Die Töchter von Lorenden
Ein bewegender Roman über drei ungleiche Schwestern vor der Kulisse eines englischen Gestüts.
Schon lange haben sich die drei ungleichen Schwestern Felicity, Helena und Lavinia nichts mehr zu sagen. Doch dann stirbt ihr Vater...
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Ein bewegender Roman über drei ungleiche Schwestern vor der Kulisse eines englischen Gestüts.
Schon lange haben sich die drei ungleichen Schwestern Felicity, Helena und Lavinia nichts mehr zu sagen. Doch dann stirbt ihr Vater Edward, der Besitzer des Reitstalles Lorenden. Die Schwestern erben den Stall zu gleichen Teilen. Helena pocht darauf, den Stall zu verkaufen, Lavinia dagegen ist tief enttäuscht, nicht die Alleinerbin zu sein. Zum ersten Mal seit vielen Jahren müssen die Schwestern gemeinsam Entscheidungen treffen. Dadurch finden sie unerwartet wieder zueinander. Und sie beginnen gleichzeitig, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.
Die Töchter von Lorenden von Nina Bell
1
Bramble Kelly schlief bei aufgezogenen Vorhängen. Das hatte sie von ihrem Vater übernommen, der gern dem Wettergeschehen möglichst nah war, und außerdem konnte sowieso niemand ins Zimmer sehen. Vor ihrem Fenster standen endlose Reihen niedriger Apfelbäume, gespickt mit kleinen, leuchtend roten Äpfeln, von denen etliche vom Baum gefallen waren und nun verloren und unordentlich durcheinanderlagen wie die ausrangierten roten Flanellunterröcke alter Damen. Ihr Vater Edward Beaumont hatte die Obstwiesen vor fünf Jahren verkauft, und die neuen Eigentümer - eine Gesellschaft in Ashford - machten sich häufig nicht die Mühe, das Obst zu ernten.
An diesem Morgen beobachtete Bramble, wie tiefe Nebelschwaden durch die Obstbäume krochen und sich von Stamm zu Stamm schlängelten, als seien sie nach etwas Bestimmtem auf der Suche. Plötzlich vermeinte sie, das Böse zu sehen.
Zur Brombeerzeit wollten die Tiere einfach nicht mehr so richtig hören, sagte ihr Vater immer. Sie wüssten, dass dann alles im Wandel ist.
»Vermutlich wissen sie eher, dass es Zeit fürs Frühstück ist«, murmelte sie, streifte sich ihre Jeans über und eilte die Treppe hinab.
Unterwegs blieb sie kurz stehen und sah durch das große Bogenfenster über dem Eingang. Lorenden, ihr Geburtshaus, war bereits ein Landgut gewesen, als die Schiffe Elisabeths 1. die der Spanier erobert und ausgeplündert hatten. Der Legende nach sollte dieses Haus von der Besatzung eines der siegreichen englischen Schiffe erbaut worden sein. Von jenem elisabethanischen Haus waren allerdings nur noch ein paar gemauerte Kamine übrig, um die herum man zur Zeit Jakobs 1. ein neues Haus errichtet hatte. 1753 wurde ihm dann eine georgianische Vorderfront vorgesetzt, die die Tiefe eines Zimmers hatte und dem Haus nach damaligem Geschmack vornehme Größe verleihen sollte.
Die Schichten der Zeit konnte man förmlich fühlen. Jeder einzelne Bewohner hatte ein wenig von sich zurückgelassen. Auf der Rückseite des Hauses befanden sich vier stark geneigte Dachschrägen mit Tonpfannen, vorn hatte ein wohlhabender georgianischer Gutsherr die klassische Fassade mit einem Säulengang als Portal hinzugefügt. So wie jeder Bewohner des Hauses es seit Hunderten von Jahren vor ihr getan hatte, spähte Bramble vom oberen Ende der Treppe durch das Fenster hinaus auf die Kiesauffahrt und auf die Pferde, die jenseits des schmalen Zubringerweges auf der Weide standen.
Doch irgendetwas stimmte an diesem Morgen nicht. Bramble hielt inne und betrachtete aufmerksam die gewohnte Szenerie. Am Ende des Kiesweges befand sich ein weiß gestrichenes Holztor, hinter dem sie die Pferde sah, darunter auch den im Ruhestand
befindlichen Olympiasieger Ben, das Pferd ihres Vaters, sowie Patch, das alte Pony ihrer Tochter. Sie hätte nicht sagen können, was genau nicht richtig war. Es gab nichts, worauf sie mit dem Finger hätte zeigen können. Sie seufzte. Vor lauter Müdigkeit malte man sich Katastrophen aus, die gar nicht stattgefunden hatten. Zum Glück war die Wettkampfsaison bald vorbei, und die langen, dunklen, gemütlichen Winterabende nahten. Mit lautem Gepolter lief sie die breite Eichentreppe hinab und spitzte die Ohren, ob sie nicht die Schritte ihres Vaters hörte. Sie hatten sich gestern Abend erbittert gestritten, und sie war immer noch wütend auf ihn.
Unten in der Küche balgten sich die Terrier Mop und Muddle eifrig zu ihren Füßen, und der goldhaarige, elegante Darcy streckte sich träge, gähnte und lächelte ihr aus seinem Körbchen zu. Er sei ein Sofahund, sagte ihr Vater immer scherzhaft, dem man beigebracht hätte, stets als Erster aufs Sofa zu hüpfen. Sie hatten ihn als Welpen gefunden, mit einem Stück Schnur angebunden, die Haut wund vor Räude, während durch das glanzlose Fell seine Rippen zu sehen waren. Diese rücksichtslose, unwissende Grausamkeit hatte Bramble bis ins Innerste berührt, und Darcy hatte in der schmuddeligen Wärme von Lorenden ein Zuhause gefunden.
