Dornröschenschlaf
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Was würdest du tun, wenn du nicht vergessen kannst? Wenn du nicht weißt, wo deine Liebsten sind?Wenn jede Erinnerung dich zum schrecklichsten Moment deines Lebens führt? Seit der Entführung ihrer Schwester vor vielen Jahren leidet die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Dornröschenschlaf “
Was würdest du tun, wenn du nicht vergessen kannst? Wenn du nicht weißt, wo deine Liebsten sind?Wenn jede Erinnerung dich zum schrecklichsten Moment deines Lebens führt? Seit der Entführung ihrer Schwester vor vielen Jahren leidet die Privatdetektivin Brenna Spector unter einem seltenen Phänomen: Sie kann sich mit allen Sinnen an jede Situation erinnern. Jeden vergangenen Moment zu sehen, zu hören und zu riechen ist ein Segen in ihrem Beruf, aber eine Qual in ihrem Leben. Vor allem, als Brennas neuester Fall zu einem vermissten Mädchen führt ,das auf die gleiche Art verschwand wie ihre eigene Schwester ...
Klappentext zu „Dornröschenschlaf “
Was würdest du tun, wenn du nicht vergessen kannst? Wenn du nicht weißt, wo deine Liebsten sind? Wenn jede Erinnerung dich zum schrecklichsten Moment deines Lebens führt? Seit der Entführung ihrer Schwester vor vielen Jahren leidet die Privatdetektivin Brenna Spector unter einem seltenen Phänomen: Sie kann sich mit allen Sinnen an jede Situation erinnern. Jeden vergangenen Moment zu sehen, zu hören und zu riechen ist ein Segen in ihrem Beruf, aber eine Qual in ihrem Leben. Vor allem, als Brennas neuester Fall zu einem vermissten Mädchen führt, das auf die gleiche Art verschwand wie ihre eigene Schwester ...
Lese-Probe zu „Dornröschenschlaf “
Dornröschenschlaf von Alison GaylinProlog
(20. September 2009)
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Ihr Leben hatte ein »Davor« und ein »Danach«. Carol Wentz hatte es bisher nie so empfunden, aber mit dem Verstreichen der Zeit sieht man die Dinge anders, und zehn Jahre später konnte sie ihn erkennen: den Moment, bevor sie die kleine Neff hatte verschwinden lassen. Und den Moment danach.
Eine klare, saubere Zäsur.
Einundvierzig Jahre lang hatte Carols Leben sich von einem Tag zum anderen bewegt, ohne dass auch nur ein einziger Moment wirklich bemerkenswert gewesen wäre - sie war kinderlos und führte eine Ehe, in die sie einfach irgendwie hineingeglitten war, durch eine schlichte Trauung auf dem Standesamt, die an einem Mittwoch in der Mittagspause stattgefunden hatte, nachdem sie schon beinahe ein Jahrzehnt Nelsons Lebensgefährtin gewesen war. Weil sich so viel Geld für die Krankenkasse sparen ließ. Wahrscheinlich könnte sie die Zeit auch in die Jahre vor und seit Beginn ihres Zusammenlebens unterteilen - in die Jahre ihres Single-Daseins und die Zeit als Partnerin-, aber wenn sie ehrlich war, gab es da kaum einen Unterschied. Jeder Tag zog sich unendlich hin und hörte damit auf, dass Carol immer noch dieselbe alte Carol war - die Carol, die sie bereits in der Grundschule gewesen war, klapperdürr und x-beinig und fast immer allein.
Wobei seit dem Labor Day im September 1998 alles anders und vor allem Carol eine andere war. Nun, das war sie vielleicht immer schon gewesen, nur dass es ihr vorher nie bewusst gewesen war. Was hätte sie wohl in ihrem Buchclub über sich gesagt? Ein unsympathischer Charakter. Schwach und kleinkariert. Ich nehme ihr ihre Beweggründe nicht ab. Schließlich war das Mädchen erst sechs Jahre alt.
