Die Verdammten der Taiga
Mitten in der Taiga stürzt ein kleines sowjetisches Flugzeug ab. Vier Männer und zwei Frauen überleben das Unglück. In der einsamen Wildnis müssen sie ums Überleben kämpfen. Doch der Winter steht bevor und es werden bald...
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Produktinformationen zu „Die Verdammten der Taiga “
Mitten in der Taiga stürzt ein kleines sowjetisches Flugzeug ab. Vier Männer und zwei Frauen überleben das Unglück. In der einsamen Wildnis müssen sie ums Überleben kämpfen. Doch der Winter steht bevor und es werden bald eisige Schneestürme aufziehen. Werden sie es schaffen?
Lese-Probe zu „Die Verdammten der Taiga “
Die Verdammten der Taiga von Heinz G. Konsalik1
Er wachte auf, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien.
Igor Fillipowitsch Putkin empfand das als unangenehm und
merkwürdig, es war eine gemeine heiße Sonne, die ihn voll traf,
und er konnte sich in der Erinnerung, die jetzt langsam wieder
einsetzte, nicht erklären, wieso er mitten in diese blanke Hitze
geraten war.
Putkin wollte die Augen aufreißen, aber irgendwie gelang das
nicht. Die Umwelt blieb dunkel, er kämpfte gegen die Schwere
seiner Lider wie gegen zwei Zentnersäcke, die man wegdrükken
will, seine Zähne begannen zu knirschen, und ein Zittern
durchlief seinen Körper. Was ist das? dachte er und blieb starr
liegen. Um mich ist es hell, die verdammte heiße Sonne brennt
mir ins Gesicht, aber die Welt ist dunkel für mich. Natürlich
muß alles hell sein, denn hat man schon eine Sonne gesehen,
die im Dunkeln scheint? Großer Gott, meine Augen! Ich habe
keine Augen mehr! Plötzlich habe ich keine Augen mehr! So
etwas gibt es doch nicht ... man legt sich hin, macht ein Nikkerchen,
und wenn man aufwa,cht, schwupp, sind die Augen
weg! Großer Gott ...
Putkin rührte sich nicht. Die Hitze blieb auf seinem Gesicht,
und als er wieder mit den Zähnen knirschte und die Fäuste
ballte, kam ein Teil seiner Erinnerung zurück. Er hörte Bäume
rauschen, murmelnde Stimmen, Geräusche, als wenn Metall auf
Metall schlägt, alles sehr merkwürdige Dinge, nach deren Sinn
er krampfhaft suchte.
... mehr
Plötzlich, wie ein Stich, der sein Gehirn traf, war die volle Erinnerung
wieder da. Putkins Körper zog sich zusammen wie im
Krampf und versuchte dann, sich hochzuschnellen. Es gelang
sogar; er kam auf die Beine, die Dunkelheit zerriß, die zentner
schweren Lider klappten hoch, er starrte in einen fahlblauen,
wolkenlosen, vom Sonnenglanz überzogenen Himmel, und
als er das sah, brach aus seiner Brust ein lautes Stöhnen, mehr
schon ein dumpfer Schrei, der den Pfropfen löste, der ihm, wie
er spürte, mitten im Herz saß.
Das Flugzeug! Verdammt ja, das Flugzeug! Bevor er zu einem
Schläfchen eingenickt war, befand sich Igor Fillipowitsch hoch
über der unendlichen, herbstlich flammenden Taiga in der Luft,
in einer kleinen, zwanzigsitzigen ›Antonow‹-Maschine, die ihn
von den Versuchsbohrfeldern bei Suchana am Olenek nach
Irkutsk zur Zentrale des Ölforschungskombinats ›Neue Welt‹
bringen sollte. Da oben - man wäre viertausend Meter hoch,
sagte Makar Lukanowitsch, der Pilot, ein vorzüglicher Flieger,
früher Hauptmann der Luftwaffe, ein Held des Friedens -
also dort oben schwankte die Maschine wie ein Betrunkener,
mal links, mal rechts, mal mit der doppelten Propellerschnauze
nach unten, und der lange, dürre, geradezu unanständig krank
aussehende Professor Morotzkij hatte gesagt: »Genossen, ist das
ein Wind hier oben! Man kann das erklären: unten die warme
Taiga, oben die kalte Luft, das gibt extreme Strömungen!« Und
die herrliche Jekaterina Alexandrowna hatte mit ihrer tiefen
Samtstimme gelacht und den Rauch ihrer Papyrossa durch die
Nase geatmet. Eine klassische Nase, sage ich euch! Schmal, gerade,
genau in der richtigen Größe, und das in einem Gesicht,
das einem Mann die Hosen von den Hüften reißt.
Ja, es war eine gute Stimmung in dem Flugzeug. Nur er, Putkin,
war müde, hatte sich zurückgelehnt, bezwang mit Mühe
den Abgang eines bohrenden Windes, weil neben ihm die zierliche
Lehrerin Nadeshna Iwanowna saß, und war eingeschlafen.
Das war alles, woran er sich erinnerte.
Und plötzlich liegt man auf der Erde, die Knochen schmerzen
einem von der Hirnschale bis zum Zehennagel, man war
einen Moment blind, hat einen Kloß statt eines Herzens in der
Brust und tappt auf dem weichen Waldboden herum wie ein
schlaftrunkener Bär beim ersten Frühlingsahnen.
Man denke nicht, Igor Fillipowitsch Putkin wäre ein dummer
Mensch und in seinem Gehirn seien die Windungen andersherum
gelegt. Im Gegenteil: Er war ein auffällig großer, geradezu
gewaltiger Mann mit ausgeprägten Muskeln, die er gern
im Strandbad nach der Art der Athleten rollen und kugeln ließ,
um den Mädchen zu zeigen, was greifbare Männlichkeit ist.
Er hatte ein kluges Köpfchen, anerkannt von der Akademie
der Ingenieure, gelobt von seinen Vorgesetzten - ein Mensch
mit Zukunft, vor allem hier in Sibirien, wo man nur in den
Boden zu greifen brauchte, um zu verstehen, was der Spruch
bedeutet: Das Glück liegt in deiner Hand. Er war ein Fachmann
auf seinem Gebiet, der Bohrtechnik, und zweimal hatte er brüllend
vor Stolz in dem stinkenden, fettigen schwarzen Ölgeiser
gestanden, der aus dem Bohrloch zum erstenmal heraussprudelte
... seine Entdeckung, eine neue Ölquelle im Herzen Sibiriens.
Neuer Reichtum für Mütterchen Rußland.
Putkin sah sich um. Sein Blick war jetzt klar geworden, der
Schock, oder was es gewesen war, das ihn unbeweglich und
blind gemacht hatte, fiel von ihm ab wie Sandkörner, die man
wegklopft.
Er stand auf einer Lichtung, einem sogenannten Windbruch,
umgeben von den turmhohen Lärchen, Birken und Kiefern der
Taiga. Sein Anzug war an vielen Stellen zerrissen, ein Schuh
fehlte (das erklärte auch, warum es am linken Fuß kitzelte,
wenn er auftrat), aber das war nicht das Schlimmste. Vor ihm
lag, zerplatzt und über die ganze Lichtung verstreut, das Flugzeug,
als sei es ein Käfer gewesen, den der Schuh eines Riesen
zertreten hatte. Makar Lukanowitsch Benerian, der Pilot, saß
an einen der vom Sturm geknickten Baumstämme gelehnt,
den Kopf auf der Brust und noch immer ohne Besinnung. Der
deutsche Ingenieur Andreas Herr hockte auf einem anderen
Baumstamm, und die Ärztin Jekaterina Alexandrowna Susskaja
tastete ihn ab, von oben bis unten, und suchte anscheinend
einen Bruch. Sie tat es gründlich, und in jeder anderen Situation
hätte Putkin dieses Abtasten als eine verflucht erotische
Handlung klassifiziert. Professor Semjon Pawlowitsch Morotzkij
war schon verbunden ... ein dicker Verband umschlang seinen
schmalen, asketischen, ja schon fast unästhetischen Totenkopfschädel.
Die Brille in diesem Hungergesicht wirkte jetzt
noch clownhafter als sonst ... sie balancierte auf dem langen
Nasenrücken wie ein Seiltänzer auf dem Drahtseil. Man war
versucht zu rufen: »Paß auf, Semjon Pawlowitsch, beweg dich
nicht ruckartig ... die Brille fällt!«
Putkin zog die heiße Sommerluft keuchend in die Lungen
und spreizte die Finger. Sie klebten aneinander, und als er sie
ansah, waren sie mit geronnenem Blut überkrustet. Er machte
wieder ein paar tappende Schritte in Richtung auf die Ärztin
Susskaja und starrte auf die weitverstreuten Trümmer des Flugzeuges
und der Ladung, die beim Aufprall herausgeschleudert
worden war.
Wo ist die Lehrerin?, dachte Putkin. Sie saß neben mir. Ein
zartes Vögelchen, zerbrechlich wie Chinaporzellan. Wenn sie
einen ansah mit ihren großen kullernden Kinderaugen, juckte
es einem immer in den Fingern, und man mußte sich bezwingen,
sie nicht sofort zu streicheln. Himmel, wo war sie?
Putkin drehte sich. Nadeshna Iwanowna Abramowa war hinter
ihm. Sie kniete vor einem großen, verdorrten Ast, der aussah
wie ein Kreuz, und betete. Tatsächlich, sie kniete da und betete,
eine aufgeklärte, sozialistische Lehrerin. Ganz versunken war
sie in dem Blödsinn. Durch Putkin fuhr ein eisiger Schreck,
er drehte sich, so schnell es seine geprellten Muskeln zuließen,
nach der Ärztin Susskaja und hob beide Arme.
»He!« schrie er. Nanu, was habe ich für eine Stimme, dachte
er erschrocken. Sie klingt, als wenn man auf einen rostigen
Blechtopf schlägt. »He! Jekaterina Alexandrowna! Ihr Patient
aus Deutschland hat den Kopf noch auf den Schultern. Wenden
Sie sich mal anderen zu, die es nötiger haben!«
»Sie sind gesund!« schrie die Susskaja zurück und beendete
das Abtasten. Andreas Herr zog sein Hemd wieder an, griff dann
nach einem nassen Tuch, das neben ihm auf dem Baumstamm
gelegen hatte, und klatschte es sich in den Nacken. »Ich habe Sie
als ersten untersucht, Igor Fillipowitsch. Sie lagen genau neben
mir, als ich aufwachte. Einen Schädel haben Sie wie ein Eisentopf
und Knochen wie ein Mammut!«
»Sehen Sie die Lehrerin an!« Putkin zeigte nach hinten.
»Sie hat's auch gut überstanden.«
»Ihr Gehirn ist durchgeschüttelt! Sehen Sie doch! Sie betet!«
»Warum nicht, Genosse?« Jekaterina Alexandrowna kam näher.
Sie sah trotz ihrer zerfetzten Kleidung, dem mit Öl verschmierten
Gesicht und den blutverkrusteten Beinen herrlich
aus. So etwas bringt nur Rußland hervor, dachte Putkin völlig
sinnlos in dieser Situation. Das ist die sichtbare Verschmelzung
Europas mit Asien.
