sie würde ihnen folgen, niemals würde sie hier eine Sekunde lang allein bleiben, während der Fremde ... Sie schlug den Truhendeckel in der Diele auf, wühlte zwischen alten Strickjacken, Arbeitshosen und Decken. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie endlich einen schwarzgrauen Männerwollmantel und geflickte Socken. Hastig tauschte sie ihre nassen Strümpfe gegen trockene aus, schlüpfte in Wollmantel und Stiefel und folgte den Männern.
Sie holte sie schnell ein und lief ihnen voraus. Ihre flackernde Sturmlaterne neben dem Fremden wies ihnen den Weg.
Er sah ihr bereits entgegen. Er hatte sich auf eine Planke gesetzt und stützte mit seinem unverletzten Arm den Oberkörper seines Begleiters, der reglos neben ihm lag. Fenja drehte sich zu Baldur um.
»Schnell, beeilt euch! Er muss sofort zum Arzt! Sonst kriegst du noch Ärger!« Sie wies auf die Schulterstücke des Fremden.
»Verdammt! Ein Rittmeister!« Baldur winkte den anderen zu. »Los! Packt mit an! « Dann bückte er sich zu ihm vor. »Bitte ergebenst, Euer Wohlgeboren ... Gestatten ... «
Vorsichtig nahmen sie ihm den reglosen Mann ab, zogen den Rittmeister in die Höhe. Er war größer, als Fenja angenommen hatte. Sie knöpfte ihren Wollmantel auf.
Der Off zier hustete, wehrte ab. »Nein, nein, behalten Sie ...« Seine Stimme war heiser, etwas brüchig, doch von einem tiefen Timbre. Baldur zischte Fenja zu: »Zieh den Mantel aus. Der Herr Rittmeister friert.«
Wieder schüttelte dieser den Kopf, doch Fenja legte ihm den Mantel um die Schultern und schlang den Gürtel um seinen Leib. Als sie ihn vor seinem Bauch verknotete, schabte sein Kinn kurz über ihre Wange. Ihr Herz schlug schneller.
»Beeil dich!«, rief Baldur ungeduldig und winkte einem der Männer zu. »Wir bringen ihn zu uns nach Hause!« Da knickten dem Rittmeister die Knie ein. Gerade noch rechtzeitig konnten sie ihn auffangen. Andere kamen hinzu, trugen beide fort. Fenja zitterte vor Kälte und Aufregung.
Sollte sie nach Hause gehen oder ein weiteres Mal ins Hockssche Haus zurückkehren, aus dem sie geflüchtet war? Müsste sie nicht ihr Versprechen halten und wenigstens noch ein einziges Mal in dieser Nacht nach Baldurs Mutter sehen?
In wenigen Minuten würde dort der kaiserliche Rittmeister auf jemanden warten, der sich um ihn kümmerte, denn Baldur wäre wohl dazu nicht in der Lage. Sie blinzelte in das Schneetreiben, bemerkte, wie Baldur sich nach ihr umdrehte.
»Los, Fenja! Komm mit! «, schrie Baldur ihr über die Schulter zu. »Du hast ihn gefunden, also musst du ihn pflegen! Das bist du ihm schuldig!«
Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Sie hatte Angst und wusste nicht, warum.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Müssen wir dir Beine machen, Fenja? Beeil dich gefälligst, Tochter!«
Die Stimme ihres Vaters klang fast so gemein wie die des Hausherrn, seines Freundes Matthies Hocks. Und der prustete los, als habe er schon wieder einen anzüglichen Witz gehört. Und weil Matthies Hocks, der klein und gedrungen war wie ein Klafter Holz, eine ansteckende Lache hatte, dröhnte kurz darauf die Stube vor Gelächter.
