Die Zehn Gebote
Eine Ethik für heute
Eine Ethik für heute.
Die Zehn Gebote gelten Juden und Christen als zentrale Richtschnur ihres Verhaltens. Aber auch für nicht religiöse Menschen bleiben sie der unerschütterliche Prüfstein für humanes Ethos, dafür, ob einer Charakter hat oder nicht....
Die Zehn Gebote gelten Juden und Christen als zentrale Richtschnur ihres Verhaltens. Aber auch für nicht religiöse Menschen bleiben sie der unerschütterliche Prüfstein für humanes Ethos, dafür, ob einer Charakter hat oder nicht....
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Produktinformationen zu „Die Zehn Gebote “
Eine Ethik für heute.
Die Zehn Gebote gelten Juden und Christen als zentrale Richtschnur ihres Verhaltens. Aber auch für nicht religiöse Menschen bleiben sie der unerschütterliche Prüfstein für humanes Ethos, dafür, ob einer Charakter hat oder nicht.
In seinem Buch rekonstruiert Mathias Schreiber die faszinierende Geschichte der Zehn Gebote vor dem Hintergrund der antiken Kulturen. Zugleich versucht er in der Auseinandersetzung mit Psychologie, Philosophie, Verhaltensbiologie und Rechtslehren zu zeigen, welche Relevanz die Zehn Gebote heute noch haben. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, so sein Fazit, ist die stetige Orientierung an diesem Kodex der Vernünftigkeit überlebensnotwendig.
»Mathias Schreiber gelingt es dank seiner klaren und pointierten Sprache, auch Leser zu erreichen, die nicht unbedingt bibelfest sind.« (Financial Times Deutschland)
Die Zehn Gebote gelten Juden und Christen als zentrale Richtschnur ihres Verhaltens. Aber auch für nicht religiöse Menschen bleiben sie der unerschütterliche Prüfstein für humanes Ethos, dafür, ob einer Charakter hat oder nicht.
In seinem Buch rekonstruiert Mathias Schreiber die faszinierende Geschichte der Zehn Gebote vor dem Hintergrund der antiken Kulturen. Zugleich versucht er in der Auseinandersetzung mit Psychologie, Philosophie, Verhaltensbiologie und Rechtslehren zu zeigen, welche Relevanz die Zehn Gebote heute noch haben. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, so sein Fazit, ist die stetige Orientierung an diesem Kodex der Vernünftigkeit überlebensnotwendig.
»Mathias Schreiber gelingt es dank seiner klaren und pointierten Sprache, auch Leser zu erreichen, die nicht unbedingt bibelfest sind.« (Financial Times Deutschland)
Klappentext zu „Die Zehn Gebote “
Warum die Zehn Gebote ewig geltenDie Zehn Gebote gelten Juden und Christen als zentrale Richtschnur ihres Verhaltens. Aber auch für nicht religiöse Menschen bleiben sie der unerschütterliche Prüfstein für humanes Ethos, dafür, ob einer Charakter hat oder nicht. In seinem neuen Buch rekonstruiert Mathias Schreiber die faszinierende Geschichte der Zehn Gebote vor dem Hintergrund der antiken Kulturen und im Vergleich mit ähnlichen Vorschriften. Zugleich versucht er in der Auseinandersetzung mit Psychologie, Philosophie, Verhaltensbiologie und Rechtslehren zu zeigen, welche Relevanz die Zehn Gebote heute noch haben. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, so sein Fazit, ist die stetige Orientierung an diesem Kodex der Vernünftigkeit überlebensnotwendig.
"Mathias Schreiber gelingt es dank seiner klaren und pointierten Sprache, auch Leser zu erreichen, die nicht unbedingt bibelfest sind." -- Financial Times Deutschland
Lese-Probe zu „Die Zehn Gebote “
Die Zehn Gebote - als Formel für gutes Verhalten sind sie weltberühmt. Und doch: In seinem Buch Die Bibel - Eine Biographie (2009) notiert der Physiker Martin Urban, der über 30 Jahre lang das Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung geleitet hat, die betrübliche Tatsache: "Mittlerweile kennt in Europa nur eine Minderheit der erwachsenen Bevölkerung den Wortlaut der Zehn Gebote." Allenfalls "die auf die Mitmenschen bezogenen Gebote des Dekalogs" hätten sich einen Ruf als "ethisches Minimum" - auch unter sogenannten Nicht-Gläubigen - bewahrt. Sollte diese Diagnose zutreffen, so erkennt sie eine kulturelle Katastrophe.Anscheinend hat die Mehrheit unserer europäischen Zeitgenossen vergessen, was den Kern und die Besonderheit der Stellung des Menschen im Kosmos ausmacht: Die Zehn Gebote sind der älteste schriftlich überlieferte Kanon gesitteter Menschlichkeit, über den die Europäer überhaupt verfügen. Sie sind, biblisch gesprochen, der " Adlerflügel ", der den Menschen aus dem bloß biologisch betrachteten Kampf ums Dasein befreit. Ein Europäer, der sie kaum kennt und nicht zuletzt deswegen für entbehrlich hält, weiß im Grunde nicht, wer er ist - er begreift auch nicht die ethische und kulturgeschichtliche Relevanz seiner eventuellen Entschlossenheit, diesen Kanon zu korrigieren oder zu ignorieren.