Carol dachte äußerst ungern an den Tag zurück. Doch es gab auch viel anderes, was sie äußerst ungern tat: zum Beispiel den Truthahn für das Thanksgiving-Essen ihrer Kirche zubereiten, die Katzen ihrer Nachbarn füttern, wenn diese im Urlaub waren, ihnen Starthilfe geben, wenn die Batterie des Wagens streikte, kurzfristig ihre Kinder von der Schule abholen, wenn sie selbst verhindert waren. Trotzdem tat sie all diese Dinge, ohne sich jemals darüber zu beschweren.
Früher war sie nicht so hilfsbereit gewesen. Bevor sie das Neff-Mädchen hatte verschwinden lassen, hatte sich ihre Rolle in der Nachbarschaft darauf beschränkt, dass sie allen anderen möglichst aus dem Weg gegangen war. Jetzt aber war sie die Hilfsbereitschaft in Person, jemand, zu dem man mit sämtlichen Problemen ging, und alle in der Gegend - sogar Nelson - taten so, als wäre das nicht neu. Als wäre das schon immer eine ihrer ureigensten Eigenschaften gewesen, obwohl es in Wahrheit nur ein Teil ihrer Buße war. Ein Symptom der Zeit »danach«.
Der wichtige Teil des Tages begann damit, dass die kleine Neff auf dem Grillfest bei Theresa und Mark Koppelson zu ihr gekommen war. Carol war allein gewesen. Als sie Nelson zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er mit der Mutter des Mädchens, Lydia, gesprochen, die beim Grillen half. »Du siehst unglaublich aus«, hatte er zu ihr gesagt. Unglaublich, so, als hätte er Lydia Neff seit Jahren nicht gesehen und als trüge sie nicht eine mit Barbecue-Sauce verschmierte Schürze über abgewetzten Jeans.
Die beiden hatten Carol nicht bemerkt, weshalb sie, vorgeblich auf der Suche nach dem Bad, klammheimlich verschwunden war. Und wieder einmal hatte sie sich so gefühlt, als hielte jemand eine riesengroße Lupe über sie und verfolge jede ihrer Gesten ganz genau.
Sie war gerade durch die Küchentür getreten, als sie eine Berührung an ihrem Bein gespürt hatte und stehen geblieben war. Lydias Tochter Iris hatte aus den schwarz glänzenden, harten, durchdringenden Augen ihrer Mutter zu ihr aufgesehen. Carol hatte die Zähne aufeinandergebissen und ein Kribbeln auf der Kopfhaut verspürt. Wieder hatte sie an dieses Wort gedacht. Unglaublich.
»Was willst du, Iris?«, hatte sie gefragt.
»Saft.« Kein Bitte, aber sie hatte nicht unhöflich geklungen, sondern eher kleinlaut, wenn sich Carol recht entsann. Weshalb Carol vor die rote Kühlbox, die Theresa Koppelson neben den Kühlschrank gestellt hatte, getreten war. Auf dem daraufliegenden Schild hatte GETRÄNKE FÜR KINDER gestanden, und Carol hatte den Deckel aufgeklappt und auf die bunten kleinen Trinkpäckchen gestarrt, die wie Konfetti auf den Dosen mit Sprite und Orangenlimonade gelegen hatten. Von jedem der Trinkpäckchen hatten sie fröhliche Comic-Früchte angestrahlt. Carol hatte die Getränkemarke nicht gekannt. Natürlich war sie keine Mutter und erinnerte sich kaum an ihre eigene Kindheit, weshalb sie all diese speziell für junge Menschen gemachten Dinge vollkommen verwirrend fand. Warum mussten Kinder überhaupt Saft aus Tüten trinken? Und was war an Früchten mit Augen toll?
Sie hatte eines der Trinkpäckchen - grün, mit einem lächelnden Apfel mit Hasenzähnen bedruckt - aus der Kühlbox gerissen und dem Mädchen in die Hand gedrückt.
»Hier.«
Iris hatte das Gesicht verzogen.
»Was?«
»Das ist Apfelsaft«, hatte die Kleine ihr erklärt. »Ich will aber Orange-Ananas.«
Carols Blick war vom Gesicht des Mädchens in Richtung der Küchentür gewandert, durch deren kleines Fenster Lydias schimmernd schwarzes Haar und Nelson zu sehen gewesen waren. Er hatte sich dicht über sie gebeugt, wie um sie besser zu verstehen.