Fenja seufzte. Sie stand in der Küche des Segeltuchmachers und wischte verspritzte Punschflecken von den schwarz- weißen Steinfliesen. Den ganzen Tag über hatte sie gebacken und gekocht, und das war jetzt der Lohn! Eierpunsch kochen, und zwar jede Stunde ein Glas. Längst wurde ihr vom Dampf von Rum, Wasser, Eiern und Weißwein übel, zumal sie seit dem Frühstück, außer ein paar Happen während der Arbeit, kaum etwas Richtiges gegessen hatte. Und nun würde sie für die nächste Portion Punsch auch noch in die eisige Kälte hinaus auf den Hof gehen müssen, um frische Eier zu holen. Es ist und bleibt doch immer dasselbe, dachte sie. Ich bin die Magd, und Vater ist damit zufrieden. Schließlich bin ich das Einzige, was er den anderen als verarmter Leineweber zu bieten hat. Er nutzt mich aus, wie es auch die anderen tun. Und an einem Tag wie heute lassen sie sich natürlich bedienen, als seien sie Landjunker. Fressen, saufen, Karten spielen, das ist ihre Welt. Das können sie.
Wie erschöpft sie war. Ihre Füße brannten, und ihr Rücken schmerzte, als hätte sie seit dem Morgengrauen für ganz Ahlbeck Brunnenwasser geschöpft. Zwar hatte ihr bis zum Nachmittag die alte Grit geholfen, doch seit dem frühen Abend musste sie allein für die Männer sorgen. Beim Hocks wird Silvester gefeiert, hatte es geheißen. Und so waren alte Freunde gekommen, die verwitwet waren oder die das Zusammensein mit Kindern und Enkeln langweilte. Wenn wenigstens Mutter hier wäre, Hocks' Frau oder von mir aus auch Hiltrud, mein stolzes Schwesterherz. Aber nein, alle drei mussten ja kurz vor Weihnachten nach Oberschlesien reisen, um Spitzen zu kaufen. Spitzen! Als hätte das nicht Zeit bis zum Frühjahr gehabt. Aber das haben sie nun davon: Mutter und Hock's Frau liegen seit ihrer Rückkehr mit Fieber und Kopfschmerzen im Bett. Und Hiltrud muss zu Hause bleiben und ärgert sich, nicht Silvester feiern zu können.
Fenja versuchte sich vorzustellen, wie schön es wäre, könnte sie mit Edda, ihrer besten Freundin, im Ahlbecker Hof tanzen ... Aber selbst Edda würde in dieser Nacht genug zu tun haben. Wenigstens brauchte sie sich für ihre Arbeit als Dienstmädchen nicht zu schämen, im Gegensatz zu ihr, der Magd für alle ...
Von der Stube scholl lautes Stimmengewirr herüber. Fäuste schlugen auf die Tischplatte.
»Wo bleibt der Eierpunsch?«, rief der alte Segeltuch macher. »Jau! Her mit den Eiern!«
»Ein Ei gibt das andere!« Lautes Gelächter.
»Je mehr, desto dicker!«
»Und ordentlich viel Rum! Das heizt ein!«
»Bring der Alten was hoch, Fenja!«
Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.
»Bin schon dabei!«, gab sie mit überlauter Stimme zurück, rüttelte mit dem Schürhaken die glühende Kohle durch und legte Holz nach. Dann setzte sie den noch halbvollen Topf mit Punsch zum Aufwärmen auf. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Matthies Hocks die angelehnte Küchentür mit dem Fuß aufschob. In seiner Hand hielt er sein leeres Glas.
»Eierpunsch und Silvester ist wie in 'ner Koje 'ne fesche Schwester!« Er schwenkte das Glas. »Gönn dir doch auch mal ein Glas, Fenjachen. Gehört doch dazu und macht launig!« Er prustete. Fenja schenkte ihm schweigend nach. Ihr Vater kam aus der rauchgeschwängerten Stube hinzu und legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter.
»Lass man. Sie soll noch stehen können ... nachher, und nicht gleich umfallen. Du weißt, was ich mein.«
»Bist ein guter Vater, Paul.« Anerkennend klopfte Matthies Hocks ihm gegen die Brust. »Für ihren guten Ruf tust du alles, wie?«
»So wahr die Ostsee Fische hat.« Matthies Hocks trank sein Glas in einem Zug leer, während Fenja den herausfordernden Blick ihres Vaters auffing.