Die Zehn Gebote sind der Inbegriff abendländischer Moralität. Das klingt feierlich. Aber was heißt Moralität? Der Begriff ist zunächst ganz unfeierlich, er stammt aus dem Lateinischen: Mos bedeutet "Wille" und "Regel", dann auch "Gewohnheit, Brauch", "Art und Weise, Mode", "Benehmen" und schließlich - als entscheidende Summe dieser Bedeutungsvarianten - "Gesinnung, Charakter". Wem die Zehn Gebote nicht als Inbegriff unserer europäischen Moralgeschichte gelten, der hält womöglich Menschen mit ausgeprägtem Charakter ebenfalls für überflüssig, wenn er nicht gar insgeheim denkt, im Prinzip sei "alles erlaubt", solange man nicht erwischt werde, und überhaupt: nur
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Egoisten seien in dieser Welt erfolgreich; wer sich da nicht anpasse, gehöre rasch zu den Verlierern. Könnte es sogar sein, dass diese windige Vorstellung heute zum moralischen Rüstzeug eines flexiblen Karrieregenies gehört? Könnte es sein, dass die Gleichgültigkeit vieler "Top-Manager" gegenüber einem Kanon wie dem der Zehn Gebote zu den geistigen Mitursachen der jüngsten Wirtschaftskrise zählt, die ja viel mit Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung, haltloser Spekulationsfreude und sozialer Rücksichtslosigkeit zu tun hatte? Könnte es sein, dass die Nonchalance, mit der unsere Oberschicht-Intellektuellen vermeintlich altmodische Regeln wie diese Zehn Gebote zugleich abnicken und tunlichst ignorieren, mitverantwortlich ist für einen Alltag, in dem frustrierte jugendliche Wüteriche Amok laufen - auf dem Schulhof oder in der U-Bahn - und notfalls couragierte Ältere, die sie dabei stören, totschlagen? Vielleicht haben diese Gewalttäter im Schulunterricht allenfalls von weitem die Mahnglocke der Zehn Gebote vernommen - wenn überhaupt. Vermutlich waren die zuständigen Pädagogen noch aus dem moralisch morschen Holz jener "Fraktion" der 68er-Generation geschnitzt, für die es wichtiger war, bestehende Regeln als sogenannte Tabus in Frage zu stellen, als den jungen Menschen klarzumachen, dass es ohne eine elementare Moral, wie sie der Dekalog komprimiert, kein gedeihliches Zusammenleben gerade solcher Menschen geben kann, die eine bessere Zukunft erhoffen, mögen sie auch höchst unterschiedlich denken und fühlen. Von der erschreckenden moralischen Indifferenz einiger einflussreicher 68er-Ideologen hat erst unlängst Bettina Röhl, die Tochter von Ulrike Meinhof, ein eindrucksvolles Zeugnis abgegeben. In einem Essay, den der SPIEGEL (31.05.2010) veröffentlichte, schilderte sie die "Lebenslast" ihrer Kindheit an der Seite eines Vaters, der nach dem Abtauchen der Mutter in den Untergrund die elfjährige Tochter "quasi als Ehefrauersatz" betrachtete und zuweilen übergriffig wurde - entsprechend der 68er-Ideologie, der politischen Befreiung habe die Bekämpfung sexueller "Tabus" vorzuarbeiten, zu diesen zählte Konkret-Herausgeber Klaus Röhl auch das bürgerliche Verbot inzestuöser "Liebesgeschichten" zwischen Vätern und Töchtern.
Dieses Buch behauptet entschieden die universelle, zeitlose, normative Bedeutung der Zehn Gebote gegen alle neueren Versuche, sie zu sympathischen Verhaltens-"Regeln" zu verharmlosen, sie psychologisch ("Moral ist gefährliche, heuchlerische Triebunterdrückung"), evolutionsbiologisch, historisch oder im Sinne multikultureller Ethno-Ethik ("Jede Kultur hat ihre eigene Moral") zu relativieren. Zugleich wird die Geschichte der Zehn Gebote und ihrer Bruder-Gebote in anderen Kulturen betrachtet, es geht um ihren rationalen und spirituellen Erkenntniswert, aber auch um ihre Schwächen. Die Zehn Gebote sind kein archaisches Prophetengemurmel, das den auf seine diversen Verrückt-Heiterkeiten erpichten Intellektuellen dieser Tage wenig zu kümmern braucht; sie sind ein Daseins-Gesetz, vergleichbar dem Kreis und dem Quadrat in der Architektur. Ohne die geometrischen Grundformen lässt sich kein stabiles Haus planen und bauen. Papst Benedikt XVI. nennt die Zehn Gebote - in seinem Buch Jesus von Nazareth (2007) - völlig zu Recht die "Notensprache unserer Existenz" und unterstreicht damit ihren Anspruch, für alle Menschen zu gelten, und nicht nur für die jüdischen und christlichen Gläubigen.
Wenn die Menschen noch ein paar Jahrtausende überleben wollen, müssen sie die Zehn Gebote neu für sich entdecken und absolut, vom Absoluten her, ernst nehmen. Sie sind die humane, ethische Ressource schlechthin, im Rang vergleichbar den elementaren Bodenschätzen und Lebensbedingungen der äußeren Natur. Sie sind die Atemluft einer Moral, die den Weltfrieden im Blick hat. Dabei geht es nicht bloß um die beherzte Rückbesinnung auf biblische Weisheit oder gar um jene religiöse Nostalgie, die zurzeit den Naturwissenschaften ihren latenten Ausschließlichkeitsanspruch auf Weltdeutung überraschend streitig macht - wo doch die rationale Entzauberung der Wirklichkeit längst unumkehrbar zu sein schien. Die Zehn Gebote enthalten eine humanistische Grundorientierung, die nicht wenig zur Antwort auf die ewige Frage beiträgt, was den Menschen zum Menschen macht. Sie enthalten die wahre Theorie einer freien, humanen Praxis, ohne die der Mensch verfehlt, was er wesentlich sein kann. Wir werden zu zeigen versuchen, dass dies nicht nur für die sozialen Teile des Dekalogs gilt, vom Tötungsverbot bis zum Elternrespekt. Ohne die Anerkennung einer absoluten, mythisch gesprochen: göttlichen Ur-Instanz sind die sozialen Teile der Zehn Gebote kaum mehr als freundliche Empfehlungen zum Wohlverhalten, die man aber notfalls mal ignorieren kann, ohne an der eigenen ethischen Identität Schaden zu nehmen. Unser Thema kommt aus der Religion, aber abgehandelt wird es hier auch und vor allem im kulturgeschichtlichen, philosophischen, zeitkritischen Rahmen.
Winsen an der Luhe, im April 2010 Mathias Schreiber Zur Aktualität des Moralisierens Afrikanischer Busch, fettes, wirres Grün, feuchtschwüle Luft, die einen wässrigen Film auf der Haut hinterlässt, das Herz der Finsternis - die so überschriebene Erzählung von Joseph Conrad verwandelt die triefende Tropenhitze in eine Metapher des Wahnsinns - ist hier so nahe wie die nächste Flussmündung mit Krokodilen; und die ständig von Fliegen umschwirrten Kranken stöhnen leise, weil alles Lautsein sowieso in der nass brütenden Glut schmilzt wie Schnee unter der Höhensonne; aber der dreißigjährige, theologisch gebildete Mediziner mit dem ausdrucksstarken Sorgengesicht spielt ungeniert Orgel, unberührbar funkelnde Fugen eines gewissen Johann Sebastian Bach, über den er mal ein Buch geschrieben hat: Albert Schweitzer (1875 bis 1965) - im Ersten Weltkrieg Missionsarzt im Tropenhospital von Lambarene, Arbeitstier, tatendurstiger Idealist, späterhin der zusammen mit Albert Einstein gegen jeden möglichen Atombombeneinsatz kämpfende Friedensnobelpreisträger. Europäische Barockmusik im Busch, und dabei der tägliche Kampf gegen Malaria - vielleicht ein bisschen verrückt? Kristallklare, zweckfreie Tonarchitektur im verwirrenden, heißen Aquatordschungel von Gabun - eine Groteske? Nein: Es ist ein bewegendes Schauspiel, eine frappierende Synthese aus Ästhetik und Ethik. Ihr Held ist einer der intelligentesten Ethik-Abenteurer der Geschichte. Er lehrt die "Ehrfurcht vor dem Leben", praktiziert sie selbst in einer einmaligen Verbindung von persönlichem Wagemut, fundierter, wenn auch wegen ihrer technischen Primitivität umstrittener Heilkunst, Musikalität und Philosophie.