»Orange-Ananas«, hatte Iris wiederholt.
»Ich bin nicht deine Mutter. Hol dir dein Getränk gefälligst selbst.«
Die schwarzen Augen waren riesengroß geworden.
Carol hatte angefangen zu schwitzen, und es war ihr vorgekommen, als hinge ihre Stimme wie ein übler Geruch im Raum. Was bin ich nur für ein Mensch?, hatte sie sich gefragt. Was ist nur plötzlich mit mir los? Aus irgendeinem Grund hatten diese Gedanken sie wütend auf Iris gemacht, und dafür hatte sie sich noch mehr geschämt. »Ich ... ich ... ich hole dir den Saft.«
Doch bis sie wieder vor die Kühlbox getreten war und einen neuen Karton herausgenommen hatte - mit einer zwinkernden, baseballmützenbewehrten Ananas und einer puppengesichtigen Orange -, hatte sich das kleine Mädchen bereits aus dem Staub gemacht.
Carol starrte auf die Unterlagen, die sie in den Händen hielt - ein weiteres Symptom der Zeit »danach«, das jedoch noch schmerzlicher als ihre Hilfsbereitschaft für sie war. Sie hatte ein Feuer angezündet - das erste Feuer dieses Herbstes - und hätte beinahe die Papiere hineingeworfen, einfach um der Freude willen mit anzusehen, wie sie sich in Asche verwandelten. Denn auf jeden Fall wäre es besser, als sie durchzulesen, wusste sie. Warum etwas lesen, was ihr sicher auch nicht weiterhalf? Schließlich hatte ihre fünfjährige Suche nach dem Mädchen bisher nicht das mindeste erbracht.
Doch sie brachte es nicht über sich, die Dokumente zu verbrennen. Und so trat sie vor die Tür neben dem Buchregal, öffnete den kleinen Raum, der für Nelson einfach nur die Utensilien für ihre Handarbeiten barg, und griff nach der kleinen schwarzen Truhe, die unter den Taschen mit den Stricksachen verborgen war. Sie klappte den Deckel auf, nahm die bunten Stoffschnipsel und zu farbenfrohen Klumpen zusammengenähten Vierecke, die Garnrollen, die Musterbücher und die hölzerne Nadeldose (lauter Überreste der Quilt-Fertigungsphase, die sie fünfzehn Jahre zuvor durchlaufen hatte) heraus, löste das Stück Pappe, das sie passend für den Truhenboden zurechtgeschnitten hatte, und legte den Stapel Papiere hinein. Legte ihn ungelesen auf die vielen anderen Stapel, die sie niemals hätte lesen sollen, drückte dann das Pappviereck zurück an seinen Platz und packte alles wieder ein, bis das Behältnis wieder einfach ihre Quilt-Zubehör-Truhe war.
Die neuen Papiere hatte sie von Mr Klavel - einem frettchenhaften Kerl mit einem im Souterrain gelegenen Büro im benachbarten Mount Temple, einer hohen, schweißglänzenden Stirn und einem derart schlechten Atem, dass man beinahe hätte meinen können, dass es Absicht war. Mr Klavel, der letzte einer ganzen Reihe billiger Privatdetektive, die Carol heimlich angeheuert hatte, und wahrscheinlich der unsensibelste Mensch, dem sie jemals begegnet war.
»Die Früchte meiner Arbeit«, hatte er gesagt, als er mit den zehn Jahre alten Polizeiakten, einem Foto von Iris als Schulanfängerin, Mitschnitten von Telefongesprächen sowie den Adressen bekannter Pädophiler, die zehn Jahre zuvor in einem Umkreis von zwanzig Meilen von Carols Heim in Tarry Ridge, New York, gelebt hatten, zu ihrer Besprechung gekommen war, »sind alle faul.« Auch wenn Carol es immer noch nicht glauben konnte, hatte er das tatsächlich gesagt.