»Und Ostsee und Fisch gehören zusammen wie Wohlgardt und Hocks«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.
Ihr graute. Diese Nacht würde nicht gut enden. Hastig füllte sie beide Gläser bis zum Rand. Die Männer staksten in die Stube zurück. Fenja atmete auf und begann den Topf abzuwaschen. Da schlug die Küchentür hart gegen den Rahmen. Erschrocken wandte sie sich um. Es war Baldur, Hocks' ältester Sohn. Er war gedrungen wie sein Vater, und sein Kinn war so breit wie seine vorgewölbte Stirn. Ihm war nie zu trauen, auch wenn er anscheinend freundlich war. Er war bei aller Hartnäckigkeit zwiespältig, konnte schöne Worte finden und gleichzeitig zuschlagen. Den ganzen Tag über hatte sie vor diesem Moment Angst gehabt. Und jetzt hielt er ihr auch noch einen zappelnden Silvesterkarpfen entgegen. Sie schrie auf.
»Baldur! Geh mit dem Karpfen in die Waschküche, köpf ihn im Steinbecken, nicht hier. Ich muss Punsch kochen. Willst du, dass mir auch noch vom Fischgestank schlecht wird?«
»Nichts musst du tun, Fenja. Eins nach dem anderen. Wir haben ja keine Eile, oder? Erst der Punsch, dann der Karpfen. Und dazwischen verschönern wir uns die Zeit.«
Sie wich vor ihm zurück, bis sie gegen die Anrichte stieß. Er lachte. Oh, wie sie seinen grausamen Spott hasste.
»Aber nicht doch, Fenja. Du brauchst keine Angst zu haben, du hast doch die Wahl.« Er fasste den sich windenden Karpfen fester, schwenkte ihn hin und her. Er ist mitleidlos, dachte Fenja, er wird anders mit mir umgehen als Martin. Sie versuchte, sich unter seinen Armen hinwegzuducken, doch Baldur schob wie beiläufig sein Knie vor, so dass sie ins Stolpern geriet und sich an der Tischkante festhalten musste. Wütend sah sie ihn an.
»Was fällt dir ein? Ich koche für euch, ich kümmere mich sogar um deine kranke Mutter - und du willst mich noch bei der Arbeit stören?«
»Fenja, nun stell dich nicht so an. Du weißt, dass ich dich mag und dass unsere Väter allerbeste Freunde sind. Du verstehst, was ich meine. Nichts würde sie stolzer machen, als wenn wir heirateten. Heute ist Silvester, da sollten wir uns das Wort geben.«
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals.
Er trat mit dem Karpfen sehr nah an sie heran. »Also, meine liebe, schöne Leineweberin, wähle: Küsst du mich, töte ich den Karpfen für dich. Küsst du mich nicht, musst du ihn töten. Bedenke: Wenn du das nicht schaffst, würden unsere Väter sehr ... verärgert sein. Nun?«
»Du weißt, ich bin arm.«
»Das stört mich nicht.«
»Ich habe noch nicht einmal eine Mitgift.«
»Ist mir egal. Dafür besitzt ihr noch Felder, die für Flachs viel zu gut sind. Man kann Bauland draus machen, so wie es die meisten von uns längst schon getan haben.«
»Vater wird sie nie verkaufen, das weißt du. Er will das Geld der Fremden nicht. Da bleibt er lieber arm.«
»Das ist sein Fehler, das sagt ihm mein Vater schon seit über zwanzig Jahren.«
»Da siehst du's. Ihr kennt ihn doch.«
»Aber wir sind die Jüngeren, Fenja. Wir entscheiden.« »Unsinn, Baldur.«
»Unsinn? Du glaubst, ich sei feige, würde vor den Alten kuschen? Täusche dich da nicht, Fenja Susann Wolgardt. Ich weiß, was ich will.«
Verzweifelt wich sie aus: »Du weißt, dass Vater meine Schwester viel lieber mag. Sie ist die Ältere, und mit ihr werde ich eines Tages das bisschen Land teilen müssen.«
Er lächelte. »Fenja, sorge dich nicht, mit Hiltrud werde ich schon noch fertig werden. Denke an dich, du bist es wert. Du bist anders als sie. Willst du denn immer noch ihre Kleider auftragen? Du bist schön, viel zu schön für solche Lumpen. Es wird Zeit, dass du dir eigene Wünsche erfüllst. Ich kann dir alles bieten, ein Haus, Geld, Sicherheit. Wir Hocks sind seit Generationen keine armen Leute, das weißt du.«
»Ich ... ich habe deinen Bruder geliebt«, erwiderte sie nervös.