»Warum nicht?« äffte er die Susskaja nach. »Jawohl, warum
wohl nicht? Ist Lehrerin, lehrt die Kinder die marxistische
Welt ... und betet! Sie ist verrückt geworden!«
»Sie haben niemanden, dem Sie danken können, daß Sie
noch leben?«
Putkin wurde unsicher. Er schielte die Susskaja mit gesenkten
Augen an und versuchte, seine blutverkrusteten Hände an der
Hose abzuwischen. Morotzkij, der Professor, kam nun auch näher,
er schwankte etwas und schien große Schmerzen in seinem
umwickelten Kopf zu haben.
»Wir haben alle überlebt«, sagte er. Morotzkij hatte trotz seiner
langen Dürre eine angenehme, warme Stimme. Niemand
traute sie ihm zu. Aus diesem Gerippe erwartete man ein hohles
Schnaufen.
»Alle?« fragte Putkin und sah sich wieder um.
»Alle! So viel Glück ist unheimlich.«
»Ob das ein Glück ist ...« Putkin zeigte auf den an den Baumstamm
gelehnten Benerian. »Und Makar Lukanowitsch?«
»Steht noch unter Schockeinwirkung.« Die Susskaja strich
sich die verschwitzten und mit Dreck und Laub durchsetzten
Haare aus dem Gesicht. Eine Wolke schwarzen Gespinstes, in
das sich der Sonnenglanz verirrte und nicht mehr herauskonnte.
»Ich habe ihm eine Herzinjektion und Kalzium gegeben ...
mehr habe ich nicht im Koffer.«
»Die Medizin des 20. Jahrhunderts!« sagte Putkin giftig. Er
wußte selbst nicht, warum er so aggressiv war ... vielleicht kam
es daher, daß Nadeshna beten konnte und er wirklich nichts
hatte, an dem er sein inneres Glücksgefühl abreagieren konnte.
»Sie benehmen sich flegelhaft!« sagte die Susskaja. »Aber Sie
fielen mir schon in Suchana auf, als Sie über den kleinen Flugplatz
kamen. Das ist ein Mann, dachte ich, der dreimal auf den
Boden stampft und dann denkt, jetzt wächst dort Weizen.«
»So etwas braucht Sibirien, Jekaterina Alexandrowna!« Putkin
wurde rot wie ein gescholtener Schuljunge, und das ärgerte
ihn noch mehr. »Soll ich mir einen Gott zulegen, um Ihnen
genehm zu sein? Verdammt, ziehen Sie die Lehrerin von dem
Ast weg! Ich kann es einfach nicht sehen.«
Er wandte sich ab, schwankte an der Ärztin vorbei, die ihm
nicht aus dem Weg ging, nein, er mußte um sie herumgehen,
und traf auf Andreas Herr, der, den nassen Lappen im Nacken
festhaltend, langsam zu der Gruppe kam.
»Beten Sie auch?« brüllte Putkin.
»Nein. Noch nicht.«
»Sie werden mir sympathisch, gospodin.« Putkin wischte
über sein Gesicht - es war aufgedunsen. Wer weiß, wie lange
ich in der prallen Sonne gelegen habe, dachte er. Keiner hat
mich weggeholt. Haben mich einfach da braten lassen. Eine
unmenschliche Gesellschaft! Da denkt nur jeder an sich selbst,
und über fünfzig Jahre sowjetischer Erziehung fällt von ihnen
ab, wenn sie am nötigsten ist. Eine Bande, sage ich, eine richtige
Bande!
Putkin setzte sich auf einen der niedergebrochenen Bäume,
starrte über die Flugzeugtrümmer und blickte dann zu dem
Deutschen hoch. Man hatte sich auf dem Flugplatz von Suchana
gegenseitig vorgestellt, man war ja ein gebildeter Mensch. So
eine kleine Fluggesellschaft in Sibirien ist immer interessant,
man lernt die seltsamsten Menschen kennen, ja es ist, als sei
Sibirien ein Sammelbecken extremster Individualisten, die hier
von der grandiosen Natur, der unendlichen Weite und dem
Gefühl der eigenen Winzigkeit zusammengeschweißt werden.
Jeden hier hatte er noch nie gesehen, nur der Deutsche Andreas
Herr war ihm nicht fremd. Aber das ging keinen etwas an, am
wenigsten den Deutschen selbst.
»Wissen wir schon, wo wir sind?« fragte Putkin.
»Nein. Benerian ist noch ohnmächtig, Jekaterina Alexandrowna
hat zwar eine alte Karte in den Trümmern gefunden,
aber wir kennen ja den Flugweg nicht.« Andreas Herr sprach
das merkwürdige Russisch eines Deutschen, das so klar war wie
geputztes Glas. Für einen Russen klang es so faszinierend wie
das Deutsch für einen Deutschen, wenn es ein Russe spricht.
»Wir vermuten, daß wir mitten in der Taiga abgestürzt sind, fast
genau auf halbem Weg, wenn man die Uhrzeit zugrunde legt.
Sie haben nichts gemerkt, Igor Fillipowitsch?«
»Nichts.« Putkin schüttelte den Kopf. Er schielte zu Nadeshna.
Die Lehrerin hatte ihr Gebet beendet und kam auf
die Lichtung zurück. Ein Wesen wie aus einer Feder gemacht,
durchsichtig und schwerelos. Aber doch so viel Frau, daß durch
die zerfetzte Bluse, die sie vorn zusammenklammerte, die Wölbungen
der Brüste deutlich hervorstachen. »Ich habe geschlafen
wie ein Biber. Drei Teller Bohnen vorher, das macht müde. Ich
esse Bohnen für mein Leben gern. Mit Bohnen bin ich großgezogen
worden. Bohnen und Kartoffeln. Meine Eltern waren
kleine Kolchosebauern in Sassowo.« Er atmete tief auf und
blickte hinüber zu der Susskaja. Sie kontrollierte den Verband
von Professor Morotzkij und beugte sich dann zu dem noch
immer unansprechbaren Benerian. »Wie ist das passiert?«
»Das kann nur der Pilot erklären. Plötzlich sackten wir ab
und fielen wie ein Stein. In der Luft noch brach die linke Tragfläche
ab.«
»Und trotzdem leben wir?« Putkin holte seufzend Luft. »Ein
Wunder.«
»Wollen Sie jetzt auch beten?«
»Ihre Witze sind abgestanden, Andrej!« Putkin erhob sich
und blickte in den wolkenlosen, strahlenden Himmel. »Man
wird uns suchen ...«
»Sicherlich. Man wird die Flugroute abfliegen. Was aber,
wenn wir vom Weg abgekommen sind?«
»Andrej, denken Sie so etwas nicht!« sagte Putkin heiser. »Sie
sind Deutscher, ein Gast hier ... Sie kennen dieses Land nur als
Besucher, waren nur einige Wochen am Rande der Unendlichkeit
... Sie wissen nicht, was es bedeutet, wenn man uns hier
nicht findet und herausholt.«
»Sie dramatisieren, Igor Fillipowitsch.« Andreas Herr blickte
hinüber zu der Wand der Riesenbäume. Eine Mauer in flammenden
Farben, durchsetzt mit dem ewigen dunklen Grün der
Kiefern und Fichten. »Das ist ein Herbstwald, und er ist auf der
Erde, nicht auf einem anderen Stern.«
»So kann nur ein kindliches Gemüt sprechen!« Putkin machte
eine weite Handbewegung. »Wald! Ja. Wald! Aber was für ein
Wald! Wald, der im Unendlichen anfängt und im Unendlichen
endet. In zwei Wochen ist Winter! Wissen Sie, Andrej, was das
bedeutet? Das kommt plötzlich ... auf einmal schneit es, auf
einmal fegt ein Eiswind übers Land, und dann erstarrt hier alles,
und Ihr schöner Herbstwald, die ›Flammende Taiga‹, wird zur
›Toten Taiga‹. Und wir, wir sitzen mittendrin. Ohne Wintersachen,
ohne eine Waffe, mit den bloßen Händen! Und da sagt er,
ich dramatisiere! He! Warum stehen wir herum wie die Hennen,
die einen Hahn suchen? Man sollte etwas tun! Wie wär's mit
einigen großen Feuerchen, die auf uns aufmerksam machen?«
»Der Wald knackt vor Trockenheit.« Morotzkij, der bisher
nur mit seinem Kopf beschäftigt war, bückte sich ächzend und
hob einen Ast hoch. Er zerbrach ihn ... das Holz war so trokken,
daß es staubte. »Sollen wir alle verbrennen? Sie werden das
Feuer nicht unter Kontrolle halten können. Haben Sie Wasser
zum Löschen?«
Putkin starrte den langen dürren Menschen an, und plötzlich
begannen seine Lippen zu zittern.
»Wasser ...«, sagte er leise. »Das ist ein heiliges Wort. Haben
wir überhaupt Wasser zum Trinken?«
»Wir wissen es nicht.« Die Susskaja schüttelte Dreck und
Laub aus ihrem langen Haar. »Ich habe nur einen Kanister gefunden
und ihn für die Wunden verbraucht ...«
»Was haben Sie?« stammelte Putkin. »Sie haben das einzige
Wasser ... Sie haben einfach ... so für die Wunden ... zum
Waschen ... das letzte, wertvolle Wasser ... Jekaterina Alexandrowna,
das sprechen Sie so gelassen aus ...?«
»Ich habe als Ärztin als erstes an die Versorgung der Wunden
zu denken.«
»Damit wir später alle verdursten!« schrie Putkin auf. »Wasser!
Man kann sich die Wunden auch sauberlecken wie ein
Hund. Katja, die, denen Sie heute die Wunden ausgewaschen
haben, werden Sie in vier Tagen verfluchen und in zehn Tagen
aufhängen!«
»Die Taiga ist voll von Flüssen und Bächen«, sagte Andreas
Herr unsicher.
»Aber hier, hier? Wissen Sie, ob auch hier?« brüllte Putkin.
»Sagte es nicht der Professor: Der Wald ist wie Staub so trocken?
Wann hat's hier zum letztenmal geregnet? Wann wird es wieder
regnen? Wer krepiert ist, braucht kein Wasser mehr.«
»Wir werden die Birken anzapfen ...«, sagte die Lehrerin Nadeshna
sanft. »Birkensaft kann man trinken. Ich habe es mit
meinen Kindern im Ferienlager einmal aus Spaß gemacht.«
»Die Birken! Die vor Trockenheit nicht mehr rascheln können!
Wasser muß her, zum Teufel!«
»Jetzt rufen Sie doch nach Gott!« sagte Andreas ohne Spott.
Ihm war kotzelend zumute. Putkin fuhr herum wie in den Hintern
gestochen.
»Ich sagte: zum Teufel!«
»Der Teufel ist ein gefallener Engel ... fragen Sie Nadeshna.«
Putkin kniff die Lippen zusammen. »Reizen Sie mich nicht«,
sagte er tonlos. »Mein verehrter Deutscher, reizen Sie mich
nicht! Wir müssen jetzt alle nur einen Gedanken haben: Durch
den Wald zur nächsten menschlichen Siedlung! Warum wissen
wir nicht, wo wir sind? Katja, wecken Sie Makar Lukanowitsch
auf. Was ist das für eine ärztliche Ausbildung, die noch nicht
mal einen Schock behandeln kann? Wir müssen wissen, wo wir
sind! Nur Makar kann uns das sagen. Tun Sie doch etwas, Jekaterina
Alexandrowna!«
»Es ist alles getan worden«, sagte die Susskaja dunkel. »Halten
Sie den Mund, Putkin! Mit bloßem Gebrüll hat noch niemand
die Taiga besiegt. Wollen Sie jetzt losrennen? Fühlen Sie sich
stark genug?«
»Ja!«
»Wir nicht. Wir bestehen nicht nur aus Muskeln wie anscheinend
Sie. In zwei Stunden ist es Abend.«
»Wir sollten planvoll vorgehen.« Morotzkij setzte sich neben
Andreas auf den umgestürzten Baumstamm. »Zuerst das Wasserproblem.