Nachdem Carol die Truhe wieder geschlossen und zurück ins Regal geschoben hatte, starrte sie reglos auf die Tür. Noch immer hallten Mr Klavels Worte in ihren Gedanken nach.
»Du hast ein Feuer gemacht?«, drang plötzlich Nelsons Stimme an ihr Ohr.
Sie zuckte zusammen. Nelson schlich sich immer völlig lautlos an. Doch er spionierte ihr bestimmt nicht nach, stellte ihr auch praktisch niemals irgendwelche Fragen, und wenn er es doch mal tat, kam ihr sein Verhalten eher wie ein Zeichen von Gewohnheit als wie Neugier vor. Er bewegte sich einfach derart sacht, als wolle er den Teppich nicht dadurch belasten, dass er mit seinem ganzen Gewicht auftrat.
Trotzdem hätte sie ihn fast gefragt: Seit wann bist du schon hier? Was hast du gesehen? Dann aber bemerkte sie, dass sein Gesicht dieselbe gleichgültige Akzeptanz wie sonst verriet, wenn er nach Hause kam, und war beruhigt. »Mir war kalt.« Sie wandte ihrem Mann den Rücken zu, trat ans Fenster und blickte hinaus.
Nach dem Grillfest bei den Koppelsons war das Licht der Abendsonne durch das Fenster in den Raum gefallen und hatte ihn in goldenes Licht getaucht. Wenn sie sich konzentrierte, konnte Carol immer noch den unwirklichen Glanz von vor elf Jahren sehen, konnte noch immer hören, wie Nelson die Treppe hinauf zu seinem Computer floh, wie er es noch heute immer tat, wenn er nach Hause kam.
Unglaublich. Hatte Nelson Carol jemals so genannt? Bevor oder nachdem Iris verschwunden war?
Wenn Carol ihre Augen fest zusammenkniff, konnte sie zurückkehren ins »Bevor« - zu den allerletzten Augenblicken des »Bevor«, als die goldene Sonne untergegangen war und sie selbst die Tür des Wohnzimmers geschlossen hatte, weil von draußen kühle Luft hereingekommen war. Sie konnte aus dem Fenster blicken und die beiden kleinen Mädchen sehen, die Hand in Hand über die Straße gegangen waren. Zwei Kinder allein im Sonnenuntergang, die Größere mit schimmernd schwarzem Haar wie ihre Mutter Lydia.
Carol kniff die Augen zu. »Geh weg«, befahl sie der Erinnerung.
»Was?«, fragte Nelson sie.
Sie musste mühsam schlucken, weil ihr Mund wie ausgetrocknet war. »Nichts.«
Tage, Wochen, Monate, nachdem Iris verschwunden war, hatte Carol hier gestanden und gewartet, und sobald das Telefon geklingelt hatte, hatte ihr Herzschlag ausgesetzt.
Doch es hatte niemand angerufen, und sie hatte ihr Geheimnis monate- und jahrelang bewahrt, während die Suchtrupps weniger geworden waren und Lydia Neff ruhig und schwer, der Glanz in ihren schwarzen Augen trüb und ihr Haar so stumpf und grau geworden war, dass sie nur noch wie eine verblichene Kopie der alten Lydia und derart mitleiderweckend ausgesehen hatte, dass noch nicht mal Nelson ihr noch hatte in die Augen sehen können, wenn er ihr begegnet war. Zwei Jahre zuvor - drei Jahre nachdem die Polizei den Fall offiziell zu den Akten gelegt hatte - hatte Lydia die Stadt verlassen. Wohin sie gezogen war, hatte sie niemandem gesagt.
Du hast bekommen, was du wolltest, sagte eine gehässige, leise Stimme in Carols Kopf. Keine Iris und auch keine Lydia mehr. Du hast es geschehen lassen, und du kannst es niemals wiedergutmachen.
»Ich gehe ins Bett«, verabschiedete sich Nelson.