»Martin? Das glaube ich dir nicht. Er war ein Luftikus, der jeder hier im Dorf unter die Röcke geguckt hat. Ein Angeber, der mich nächtelang mit seinen schmutzigen Phantasien vom Schlafen abhielt. Jetzt hat ihn das Meer behalten, und nun bin ich es, der sein Recht auf dich einfordert. Du weißt, ich mochte dich schon immer viel mehr als er. Also, Fenja, küsse mich oder ... du musst den Karpfen schlachten.«
Ohne noch länger zu überlegen, griff Fenja hinter sich, nahm die Schüssel und schüttete das Abwaschwasser auf Baldurs Brust. Der Karpfen entglitt seinen Händen und platschte auf die Fliesen. Baldur fluchte. Fenja nahm ein Küchentuch und kniete nieder, um den zappelnden Karpfen festzuhalten. Da schlug die Haustür auf, und polternde Schritte dröhnten über die Dielen. Eisige Winterluft, vermischt mit Schnee, strömte herein. Fenja hob ihren Kopf. Es waren drei Fischer in schneebedeckten Südwestern, die atemlos auf die Männer einredeten.
»Steht auf!«
»Ihr müsst mit!«
»Das Wasser steigt! «
»Schon starke Böen von Nordost!«
»Der Wind hat gedreht, und keiner hat's vorausgesagt!«
»Hinnech sagt, angeblich hätte die Hamburger Seewarte alle Ostseestationen über ein Tief über Südschweden benachrichtigt. Man hätte mit allem rechnen können, aber jetzt bläst es von Nordost! Das wird gefährlich.«
»Und schneien tut's wie schon lange nicht mehr!« »Es wird immer schlimmer!«
»Vergesst Silvester, das wird einen Orkan geben, Männer!« »Los, zieht euch an und kommt nach draußen!«
Fenja bemerkte, wie ihr Vater einen langen Blick mit seinem Freund Matthies wechselte. Dieser nickte unmerklich und rief ihr mit schwerer Zunge zu: »Hol frischen Punsch! Für alle. Und ihr, Männer, setzt euch. Der Sturm kommt, ob wir's wollen oder nicht. Und wenn das Schlimmste geschieht, wollen wir uns ihm mit einem guten Schluck stellen.«
Die Fischer zögerten. Fenja hielt noch immer den Karpfen unter dem Tuch fest. Da bückte sich Baldur über sie, einen Fleischklopfer in der Hand. »Das wirst du noch bereuen«, zischte er und schlug dem Karpfen auf den Kopf. Es knirschte ekelhaft, und unter ihren Händen tränkte sich das Tuch mit Blut. Mein Gott, was bist du nur für ein Ekel, Baldur Hocks, dachte sie, ich könnte mich jetzt geradezu vor dir übergeben. Du weißt genau, wie ich diesen Geruch von Fisch und Blut verabscheue. Angewidert sah sie ihm nach, wie er die Küche verließ und den Fischern in der Stube auf die Schultern klopfte. »Vater hat recht. Jetzt gibt's erst mal Eierpunsch, dann den Karpfen, und erst dann geht's raus!«
Die Männer zögerten noch, doch als Fenja aufstand und den toten Fisch auf die Arbeitsplatte legte, nickten sie und setzten sich.