Eine Szenerie wie diese nimmt der Frage nach der authentischen Moral von Menschen, die mehr wollen, als ihrem Ego den effektvollsten Auftritt zu sichern, jeden Anschein säuerlicher Grämlichkeit und schmallippiger Sittenstrenge. Eine Szenerie wie diese macht auf Anhieb eines klar: Moral ist kein muffiger Hobbykurs schwer zu befriedigender Pedanten, kein Volkshochschulthema verhinderter Betschwestern, kein flüchtiges Sühne-Intermezzo reumütiger Spekulanten und Investitionsopfer der jüngsten Wirtschaftskrise; sie ist nicht die Domäne der feierlichen Frömmler, der Unaufrichtigen und sexuell zu kurz Gekommenen, "als ob Güte nur die letzte Rettung wäre, wenn sich schwierigere, aber erfüllendere Vorsätze erschöpft haben", wie der britische Autor Alain de Botton (Jahrgang 1969) im März 2010 in einem Debattenbeitrag zum Thema "Was wem zusteht" für die englische Internetinitiative "Citizen Ethics Network" formulierte. Nein, Moral ist eines der großen humanen Abenteuer, hat eine lange, spannende Geschichte und viel mit existenzieller Kühnheit, mit handelnder Phantasie, sogar mit Schönheit und letzten Endes mit dem zu tun, was den Menschen von der tierischen Bestie unterscheidet. Was nicht heißen soll, dass alle Tiere aggressive und gierige Bestien sind. Immerhin gilt wohl auch für jene höheren Tiere, denen Tierforscher die Fähigkeit zur Empathie nachsagen, Bertolt Brechts zynischer Vers aus der Dreigroschenoper: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral" - er sollte die moralischen Heuchler unter den Besitzenden provozieren.
Der altgriechische Philosoph Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) hat gemeint, es gebe "keine Glückseligkeit außerhalb der Tugend"; denen, die "nicht das moralisch Gute tun", könne es "unmöglich" wohl ergehen. Worauf Friedrich Nietzsche (1844 bis i900) im i9. Jahrhundert anspielt, wenn er kritisiert, die Spezies jener "Bösen, die glücklich sind", werde "von den Moralisten verschwiegen" (freilich hat schon Platon, der Lehrer des Aristoteles, durchaus ihrer gedacht).
Der Journalist Wolf Schneider (Jahrgang 1925) spricht, in seinem Buch Glück! (2007), dem aufgeklärt-hedonistischen Konsens der Gebildeten dieser Tage aus dem Herzen, wenn er findet, was Aristoteles da formuliert habe, schalle als "falsche Stimme seither durch die Weltgeschichte". Demnach dürfe sich der Missionar glücklich fühlen, den "die Kannibalen fressen". Bei der Gelegenheit verweist Schneider auch den Dichter Heinrich von Kleist auf die billigen Plätze des denkerisch Falschen, weil der von dem "erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit" des menschlichen Wesens geschwärmt habe. Dabei ist die Prägung "moralische Schönheit" denkwürdig - sie wird uns noch beschäftigen.
Wer moralisiert, langweilt, so lautet die aus solchen Quellen gespeiste Erkennungsmelodie avancierter Feuilletonisten und Zeitgeistintellektueller des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Exemplarisch hierfür ist die ironische Antwort, die der erfolgreiche Kabarettist Dieter Hildebrandt (Jahrgang 1927) gegeben hat, danach befragt, ob er die Zehn Gebote auswendig könne: "Fünf weiß ich noch: Du sollst mit deinem Vater und deiner Mutter nicht die Ehe brechen, oder so ähnlich. Du sollst keinen Gott außer dir neben dir haben. Du sollst nicht lügen, wenn es nicht irgendeinen Sinn macht. Du sollst niemanden töten, es sei denn, er muss weg." Indirekt will das sagen: Interessant werden die Zehn Gebote erst, wenn man sie lustig verdreht.
Der evangelische Pfarrer und TV-Moderator Jürgen Fliege (Jahrgang 1947) bekennt in seinem Buch Die Ordnung des Lebens. Die Zehn Gebote (2005), was wohl vielen an sich durchaus gläubigen Christen dieser Jahre aus dem Herzen spricht: "Mich haben diese Zehn Gebote über fünfzig Jahre lang nicht interessiert." Als Grund gibt er an: "Solange ich zurückdenken kann, hat man mich mit den Zehn Geboten bedroht." Es ist die stereotype Moralpredigt der prüden fünfziger Jahre, die auch in vielen anderen Christen die Meinung gefestigt hat, die Zehn Gebote seien der Inbegriff des "moralinsauren, lebensfernen Katechismus-Unterrichts", wie Matthias Köckert in seinem Buch Die Zehn Gebote (2007) bestätigt.
In der Ordnung des Lebens spricht Fliege die Zehn Gebote nicht in der kanonischen, sondern in umgekehrter Reihenfolge durch; er vertritt die originelle These, "dass die Komposition der Zehn Gebote nichts anderes ist als die Reihe der unumgänglichen Stationen auf der Lebensreise eines jeden Menschen". Als "Reisebeschreibung für das Leben", von der Gier des Säuglings nach Milch und Liebe bis zum "Gotteslob" des reifen Menschen, versucht Fliege die Gebote zu reanimieren - für den Leser, aber auch für sich selbst. Dass dies eine allzu harmlose Beatmung auf Kosten der fordernden Tiefe der Gebote ist, wird spätestens dann klar, wenn Fliege arglos meint, es gebe halt "nur deinen und meinen Gott", oder wenn er belustigt erzählt, wie die Medien ihn "vor ein paar Jahren auf jedem Niveau durch alle Schlagzeilen" gehetzt hätten. Und zwar mit Schlagzeilen wie "Fernsehpfarrer sündigt gegen das sechste Gebot". Anlass sei gewesen, dass er irgendeinem penetrant auf dem sechsten Gebot ("Du sollst nicht ehebrechen") "insistierenden" Reporter "trotzig ins Mikrofon" geantwortet habe: "Ich habe schon alle zehn Gebote gebrochen." Sex sells - müssen wir etwa deshalb die leicht schlüpfrige, etwas eitle Fernsehpfarrer-Anekdote lesen, wenn wir uns für die Zehn Gebote interessieren?