Carol kniff die Augen noch ein wenig fester zu. »Okay. Ich glaube, ich lese noch ein bisschen.«
Keine Antwort. Weil ihr Mann schon oben war. Carol schnappte sich das Buch, das sie gerade für ihre Gruppe las - Die Jahre der Veränderung von Abigail Thomas. Sie schlug es auf der markierten Seite auf und ließ ihre Augen über die Wörter wandern, während sie auf das Rauschen des Wassers, das Ächzen der Rohre, das Summen von Nelsons elektrischer Zahnbürste im oberen Badezimmer lauschte ... Denn so talentiert sie zwischenzeitlich im Bewahren von Geheimnissen auch war, war sie noch immer eine jämmerliche Lügnerin und kam sich irgendwie ein bisschen weniger verlogen vor, wenn sie wenigstens vorübergehend tat, was sie gesagt hatte.
Schließlich verstummten die Geräusche im Bad, und Carol hörte das leichte Quietschen der Holzdielen im Flur, das leise Scharren, mit dem die Schlafzimmertür über den Teppich strich, und schließlich das Knarzen des Betts, als Nelson unter die Decke kroch. Sie klappte ihr Buch zu,...
Ihr Leben hatte ein »Davor« und ein »Danach«. Carol Wentz hatte es bisher nie so empfunden, aber mit dem Verstreichen der Zeit sieht man die Dinge anders, und zehn Jahre später konnte sie ihn erkennen: den Moment, bevor sie die kleine Neff hatte verschwinden lassen. Und den Moment danach.
Eine klare, saubere Zäsur.
Einundvierzig Jahre lang hatte Carols Leben sich von einem Tag zum anderen bewegt, ohne dass auch nur ein einziger Moment wirklich bemerkenswert gewesen wäre - sie war kinderlos und führte eine Ehe, in die sie einfach irgendwie hineingeglitten war, durch eine schlichte Trauung auf dem Standesamt, die an einem Mittwoch in der Mittagspause stattgefunden hatte, nachdem sie schon beinahe ein Jahrzehnt Nelsons Lebensgefährtin gewesen war. Weil sich so viel Geld für die Krankenkasse sparen ließ. Wahrscheinlich könnte sie die Zeit auch in die Jahre vor und seit Beginn ihres Zusammenlebens unterteilen - in die Jahre ihres Single-Daseins und die Zeit als Partnerin-, aber wenn sie ehrlich war, gab es da kaum einen Unterschied. Jeder Tag zog sich unendlich hin und hörte damit auf, dass Carol immer noch dieselbe alte Carol war - die Carol, die sie bereits in der Grundschule gewesen war, klapperdürr und x-beinig und fast immer allein.
Wobei seit dem Labor Day im September 1998 alles anders und vor allem Carol eine andere war. Nun, das war sie vielleicht immer schon gewesen, nur dass es ihr vorher nie bewusst gewesen war. Was hätte sie wohl in ihrem Buchclub über sich gesagt? Ein unsympathischer Charakter. Schwach und kleinkariert. Ich nehme ihr ihre Beweggründe nicht ab. Schließlich war das Mädchen erst sechs Jahre alt.
Carol dachte äußerst ungern an den Tag zurück. Doch es gab auch viel anderes, was sie äußerst ungern tat: zum Beispiel den Truthahn für das Thanksgiving-Essen ihrer Kirche zubereiten, die Katzen ihrer Nachbarn füttern, wenn diese im Urlaub waren, ihnen Starthilfe geben, wenn die Batterie des Wagens streikte, kurzfristig ihre Kinder von der Schule abholen, wenn sie selbst verhindert waren. Trotzdem tat sie all diese Dinge, ohne sich jemals darüber zu beschweren.
Früher war sie nicht so hilfsbereit gewesen. Bevor sie das Neff-Mädchen hatte verschwinden lassen, hatte sich ihre Rolle in der Nachbarschaft darauf beschränkt, dass sie allen anderen möglichst aus dem Weg gegangen war. Jetzt aber war sie die Hilfsbereitschaft in Person, jemand, zu dem man mit sämtlichen Problemen ging, und alle in der Gegend - sogar Nelson - taten so, als wäre das nicht neu. Als wäre das schon immer eine ihrer ureigensten Eigenschaften gewesen, obwohl es in Wahrheit nur ein Teil ihrer Buße war. Ein Symptom der Zeit »danach«.