Keiner hat bisher die Trümmer durchwühlt. Vielleicht
finden wir etwas. An Bord waren vier Kisten Konserven.«
»Eingewecktes Wasser, was?« schrie Putkin gequält. »So eine
Dummheit!«
»Wenn es Gemüsekonserven sind, enthalten sie Wasser, natürlich
«, sagte Morotzkij, ohne beleidigt zu sein. »Wir sollten
uns um die Trümmer kümmern ...«
Sie ließen den noch immer besinnungslosen Benerian zurück
und gingen hinüber zu dem auseinandergeplatzten Wrack. Von
dem Flugzeug war nicht viel übriggeblieben, und das Wunder,
daß sie noch lebten, wurde immer größer, je mehr sie die Zerstörung
begriffen.
Nadeshna schlug ein Kreuz vor der Brust, was Putkin zu
einem gefährlichen, wolfsähnlichen Knurren reizte.
Die Kisten enthielten Fleischkonserven und tatsächlich Gemüse.
Karotten und Gurken. Außerdem fand man den unversehrten
Wassertank, der Kühlwasser für die Propellermotoren
enthielt.
Eine stinkende, ölige Brühe schwappte ekelerregend in dem
Blechkasten.
»Verdursten werden wir also nicht«, sagte Andreas Herr laut.
»Das Problem ist gelöst. Verhungern auch nicht. Die Welt wird
bewohnbarer, Putkin, was meinen Sie?«
»Ich denke an den Winter.«
»Ich denke, man wird uns suchen. Wenn wir heute abend
nicht planmäßig in Wiljuisk zwischenlanden, wird man Alarm
schlagen.«
»Es kann sich wirklich nur um Stunden handeln«, sagte
auch Morotzkij zuversichtlich. »Was meinen Sie, Katja Alexandrowna?«
»Ich habe gar keine Angst.« Die Susskaja wühlte in den Trümmern,
holte eine zerrissene Decke heraus und hängte sie sich
über den Arm wie einen wertvollen Teppich. »Nur der Genosse
Putkin muß immer durch die Gegend spucken! Lassen wir ihn -
es ist seine Art, sich zu vergnügen.«
»Sechs Menschen ...«, sagte Putkin dumpf. »Sechs Menschen
sind jetzt auf Gedeih und Verderb zusammen, und davon müssen
fünf Idioten sein. Es ist zum Kotzen! Mein Pech verfolgt
mich. Als ich neun Jahre alt war, begann's. Ich fiel vom Traktor
und brach mir beide Beine, weil der Traktorist ein besoffener
Idiot war. Von da an nur Unglück, als wenn man am Schwanz
des Teufels hängt. Nein, nein, ich sage nichts mehr. Ich schweige
jetzt. Aber ihr werdet sehen, wie sich alles entwickelt, was aus
uns wird ... jeder von uns muß es ausfressen ...«
Die Nacht war lau. Tausend Geräusche füllten den Wald, Nachtvögel
flatterten über den Windbruch, es roch nach süßlichem
herbstlichem Sterben, als atmeten die Riesenbäume ihren jährlichen
Tod aus. Sie hatten das Feuer kleingehalten, um es unter
Kontrolle zu bekommen. Die Flammen prasselten aus dem pulvertrockenen
Holz und gaben Licht, aber keinen Rauch. Doch
gerade der wäre nötig gewesen, denn kaum brach die Dunkelheit
herein und das Feuer brannte, verwandelte sich die Luft in
eine summende Wolke. Myriaden von Mücken umschwirrten
das Feuer und setzten sich wie Staub auf die Menschen. Mo-
rotzkij ertrug es mit der Sturheit eines Gelehrten, der weiß, daß
man Naturereignisse nicht ändern kann. Dafür begann Putkin,
wieder wie ein Fuhrknecht zu fluchen, schlug sinnlos um sich,
schwenkte flammende Hölzer um seinen Kopf und benahm
sich geradezu grotesk. Natürlich half das gar nichts. Die Mükken
kümmerten sich nicht um seine feurigen Scheite. Sie fielen
ihn dort an, wo er gerade nicht Funken um sich versprühte.
»Satan noch mal!« sagte die Susskaja mit ihrer tiefen Stimme.
»Was haben Sie für einen ordinären Wortschatz, Putkin! Nehmen
Sie Rücksicht auf Nadeshna.«
»Als ob das Vögelchen nicht wüßte, was eine Hure und ein
Stinksack sind!« schrie Putkin. »Wir brauchen Rauch, um die
Biester zu vertreiben! Feuchtes Holz.«
»Zaubern Sie mal, Igor Fillipowitsch!«
»Ich werde es!« Putkin sprang auf. Massig stand er im Flammenschein
und packte sich an die zerfetzte Hose. »Die Damen
bitte umdrehen!«
»Igor, was haben Sie vor?« fragte die Susskaja ruhig.
»Drehen Sie sich um, meine Dame!« schrie Putkin. »Oder
schauen Sie hin, wie's beliebt! Ich pisse in die Flammen - das
gibt Rauch!« Er blickte hinunter zu den anderen Männern. »Genossen,
wer schließt sich an? Schluß ist's mit der Pensionatsmoral!
Sollen wir bei lebendigem Leib von den Mücken gefressen
werden? Wer gerade kann, ran an die Flammen und hinein! Das
stinkt zwar, aber es wird Wunder wirken! Keine Mücke mehr
weit und breit ... ich garantiere!«
Er knüpfte die Hose auf und spreizte die Beine. Nadeshna
Iwanowna wandte den Kopf tatsächlich weg und starrte in
die Finsternis, Jekaterina Alexandrowna zögerte noch, aber als
Putkin rücksichtslos sein Wasser strahlen ließ, blickte auch sie
weg.
Es zischte, Qualm wallte auf, und es stank erbärmlich. Aber
die Mückenwolke lichtete sich. Es war, als bliebe sie entsetzt in
der Nachtluft stehen, ehe sie abdrehte.
»Was sage ich?« rief Putkin voll Triumph. »Der Mensch ist
doch der Größte! Es lebe der Geist der Improvisation! Genossen,
ziert euch nicht. Heran!«
Morotzkij zögerte, aber dann erhob auch er sich, stellte
sich ans Feuer und schlug sein Wasser ab. Ihm folgte Andreas
Herr ... mit einem Seitenblick auf die Susskaja, die sich umgedreht
hatte, entleerte auch er sich und setzte sich schnell wieder.
Nur Putkin stand noch, ganz Triumphator.
»Eine neue Form von Blutsbruderschaft«, sagte er genußvoll.
»Ich danke euch, Brüder. Wenn wir alles weitere so gemeinsam
machen, kommen wir durch.«
Er wartete auf eine Antwort, aber als nichts kam, setzte er
sich schulterzuckend. Nadeshna Iwanowna hatte beide Hände
vor den kleinen Mund gelegt und würgte. Der Gestank des verdampfenden
Urins war bestialisch, aber die Mücken blieben
weg.
»Unserem Täubchen dreht sich der Magen wie ein Kreisel«,
sagte Putkin und grunzte wie ein gestreichelter Hund. »Wir
werden uns an noch mehr dreckige Dinge gewöhnen müssen.
Haben Sie nicht bemerkt, daß kein Flugzeug gekommen ist?
Wir sind längst überfällig, aber nichts rührt sich von Wiljuisk
aus. Sechs Menschen und eine alte Maschine sind weg ... was ist
das schon? Jede Suchaktion ist teurer, als wir bei denen im Wert
stehen. Sechs Namen ausstreichen ... das ist bequem, einfach,
mühelos, kostet keine Kopeke. So ist das, Genossen. Wir sind
Dreck, der vom Himmel gefallen ist.«
»Ihre Ungeduld ist schon pathologisch«, sagte die Susskaja.
Sie reichte Nadeshna eine geöffnete Konservenbüchse mit Karotten
hinüber, damit sie den Saft trinken konnte und dadurch
ihren Ekel hinunterspülte. »Warten Sie doch ab ... morgen,
übermorgen ... man sucht uns schon.«
»Soll ich Ihnen sagen, Katja, was morgen und übermorgen
ist?« schrie Putkin aufgebracht. »Wir werden hier sitzen und
warten. Und in Wiljuisk und Irkutsk werden sie auch sitzen
und warten und in die Sitzkissen furzen und nichts tun! Bist du
in Sibirien, dann hilf dir selbst ... das ist der einzige wahre Satz,
den jeder hier in diesem Land im Hirn tragen sollte. Aber bitte,
warten wir ab. Starren wir in den Himmel, ob sich ein Propellerchen
dreht. Und dann ist plötzlich der Schnee da.«
»Der Schnee kommt bestimmt ...«, sagte Morotzkij gleichgültig.
»Dem laufen Sie nicht davon, Igor Fillipowitsch. Da
spielen zwei, drei Tage keine Rolle mehr.«
»Wir sollen also nichts tun?« sagte Putkin ganz entgeistert.
»Wir sollten etwas mit Planung tun.« Morotzkij holte mit
den Fingern drei Karotten aus der Büchse. Nadeshna hielt sie
ihm hin, und er aß sie schmatzend. »Es steht außer Zweifel, daß
wir zu Fuß weitermüssen. Nur - in welche Richtung?«
Putkin wollte etwas Unanständiges sagen, als er, genau wie
die anderen, zusammenzuckte. Jemand hatte mit schriller
Stimme geschrien. Zunächst nur einen Laut, aber jetzt brüllte
es: »Mutter! Mamuschka! Halt mich fest, Mamuschka, bei Gott
und allen Heiligen, halt mich fest! Mutter!«
Morotzkij zog den Kopf in die Schultern, als friere er. Putkin
saß mit offenem Mund, und seine Augen glotzten in die Dunkelheit.
Nadeshna begann zu weinen und lehnte sich an Andreas
Herr. Nur die Susskaja sprang auf und spreizte die schönen,
langen schlanken Hände.
»Benerian ist erwacht ...«, sagte sie gepreßt. »Ich gehe zu
ihm.«
»Mutter!« schrie der Pilot wieder. Seine Stimme überschlug
sich und zerbrach. Dann folgte ein Greinen, als habe man einen
Säugling ausgesetzt. Jekaterina Alexandrowna nahm ein flammendes
Scheit mit und rannte zu dem Baumstamm, an den
man Benerian gelehnt hatte. Die kleine Sanitätstasche hatte sie
neben ihm abgestellt, um ihm sofort helfen zu können, wenn
er aufwachte.
Putkin - wie konnte es anders sein - war der erste, der die
Sprache wiederfand. »Von Makar Lukanowitsch werden wir
auch nicht erfahren, wo wir hier sind«, sagte er mit Sarkasmus.
»Solange er nach seiner Mamuschka brüllt, kann man von ihm
keine navigatorischen Angaben erwarten. Meine Lieben, ich
ahne, Benerian ist so vollkommen auf seinen Schädel gefallen,
daß wir mit ihm nicht mehr rechnen können.«
»Sie haben eine ekelhafte Art, Putkin, Wahrheiten auszusprechen
« sagte die Susskaja. Sie kam wieder in den Feuerkreis zurück.