Auch ungleich seriösere Autoren, die sich mit den Zehn Geboten befasst haben, tun sich etwas schwer, das Thema anzugehen, ohne sich von dessen moralischem Anspruch zu distanzieren. Zu ihnen gehört auch der Benediktinermönch und Bestsellerautor Anselm Grün (Jahrgang 1945). Er versteht seine von wohltuender Gelassenheit getragene, dennoch sehr sachkundige Einführung in Die Zehn Gebote (2006) als nüchternen "Wegweiser in die Freiheit" (so der Untertitel) und als praxisnahe Lebenshilfe aus katholischer Sicht. Aber er warnt mehrfach, mit "bloßem Moralisieren" wolle und könne man die Zehn Gebote nicht "bei den Menschen durchsetzen".
Diese Warnung ist nur berechtigt, wenn wir den Begriff "Moralisieren" zur sinnenfeindlichen Betonung von allen möglichen Verboten verengen. So als gehe es dabei um eine einzige "Du darfst nicht"-Diät. Der Begriff "Moralisieren" lässt sich aber auch umfassender verstehen. Dann zielt er mitten in unser Leben, dann betrifft er allgemein die Art und Weise, in der wir Menschen zu entscheiden und zu handeln und dabei auch mit uns selber umzugehen pflegen; für diese Art und Weise suchen wir Normen. Das setzt einen entschlossenen Ernst gegenüber der jeweiligen Lebenssituation voraus: Bei jeder Handlung und Handlungstheorie bedenken wir, auf der Suche nach der angemessenen Grundhaltung (griechisch: ethos), die dramatisch begrenzte Frist der menschlichen Existenz, also der realen Chancen für ein gelungenes Leben. Ars longa, vita brevis - dieses lateinische Epigramm, das ursprünglich auf den griechischen Arzt Hippokrates zurückgeht, kann auch heißen: Das Leben ist eigentlich zu kurz bemessen für langwierige Erörterungen und bloße Begriffsspielereien. Bis wir uns triftig entscheiden, wie wir zu leben haben, ist meistens schon ein gutes Stück Leben an uns vorübergerauscht. Das meint: Wer moralisiert, langweilt nicht, er hat dafür gar keine Zeit übrig, er nimmt das Wie des Lebens im Angesicht von dessen Vergänglichkeit und Vielschichtigkeit entschlossen in den Blick und, besonders wichtig, auch dessen Aussicht auf authentische, ethisch geprägte Schönheit. Worum es da geht, wie die Entscheidung, etwa zwischen Moral und Achterbahnvergnügen, ausfällt, das ist nicht langweilig, das ist spannend.
Die postmoderne Hochglanz-Philosophie der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, deren Erbe heutzutage vom "Alles ist möglich" (anything goes) etlicher Internet-Blogger verwaltet wird, war die vermeintlich harmlose kulturelle Ouvertüre jenes Schauspiels haltloser Geldjongleure, die zwischen 2007 und 2009 die westliche Zivilisation in eine ihrer schlimmsten wirtschaftlichen Krisen getrieben haben. Augenmaß, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, soziale Empathie, Selbstliebe als Menschenliebe, moralische Sensibilität - diese und andere angeblich intellektuell uninteressanten Tugenden kehrten, in der Reaktion auf die Krise, geradezu triumphal zurück in ein öffentliches Bewusstsein, das im Konsumrausch einer glitzernden Globalisierung und Relativierung alles Überkommenen fast schon vergessen hatte, wie wichtig das Elementare menschlichen Verhaltens eigentlich ist und bleibt, nämlich die Rechtschaffenheit. Und wie anregend es sein kann, über sie nachzudenken.
Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883 bis 1955) hat das Überleben der abendländischen Kultur vom rechtschaffenen, moralisch ambitionierten "Charakter" abhängig gemacht. In seinem zuerst 1930 publizierten Werk Der Aufstand der Massen hat Ortega das "psychische Diagramm" des diese Kultur verpulvernden "Massenmenschen" so umrissen: "Die ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche und darum seiner Person" verbinde sich bei diesem Typus mit der "grundsätzlichen Undankbarkeit gegen alles, was sein reibungsloses Dasein ermöglicht hat" - liberale Demokratie, naturwissenschaftliches Wissen, vor allem in der modernen Physik und in der Medizin, technisches, industriell angewandtes Können, geniale Geister der Vergangenheit. Der moderne, traditionsferne Massenmensch verhalte sich wie ein "verwöhntes Kind", welches glaubt, dass es "alles darf und zu nichts verpflichtet ist".
Ortega sah 1930 voraus, was aus dem Triumph des "aufsässigen Massenmenschen", der zu keiner "höheren objektiven Norm" mehr "aufblicke", nach 1933 tatsächlich resultierte: beispielloser "Niedergang", der "vertikale Einfall der Barbarei" (Ortega zitiert hier Walther Rathenau) faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Couleur. Dagegen helfe nur eines: jener individuelle "Charakter", der sich gegen die vermeintlich zwingenden "Umstände" stemme und bereit sei, sich selbst konsequent moralische "Ziele" zu geben und danach aufbauend auch zu handeln.
Vom - recht verstandenen - Moralisieren hängt demnach nicht weniger ab als die Zukunft unserer Gemeinschaft, unserer politischen Kultur. Das vermeintlich altmodische, von bestimmten Aufmerksamkeitszockern oft als wohlfeil oder auch selbstverständlich abgebuchte Moralisieren ist nicht zuletzt deswegen aktuell: Es darf nicht passieren, dass fanatische Keulenschwinger christlicher oder islamischer Provenienz die Leerstelle einer ratlos und auf modische Weise zaghaft gewordenen westlichen Kultur füllen. Die Botschaft der Zehn Gebote ist, gründlich betrachtet, ein moralisches Fundament, das dem Furor sogenannter Fundamentalisten sehr wohl gewachsen ist. Ihre wuchtige Einfachheit überzeugt und täuscht zugleich - sie täuscht insofern, als sie auf harmlose Weise simpel wirkt, wie ein Sentenzenkatalog aus dem Katechismus.