Der wichtige Teil des Tages begann damit, dass die kleine Neff auf dem Grillfest bei Theresa und Mark Koppelson zu ihr gekommen war. Carol war allein gewesen. Als sie Nelson zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er mit der Mutter des Mädchens, Lydia, gesprochen, die beim Grillen half. »Du siehst unglaublich aus«, hatte er zu ihr gesagt. Unglaublich, so, als hätte er Lydia Neff seit Jahren nicht gesehen und als trüge sie nicht eine mit Barbecue-Sauce verschmierte Schürze über abgewetzten Jeans.
Die beiden hatten Carol nicht bemerkt, weshalb sie, vorgeblich auf der Suche nach dem Bad, klammheimlich verschwunden war. Und wieder einmal hatte sie sich so gefühlt, als hielte jemand eine riesengroße Lupe über sie und verfolge jede ihrer Gesten ganz genau.
Sie war gerade durch die Küchentür getreten, als sie eine Berührung an ihrem Bein gespürt hatte und stehen geblieben war. Lydias Tochter Iris hatte aus den schwarz glänzenden, harten, durchdringenden Augen ihrer Mutter zu ihr aufgesehen. Carol hatte die Zähne aufeinandergebissen und ein Kribbeln auf der Kopfhaut verspürt. Wieder hatte sie an dieses Wort gedacht. Unglaublich.
»Was willst du, Iris?«, hatte sie gefragt.
»Saft.« Kein Bitte, aber sie hatte nicht unhöflich geklungen, sondern eher kleinlaut, wenn sich Carol recht entsann. Weshalb Carol vor die rote Kühlbox, die Theresa Koppelson neben den Kühlschrank gestellt hatte, getreten war. Auf dem daraufliegenden Schild hatte GETRÄNKE FÜR KINDER gestanden, und Carol hatte den Deckel aufgeklappt und auf die bunten kleinen Trinkpäckchen gestarrt, die wie Konfetti auf den Dosen mit Sprite und Orangenlimonade gelegen hatten. Von jedem der Trinkpäckchen hatten sie fröhliche Comic-Früchte angestrahlt. Carol hatte die Getränkemarke nicht gekannt. Natürlich war sie keine Mutter und erinnerte sich kaum an ihre eigene Kindheit, weshalb sie all diese speziell für junge Menschen gemachten Dinge vollkommen verwirrend fand. Warum mussten Kinder überhaupt Saft aus Tüten trinken? Und was war an Früchten mit Augen toll?
Sie hatte eines der Trinkpäckchen - grün, mit einem lächelnden Apfel mit Hasenzähnen bedruckt - aus der Kühlbox gerissen und dem Mädchen in die Hand gedrückt.
»Hier.«
Iris hatte das Gesicht verzogen.
»Was?«
»Das ist Apfelsaft«, hatte die Kleine ihr erklärt. »Ich will aber Orange-Ananas.«
Carols Blick war vom Gesicht des Mädchens in Richtung der Küchentür gewandert, durch deren kleines Fenster Lydias schimmernd schwarzes Haar und Nelson zu sehen gewesen waren. Er hatte sich dicht über sie gebeugt, wie um sie besser zu verstehen.
»Orange-Ananas«, hatte Iris wiederholt.
»Ich bin nicht deine Mutter. Hol dir dein Getränk gefälligst selbst.«
Die schwarzen Augen waren riesengroß geworden.
Carol hatte angefangen zu schwitzen, und es war ihr vorgekommen, als hinge ihre Stimme wie ein übler Geruch im Raum. Was bin ich nur für ein Mensch?, hatte sie sich gefragt. Was ist nur plötzlich mit mir los? Aus irgendeinem Grund hatten diese Gedanken sie wütend auf Iris gemacht, und dafür hatte sie sich noch mehr geschämt. »Ich ... ich ... ich hole dir den Saft.«
Doch bis sie wieder vor die Kühlbox getreten war und einen neuen Karton herausgenommen hatte - mit einer zwinkernden, baseballmützenbewehrten Ananas und einer puppengesichtigen Orange -, hatte sich das kleine Mädchen bereits aus dem Staub gemacht.