»Ich habe Makar eine neue Injektion gegeben. Er ist wach,
aber er dämmert dahin. Sein Schock ist massiv, und er ist nicht
ansprechbar. Ich befürchte, er hat den Verstand verloren.«
»Aber das kann sich ändern, nicht wahr?« fragte Morotzkij
leise.
»Ich weiß es nicht.« Die dunkle Stimme der Susskaja war
plötzlich spröde. »Benerian wurde jetzt in das Stadium eines
Kindes zurückgeworfen, eines unberechenbaren, bösartigen
Kindes. Wir ... wir sollten ihn zu seiner eigenen Sicherheit festbinden.
Er war eben dabei, sich selbst zu erwürgen ...«
»Als ob wir nicht Probleme genug hätten.« Putkin nickte Andreas
zu. »Kommen Sie, Andrej. Bindfäden liegen genug herum
in den Trümmern.«
Sie suchten ein paar Stricke in dem Haufen der zerplatzten
Kartons, gingen zu Benerian und banden ihm die Fußknöchel
zusammen, spreizten seine Arme und banden sie mit den Handgelenken
an starken Ästen fest. Zur völligen Sicherheit schlangen
sie noch einen Strick um seinen Leib und klopften mit einem
dicken Rohrstück zwei lange Nägel in den Stamm, um die sie
die Strickenden wickelten. Kopfschüttelnd stand dann Putkin
vor dem wimmernden Benerian und hielt dessen Schädel fest,
der unentwegt, wie ein Uhrpendel, hin und her schwang. Dabei
stieß Benerian ausgesprochen kindische Laute aus und seiberte
wie ein Säugling.
»Hauptmann Makar Lukanowitsch ...«, sagte Putkin gepreßt.
»Held des Friedens mit vier Orden. Und endet so in der Taiga,
mit einem leergeblasenen Gehirn. Andrej, sehen Sie, welch ein
Mist das Leben ist?«
In dieser ersten Nacht, vor einem stinkenden Feuer, schlief
niemand. Die Taiga schien jetzt in der Finsternis mehr vom Leben
erfüllt zu sein als unter der Sonne. Große Mäuse huschten
über die Lichtung, Wiesel und Marder, einmal sogar, sehr vorsichtig
witternd, ein kapitaler Fuchs und dann ein Rentierpaar,
stolz und langsam, sich nicht um die Menschen kümmernd.
Mit einer deutlichen Würde zogen sie als große Schatten über
den Windbruch. Morotzkij rieb sich die Hände, als das stolze
Paar im Wald wieder verschwunden war.
»Ich weiß, wo wir vom Himmel gefallen sind«, sagte er. Putkins
Kopf fuhr herum.
»Aha!
»Wir sitzen in einem Gebiet, in dem die Tiere noch keinen
Menschen gesehen haben. Ihre Verhaltensweise ist geradezu paradiesisch.
« Morotzkij rückte seinen Kopfverband zurecht. Es
war schon eine Kunst, an diesem dürren Schädel einen festen
Verband zu installieren. »Wir leben hier in der vollkommensten
Einsamkeit ... vom Menschen aus gesehen.«
»Und das sieht er am Verhalten der Tiere!« röhrte Putkin
spöttisch. »Da watscheln zwei Rentiere vorbei, und schon hat er
den Atlas im Kopf.«
»Ja.« Morotzkij schlang die Arme um die angezogenen Beine.
»Ich bin Professor für Verhaltensforschung. Spezialgebiet Nagetiere.
«
»Der Himmel straft uns hart.« Putkin warf neues Holz in die
glimmende Glut. »Was sind Sie?«
»Ich beobachte Tiere.«
»Und damit wird man Professor? Wozu soll das denn gut sein,
ob man weiß, wieviel Kügelchen ein Schaf am Tage scheißt? Da
habe ich einen nützlicheren Beruf. Ich bohre Öl und schmiere
damit unsere Wirtschaft.« Putkin blickte von einem zum anderen.
Die Susskaja lauschte in die Dunkelheit. Dort wimmerte
Benerian wieder und rief leise: »Mama! Mamuschka. Halt mich
doch fest, Mama ...« Seine Seele war zerstört. Sie blieb in der
Luft hängen von dem Augenblick an, wo er den Absturz seines
Flugzeuges nicht mehr aufhalten konnte.
»Wir sollten uns näher kennenlernen, meine Lieben«, sagte
Putkin jetzt. »Wir werden eine lange Zeit zusammenbleiben
und jeder auf den anderen angewiesen sein. Da sollte man sich
kennen. Seien wir ehrlich zueinander. Die Masken weg. Wer
sind wir? Semjon Pawlowitsch, fangen wir bei Ihnen an - Sie
haben schon etwas von sich losgelassen. Wieso kommen Sie als
Tierpsychologe in das Drecknest Suchana? Allein! Um dort die
Biber und Otter zu beobachten?«
Morotzkij starrte in die Flammen. Sein dürres Gesicht
mit der randlosen Brille wirkte wie eine ausgewickelte Mumie.
»Freiwillig bin ich in Sibirien«, sagte er langsam. »Jeder
Mensch trägt etwas mit sich rum, das ihn krumm macht. Soll
ich lange erzählen?« Er holte tief Atem. »Ich habe meine Frau
getötet.«
Plötzlich war das Knistern der brennenden Äste wie das Krachen
von Schüssen. Die anderen starrten Morotzkij an und
schwiegen betroffen. Morotzkij nickte mehrmals. Seine Stimme
blieb aber so warm und doch so gleichgültig wie vorher.
»Ich habe sie ermordet. Nicht mit Raffinesse, sondern ganz
einfach mit einem langen Küchenmesser. In den Rücken gestoßen.
Zu Ende war's. Wie das so ist - ich kam einmal früher
als sonst aus dem Institut nach Hause, und wer liegt im Bett?
Nastja mit meinem besten Assistenten. Eine Woche später war
Nastja tot, und Waska Diogenowitsch, den Assistenten, hat
man verhaftet, des Mordes angeklagt und zu lebenslanger Strafarbeit
nach Workuta verurteilt. Gut hatte ich das eingefädelt,
mit wissenschaftlicher Gründlichkeit ... Waska hing in einem
Indiziennetz und mußte darin umkommen. Freunde, was soll
ich das alles erzählen? Er ist in Workuta gestorben, aber ich bin
daran zerbrochen. Das Gewissen, meine Lieben. Ich hätte nie
geglaubt, daß das Gewissen einen so aushöhlen kann. Da war
Sibirien für mich das richtige ... hier konnte ich mich in der
Weite verlieren, hier stieß mein Gewissen nirgendwo an ...«
»Und Sie, Andrej?« fragte Putkin heiser vor innerer Erregung.
»Sie sind Diplom-Ingenieur, Fachmann für Bergbau, nicht
wahr?«
Andreas Herr sah Putkin verblüfft an. »Woher wissen Sie das?
Ich kann mich erinnern, Ihnen nur meinen Namen gesagt zu
haben.«
Putkin grinste breit. »Wir sind ein mißtrauisches Volk, Andrej.
Warum? Seit Jahrhunderten droht man der Welt mit dem
Teufel und den Russen. Das färbt ab. Was von draußen zu uns
kommt, wird unter die Lupe genommen. Was will er hier? Was
tut er hier? Wo wandern seine Augen hin? Was denkt er über uns?
Für uns ist jeder Fremde zunächst eine lebende Lüge. Natürlich,
ganz natürlich, daß man ihn heimlich beobachtet, auch wenn
er mit noch so friedlichen Absichten gekommen ist. Sie, Andrej
Herr, sind nach Rußland gekommen, um auf Einladung des
Bergbauzentralrates neue Methoden der Untertageabräumung
zu erklären. Soll ich aufzählen, wo Sie überall waren? Seit Sie in
Sibirien sind, bin ich Ihr Schatten. Eine dämliche Aufgabe, aber
sie mußte sein. Ich bin Ihr drittes Ohr und drittes Auge.«
»Mit anderen Worten ...«, sagte Andreas rauh, »Sie haben
mich überwacht.«
»Erraten.« Putkin lächelte breit.
»Und was haben Sie an mir gefunden?«
»Politisch nichts. Als Mann aber sind Sie ein potenter Bursche.
In neun Wochen fünf Liebschaften ... meine Gratulation! Und
herrliche Weiber, meine Freunde, sage ich. Man konnte neidisch
werden. Ich hatte immer das Zimmer nebenan, und wenn das
Bett knackte, als schlage man es mit einem Hammer zusammen,
verfluchte ich meinen Auftrag.« Putkin zeigte auf Nadeshna, die
verlegen auf der Unterlippe kaute. »Und Sie, mein zartes Täubchen?
Lehrerin? Natürlich. Aber in Suchana? Nein!«
»Ich habe Verwandte besucht«, sagte Nadeshna Iwanowna
leise. Aber plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken, und ihre
großen Kinderaugen blitzten, daß Putkin ein Kribbeln unter
den Haaren spürte. Es war, als wenn sich eine Schlange zum
Angriff aufrichtet und zu zischen beginnt. »Nein!« sagte sie laut.
Ihre Stimme klang voller und härter. »Ich habe Bibeln verteilt!
Ich habe den heimlichen Christen in neunzehn sibirischen Dörfern
Bibeln gebracht ...«
»Was haben Sie?« stotterte Putkin entgeistert. »Bibeln? Im
Ernst?«
»Fragen Sie den KGB.« Nadeshna Iwanowna Abramowa
stemmte die zierlichen Füße in den Waldboden. »Man hat dafür
in Moskau eine eigene Abteilung: Bekämpfung der illegalen
und verbotenen Einfuhr von Bibeln in die UdSSR. Aber sie
kommen auf geheimnisvollen, dem KGB unbekannten Wegen
herein. Direkt aus Rom. Dort gibt es eine Dienststelle, die diesen
Transport organisiert. Und nicht nur Bibeln kommen heimlich
nach Rußland, auch Priester, gut ausgebildete Priester. Ich habe
zwei von ihnen in Sibirien zurückgelassen.« Sie sah die anderen
kampfeslustig an, eine völlig veränderte Nadeshna. Kein zartes
Vögelchen mehr, eher schon ein verkappter Adler mit scharfen
Krallen. »Das bin ich! Sie sagten doch, Igor Fillipowitsch, wir
sollten ehrlich sein, ohne Maske.«
»Verteilt Bibeln und Priester!« schrie Putkin und hieb die Fäuste
gegeneinander. »Teufel auch, was sind wir für eine Bande!
Ein Mörder, ein Spitzel, eine Agentin des Vatikans, ein Deutscher,
der russische Weiber wie Bonbons vernascht ... und Sie,
Jekaterina Alexandrowna? Was bieten Sie uns an?«
»Nichts!« sagte die Susskaja. Ihre dunkle Samtstimme schwang
wie eine verhängte Glocke. »Gar nichts.«
»Wollen Sie als einzige von uns behaupten, daß Sie normal
sind?« schrie Putkin.
»Es scheint so, Igor Fillipowitsch.«
»Sie enttäuschen, Katja! Los, suchen Sie einen dunklen Fleck!
Wir können keinen schneeweißen Engel in unserer Mitte gebrauchen.