Dabei ist sie alles andere als harmlos, eine tägliche Herausforderung für den modernen Augenblicksmenschen und Gelegenheitsdenker, der glaubt, aus unserer eindrucksvollen wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung folge, dem Menschen sei auch auf anderen Gebieten im Grunde alles möglich und machbar. Die einfache Botschaft der Zehn Gebote hält dagegen: Mag die Natur von uns noch so brillant genutzt und gelenkt werden, am Ende bleiben die physischen und metaphysischen Gegebenheiten unserer Existenz unzugänglich für die Manipulationstriumphe von Computerspielern, denen der Unterschied zwischen Gut und Böse allenfalls als ästhetische Chance wichtig erscheint, um in der jeweils erzählten Geschichte Licht und Schatten zu kontrastieren. Die Botschaft der Zehn Gebote ist jene ethische Unabhängigkeitserklärung des Menschen, die seiner existenziellen Sonderstellung im All entspricht. Die Zehn Gebote sperren den Charakter des Individuums nicht in einen Einheitskäfig, sie sichern vielmehr die moralische Souveränität des Individuums gegen alle gesellschaftlichen Versuche, es als bloßes Mittel für irgendwelche ideologischen Lager oder wirtschaftlichen Zwecke zu missbrauchen. Die Zehn Gebote umgrenzen den heiligen Bezirk ethischer Autonomie, verstanden als humane Selbstbestimmung aus reinen Prinzipien - sie sind der in Sprache gegossene Tempel einer Freiheit, die mehr meint als die Willkür im Kampf aller gegen alle: "das ABC des Menschenbenehmens", den "Felsen des Menschenanstandes", wie Thomas Mann es in seiner Erzählung Das Gesetz formuliert hat.
Darum sind die Zehn Gebote auch von monumentalischer Schönheit - wie ein griechischer Tempel oder eine mittelalterliche Bruchsteinmauer, die einen Kirchhof schützt. An so einer Wand, deren Urbild die Klagemauer von Jerusalem, der Rest eines gewaltigen Tempels, ist, stößt sich das selbstherrliche Subjekt der Moderne regelmäßig die Stirn blutig, ohne zu begreifen, wie ihm geschieht; und wie klein sich sein maschinenschlaues, Facebook-vernetztes, pausenlos plapperndes Computer-Ich gegenüber der Geschichtsmacht von lapidaren Sätzen ausmacht, deren jedes Wort wie in Stein gemeißelt wirkt. Nur diese Zehn Gebote, keine der vielen anderen Lebensvorschriften des Alten Bundes hat Gott selbst auf steinerne Tafeln geschrieben - wie die Bibel betont: zwei Mal!
Die Vielschichtigkeit und Kraft der Zehn Gebote, eines der großen Geschenke der jüdischen Religionsgeschichte an den Rest der Menschheit, wird aber erst bei einer genaueren Betrachtung ihres Wortlauts deutlich.
Wie die Zehn Gebote genau lauten und was sie fordern Gerechtigkeit und Menschenliebe - um beide, auch um die natürliche Spannung zwischen diesen beiden, geht es in den Zehn Geboten. Jeder glaubt, diese Begriffe spontan zu verstehen, dabei stecken viele Bedeutungsschichten in ihnen und je nach der Situation, in der sie konkret werden können, auch beachtliche Widersprüche. Ist der Gerechte nicht oft herzlos, weil er sein Prinzip abgelöst vom komplizierten Fall dieses oder jenes Individuums verfolgen muss? Und ist der Liebende, egal ob emotional oder allgemein humanitär engagiert, nicht ebenso oft ungerecht, indem er sich, zum Beispiel, über den womöglich verheerenden Charakter des jeweils Geliebten hinwegschwingt und sich oft gerade dem Menschen, der seine Zuwendung am ehesten verdient hätte, verweigert? Meint der Begriff der Nächstenliebe vielleicht nicht viel mehr, als dass ich dem Nächsten möglichst gerecht werden muss? Hat, andererseits, der Begriff der Gerechtigkeit nicht auch das Moment des erzwungenen Rechts, der gewaltsamen Triebunterdrückung, ein Moment, das von der Nächstenliebe, die ohne Nachsicht gegenüber menschlicher Schwäche kaum auskommt, weit entfernt zu sein scheint? Und ist das wichtigste aller Gebote, das Tötungsverbot, so klar, wie es zunächst wirkt? Wo exakt verläuft die Grenze zwischen Tötung (die ja im Alten Testament als Strafe für bestimmte Vergehen erlaubt wird) und Mordtat? Was ist mit dem sogar im Christentum traditionell zugelassenen Tyrannenmord? Darf man einen Adolf Hitler nicht auch ohne rechtliche Verurteilung umbringen? Oder darf man ihn lediglich durch Todesdrohung in den Selbstmord treiben?
Dieses Buch behauptet entschieden die universelle, zeitlose, normative Bedeutung der Zehn Gebote gegen alle neueren Versuche, sie zu sympathischen Verhaltens-"Regeln" zu verharmlosen, sie psychologisch ("Moral ist gefährliche, heuchlerische Triebunterdrückung"), evolutionsbiologisch, historisch oder im Sinne multikultureller Ethno-Ethik ("Jede Kultur hat ihre eigene Moral") zu relativieren. Zugleich wird die Geschichte der Zehn Gebote und ihrer Bruder-Gebote in anderen Kulturen betrachtet, es geht um ihren rationalen und spirituellen Erkenntniswert, aber auch um ihre Schwächen. Die Zehn Gebote sind kein archaisches Prophetengemurmel, das den auf seine diversen Verrückt-Heiterkeiten erpichten Intellektuellen dieser Tage wenig zu kümmern braucht; sie sind ein Daseins-Gesetz, vergleichbar dem Kreis und dem Quadrat in der Architektur. Ohne die geometrischen Grundformen lässt sich kein stabiles Haus planen und bauen. Papst Benedikt XVI. nennt die Zehn Gebote - in seinem Buch Jesus von Nazareth (2007) - völlig zu Recht die "Notensprache unserer Existenz" und unterstreicht damit ihren Anspruch, für alle Menschen zu gelten, und nicht nur für die jüdischen und christlichen Gläubigen.
Wenn die Menschen noch ein paar Jahrtausende überleben wollen, müssen sie die Zehn Gebote neu für sich entdecken und absolut, vom Absoluten her, ernst nehmen. Sie sind die humane, ethische Ressource schlechthin, im Rang vergleichbar den elementaren Bodenschätzen und Lebensbedingungen der äußeren Natur. Sie sind die Atemluft einer Moral, die den Weltfrieden im Blick hat. Dabei geht es nicht bloß um die beherzte Rückbesinnung auf biblische Weisheit oder gar um jene religiöse Nostalgie, die zurzeit den Naturwissenschaften ihren latenten Ausschließlichkeitsanspruch auf Weltdeutung überraschend streitig macht - wo doch die rationale Entzauberung der Wirklichkeit längst unumkehrbar zu sein schien. Die Zehn Gebote enthalten eine humanistische Grundorientierung, die nicht wenig zur Antwort auf die ewige Frage beiträgt, was den Menschen zum Menschen macht. Sie enthalten die wahre Theorie einer freien, humanen Praxis, ohne die der Mensch verfehlt, was er wesentlich sein kann. Wir werden zu zeigen versuchen, dass dies nicht nur für die sozialen Teile des Dekalogs gilt, vom Tötungsverbot bis zum Elternrespekt. Ohne die Anerkennung einer absoluten, mythisch gesprochen: göttlichen Ur-Instanz sind die sozialen Teile der Zehn Gebote kaum mehr als freundliche Empfehlungen zum Wohlverhalten, die man aber notfalls mal ignorieren kann, ohne an der eigenen ethischen Identität Schaden zu nehmen. Unser Thema kommt aus der Religion, aber abgehandelt wird es hier auch und vor allem im kulturgeschichtlichen, philosophischen, zeitkritischen Rahmen.