Carol starrte auf die Unterlagen, die sie in den Händen hielt - ein weiteres Symptom der Zeit »danach«, das jedoch noch schmerzlicher als ihre Hilfsbereitschaft für sie war. Sie hatte ein Feuer angezündet - das erste Feuer dieses Herbstes - und hätte beinahe die Papiere hineingeworfen, einfach um der Freude willen mit anzusehen, wie sie sich in Asche verwandelten. Denn auf jeden Fall wäre es besser, als sie durchzulesen, wusste sie. Warum etwas lesen, was ihr sicher auch nicht weiterhalf? Schließlich hatte ihre fünfjährige Suche nach dem Mädchen bisher nicht das mindeste erbracht.
Doch sie brachte es nicht über sich, die Dokumente zu verbrennen. Und so trat sie vor die Tür neben dem Buchregal, öffnete den kleinen Raum, der für Nelson einfach nur die Utensilien für ihre Handarbeiten barg, und griff nach der kleinen schwarzen Truhe, die unter den Taschen mit den Stricksachen verborgen war. Sie klappte den Deckel auf, nahm die bunten Stoffschnipsel und zu farbenfrohen Klumpen zusammengenähten Vierecke, die Garnrollen, die Musterbücher und die hölzerne Nadeldose (lauter Überreste der Quilt-Fertigungsphase, die sie fünfzehn Jahre zuvor durchlaufen hatte) heraus, löste das Stück Pappe, das sie passend für den Truhenboden zurechtgeschnitten hatte, und legte den Stapel Papiere hinein. Legte ihn ungelesen auf die vielen anderen Stapel, die sie niemals hätte lesen sollen, drückte dann das Pappviereck zurück an seinen Platz und packte alles wieder ein, bis das Behältnis wieder einfach ihre Quilt-Zubehör-Truhe war.
Die neuen Papiere hatte sie von Mr Klavel - einem frettchenhaften Kerl mit einem im Souterrain gelegenen Büro im benachbarten Mount Temple, einer hohen, schweißglänzenden Stirn und einem derart schlechten Atem, dass man beinahe hätte meinen können, dass es Absicht war. Mr Klavel, der letzte einer ganzen Reihe billiger Privatdetektive, die Carol heimlich angeheuert hatte, und wahrscheinlich der unsensibelste Mensch, dem sie jemals begegnet war.
»Die Früchte meiner Arbeit«, hatte er gesagt, als er mit den zehn Jahre alten Polizeiakten, einem Foto von Iris als Schulanfängerin, Mitschnitten von Telefongesprächen sowie den Adressen bekannter Pädophiler, die zehn Jahre zuvor in einem Umkreis von zwanzig Meilen von Carols Heim in Tarry Ridge, New York, gelebt hatten, zu ihrer Besprechung gekommen war, »sind alle faul.« Auch wenn Carol es immer noch nicht glauben konnte, hatte er das tatsächlich gesagt.
Nachdem Carol die Truhe wieder geschlossen und zurück ins Regal geschoben hatte, starrte sie reglos auf die Tür. Noch immer hallten Mr Klavels Worte in ihren Gedanken nach.
»Du hast ein Feuer gemacht?«, drang plötzlich Nelsons Stimme an ihr Ohr.
Sie zuckte zusammen. Nelson schlich sich immer völlig lautlos an. Doch er spionierte ihr bestimmt nicht nach, stellte ihr auch praktisch niemals irgendwelche Fragen, und wenn er es doch mal tat, kam ihr sein Verhalten eher wie ein Zeichen von Gewohnheit als wie Neugier vor. Er bewegte sich einfach derart sacht, als wolle er den Teppich nicht dadurch belasten, dass er mit seinem ganzen Gewicht auftrat.
Trotzdem hätte sie ihn fast gefragt: Seit wann bist du schon hier? Was hast du gesehen? Dann aber bemerkte sie, dass sein Gesicht dieselbe gleichgültige Akzeptanz wie sonst verriet, wenn er nach Hause kam, und war beruhigt. »Mir war kalt.« Sie wandte ihrem Mann den Rücken zu, trat ans Fenster und blickte hinaus.