Irgend etwas ist auch mit Ihnen los. Heraus damit!«
»Lassen Sie mich in Ruhe, Putkin!« Die Susskaja erhob sich
und ging hinüber zu dem greinenden, festgebundenen Benerian.
Aber bevor sie in der Dunkelheit untertauchte, sagte sie
noch: »Nur wenige Menschen sind schön, wenn sie nackt sind.
Warum wollen Sie alle nackt sehen, Putkin?«
Später hörte man sie, wie sie sich mit dem stammelnden
Benerian unterhielt und wie er immer wieder: »Rajetschka!
Rajetschka!« rief ... den Namen seiner Mutter. Anscheinend
verwechselte er die Susskaja mit ihr und klagte ihr sein unmenschliches
Leid.
Das Feuer prasselte bis in den Morgen hinein. Die Menschen
saßen wie leblose Puppen da. Was sollte man noch sagen? Es
war alles gestanden worden, was zu gestehen war. Nur einmal
sagte der unentwegte Putkin leise und nickte zu der entfernten
Susskaja hin:
»Und sie hat doch ein Geheimnis, Freunde. Ein dicker Hund
muß es sein, daß sie darüber schweigt. Aber wir bekommen es
heraus, sage ich. Wir bekommen es noch heraus.«
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Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Plötzlich, wie ein Stich, der sein Gehirn traf, war die volle Erinnerung
wieder da. Putkins Körper zog sich zusammen wie im
Krampf und versuchte dann, sich hochzuschnellen. Es gelang
sogar; er kam auf die Beine, die Dunkelheit zerriß, die zentner
schweren Lider klappten hoch, er starrte in einen fahlblauen,
wolkenlosen, vom Sonnenglanz überzogenen Himmel, und
als er das sah, brach aus seiner Brust ein lautes Stöhnen, mehr
schon ein dumpfer Schrei, der den Pfropfen löste, der ihm, wie
er spürte, mitten im Herz saß.
Das Flugzeug! Verdammt ja, das Flugzeug! Bevor er zu einem
Schläfchen eingenickt war, befand sich Igor Fillipowitsch hoch
über der unendlichen, herbstlich flammenden Taiga in der Luft,
in einer kleinen, zwanzigsitzigen ›Antonow‹-Maschine, die ihn
von den Versuchsbohrfeldern bei Suchana am Olenek nach
Irkutsk zur Zentrale des Ölforschungskombinats ›Neue Welt‹
bringen sollte. Da oben - man wäre viertausend Meter hoch,
sagte Makar Lukanowitsch, der Pilot, ein vorzüglicher Flieger,
früher Hauptmann der Luftwaffe, ein Held des Friedens -
also dort oben schwankte die Maschine wie ein Betrunkener,
mal links, mal rechts, mal mit der doppelten Propellerschnauze
nach unten, und der lange, dürre, geradezu unanständig krank
aussehende Professor Morotzkij hatte gesagt: »Genossen, ist das
ein Wind hier oben! Man kann das erklären: unten die warme
Taiga, oben die kalte Luft, das gibt extreme Strömungen!« Und
die herrliche Jekaterina Alexandrowna hatte mit ihrer tiefen
Samtstimme gelacht und den Rauch ihrer Papyrossa durch die
Nase geatmet. Eine klassische Nase, sage ich euch! Schmal, gerade,
genau in der richtigen Größe, und das in einem Gesicht,
das einem Mann die Hosen von den Hüften reißt.
Ja, es war eine gute Stimmung in dem Flugzeug. Nur er, Putkin,
war müde, hatte sich zurückgelehnt, bezwang mit Mühe
den Abgang eines bohrenden Windes, weil neben ihm die zierliche
Lehrerin Nadeshna Iwanowna saß, und war eingeschlafen.
Das war alles, woran er sich erinnerte.
Und plötzlich liegt man auf der Erde, die Knochen schmerzen
einem von der Hirnschale bis zum Zehennagel, man war
einen Moment blind, hat einen Kloß statt eines Herzens in der
Brust und tappt auf dem weichen Waldboden herum wie ein
schlaftrunkener Bär beim ersten Frühlingsahnen.
Man denke nicht, Igor Fillipowitsch Putkin wäre ein dummer
Mensch und in seinem Gehirn seien die Windungen andersherum
gelegt. Im Gegenteil: Er war ein auffällig großer, geradezu
gewaltiger Mann mit ausgeprägten Muskeln, die er gern
im Strandbad nach der Art der Athleten rollen und kugeln ließ,
um den Mädchen zu zeigen, was greifbare Männlichkeit ist.
Er hatte ein kluges Köpfchen, anerkannt von der Akademie
der Ingenieure, gelobt von seinen Vorgesetzten - ein Mensch
mit Zukunft, vor allem hier in Sibirien, wo man nur in den
Boden zu greifen brauchte, um zu verstehen, was der Spruch
bedeutet: Das Glück liegt in deiner Hand. Er war ein Fachmann
auf seinem Gebiet, der Bohrtechnik, und zweimal hatte er brüllend
vor Stolz in dem stinkenden, fettigen schwarzen Ölgeiser
gestanden, der aus dem Bohrloch zum erstenmal heraussprudelte
... seine Entdeckung, eine neue Ölquelle im Herzen Sibiriens.
Neuer Reichtum für Mütterchen Rußland.
Putkin sah sich um. Sein Blick war jetzt klar geworden, der
Schock, oder was es gewesen war, das ihn unbeweglich und
blind gemacht hatte, fiel von ihm ab wie Sandkörner, die man
wegklopft.
Er stand auf einer Lichtung, einem sogenannten Windbruch,
umgeben von den turmhohen Lärchen, Birken und Kiefern der
Taiga. Sein Anzug war an vielen Stellen zerrissen, ein Schuh
fehlte (das erklärte auch, warum es am linken Fuß kitzelte,
wenn er auftrat), aber das war nicht das Schlimmste. Vor ihm
lag, zerplatzt und über die ganze Lichtung verstreut, das Flugzeug,
als sei es ein Käfer gewesen, den der Schuh eines Riesen
zertreten hatte. Makar Lukanowitsch Benerian, der Pilot, saß
an einen der vom Sturm geknickten Baumstämme gelehnt,
den Kopf auf der Brust und noch immer ohne Besinnung. Der
deutsche Ingenieur Andreas Herr hockte auf einem anderen
Baumstamm, und die Ärztin Jekaterina Alexandrowna Susskaja
tastete ihn ab, von oben bis unten, und suchte anscheinend
einen Bruch. Sie tat es gründlich, und in jeder anderen Situation
hätte Putkin dieses Abtasten als eine verflucht erotische
Handlung klassifiziert. Professor Semjon Pawlowitsch Morotzkij
war schon verbunden ... ein dicker Verband umschlang seinen
schmalen, asketischen, ja schon fast unästhetischen Totenkopfschädel.
Die Brille in diesem Hungergesicht wirkte jetzt
noch clownhafter als sonst ... sie balancierte auf dem langen
Nasenrücken wie ein Seiltänzer auf dem Drahtseil. Man war
versucht zu rufen: »Paß auf, Semjon Pawlowitsch, beweg dich
nicht ruckartig ... die Brille fällt!«
Putkin zog die heiße Sommerluft keuchend in die Lungen
und spreizte die Finger. Sie klebten aneinander, und als er sie
ansah, waren sie mit geronnenem Blut überkrustet. Er machte
wieder ein paar tappende Schritte in Richtung auf die Ärztin
Susskaja und starrte auf die weitverstreuten Trümmer des Flugzeuges
und der Ladung, die beim Aufprall herausgeschleudert
worden war.
Wo ist die Lehrerin?, dachte Putkin. Sie saß neben mir. Ein
zartes Vögelchen, zerbrechlich wie Chinaporzellan. Wenn sie
einen ansah mit ihren großen kullernden Kinderaugen, juckte
es einem immer in den Fingern, und man mußte sich bezwingen,
sie nicht sofort zu streicheln. Himmel, wo war sie?
Putkin drehte sich. Nadeshna Iwanowna Abramowa war hinter
ihm. Sie kniete vor einem großen, verdorrten Ast, der aussah
wie ein Kreuz, und betete. Tatsächlich, sie kniete da und betete,
eine aufgeklärte, sozialistische Lehrerin. Ganz versunken war
sie in dem Blödsinn. Durch Putkin fuhr ein eisiger Schreck,
er drehte sich, so schnell es seine geprellten Muskeln zuließen,
nach der Ärztin Susskaja und hob beide Arme.
»He!« schrie er. Nanu, was habe ich für eine Stimme, dachte
er erschrocken. Sie klingt, als wenn man auf einen rostigen
Blechtopf schlägt. »He! Jekaterina Alexandrowna! Ihr Patient
aus Deutschland hat den Kopf noch auf den Schultern. Wenden
Sie sich mal anderen zu, die es nötiger haben!«
»Sie sind gesund!« schrie die Susskaja zurück und beendete
das Abtasten. Andreas Herr zog sein Hemd wieder an, griff dann
nach einem nassen Tuch, das neben ihm auf dem Baumstamm
gelegen hatte, und klatschte es sich in den Nacken. »Ich habe Sie
als ersten untersucht, Igor Fillipowitsch. Sie lagen genau neben
mir, als ich aufwachte. Einen Schädel haben Sie wie ein Eisentopf
und Knochen wie ein Mammut!«
»Sehen Sie die Lehrerin an!« Putkin zeigte nach hinten.
»Sie hat's auch gut überstanden.«
»Ihr Gehirn ist durchgeschüttelt! Sehen Sie doch! Sie betet!«
»Warum nicht, Genosse?« Jekaterina Alexandrowna kam näher.
Sie sah trotz ihrer zerfetzten Kleidung, dem mit Öl verschmierten
Gesicht und den blutverkrusteten Beinen herrlich
aus. So etwas bringt nur Rußland hervor, dachte Putkin völlig
sinnlos in dieser Situation. Das ist die sichtbare Verschmelzung
Europas mit Asien.
»Warum nicht?« äffte er die Susskaja nach. »Jawohl, warum
wohl nicht? Ist Lehrerin, lehrt die Kinder die marxistische
Welt ... und betet! Sie ist verrückt geworden!«
»Sie haben niemanden, dem Sie danken können, daß Sie
noch leben?«
Putkin wurde unsicher. Er schielte die Susskaja mit gesenkten
Augen an und versuchte, seine blutverkrusteten Hände an der
Hose abzuwischen. Morotzkij, der Professor, kam nun auch näher,
er schwankte etwas und schien große Schmerzen in seinem
umwickelten Kopf zu haben.
»Wir haben alle überlebt«, sagte er. Morotzkij hatte trotz seiner
langen Dürre eine angenehme, warme Stimme. Niemand
traute sie ihm zu. Aus diesem Gerippe erwartete man ein hohles
Schnaufen.
»Alle?« fragte Putkin und sah sich wieder um.
»Alle! So viel Glück ist unheimlich.«
»Ob das ein Glück ist ...« Putkin zeigte auf den an den Baumstamm
gelehnten Benerian. »Und Makar Lukanowitsch?«
»Steht noch unter Schockeinwirkung.« Die Susskaja strich
sich die verschwitzten und mit Dreck und Laub durchsetzten
Haare aus dem Gesicht. Eine Wolke schwarzen Gespinstes, in
das sich der Sonnenglanz verirrte und nicht mehr herauskonnte.