Winsen an der Luhe, im April 2010 Mathias Schreiber Zur Aktualität des Moralisierens Afrikanischer Busch, fettes, wirres Grün, feuchtschwüle Luft, die einen wässrigen Film auf der Haut hinterlässt, das Herz der Finsternis - die so überschriebene Erzählung von Joseph Conrad verwandelt die triefende Tropenhitze in eine Metapher des Wahnsinns - ist hier so nahe wie die nächste Flussmündung mit Krokodilen; und die ständig von Fliegen umschwirrten Kranken stöhnen leise, weil alles Lautsein sowieso in der nass brütenden Glut schmilzt wie Schnee unter der Höhensonne; aber der dreißigjährige, theologisch gebildete Mediziner mit dem ausdrucksstarken Sorgengesicht spielt ungeniert Orgel, unberührbar funkelnde Fugen eines gewissen Johann Sebastian Bach, über den er mal ein Buch geschrieben hat: Albert Schweitzer (1875 bis 1965) - im Ersten Weltkrieg Missionsarzt im Tropenhospital von Lambarene, Arbeitstier, tatendurstiger Idealist, späterhin der zusammen mit Albert Einstein gegen jeden möglichen Atombombeneinsatz kämpfende Friedensnobelpreisträger. Europäische Barockmusik im Busch, und dabei der tägliche Kampf gegen Malaria - vielleicht ein bisschen verrückt? Kristallklare, zweckfreie Tonarchitektur im verwirrenden, heißen Aquatordschungel von Gabun - eine Groteske? Nein: Es ist ein bewegendes Schauspiel, eine frappierende Synthese aus Ästhetik und Ethik. Ihr Held ist einer der intelligentesten Ethik-Abenteurer der Geschichte. Er lehrt die "Ehrfurcht vor dem Leben", praktiziert sie selbst in einer einmaligen Verbindung von persönlichem Wagemut, fundierter, wenn auch wegen ihrer technischen Primitivität umstrittener Heilkunst, Musikalität und Philosophie.
Eine Szenerie wie diese nimmt der Frage nach der authentischen Moral von Menschen, die mehr wollen, als ihrem Ego den effektvollsten Auftritt zu sichern, jeden Anschein säuerlicher Grämlichkeit und schmallippiger Sittenstrenge. Eine Szenerie wie diese macht auf Anhieb eines klar: Moral ist kein muffiger Hobbykurs schwer zu befriedigender Pedanten, kein Volkshochschulthema verhinderter Betschwestern, kein flüchtiges Sühne-Intermezzo reumütiger Spekulanten und Investitionsopfer der jüngsten Wirtschaftskrise; sie ist nicht die Domäne der feierlichen Frömmler, der Unaufrichtigen und sexuell zu kurz Gekommenen, "als ob Güte nur die letzte Rettung wäre, wenn sich schwierigere, aber erfüllendere Vorsätze erschöpft haben", wie der britische Autor Alain de Botton (Jahrgang 1969) im März 2010 in einem Debattenbeitrag zum Thema "Was wem zusteht" für die englische Internetinitiative "Citizen Ethics Network" formulierte. Nein, Moral ist eines der großen humanen Abenteuer, hat eine lange, spannende Geschichte und viel mit existenzieller Kühnheit, mit handelnder Phantasie, sogar mit Schönheit und letzten Endes mit dem zu tun, was den Menschen von der tierischen Bestie unterscheidet. Was nicht heißen soll, dass alle Tiere aggressive und gierige Bestien sind. Immerhin gilt wohl auch für jene höheren Tiere, denen Tierforscher die Fähigkeit zur Empathie nachsagen, Bertolt Brechts zynischer Vers aus der Dreigroschenoper: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral" - er sollte die moralischen Heuchler unter den Besitzenden provozieren.
Der altgriechische Philosoph Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) hat gemeint, es gebe "keine Glückseligkeit außerhalb der Tugend"; denen, die "nicht das moralisch Gute tun", könne es "unmöglich" wohl ergehen. Worauf Friedrich Nietzsche (1844 bis i900) im i9. Jahrhundert anspielt, wenn er kritisiert, die Spezies jener "Bösen, die glücklich sind", werde "von den Moralisten verschwiegen" (freilich hat schon Platon, der Lehrer des Aristoteles, durchaus ihrer gedacht).
Der Journalist Wolf Schneider (Jahrgang 1925) spricht, in seinem Buch Glück! (2007), dem aufgeklärt-hedonistischen Konsens der Gebildeten dieser Tage aus dem Herzen, wenn er findet, was Aristoteles da formuliert habe, schalle als "falsche Stimme seither durch die Weltgeschichte". Demnach dürfe sich der Missionar glücklich fühlen, den "die Kannibalen fressen". Bei der Gelegenheit verweist Schneider auch den Dichter Heinrich von Kleist auf die billigen Plätze des denkerisch Falschen, weil der von dem "erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit" des menschlichen Wesens geschwärmt habe. Dabei ist die Prägung "moralische Schönheit" denkwürdig - sie wird uns noch beschäftigen.
Wer moralisiert, langweilt, so lautet die aus solchen Quellen gespeiste Erkennungsmelodie avancierter Feuilletonisten und Zeitgeistintellektueller des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Exemplarisch hierfür ist die ironische Antwort, die der erfolgreiche Kabarettist Dieter Hildebrandt (Jahrgang 1927) gegeben hat, danach befragt, ob er die Zehn Gebote auswendig könne: "Fünf weiß ich noch: Du sollst mit deinem Vater und deiner Mutter nicht die Ehe brechen, oder so ähnlich. Du sollst keinen Gott außer dir neben dir haben. Du sollst nicht lügen, wenn es nicht irgendeinen Sinn macht. Du sollst niemanden töten, es sei denn, er muss weg." Indirekt will das sagen: Interessant werden die Zehn Gebote erst, wenn man sie lustig verdreht.
Der evangelische Pfarrer und TV-Moderator Jürgen Fliege (Jahrgang 1947) bekennt in seinem Buch Die Ordnung des Lebens. Die Zehn Gebote (2005), was wohl vielen an sich durchaus gläubigen Christen dieser Jahre aus dem Herzen spricht: "Mich haben diese Zehn Gebote über fünfzig Jahre lang nicht interessiert." Als Grund gibt er an: "Solange ich zurückdenken kann, hat man mich mit den Zehn Geboten bedroht." Es ist die stereotype Moralpredigt der prüden fünfziger Jahre, die auch in vielen anderen Christen die Meinung gefestigt hat, die Zehn Gebote seien der Inbegriff des "moralinsauren, lebensfernen Katechismus-Unterrichts", wie Matthias Köckert in seinem Buch Die Zehn Gebote (2007) bestätigt.