Oh, wie sie ihn hasste, seine Art hasste, wie er ihr nachstellte, sie demütigte und in dieser Stunde auch noch alle Männer davon abhielt, aufzustehen und am Strand nach dem Rechten zu sehen. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich seinem Willen zu beugen. Sie lief hinaus, um Eier aus dem Stallgebäude zu holen. Es war eiskalt, das Heulen des Sturms und das Dröhnen der aufgewühlten Ostsee trieben sie zur Eile an.
Zurück in der Küche, hörte sie, wie Baldur die Älteren immer wieder mit derben Witzen ablenkte. War er feige oder bequem? Es half alles nichts, sie musste den Eierpunsch kochen. Endlich war er püriert, der Karpfen gar. Fenja stellte die Kasserolle mit dem Fisch in die Mitte des Tisches, holte die Schüssel mit den Salzkartoffeln. Noch während sie neben dem Tisch stand, die heiße Schüssel in den Händen, spürte sie, wie Baldur ihr unters Kleid fuhr und ihr in die Pobacken kniff. Sie biss die Zähne zusammen, stellte die dampfende Schüssel aufs Tischtuch. Dann aber glitt seine Hand zwischen ihre Beine und zwickte sie. Sie schrie auf vor Schmerz.
»Da siehst du's«, zischte er ihr belustigt zu. »Da du mich nicht geküsst hast, küsse ich dich auf meine Art. Ich verspreche dir, du kannst viel von mir lernen. Denk daran, noch hast du alles in der Hand! Ich kann's auch anders, nämlich viel besser!«
Die Männer lachten, sogar ihr Vater warf ihr einen aufmunternden Blick zu. »Nun mach nicht so ein Gesicht, Tochter. Bist auch nur ein Weib.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um, floh in die Diele und zog sich an. Noch nie war sie so schonungslos vor anderen gedemütigt worden.
Es war nicht mehr zu ertragen.
Weder dieser letzte Tag des Jahres 1904 noch ihr ganzes armseliges Leben.
Die Standuhr schlug Viertel nach elf. Weniger als eine Stunde trennte sie noch vom neuen Jahr. Nichts würde sich ändern. Sie war bereits zweiundzwanzig, und ihr Leben würde weitergehen wie bisher. Sie würde weiterhin dankbar sein müssen, wenn sie Leinen für die Aussteuer anderer weben durfte, weil dies immer noch besser war, als ständig als Dienstmagd herumgereicht zu werden.
Das war ihre Erkenntnis am Ende dieses Jahres.
Nein, sie konnte hier nicht mehr länger bleiben.
Nicht in diesem Haus.
Sollte Baldur sich doch selbst um seine Mutter kümmern. Aber zuvor musste sie etwas für sich tun. Entschlossen kehrte sie in die Küche zurück, nahm Kernseife und Wasser und wusch ausgiebig Hände und Gesicht. Dann lief sie in die kalte Diele zurück und suchte aus ihrem Korb die Dose mit dem spärlichen Rest Holunderblütencreme hervor, die sie Ende Mai angesetzt hatte. Nichts konnte ihr jetzt so guttun wie dieser Duft. Und es war, als locke er sie endgültig hinaus ins Freie. Fenja ergriff ihre Sturmlaterne und entzündete sie. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, war die Stimme ihres Vaters: »Nun geh schon, Baldur, fang sie dir wieder ein. Bist doch ein Kerl, oder?«
Sie rannte in das Schneetreiben hinaus. Natürlich würde er ihr folgen, sie war sich ganz sicher, doch noch hatte sie einen Vorsprung. Und sie würde nicht gleich zum Meer hinunterlaufen, sondern den kleinen Umweg über die Schulzenstraße nehmen. Kurz bevor sie in diese einbog, blickte sie über ihre Schulter, doch sie sah nichts außer Dunkelheit, hörte nichts als das Heulen des Sturms und das ohrenbetäubende Tosen der Wellen.