»Ich habe ihm eine Herzinjektion und Kalzium gegeben ...
mehr habe ich nicht im Koffer.«
»Die Medizin des 20. Jahrhunderts!« sagte Putkin giftig. Er
wußte selbst nicht, warum er so aggressiv war ... vielleicht kam
es daher, daß Nadeshna beten konnte und er wirklich nichts
hatte, an dem er sein inneres Glücksgefühl abreagieren konnte.
»Sie benehmen sich flegelhaft!« sagte die Susskaja. »Aber Sie
fielen mir schon in Suchana auf, als Sie über den kleinen Flugplatz
kamen. Das ist ein Mann, dachte ich, der dreimal auf den
Boden stampft und dann denkt, jetzt wächst dort Weizen.«
»So etwas braucht Sibirien, Jekaterina Alexandrowna!« Putkin
wurde rot wie ein gescholtener Schuljunge, und das ärgerte
ihn noch mehr. »Soll ich mir einen Gott zulegen, um Ihnen
genehm zu sein? Verdammt, ziehen Sie die Lehrerin von dem
Ast weg! Ich kann es einfach nicht sehen.«
Er wandte sich ab, schwankte an der Ärztin vorbei, die ihm
nicht aus dem Weg ging, nein, er mußte um sie herumgehen,
und traf auf Andreas Herr, der, den nassen Lappen im Nacken
festhaltend, langsam zu der Gruppe kam.
»Beten Sie auch?« brüllte Putkin.
»Nein. Noch nicht.«
»Sie werden mir sympathisch, gospodin.« Putkin wischte
über sein Gesicht - es war aufgedunsen. Wer weiß, wie lange
ich in der prallen Sonne gelegen habe, dachte er. Keiner hat
mich weggeholt. Haben mich einfach da braten lassen. Eine
unmenschliche Gesellschaft! Da denkt nur jeder an sich selbst,
und über fünfzig Jahre sowjetischer Erziehung fällt von ihnen
ab, wenn sie am nötigsten ist. Eine Bande, sage ich, eine richtige
Bande!
Putkin setzte sich auf einen der niedergebrochenen Bäume,
starrte über die Flugzeugtrümmer und blickte dann zu dem
Deutschen hoch. Man hatte sich auf dem Flugplatz von Suchana
gegenseitig vorgestellt, man war ja ein gebildeter Mensch. So
eine kleine Fluggesellschaft in Sibirien ist immer interessant,
man lernt die seltsamsten Menschen kennen, ja es ist, als sei
Sibirien ein Sammelbecken extremster Individualisten, die hier
von der grandiosen Natur, der unendlichen Weite und dem
Gefühl der eigenen Winzigkeit zusammengeschweißt werden.
Jeden hier hatte er noch nie gesehen, nur der Deutsche Andreas
Herr war ihm nicht fremd. Aber das ging keinen etwas an, am
wenigsten den Deutschen selbst.
»Wissen wir schon, wo wir sind?« fragte Putkin.
»Nein. Benerian ist noch ohnmächtig, Jekaterina Alexandrowna
hat zwar eine alte Karte in den Trümmern gefunden,
aber wir kennen ja den Flugweg nicht.« Andreas Herr sprach
das merkwürdige Russisch eines Deutschen, das so klar war wie
geputztes Glas. Für einen Russen klang es so faszinierend wie
das Deutsch für einen Deutschen, wenn es ein Russe spricht.
»Wir vermuten, daß wir mitten in der Taiga abgestürzt sind, fast
genau auf halbem Weg, wenn man die Uhrzeit zugrunde legt.
Sie haben nichts gemerkt, Igor Fillipowitsch?«
»Nichts.« Putkin schüttelte den Kopf. Er schielte zu Nadeshna.
Die Lehrerin hatte ihr Gebet beendet und kam auf
die Lichtung zurück. Ein Wesen wie aus einer Feder gemacht,
durchsichtig und schwerelos. Aber doch so viel Frau, daß durch
die zerfetzte Bluse, die sie vorn zusammenklammerte, die Wölbungen
der Brüste deutlich hervorstachen. »Ich habe geschlafen
wie ein Biber. Drei Teller Bohnen vorher, das macht müde. Ich
esse Bohnen für mein Leben gern. Mit Bohnen bin ich großgezogen
worden. Bohnen und Kartoffeln. Meine Eltern waren
kleine Kolchosebauern in Sassowo.« Er atmete tief auf und
blickte hinüber zu der Susskaja. Sie kontrollierte den Verband
von Professor Morotzkij und beugte sich dann zu dem noch
immer unansprechbaren Benerian. »Wie ist das passiert?«
»Das kann nur der Pilot erklären. Plötzlich sackten wir ab
und fielen wie ein Stein. In der Luft noch brach die linke Tragfläche
ab.«
»Und trotzdem leben wir?« Putkin holte seufzend Luft. »Ein
Wunder.«
»Wollen Sie jetzt auch beten?«
»Ihre Witze sind abgestanden, Andrej!« Putkin erhob sich
und blickte in den wolkenlosen, strahlenden Himmel. »Man
wird uns suchen ...«
»Sicherlich. Man wird die Flugroute abfliegen. Was aber,
wenn wir vom Weg abgekommen sind?«
»Andrej, denken Sie so etwas nicht!« sagte Putkin heiser. »Sie
sind Deutscher, ein Gast hier ... Sie kennen dieses Land nur als
Besucher, waren nur einige Wochen am Rande der Unendlichkeit
... Sie wissen nicht, was es bedeutet, wenn man uns hier
nicht findet und herausholt.«
»Sie dramatisieren, Igor Fillipowitsch.« Andreas Herr blickte
hinüber zu der Wand der Riesenbäume. Eine Mauer in flammenden
Farben, durchsetzt mit dem ewigen dunklen Grün der
Kiefern und Fichten. »Das ist ein Herbstwald, und er ist auf der
Erde, nicht auf einem anderen Stern.«
»So kann nur ein kindliches Gemüt sprechen!« Putkin machte
eine weite Handbewegung. »Wald! Ja. Wald! Aber was für ein
Wald! Wald, der im Unendlichen anfängt und im Unendlichen
endet. In zwei Wochen ist Winter! Wissen Sie, Andrej, was das
bedeutet? Das kommt plötzlich ... auf einmal schneit es, auf
einmal fegt ein Eiswind übers Land, und dann erstarrt hier alles,
und Ihr schöner Herbstwald, die ›Flammende Taiga‹, wird zur
›Toten Taiga‹. Und wir, wir sitzen mittendrin. Ohne Wintersachen,
ohne eine Waffe, mit den bloßen Händen! Und da sagt er,
ich dramatisiere! He! Warum stehen wir herum wie die Hennen,
die einen Hahn suchen? Man sollte etwas tun! Wie wär's mit
einigen großen Feuerchen, die auf uns aufmerksam machen?«
»Der Wald knackt vor Trockenheit.« Morotzkij, der bisher
nur mit seinem Kopf beschäftigt war, bückte sich ächzend und
hob einen Ast hoch. Er zerbrach ihn ... das Holz war so trokken,
daß es staubte. »Sollen wir alle verbrennen? Sie werden das
Feuer nicht unter Kontrolle halten können. Haben Sie Wasser
zum Löschen?«
Putkin starrte den langen dürren Menschen an, und plötzlich
begannen seine Lippen zu zittern.
»Wasser ...«, sagte er leise. »Das ist ein heiliges Wort. Haben
wir überhaupt Wasser zum Trinken?«
»Wir wissen es nicht.« Die Susskaja schüttelte Dreck und
Laub aus ihrem langen Haar. »Ich habe nur einen Kanister gefunden
und ihn für die Wunden verbraucht ...«
»Was haben Sie?« stammelte Putkin. »Sie haben das einzige
Wasser ... Sie haben einfach ... so für die Wunden ... zum
Waschen ... das letzte, wertvolle Wasser ... Jekaterina Alexandrowna,
das sprechen Sie so gelassen aus ...?«
»Ich habe als Ärztin als erstes an die Versorgung der Wunden
zu denken.«
»Damit wir später alle verdursten!« schrie Putkin auf. »Wasser!
Man kann sich die Wunden auch sauberlecken wie ein
Hund. Katja, die, denen Sie heute die Wunden ausgewaschen
haben, werden Sie in vier Tagen verfluchen und in zehn Tagen
aufhängen!«
»Die Taiga ist voll von Flüssen und Bächen«, sagte Andreas
Herr unsicher.
»Aber hier, hier? Wissen Sie, ob auch hier?« brüllte Putkin.
»Sagte es nicht der Professor: Der Wald ist wie Staub so trocken?
Wann hat's hier zum letztenmal geregnet? Wann wird es wieder
regnen? Wer krepiert ist, braucht kein Wasser mehr.«
»Wir werden die Birken anzapfen ...«, sagte die Lehrerin Nadeshna
sanft. »Birkensaft kann man trinken. Ich habe es mit
meinen Kindern im Ferienlager einmal aus Spaß gemacht.«
»Die Birken! Die vor Trockenheit nicht mehr rascheln können!
Wasser muß her, zum Teufel!«
»Jetzt rufen Sie doch nach Gott!« sagte Andreas ohne Spott.
Ihm war kotzelend zumute. Putkin fuhr herum wie in den Hintern
gestochen.
»Ich sagte: zum Teufel!«
»Der Teufel ist ein gefallener Engel ... fragen Sie Nadeshna.«
Putkin kniff die Lippen zusammen. »Reizen Sie mich nicht«,
sagte er tonlos. »Mein verehrter Deutscher, reizen Sie mich
nicht! Wir müssen jetzt alle nur einen Gedanken haben: Durch
den Wald zur nächsten menschlichen Siedlung! Warum wissen
wir nicht, wo wir sind? Katja, wecken Sie Makar Lukanowitsch
auf. Was ist das für eine ärztliche Ausbildung, die noch nicht
mal einen Schock behandeln kann? Wir müssen wissen, wo wir
sind! Nur Makar kann uns das sagen. Tun Sie doch etwas, Jekaterina
Alexandrowna!«
»Es ist alles getan worden«, sagte die Susskaja dunkel. »Halten
Sie den Mund, Putkin! Mit bloßem Gebrüll hat noch niemand
die Taiga besiegt. Wollen Sie jetzt losrennen? Fühlen Sie sich
stark genug?«
»Ja!«
»Wir nicht. Wir bestehen nicht nur aus Muskeln wie anscheinend
Sie. In zwei Stunden ist es Abend.«
»Wir sollten planvoll vorgehen.« Morotzkij setzte sich neben
Andreas auf den umgestürzten Baumstamm. »Zuerst das Wasserproblem.
Keiner hat bisher die Trümmer durchwühlt. Vielleicht
finden wir etwas. An Bord waren vier Kisten Konserven.«
»Eingewecktes Wasser, was?« schrie Putkin gequält. »So eine
Dummheit!«
»Wenn es Gemüsekonserven sind, enthalten sie Wasser, natürlich
«, sagte Morotzkij, ohne beleidigt zu sein. »Wir sollten
uns um die Trümmer kümmern ...«
Sie ließen den noch immer besinnungslosen Benerian zurück
und gingen hinüber zu dem auseinandergeplatzten Wrack. Von
dem Flugzeug war nicht viel übriggeblieben, und das Wunder,
daß sie noch lebten, wurde immer größer, je mehr sie die Zerstörung
begriffen.
Nadeshna schlug ein Kreuz vor der Brust, was Putkin zu
einem gefährlichen, wolfsähnlichen Knurren reizte.