In der Ordnung des Lebens spricht Fliege die Zehn Gebote nicht in der kanonischen, sondern in umgekehrter Reihenfolge durch; er vertritt die originelle These, "dass die Komposition der Zehn Gebote nichts anderes ist als die Reihe der unumgänglichen Stationen auf der Lebensreise eines jeden Menschen". Als "Reisebeschreibung für das Leben", von der Gier des Säuglings nach Milch und Liebe bis zum "Gotteslob" des reifen Menschen, versucht Fliege die Gebote zu reanimieren - für den Leser, aber auch für sich selbst. Dass dies eine allzu harmlose Beatmung auf Kosten der fordernden Tiefe der Gebote ist, wird spätestens dann klar, wenn Fliege arglos meint, es gebe halt "nur deinen und meinen Gott", oder wenn er belustigt erzählt, wie die Medien ihn "vor ein paar Jahren auf jedem Niveau durch alle Schlagzeilen" gehetzt hätten. Und zwar mit Schlagzeilen wie "Fernsehpfarrer sündigt gegen das sechste Gebot". Anlass sei gewesen, dass er irgendeinem penetrant auf dem sechsten Gebot ("Du sollst nicht ehebrechen") "insistierenden" Reporter "trotzig ins Mikrofon" geantwortet habe: "Ich habe schon alle zehn Gebote gebrochen." Sex sells - müssen wir etwa deshalb die leicht schlüpfrige, etwas eitle Fernsehpfarrer-Anekdote lesen, wenn wir uns für die Zehn Gebote interessieren?
Auch ungleich seriösere Autoren, die sich mit den Zehn Geboten befasst haben, tun sich etwas schwer, das Thema anzugehen, ohne sich von dessen moralischem Anspruch zu distanzieren. Zu ihnen gehört auch der Benediktinermönch und Bestsellerautor Anselm Grün (Jahrgang 1945). Er versteht seine von wohltuender Gelassenheit getragene, dennoch sehr sachkundige Einführung in Die Zehn Gebote (2006) als nüchternen "Wegweiser in die Freiheit" (so der Untertitel) und als praxisnahe Lebenshilfe aus katholischer Sicht. Aber er warnt mehrfach, mit "bloßem Moralisieren" wolle und könne man die Zehn Gebote nicht "bei den Menschen durchsetzen".
Diese Warnung ist nur berechtigt, wenn wir den Begriff "Moralisieren" zur sinnenfeindlichen Betonung von allen möglichen Verboten verengen. So als gehe es dabei um eine einzige "Du darfst nicht"-Diät. Der Begriff "Moralisieren" lässt sich aber auch umfassender verstehen. Dann zielt er mitten in unser Leben, dann betrifft er allgemein die Art und Weise, in der wir Menschen zu entscheiden und zu handeln und dabei auch mit uns selber umzugehen pflegen; für diese Art und Weise suchen wir Normen. Das setzt einen entschlossenen Ernst gegenüber der jeweiligen Lebenssituation voraus: Bei jeder Handlung und Handlungstheorie bedenken wir, auf der Suche nach der angemessenen Grundhaltung (griechisch: ethos), die dramatisch begrenzte Frist der menschlichen Existenz, also der realen Chancen für ein gelungenes Leben. Ars longa, vita brevis - dieses lateinische Epigramm, das ursprünglich auf den griechischen Arzt Hippokrates zurückgeht, kann auch heißen: Das Leben ist eigentlich zu kurz bemessen für langwierige Erörterungen und bloße Begriffsspielereien. Bis wir uns triftig entscheiden, wie wir zu leben haben, ist meistens schon ein gutes Stück Leben an uns vorübergerauscht. Das meint: Wer moralisiert, langweilt nicht, er hat dafür gar keine Zeit übrig, er nimmt das Wie des Lebens im Angesicht von dessen Vergänglichkeit und Vielschichtigkeit entschlossen in den Blick und, besonders wichtig, auch dessen Aussicht auf authentische, ethisch geprägte Schönheit. Worum es da geht, wie die Entscheidung, etwa zwischen Moral und Achterbahnvergnügen, ausfällt, das ist nicht langweilig, das ist spannend.
Die postmoderne Hochglanz-Philosophie der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, deren Erbe heutzutage vom "Alles ist möglich" (anything goes) etlicher Internet-Blogger verwaltet wird, war die vermeintlich harmlose kulturelle Ouvertüre jenes Schauspiels haltloser Geldjongleure, die zwischen 2007 und 2009 die westliche Zivilisation in eine ihrer schlimmsten wirtschaftlichen Krisen getrieben haben. Augenmaß, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, soziale Empathie, Selbstliebe als Menschenliebe, moralische Sensibilität - diese und andere angeblich intellektuell uninteressanten Tugenden kehrten, in der Reaktion auf die Krise, geradezu triumphal zurück in ein öffentliches Bewusstsein, das im Konsumrausch einer glitzernden Globalisierung und Relativierung alles Überkommenen fast schon vergessen hatte, wie wichtig das Elementare menschlichen Verhaltens eigentlich ist und bleibt, nämlich die Rechtschaffenheit. Und wie anregend es sein kann, über sie nachzudenken.
Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883 bis 1955) hat das Überleben der abendländischen Kultur vom rechtschaffenen, moralisch ambitionierten "Charakter" abhängig gemacht. In seinem zuerst 1930 publizierten Werk Der Aufstand der Massen hat Ortega das "psychische Diagramm" des diese Kultur verpulvernden "Massenmenschen" so umrissen: "Die ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche und darum seiner Person" verbinde sich bei diesem Typus mit der "grundsätzlichen Undankbarkeit gegen alles, was sein reibungsloses Dasein ermöglicht hat" - liberale Demokratie, naturwissenschaftliches Wissen, vor allem in der modernen Physik und in der Medizin, technisches, industriell angewandtes Können, geniale Geister der Vergangenheit. Der moderne, traditionsferne Massenmensch verhalte sich wie ein "verwöhntes Kind", welches glaubt, dass es "alles darf und zu nichts verpflichtet ist".
Ortega sah 1930 voraus, was aus dem Triumph des "aufsässigen Massenmenschen", der zu keiner "höheren objektiven Norm" mehr "aufblicke", nach 1933 tatsächlich resultierte: beispielloser "Niedergang", der "vertikale Einfall der Barbarei" (Ortega zitiert hier Walther Rathenau) faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Couleur. Dagegen helfe nur eines: jener individuelle "Charakter", der sich gegen die vermeintlich zwingenden "Umstände" stemme und bereit sei, sich selbst konsequent moralische "Ziele" zu geben und danach aufbauend auch zu handeln.
