Ein irischer Sommer
Das einst so verschlafene Dorf Lissamore an der Westküste Irlands wird gehörig durcheinandergewirbelt, als dort ein Hollywood-Film gedreht wird. Gute Zeiten für Fleur O’Farrell und ihre kleine Boutique am Hafen. Doch ob es eine gute...
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Produktinformationen zu „Ein irischer Sommer “
Das einst so verschlafene Dorf Lissamore an der Westküste Irlands wird gehörig durcheinandergewirbelt, als dort ein Hollywood-Film gedreht wird. Gute Zeiten für Fleur O’Farrell und ihre kleine Boutique am Hafen. Doch ob es eine gute Idee war, eine Affäre mit einem der Filmproduzenten anzufangen? Was für ein Glück, dass Fleur ihre Freundinnen Dervla und Río an ihrer Seite hat! Dabei gibt es im Leben beiden weiß Gott schon genug Turbulenzen.
"Wunderbarer Lesestoff für alle Töchter und Mütter."
Marian Keyes
"Wunderbarer Lesestoff für alle Töchter und Mütter."
Marian Keyes
Lese-Probe zu „Ein irischer Sommer “
Ein irischer Sommer von Kate ThompsonAus dem Englischen von Marie Henriksen
1
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Fleur O'Farrell kam sich dumm vor. Sie stand vor dem Schrank in ihrem Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel. Normalerweise gab sie sich viel Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung, aber an diesem Nachmittag trug sie einen geblümten Rock über einem gerüschten Petticoat, einen kirschroten Kummerbund und eine weit ausgeschnittene Bluse. Sie war barfüßig, hatte einen Seidenschal um ihre Schultern geschlungen und trug große vergoldete Kreolen an den Ohren. Die Krönung des Ganzen war die Perücke: eine Esmeralda-Perücke aus künstlichen schwarzen Locken. Sie sah aus wie eine Statistin aus einer zweitklassigen Carmen-Inszenierung.
Ihre Freundin Río Kinsella hatte sie dazu überredet, auf dem diesjährigen Festival von Lissamore die Wahrsagerin zu spielen. Río machte das normalerweise selbst, aber in diesem Sommer steckte sie bis zum Hals in Arbeit und hatte wirklich keine Zeit. Also hatte sie Fleur mit ihrem Kostüm ausgestattet und ihr auch ihre Kristallkugel geliehen, dazu eine Tischdecke aus Samt und ein Lehrbuch mit dem Titel Die Zukunft lesen lernen - in sechs Lektionen. Auf dem Innentitel war zu lesen, dass dieses Meisterwerk aus dem Jahr 1928 stammte.
Fleur wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und griff nach dem abgenutzten Buch. Auf dem Umschlag prangte eine dunkeläugige Schönheit, die in eine Glaskugel starrte, und hinten auf dem Buch hieß es: »Fehlt Ihnen Selbstbewusstsein, sind Sie arbeitslos oder ohne Lebensmut? Sind Sie bereit für die Zukunft oder stochern Sie blind im Nebel? Wünschen Sie sich Gesundheit, Glück und Erfolg?«
Offenbar hatte sich seit 1928 nicht viel verändert. Die Menschen stellten immer noch dieselben Fragen, hatten immer noch dieselben Hoffnungen und Wünsche. Heutzutage jedoch starrten sie in der Regel nicht mehr in Glaskugeln, sondern rollten ihre Yoga-Matten aus oder steckten sich Hopi-Kerzen in die Ohren, die ihnen bei ihrer Nabelschau behilflich sein sollten. Nein, im Grunde war alles beim Alten geblieben, dachte Fleur.
Hip Hop drang durch das offene Fenster an ihr Ohr. Ein Jugendlicher fuhr müßig die Hauptstraße entlang, posierte lässig hinter dem Steuer seines Cabrios und wartete darauf, zu sehen und gesehen zu werden. Es war Hochsaison, und deshalb war durchaus einiges geboten. Mädchen in angesagten Markenklamotten spazierten am Wasser entlang, saßen auf der Hafenmauer, hingen gemeinsam an iPods, schwatzten in ihre Handys oder lasen E-Mails. Hübsche Mädchen mit Fitnessstudiofiguren, Bräune aus der Spraydose und GHD-gepflegten Haaren, Designerbrillen und passenden Taschen. Teure Mädchen, deren Väter die Boutiquenrechnungen bezahlten und deren Mütter sich genauso anzogen wie die Töchter. Mädchen, die keine Ahnung hatten, was das Wort »Rezession« bedeutete.