Noch nie hatte sie so ein Schneetreiben erlebt. Einmal bildete sie sich ein, Feuerwehrsirenen, dann wieder Schritte hinter sich zu hören. Dann vernahm sie plötzlich aus west licher Richtung, von der Kirchenstraße her, ein gewaltiges Krachen. Es klang, als hätte der Sturm ein Dach abgerissen. Wenige Minuten später wirbelte ihr der schneeschwere Nordost Reet und Zweige ins Gesicht. Sie stolperte über herabgefallene Dachziegel, eine abgerissene Bauplane und Holzlatten, ja sogar über eine rostige Dachrinne.
Endlich erreichte sie die Dünenstraße. Ängstlich drehte sie sich um. Bewegte sich dort eine Gestalt? Fenja raffte ihren Mantel, rannte über den breiten Strand, bis ihr die Wellen schwarz und meterhoch entgegenschlugen. Ihr Tosen war ungeheuerlich. Das eisige Wasser strudelte um Fenjas Stiefel. Es musste schon weit über einen Meter angestiegen sein.
Plötzlich entdeckte sie etwas Dunkles auf dem Wasser. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, trotz Schneetreiben und aufspritzender Gischt etwas zu erkennen. Tatsächlich, es war ein Rettungsboot, in dem ein hochgewachsener Mann unter Aufbietung all seiner Kräfte ruderte. Eine gedehnte Ewigkeit lang sah es aus, als käme er nicht vom Fleck, ja, als driftete er zurück ins Meer, doch endlich gelang es ihm, den Schub mehrerer heftig rollender Wellen zu nutzen, um an den Strand geworfen zu werden. Das Boot barst, der Sturm schleuderte eine Planke mit voller Wucht in die Höhe. Sie wirbelte wenige Meter an Fenja vorbei. Der Ruderer rappelte sich auf, taumelte.
Schiffbrüchige! Fenja ergriff Panik. Wie sollte sie ihnen helfen? Sie spürte, wie ihr das Wasser um die Knöchel stieg und den Sand unter den Füßen fortspülte. Sie sackte vornüber, der Wind riss ihren Haarknoten auf, eisige Gischt schlug ihr ins Gesicht. Sie krabbelte auf allen vieren durch das ablaufende Wasser auf die Gestrandeten zu. Der Ruderer zog einen reglosen Körper aus den Trümmern, stapfte mit ihm zwei, drei Schritte den Strand hinauf und sackte plötzlich in die Knie. Fenja stolperte durch das Schneetreiben auf ihn zu. Der Fremde trug eine Uniform, seine breiten Schultern bebten. Fenja beugte sich über ihn, hörte ihn keuchen. Sie bemerkte, dass der steife, hohe Umlegekragen seiner Uniformjacke lose am Nacken hing und ihm Blut aus einer Platzwunde an der Stirn rann. Sein linker Ärmel war bis zur Schulter aufgerissen, sein linkes Hosenbein zerfetzt. Als er vornüberzusacken drohte, kniete Fenja vor ihm nieder und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. Da schlug er die Augen auf.
Ihre Blicke begegneten sich.
Für einen Moment schien es Fenja, als hielten die Schneeflocken im Flug, die Wellen in ihrem Schlag inne. Alles war still.
Da umfasste der Fremde ihr Handgelenk, schloss die Augen und drückte sein Gesicht an ihre Handflächen. Fenja nahm nichts anderes mehr wahr als diese Berührung. Erst als er sie losließ, spürte sie wieder die Schneeböen und die Gischt auf ihrem Gesicht. Sie ballte die Finger zur Faust, als könne sie den Atem dieses Fremden, seine aufwühlende Wärme für immer festhalten.
»Ich hole Hilfe!«, murmelte sie ihm zu, schlang ihm ihren Schal um den Hals und drückte ihre Sturmlaterne dicht neben ihn in den Schnee. Sie würde alles tun, um ihn zu retten. Sie rannte zu den Dünen hoch, hielt nach Baldur Ausschau. Jetzt hätte sie ihn wirklich gebraucht, aber er war nirgends zu sehen, sie war allein. Feigling, rief sie wütend und rannte, ohne sich zu schonen, durch das Schneetreiben den ganzen Weg zurück. Als sie das Hockssche Haus erreichte, hatte sie stechende Schmerzen in Hals und Brust. Sie riss die Tür auf und stürzte in die warme Stube.