Nach dem Grillfest bei den Koppelsons war das Licht der Abendsonne durch das Fenster in den Raum gefallen und hatte ihn in goldenes Licht getaucht. Wenn sie sich konzentrierte, konnte Carol immer noch den unwirklichen Glanz von vor elf Jahren sehen, konnte noch immer hören, wie Nelson die Treppe hinauf zu seinem Computer floh, wie er es noch heute immer tat, wenn er nach Hause kam.
Unglaublich. Hatte Nelson Carol jemals so genannt? Bevor oder nachdem Iris verschwunden war?
Wenn Carol ihre Augen fest zusammenkniff, konnte sie zurückkehren ins »Bevor« - zu den allerletzten Augenblicken des »Bevor«, als die goldene Sonne untergegangen war und sie selbst die Tür des Wohnzimmers geschlossen hatte, weil von draußen kühle Luft hereingekommen war. Sie konnte aus dem Fenster blicken und die beiden kleinen Mädchen sehen, die Hand in Hand über die Straße gegangen waren. Zwei Kinder allein im Sonnenuntergang, die Größere mit schimmernd schwarzem Haar wie ihre Mutter Lydia.
Carol kniff die Augen zu. »Geh weg«, befahl sie der Erinnerung.
»Was?«, fragte Nelson sie.
Sie musste mühsam schlucken, weil ihr Mund wie ausgetrocknet war. »Nichts.«
Tage, Wochen, Monate, nachdem Iris verschwunden war, hatte Carol hier gestanden und gewartet, und sobald das Telefon geklingelt hatte, hatte ihr Herzschlag ausgesetzt.
Doch es hatte niemand angerufen, und sie hatte ihr Geheimnis monate- und jahrelang bewahrt, während die Suchtrupps weniger geworden waren und Lydia Neff ruhig und schwer, der Glanz in ihren schwarzen Augen trüb und ihr Haar so stumpf und grau geworden war, dass sie nur noch wie eine verblichene Kopie der alten Lydia und derart mitleiderweckend ausgesehen hatte, dass noch nicht mal Nelson ihr noch hatte in die Augen sehen können, wenn er ihr begegnet war. Zwei Jahre zuvor - drei Jahre nachdem die Polizei den Fall offiziell zu den Akten gelegt hatte - hatte Lydia die Stadt verlassen. Wohin sie gezogen war, hatte sie niemandem gesagt.
Du hast bekommen, was du wolltest, sagte eine gehässige, leise Stimme in Carols Kopf. Keine Iris und auch keine Lydia mehr. Du hast es geschehen lassen, und du kannst es niemals wiedergutmachen.
»Ich gehe ins Bett«, verabschiedete sich Nelson.
Carol kniff die Augen noch ein wenig fester zu. »Okay. Ich glaube, ich lese noch ein bisschen.«
Keine Antwort. Weil ihr Mann schon oben war. Carol schnappte sich das Buch, das sie gerade für ihre Gruppe las - Die Jahre der Veränderung von Abigail Thomas. Sie schlug es auf der markierten Seite auf und ließ ihre Augen über die Wörter wandern, während sie auf das Rauschen des Wassers, das Ächzen der Rohre, das Summen von Nelsons elektrischer Zahnbürste im oberen Badezimmer lauschte ... Denn so talentiert sie zwischenzeitlich im Bewahren von Geheimnissen auch war, war sie noch immer eine jämmerliche Lügnerin und kam sich irgendwie ein bisschen weniger verlogen vor, wenn sie wenigstens vorübergehend tat, was sie gesagt hatte.
Schließlich verstummten die Geräusche im Bad, und Carol hörte das leichte Quietschen der Holzdielen im Flur, das leise Scharren, mit dem die Schlafzimmertür über den Teppich strich, und schließlich das Knarzen des Betts, als Nelson unter die Decke kroch. Sie klappte ihr Buch zu,...
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Autoren-Porträt von Alison Gaylin
Alison Gaylin lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in den USA.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alison Gaylin
- 2012, 464 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hege, Uta
- Übersetzer: Uta Hege
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283780
- ISBN-13: 9783548283784
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