Vom - recht verstandenen - Moralisieren hängt demnach nicht weniger ab als die Zukunft unserer Gemeinschaft, unserer politischen Kultur. Das vermeintlich altmodische, von bestimmten Aufmerksamkeitszockern oft als wohlfeil oder auch selbstverständlich abgebuchte Moralisieren ist nicht zuletzt deswegen aktuell: Es darf nicht passieren, dass fanatische Keulenschwinger christlicher oder islamischer Provenienz die Leerstelle einer ratlos und auf modische Weise zaghaft gewordenen westlichen Kultur füllen. Die Botschaft der Zehn Gebote ist, gründlich betrachtet, ein moralisches Fundament, das dem Furor sogenannter Fundamentalisten sehr wohl gewachsen ist. Ihre wuchtige Einfachheit überzeugt und täuscht zugleich - sie täuscht insofern, als sie auf harmlose Weise simpel wirkt, wie ein Sentenzenkatalog aus dem Katechismus.
Dabei ist sie alles andere als harmlos, eine tägliche Herausforderung für den modernen Augenblicksmenschen und Gelegenheitsdenker, der glaubt, aus unserer eindrucksvollen wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung folge, dem Menschen sei auch auf anderen Gebieten im Grunde alles möglich und machbar. Die einfache Botschaft der Zehn Gebote hält dagegen: Mag die Natur von uns noch so brillant genutzt und gelenkt werden, am Ende bleiben die physischen und metaphysischen Gegebenheiten unserer Existenz unzugänglich für die Manipulationstriumphe von Computerspielern, denen der Unterschied zwischen Gut und Böse allenfalls als ästhetische Chance wichtig erscheint, um in der jeweils erzählten Geschichte Licht und Schatten zu kontrastieren. Die Botschaft der Zehn Gebote ist jene ethische Unabhängigkeitserklärung des Menschen, die seiner existenziellen Sonderstellung im All entspricht. Die Zehn Gebote sperren den Charakter des Individuums nicht in einen Einheitskäfig, sie sichern vielmehr die moralische Souveränität des Individuums gegen alle gesellschaftlichen Versuche, es als bloßes Mittel für irgendwelche ideologischen Lager oder wirtschaftlichen Zwecke zu missbrauchen. Die Zehn Gebote umgrenzen den heiligen Bezirk ethischer Autonomie, verstanden als humane Selbstbestimmung aus reinen Prinzipien - sie sind der in Sprache gegossene Tempel einer Freiheit, die mehr meint als die Willkür im Kampf aller gegen alle: "das ABC des Menschenbenehmens", den "Felsen des Menschenanstandes", wie Thomas Mann es in seiner Erzählung Das Gesetz formuliert hat.
Darum sind die Zehn Gebote auch von monumentalischer Schönheit - wie ein griechischer Tempel oder eine mittelalterliche Bruchsteinmauer, die einen Kirchhof schützt. An so einer Wand, deren Urbild die Klagemauer von Jerusalem, der Rest eines gewaltigen Tempels, ist, stößt sich das selbstherrliche Subjekt der Moderne regelmäßig die Stirn blutig, ohne zu begreifen, wie ihm geschieht; und wie klein sich sein maschinenschlaues, Facebook-vernetztes, pausenlos plapperndes Computer-Ich gegenüber der Geschichtsmacht von lapidaren Sätzen ausmacht, deren jedes Wort wie in Stein gemeißelt wirkt. Nur diese Zehn Gebote, keine der vielen anderen Lebensvorschriften des Alten Bundes hat Gott selbst auf steinerne Tafeln geschrieben - wie die Bibel betont: zwei Mal!
Die Vielschichtigkeit und Kraft der Zehn Gebote, eines der großen Geschenke der jüdischen Religionsgeschichte an den Rest der Menschheit, wird aber erst bei einer genaueren Betrachtung ihres Wortlauts deutlich.
Wie die Zehn Gebote genau lauten und was sie fordern Gerechtigkeit und Menschenliebe - um beide, auch um die natürliche Spannung zwischen diesen beiden, geht es in den Zehn Geboten. Jeder glaubt, diese Begriffe spontan zu verstehen, dabei stecken viele Bedeutungsschichten in ihnen und je nach der Situation, in der sie konkret werden können, auch beachtliche Widersprüche. Ist der Gerechte nicht oft herzlos, weil er sein Prinzip abgelöst vom komplizierten Fall dieses oder jenes Individuums verfolgen muss? Und ist der Liebende, egal ob emotional oder allgemein humanitär engagiert, nicht ebenso oft ungerecht, indem er sich, zum Beispiel, über den womöglich verheerenden Charakter des jeweils Geliebten hinwegschwingt und sich oft gerade dem Menschen, der seine Zuwendung am ehesten verdient hätte, verweigert? Meint der Begriff der Nächstenliebe vielleicht nicht viel mehr, als dass ich dem Nächsten möglichst gerecht werden muss? Hat, andererseits, der Begriff der Gerechtigkeit nicht auch das Moment des erzwungenen Rechts, der gewaltsamen Triebunterdrückung, ein Moment, das von der Nächstenliebe, die ohne Nachsicht gegenüber menschlicher Schwäche kaum auskommt, weit entfernt zu sein scheint? Und ist das wichtigste aller Gebote, das Tötungsverbot, so klar, wie es zunächst wirkt? Wo exakt verläuft die Grenze zwischen Tötung (die ja im Alten Testament als Strafe für bestimmte Vergehen erlaubt wird) und Mordtat? Was ist mit dem sogar im Christentum traditionell zugelassenen Tyrannenmord? Darf man einen Adolf Hitler nicht auch ohne rechtliche Verurteilung umbringen? Oder darf man ihn lediglich durch Todesdrohung in den Selbstmord treiben?
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Autoren-Porträt von Mathias Schreiber
Mathias Schreiber, geb. 1943 in Berlin, war 14 Jahre lang Leiter des Kulturressorts beim SPIEGEL und arbeitet seit zwei Jahren als Kolumnist des Magazins. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind philosophische und ideengeschichtliche Themen. Er veröffentlichte Bücher über Lyrik-Theorie, moderne Kunst und Architektur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mathias Schreiber
- 2010, 2, 286 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421044864
- ISBN-13: 9783421044860
Rezension zu „Die Zehn Gebote “
»Mathias Schreiber rekonstruiert die faszinierende Geschichte der Zehn Gebote vor dem Hintergrund der antiken Kulturen und im Vergleich mit ähnlichen Vorschriften.«
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