Falls wirklich irgendetwas nicht stimmte, hätten die Hunde angeschlagen, sagte sich Bramble. Sie kämpfte mit ihren Stiefeln. Sie brauchte dringend ein Paar neue, doch die Rechnung des Hufschmieds ging vor. Während die Hunde vor ihr durch die geöffnete Tür schossen, trat sie hinaus in das feuchte Silberlicht des frühen Septembermorgens und ging zu den Ställen, der Errungenschaft der viktorianischen Beaumonts.
Brambles Urgroßvater war - je nachdem, welcher der Familienlegenden man Glauben schenken wollte - entweder ein Zigeuner, ein Mann aus Cornwall oder der illegitime Spross eines Herzogs. Er hatte als junger Mann mit Pferden eine beträchtliche Summe gewonnen, Lorenden gekauft und es in ein Gestüt verwandelt. Da der echte Landadel für ihn unerreichbar war, heiratete er die einzige Tochter eines ortsansässigen, betuchten Anwalts. Auch sie fügten dem Haus ein Vermächtnis hinzu, indem sie die Obstbäume pflanzten, um ein sicheres Einkommen zu haben. Sie legten Gärten an und bauten Stallungen, die zu einem viel größeren Anwesen gepasst hätten. Eine der zu Zeiten König Edwards hier lebenden Beaumont-Ehefrauen hatte darauf bestanden, das Haus zu modernisieren und im hinteren Wohnzimmer ein Erkerfenster einzubauen sowie einen Badezimmertrakt mit einer geräumigen Toilette im Erdgeschoss. In diesem Badezimmer, in dem es immer noch nach Talkumpuder und Linoleum roch, stand auf einem schwarz-weißen Fußboden eine Badewanne mit Löwenklauen. In den Sechzigern hatte Brambles Mutter ein weiteres Bad in Avocadogrün beigesteuert. Dieses legte, wie alle übrigen Teile des Hauses, ein blütenreines Zeugnis für den Stil seiner Zeit ab.
Die Stallungen lagen in unmittelbarer Nähe des Hauses. Sie waren durch ein Holztor in der Gartenmauer zu erreichen, klobig und aus rotem Backstein. Den mittleren Block beherrschten ein Heuboden und ein Taubenschlag, der nun als Wohnung für ein junges Mädchen diente, das Stallmädchen und Pferdepflegerin war. Obenauf thronte als Wetterfahne ein Rennpferd: Mountain Rocket - das Pferd, dessen Siege den Hauskauf erst ermöglicht hatten.
Für die damalige Zeit handelte es sich um eine durchaus fortschrittliche Anlage. Jedes der Pferde war in einer geräumigen Außenbox untergebracht und nicht auf engem Raum angebunden. In den Ställen gab es Futterkrippen aus Eisen und steinerne Tränken, und der mit Kopfstein gepflasterte abschüssige Boden sorgte für einen guten Abfluss. Das hohe Dach mit Kent-Peg-Ziegeln garantierte an heißen Sommertagen eine optimale Belüftung. Davor hatte Brambles Vater einen Sandplatz angelegt und eine große Führmaschine aus Metall aufgestellt.
Mit gewohnter Routine ließ Bramble ihren Blick - oder ihre Handfläche - über jedes einzelne Pferd gleiten, um sich zu vergewissern, dass ihnen während der Nacht nichts passiert war. Dann teilte sie ihnen ihr Futter aus. Jeden Augenblick müsste ihr Vater auftauchen, sich beklagen und schniefen, so wie er es jeden Morgen als Erstes tat.
»Hast du Edward gesehen?«, fragte sie Donna, die Pferdepflegerin, als diese aus ihrer Wohnung kam und sich die Wimperntusche vom Vorabend aus den Augen wischte.
Donna schüttelte den Kopf, sodass ihr blondierter Pferdeschwanz hin- und herhüpfte. »Bin gerade erst aufgestanden. War ziemlich heftig gestern Abend. Tut mir leid.«
DonnasAbende waren meistens heftig. Sie arbeitete schwer und machte kräftig einen drauf.
Bramble teilte ganz mechanisch den Tieren ihr Futter zu: Kraftnahrung in den blauen Eimer für das Pferd, das noch an Turnieren teilnahm, und eine sanftere Gerstenmischung in den hellgrünen Eimer für die Stute, die ihren Besitzer in dieser Woche schon dreimal abgeworfen hatte. Außerdem gab es lila, gelbe, flieder-, pink- und orangefarbene Eimer, von denen jeder einem ganz bestimmten Pferd zugeteilt war. Neun Pferde insgesamt, die in Rente geschickten und die noch nicht zugerittenen Jungtiere auf der Weide nicht mitgerechnet. Alles in allem waren es vierzehn. Bramble band in jedem Stall ein kleines Heunetz zusammen, damit die Tiere beschäftigt waren, während Donna ausmistete, den dampfenden Dung hinten auf dem Misthaufen auftürmte und den gesamten Boden so lange fegte, bis alles blitzblank war.
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Deutsche Erstausgabe 2009
Weltbild Buchverlag-Originalausgaben
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Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2009 Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt,
86167 Augsburg
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ursula Guinaldo
Redaktion: Claudia Krader
Umschlag: zeichenpool, München
Umschlagabbildung: Shutterstock
Satz: Dirk Risch, Berlin
Gesetzt aus der Adobe Garamond
Druck und Bindung: GCP Media GmbH, Pößneck
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-178-5
- Autor: Nina Bell
- 2009, 1, 719 Seiten, Maße: 14,7 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868001786
- ISBN-13: 9783868001785
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