»Geht raus und helft! Draußen sind Schiffbrüchige! Einer von ihnen lebt noch!«
Die Männer sprangen auf, Stühle fielen um. Sie zwängten sich in ihre Stiefel, stülpten Mützen und Mäntel über und stürzten in den Orkan hinaus.
Fenja zitterte vor Kälte, sie würde ihnen folgen, niemals würde sie hier eine Sekunde lang allein bleiben, während der Fremde ... Sie schlug den Truhendeckel in der Diele auf, wühlte zwischen alten Strickjacken, Arbeitshosen und Decken. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie endlich einen schwarzgrauen Männerwollmantel und geflickte Socken. Hastig tauschte sie ihre nassen Strümpfe gegen trockene aus, schlüpfte in Wollmantel und Stiefel und folgte den Männern.
Sie holte sie schnell ein und lief ihnen voraus. Ihre flackernde Sturmlaterne neben dem Fremden wies ihnen den Weg.
Er sah ihr bereits entgegen. Er hatte sich auf eine Planke gesetzt und stützte mit seinem unverletzten Arm den Oberkörper seines Begleiters, der reglos neben ihm lag. Fenja drehte sich zu Baldur um.
»Schnell, beeilt euch! Er muss sofort zum Arzt! Sonst kriegst du noch Ärger!« Sie wies auf die Schulterstücke des Fremden.
»Verdammt! Ein Rittmeister!« Baldur winkte den anderen zu. »Los! Packt mit an! « Dann bückte er sich zu ihm vor. »Bitte ergebenst, Euer Wohlgeboren ... Gestatten ... «
Vorsichtig nahmen sie ihm den reglosen Mann ab, zogen den Rittmeister in die Höhe. Er war größer, als Fenja angenommen hatte. Sie knöpfte ihren Wollmantel auf.
Der Off zier hustete, wehrte ab. »Nein, nein, behalten Sie ...« Seine Stimme war heiser, etwas brüchig, doch von einem tiefen Timbre. Baldur zischte Fenja zu: »Zieh den Mantel aus. Der Herr Rittmeister friert.«
Wieder schüttelte dieser den Kopf, doch Fenja legte ihm den Mantel um die Schultern und schlang den Gürtel um seinen Leib. Als sie ihn vor seinem Bauch verknotete, schabte sein Kinn kurz über ihre Wange. Ihr Herz schlug schneller.
»Beeil dich!«, rief Baldur ungeduldig und winkte einem der Männer zu. »Wir bringen ihn zu uns nach Hause!« Da knickten dem Rittmeister die Knie ein. Gerade noch rechtzeitig konnten sie ihn auffangen. Andere kamen hinzu, trugen beide fort. Fenja zitterte vor Kälte und Aufregung.
Sollte sie nach Hause gehen oder ein weiteres Mal ins Hockssche Haus zurückkehren, aus dem sie geflüchtet war? Müsste sie nicht ihr Versprechen halten und wenigstens noch ein einziges Mal in dieser Nacht nach Baldurs Mutter sehen?
In wenigen Minuten würde dort der kaiserliche Rittmeister auf jemanden warten, der sich um ihn kümmerte, denn Baldur wäre wohl dazu nicht in der Lage. Sie blinzelte in das Schneetreiben, bemerkte, wie Baldur sich nach ihr umdrehte.
»Los, Fenja! Komm mit! «, schrie Baldur ihr über die Schulter zu. »Du hast ihn gefunden, also musst du ihn pflegen! Das bist du ihm schuldig!«
Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Sie hatte Angst und wusste nicht, warum.
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Katryn Berlinger
Katryn Berlinger hat Literatur- und Musikwissenschaft studiert und in einem Schallplattenunternehmen in Hamburg gearbeitet. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen ihre Familie ein. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin in Norddeutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katryn Berlinger
- 432 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005412
- ISBN-13: 9783868005417
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