Die Kisten enthielten Fleischkonserven und tatsächlich Gemüse.
Karotten und Gurken. Außerdem fand man den unversehrten
Wassertank, der Kühlwasser für die Propellermotoren
enthielt.
Eine stinkende, ölige Brühe schwappte ekelerregend in dem
Blechkasten.
»Verdursten werden wir also nicht«, sagte Andreas Herr laut.
»Das Problem ist gelöst. Verhungern auch nicht. Die Welt wird
bewohnbarer, Putkin, was meinen Sie?«
»Ich denke an den Winter.«
»Ich denke, man wird uns suchen. Wenn wir heute abend
nicht planmäßig in Wiljuisk zwischenlanden, wird man Alarm
schlagen.«
»Es kann sich wirklich nur um Stunden handeln«, sagte
auch Morotzkij zuversichtlich. »Was meinen Sie, Katja Alexandrowna?«
»Ich habe gar keine Angst.« Die Susskaja wühlte in den Trümmern,
holte eine zerrissene Decke heraus und hängte sie sich
über den Arm wie einen wertvollen Teppich. »Nur der Genosse
Putkin muß immer durch die Gegend spucken! Lassen wir ihn -
es ist seine Art, sich zu vergnügen.«
»Sechs Menschen ...«, sagte Putkin dumpf. »Sechs Menschen
sind jetzt auf Gedeih und Verderb zusammen, und davon müssen
fünf Idioten sein. Es ist zum Kotzen! Mein Pech verfolgt
mich. Als ich neun Jahre alt war, begann's. Ich fiel vom Traktor
und brach mir beide Beine, weil der Traktorist ein besoffener
Idiot war. Von da an nur Unglück, als wenn man am Schwanz
des Teufels hängt. Nein, nein, ich sage nichts mehr. Ich schweige
jetzt. Aber ihr werdet sehen, wie sich alles entwickelt, was aus
uns wird ... jeder von uns muß es ausfressen ...«
Die Nacht war lau. Tausend Geräusche füllten den Wald, Nachtvögel
flatterten über den Windbruch, es roch nach süßlichem
herbstlichem Sterben, als atmeten die Riesenbäume ihren jährlichen
Tod aus. Sie hatten das Feuer kleingehalten, um es unter
Kontrolle zu bekommen. Die Flammen prasselten aus dem pulvertrockenen
Holz und gaben Licht, aber keinen Rauch. Doch
gerade der wäre nötig gewesen, denn kaum brach die Dunkelheit
herein und das Feuer brannte, verwandelte sich die Luft in
eine summende Wolke. Myriaden von Mücken umschwirrten
das Feuer und setzten sich wie Staub auf die Menschen. Mo-
rotzkij ertrug es mit der Sturheit eines Gelehrten, der weiß, daß
man Naturereignisse nicht ändern kann. Dafür begann Putkin,
wieder wie ein Fuhrknecht zu fluchen, schlug sinnlos um sich,
schwenkte flammende Hölzer um seinen Kopf und benahm
sich geradezu grotesk. Natürlich half das gar nichts. Die Mükken
kümmerten sich nicht um seine feurigen Scheite. Sie fielen
ihn dort an, wo er gerade nicht Funken um sich versprühte.
»Satan noch mal!« sagte die Susskaja mit ihrer tiefen Stimme.
»Was haben Sie für einen ordinären Wortschatz, Putkin! Nehmen
Sie Rücksicht auf Nadeshna.«
»Als ob das Vögelchen nicht wüßte, was eine Hure und ein
Stinksack sind!« schrie Putkin. »Wir brauchen Rauch, um die
Biester zu vertreiben! Feuchtes Holz.«
»Zaubern Sie mal, Igor Fillipowitsch!«
»Ich werde es!« Putkin sprang auf. Massig stand er im Flammenschein
und packte sich an die zerfetzte Hose. »Die Damen
bitte umdrehen!«
»Igor, was haben Sie vor?« fragte die Susskaja ruhig.
»Drehen Sie sich um, meine Dame!« schrie Putkin. »Oder
schauen Sie hin, wie's beliebt! Ich pisse in die Flammen - das
gibt Rauch!« Er blickte hinunter zu den anderen Männern. »Genossen,
wer schließt sich an? Schluß ist's mit der Pensionatsmoral!
Sollen wir bei lebendigem Leib von den Mücken gefressen
werden? Wer gerade kann, ran an die Flammen und hinein! Das
stinkt zwar, aber es wird Wunder wirken! Keine Mücke mehr
weit und breit ... ich garantiere!«
Er knüpfte die Hose auf und spreizte die Beine. Nadeshna
Iwanowna wandte den Kopf tatsächlich weg und starrte in
die Finsternis, Jekaterina Alexandrowna zögerte noch, aber als
Putkin rücksichtslos sein Wasser strahlen ließ, blickte auch sie
weg.
Es zischte, Qualm wallte auf, und es stank erbärmlich. Aber
die Mückenwolke lichtete sich. Es war, als bliebe sie entsetzt in
der Nachtluft stehen, ehe sie abdrehte.
»Was sage ich?« rief Putkin voll Triumph. »Der Mensch ist
doch der Größte! Es lebe der Geist der Improvisation! Genossen,
ziert euch nicht. Heran!«
Morotzkij zögerte, aber dann erhob auch er sich, stellte
sich ans Feuer und schlug sein Wasser ab. Ihm folgte Andreas
Herr ... mit einem Seitenblick auf die Susskaja, die sich umgedreht
hatte, entleerte auch er sich und setzte sich schnell wieder.
Nur Putkin stand noch, ganz Triumphator.
»Eine neue Form von Blutsbruderschaft«, sagte er genußvoll.
»Ich danke euch, Brüder. Wenn wir alles weitere so gemeinsam
machen, kommen wir durch.«
Er wartete auf eine Antwort, aber als nichts kam, setzte er
sich schulterzuckend. Nadeshna Iwanowna hatte beide Hände
vor den kleinen Mund gelegt und würgte. Der Gestank des verdampfenden
Urins war bestialisch, aber die Mücken blieben
weg.
»Unserem Täubchen dreht sich der Magen wie ein Kreisel«,
sagte Putkin und grunzte wie ein gestreichelter Hund. »Wir
werden uns an noch mehr dreckige Dinge gewöhnen müssen.
Haben Sie nicht bemerkt, daß kein Flugzeug gekommen ist?
Wir sind längst überfällig, aber nichts rührt sich von Wiljuisk
aus. Sechs Menschen und eine alte Maschine sind weg ... was ist
das schon? Jede Suchaktion ist teurer, als wir bei denen im Wert
stehen. Sechs Namen ausstreichen ... das ist bequem, einfach,
mühelos, kostet keine Kopeke. So ist das, Genossen. Wir sind
Dreck, der vom Himmel gefallen ist.«
»Ihre Ungeduld ist schon pathologisch«, sagte die Susskaja.
Sie reichte Nadeshna eine geöffnete Konservenbüchse mit Karotten
hinüber, damit sie den Saft trinken konnte und dadurch
ihren Ekel hinunterspülte. »Warten Sie doch ab ... morgen,
übermorgen ... man sucht uns schon.«
»Soll ich Ihnen sagen, Katja, was morgen und übermorgen
ist?« schrie Putkin aufgebracht. »Wir werden hier sitzen und
warten. Und in Wiljuisk und Irkutsk werden sie auch sitzen
und warten und in die Sitzkissen furzen und nichts tun! Bist du
in Sibirien, dann hilf dir selbst ... das ist der einzige wahre Satz,
den jeder hier in diesem Land im Hirn tragen sollte. Aber bitte,
warten wir ab. Starren wir in den Himmel, ob sich ein Propellerchen
dreht. Und dann ist plötzlich der Schnee da.«
»Der Schnee kommt bestimmt ...«, sagte Morotzkij gleichgültig.
»Dem laufen Sie nicht davon, Igor Fillipowitsch. Da
spielen zwei, drei Tage keine Rolle mehr.«
»Wir sollen also nichts tun?« sagte Putkin ganz entgeistert.
»Wir sollten etwas mit Planung tun.« Morotzkij holte mit
den Fingern drei Karotten aus der Büchse. Nadeshna hielt sie
ihm hin, und er aß sie schmatzend. »Es steht außer Zweifel, daß
wir zu Fuß weitermüssen. Nur - in welche Richtung?«
Putkin wollte etwas Unanständiges sagen, als er, genau wie
die anderen, zusammenzuckte. Jemand hatte mit schriller
Stimme geschrien. Zunächst nur einen Laut, aber jetzt brüllte
es: »Mutter! Mamuschka! Halt mich fest, Mamuschka, bei Gott
und allen Heiligen, halt mich fest! Mutter!«
Morotzkij zog den Kopf in die Schultern, als friere er. Putkin
saß mit offenem Mund, und seine Augen glotzten in die Dunkelheit.
Nadeshna begann zu weinen und lehnte sich an Andreas
Herr. Nur die Susskaja sprang auf und spreizte die schönen,
langen schlanken Hände.
»Benerian ist erwacht ...«, sagte sie gepreßt. »Ich gehe zu
ihm.«
»Mutter!« schrie der Pilot wieder. Seine Stimme überschlug
sich und zerbrach. Dann folgte ein Greinen, als habe man einen
Säugling ausgesetzt. Jekaterina Alexandrowna nahm ein flammendes
Scheit mit und rannte zu dem Baumstamm, an den
man Benerian gelehnt hatte. Die kleine Sanitätstasche hatte sie
neben ihm abgestellt, um ihm sofort helfen zu können, wenn
er aufwachte.
Putkin - wie konnte es anders sein - war der erste, der die
Sprache wiederfand. »Von Makar Lukanowitsch werden wir
auch nicht erfahren, wo wir hier sind«, sagte er mit Sarkasmus.
»Solange er nach seiner Mamuschka brüllt, kann man von ihm
keine navigatorischen Angaben erwarten. Meine Lieben, ich
ahne, Benerian ist so vollkommen auf seinen Schädel gefallen,
daß wir mit ihm nicht mehr rechnen können.«
»Sie haben eine ekelhafte Art, Putkin, Wahrheiten auszusprechen
« sagte die Susskaja. Sie kam wieder in den Feuerkreis zurück.
»Ich habe Makar eine neue Injektion gegeben. Er ist wach,
aber er dämmert dahin. Sein Schock ist massiv, und er ist nicht
ansprechbar. Ich befürchte, er hat den Verstand verloren.«
»Aber das kann sich ändern, nicht wahr?« fragte Morotzkij
leise.
»Ich weiß es nicht.« Die dunkle Stimme der Susskaja war
plötzlich spröde. »Benerian wurde jetzt in das Stadium eines
Kindes zurückgeworfen, eines unberechenbaren, bösartigen
Kindes. Wir ... wir sollten ihn zu seiner eigenen Sicherheit festbinden.
Er war eben dabei, sich selbst zu erwürgen ...«
»Als ob wir nicht Probleme genug hätten.« Putkin nickte Andreas
zu. »Kommen Sie, Andrej. Bindfäden liegen genug herum
in den Trümmern.«
Sie suchten ein paar Stricke in dem Haufen der zerplatzten
Kartons, gingen zu Benerian und banden ihm die Fußknöchel
zusammen, spreizten seine Arme und banden sie mit den Handgelenken
an starken Ästen fest. Zur völligen Sicherheit schlangen
sie noch einen Strick um seinen Leib und klopften mit einem
dicken Rohrstück zwei lange Nägel in den Stamm, um die sie
die Strickenden wickelten. Kopfschüttelnd stand dann Putkin
vor dem wimmernden Benerian und hielt dessen Schädel fest,
der unentwegt, wie ein Uhrpendel, hin und her schwang. Dabei
stieß Benerian ausgesprochen kindische Laute aus und seiberte
wie ein Säugling.
»Hauptmann Makar Lukanowitsch ...«, sagte Putkin gepreßt.
»Held des Friedens mit vier Orden. Und endet so in der Taiga,
mit einem leergeblasenen Gehirn. Andrej, sehen Sie, welch ein
Mist das Leben ist?«
In dieser ersten Nacht, vor einem stinkenden Feuer, schlief
niemand. Die Taiga schien jetzt in der Finsternis mehr vom Leben
erfüllt zu sein als unter der Sonne. Große Mäuse huschten
über die Lichtung, Wiesel und Marder, einmal sogar, sehr vorsichtig
witternd, ein kapitaler Fuchs und dann ein Rentierpaar,
stolz und langsam, sich nicht um die Menschen kümmernd.
Mit einer deutlichen Würde zogen sie als große Schatten über
den Windbruch. Morotzkij rieb sich die Hände, als das stolze
Paar im Wald wieder verschwunden war.
»Ich weiß, wo wir vom Himmel gefallen sind«, sagte er. Putkins
Kopf fuhr herum.
»Aha!
»Wir sitzen in einem Gebiet, in dem die Tiere noch keinen
Menschen gesehen haben. Ihre Verhaltensweise ist geradezu paradiesisch.
« Morotzkij rückte seinen Kopfverband zurecht. Es
war schon eine Kunst, an diesem dürren Schädel einen festen
Verband zu installieren. »Wir leben hier in der vollkommensten
Einsamkeit ... vom Menschen aus gesehen.«
»Und das sieht er am Verhalten der Tiere!« röhrte Putkin
spöttisch. »Da watscheln zwei Rentiere vorbei, und schon hat er
den Atlas im Kopf.«
»Ja.« Morotzkij schlang die Arme um die angezogenen Beine.
»Ich bin Professor für Verhaltensforschung. Spezialgebiet Nagetiere.
«
»Der Himmel straft uns hart.« Putkin warf neues Holz in die
glimmende Glut. »Was sind Sie?«
»Ich beobachte Tiere.«
»Und damit wird man Professor? Wozu soll das denn gut sein,
ob man weiß, wieviel Kügelchen ein Schaf am Tage scheißt? Da
habe ich einen nützlicheren Beruf. Ich bohre Öl und schmiere
damit unsere Wirtschaft.« Putkin blickte von einem zum anderen.
Die Susskaja lauschte in die Dunkelheit. Dort wimmerte
Benerian wieder und rief leise: »Mama! Mamuschka. Halt mich
doch fest, Mama ...« Seine Seele war zerstört. Sie blieb in der
Luft hängen von dem Augenblick an, wo er den Absturz seines
Flugzeuges nicht mehr aufhalten konnte.
»Wir sollten uns näher kennenlernen, meine Lieben«, sagte
Putkin jetzt. »Wir werden eine lange Zeit zusammenbleiben
und jeder auf den anderen angewiesen sein. Da sollte man sich
kennen. Seien wir ehrlich zueinander. Die Masken weg. Wer
sind wir? Semjon Pawlowitsch, fangen wir bei Ihnen an - Sie
haben schon etwas von sich losgelassen. Wieso kommen Sie als
Tierpsychologe in das Drecknest Suchana? Allein! Um dort die
Biber und Otter zu beobachten?«
Morotzkij starrte in die Flammen. Sein dürres Gesicht
mit der randlosen Brille wirkte wie eine ausgewickelte Mumie.
»Freiwillig bin ich in Sibirien«, sagte er langsam. »Jeder
Mensch trägt etwas mit sich rum, das ihn krumm macht. Soll
ich lange erzählen?« Er holte tief Atem. »Ich habe meine Frau
getötet.«
Plötzlich war das Knistern der brennenden Äste wie das Krachen
von Schüssen. Die anderen starrten Morotzkij an und
schwiegen betroffen. Morotzkij nickte mehrmals. Seine Stimme
blieb aber so warm und doch so gleichgültig wie vorher.
»Ich habe sie ermordet. Nicht mit Raffinesse, sondern ganz
einfach mit einem langen Küchenmesser. In den Rücken gestoßen.
Zu Ende war's. Wie das so ist - ich kam einmal früher
als sonst aus dem Institut nach Hause, und wer liegt im Bett?
Nastja mit meinem besten Assistenten. Eine Woche später war
Nastja tot, und Waska Diogenowitsch, den Assistenten, hat
man verhaftet, des Mordes angeklagt und zu lebenslanger Strafarbeit
nach Workuta verurteilt. Gut hatte ich das eingefädelt,
mit wissenschaftlicher Gründlichkeit ... Waska hing in einem
Indiziennetz und mußte darin umkommen. Freunde, was soll
ich das alles erzählen? Er ist in Workuta gestorben, aber ich bin
daran zerbrochen. Das Gewissen, meine Lieben. Ich hätte nie
geglaubt, daß das Gewissen einen so aushöhlen kann. Da war
Sibirien für mich das richtige ... hier konnte ich mich in der
Weite verlieren, hier stieß mein Gewissen nirgendwo an ...«
»Und Sie, Andrej?« fragte Putkin heiser vor innerer Erregung.
»Sie sind Diplom-Ingenieur, Fachmann für Bergbau, nicht
wahr?«
Andreas Herr sah Putkin verblüfft an. »Woher wissen Sie das?
Ich kann mich erinnern, Ihnen nur meinen Namen gesagt zu
haben.«
Putkin grinste breit. »Wir sind ein mißtrauisches Volk, Andrej.
Warum? Seit Jahrhunderten droht man der Welt mit dem
Teufel und den Russen. Das färbt ab. Was von draußen zu uns
kommt, wird unter die Lupe genommen. Was will er hier? Was
tut er hier? Wo wandern seine Augen hin? Was denkt er über uns?
Für uns ist jeder Fremde zunächst eine lebende Lüge. Natürlich,
ganz natürlich, daß man ihn heimlich beobachtet, auch wenn
er mit noch so friedlichen Absichten gekommen ist. Sie, Andrej
Herr, sind nach Rußland gekommen, um auf Einladung des
Bergbauzentralrates neue Methoden der Untertageabräumung
zu erklären. Soll ich aufzählen, wo Sie überall waren? Seit Sie in
Sibirien sind, bin ich Ihr Schatten. Eine dämliche Aufgabe, aber
sie mußte sein. Ich bin Ihr drittes Ohr und drittes Auge.«
»Mit anderen Worten ...«, sagte Andreas rauh, »Sie haben
mich überwacht.«
»Erraten.« Putkin lächelte breit.
»Und was haben Sie an mir gefunden?«
»Politisch nichts. Als Mann aber sind Sie ein potenter Bursche.
In neun Wochen fünf Liebschaften ... meine Gratulation! Und
herrliche Weiber, meine Freunde, sage ich. Man konnte neidisch
werden. Ich hatte immer das Zimmer nebenan, und wenn das
Bett knackte, als schlage man es mit einem Hammer zusammen,
verfluchte ich meinen Auftrag.« Putkin zeigte auf Nadeshna, die
verlegen auf der Unterlippe kaute. »Und Sie, mein zartes Täubchen?
Lehrerin? Natürlich. Aber in Suchana? Nein!«
»Ich habe Verwandte besucht«, sagte Nadeshna Iwanowna
leise. Aber plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken, und ihre
großen Kinderaugen blitzten, daß Putkin ein Kribbeln unter
den Haaren spürte. Es war, als wenn sich eine Schlange zum
Angriff aufrichtet und zu zischen beginnt. »Nein!« sagte sie laut.
Ihre Stimme klang voller und härter. »Ich habe Bibeln verteilt!
Ich habe den heimlichen Christen in neunzehn sibirischen Dörfern
Bibeln gebracht ...«
»Was haben Sie?« stotterte Putkin entgeistert. »Bibeln? Im
Ernst?«
»Fragen Sie den KGB.« Nadeshna Iwanowna Abramowa
stemmte die zierlichen Füße in den Waldboden. »Man hat dafür
in Moskau eine eigene Abteilung: Bekämpfung der illegalen
und verbotenen Einfuhr von Bibeln in die UdSSR. Aber sie
kommen auf geheimnisvollen, dem KGB unbekannten Wegen
herein. Direkt aus Rom. Dort gibt es eine Dienststelle, die diesen
Transport organisiert. Und nicht nur Bibeln kommen heimlich
nach Rußland, auch Priester, gut ausgebildete Priester. Ich habe
zwei von ihnen in Sibirien zurückgelassen.« Sie sah die anderen
kampfeslustig an, eine völlig veränderte Nadeshna. Kein zartes
Vögelchen mehr, eher schon ein verkappter Adler mit scharfen
Krallen. »Das bin ich! Sie sagten doch, Igor Fillipowitsch, wir
sollten ehrlich sein, ohne Maske.«
»Verteilt Bibeln und Priester!« schrie Putkin und hieb die Fäuste
gegeneinander. »Teufel auch, was sind wir für eine Bande!
Ein Mörder, ein Spitzel, eine Agentin des Vatikans, ein Deutscher,
der russische Weiber wie Bonbons vernascht ... und Sie,
Jekaterina Alexandrowna? Was bieten Sie uns an?«
»Nichts!« sagte die Susskaja. Ihre dunkle Samtstimme schwang
wie eine verhängte Glocke. »Gar nichts.«
»Wollen Sie als einzige von uns behaupten, daß Sie normal
sind?« schrie Putkin.
»Es scheint so, Igor Fillipowitsch.«
»Sie enttäuschen, Katja! Los, suchen Sie einen dunklen Fleck!
Wir können keinen schneeweißen Engel in unserer Mitte gebrauchen.
Irgend etwas ist auch mit Ihnen los. Heraus damit!«
»Lassen Sie mich in Ruhe, Putkin!« Die Susskaja erhob sich
und ging hinüber zu dem greinenden, festgebundenen Benerian.
Aber bevor sie in der Dunkelheit untertauchte, sagte sie
noch: »Nur wenige Menschen sind schön, wenn sie nackt sind.
Warum wollen Sie alle nackt sehen, Putkin?«
Später hörte man sie, wie sie sich mit dem stammelnden
Benerian unterhielt und wie er immer wieder: »Rajetschka!
Rajetschka!« rief ... den Namen seiner Mutter. Anscheinend
verwechselte er die Susskaja mit ihr und klagte ihr sein unmenschliches
Leid.
Das Feuer prasselte bis in den Morgen hinein. Die Menschen
saßen wie leblose Puppen da. Was sollte man noch sagen? Es
war alles gestanden worden, was zu gestehen war. Nur einmal
sagte der unentwegte Putkin leise und nickte zu der entfernten
Susskaja hin:
»Und sie hat doch ein Geheimnis, Freunde. Ein dicker Hund
muß es sein, daß sie darüber schweigt. Aber wir bekommen es
heraus, sage ich. Wir bekommen es noch heraus.«
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- Autor: Heinz G. Konsalik
- 2011, 1, 414 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004556
- ISBN-13: 9783868004557
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