Lissamore war normalerweise gar nicht der Ort, an dem sich so viel Schickeria tummelte. Das Dorf war eher die Spielwiese für die Eltern, Erholungsort für die abgespannten Bewohner der teuren Viertel von Dublin, die einen Sommermonat oder die Weihnachtswoche hier verbrachten. Der Nachwuchs verschwand, sobald die ersehnte Volljährigkeit erreicht war, eher an die hippen Locations auf dem Kontinent oder in Amerika.
In diesem Sommer allerdings war das Dorf mega-in, weil ein Film in der Umgebung gedreht wurde. Möchtegern-Filmstars hatten sich scharenweise eingefunden, nachdem in einem Artikel in einer überregionalen Zeitung erwähnt worden war, dass noch Statisten gesucht wurden. In dem Film Die Affäre O'Hara ging es um Gerard O'Hara, den Vater von Scarlett O'Hara aus Vom Winde verweht. Aber vor allem der Hauptdarsteller war eine Attraktion: Shane Byrne, Lokalmatador und Irlands Antwort auf Johnny Depp.
In wirtschaftlich düsteren Zeiten war der Film ein Segen für das Dorf. Viele Leute aus dem Ort, die nach dem Zusammenbruch der Bauindustrie arbeitslos geworden waren, konnten als Zimmerleute, Maler und Beleuchter arbeiten, arbeitslose Jugendliche wurden als Hilfskräfte eingestellt, und die leidende Gastronomie lebte ebenfalls auf. Die Hauptdarstellerin war schon ein paar Mal in Fleurs Laden gewesen, Río konnte in der Requisite mitarbeiten, und selbst Fleurs Liebster Corban war mit dabei, wenn auch eher am Rande. Er war der Produzent des Films, sein künstlerischer Beitrag war also eher klein, aber dafür saß er auf dem Geld: Da er die Produktion mitfinanziert hatte, war er ein wichtiger Faktor.
»Hat er schon zurückgeschrieben?« Eine Mädchenstimme, Typ Prinzessin, wenn man nach dem Akzent gehen durfte.
»Nein«, kam die mürrische Antwort.
Fleur reckte ein wenig den Hals und schaute hinunter. Auf dem Fensterbrett ihres Schaufensters saßen zwei Mädchen. Das Mädchen mit dem Dubliner Akzent kannte sie, es war in den letzten zwei Wochen schon mindestens ein halbes Dutzend Mal im Laden gewesen und hatte sich bei den teuren kleinen Fummeln aus Seide und Tüll bedient, immer mit der goldenen Kreditkarte ihres Vaters.
»Hast du bei deiner letzten SMS ein Fragezeichen ans Ende gesetzt?«
»Ja.«
»Mist, dann kannst du ihm jetzt nicht noch mal schreiben, Emily. Er ist dran.«
»Ich weiß. Ich hätte das blöde Fragezeichen nicht setzen dürfen. Er ignoriert mich total, der Scheißkerl.«
»Wie viele x hast du gemacht?«
»Drei. Aber zwei in kleinen Buchstaben.«
»Hm, das ist ganz schön heavy. Ich würde beim nächsten Mal nur die zwei kleinen machen.«
»Wenn es ein nächstes Mal gibt. Heute früh war auf seiner Facebook-Seite ein Kommentar von dieser Australierin.«
»Oh-oh ...«
Fleur hätte sich am liebsten aus dem Fenster gelehnt und runtergerufen: »Wie wär's denn mal mit Telefonieren?« Aber sie wusste, die Regeln der Handy-Etikette ließen das nicht zu. Sie konnte nicht verstehen, wie die Kids heutzutage mit der Ungewissheit zurechtkamen, mit dem emotionalen Aufruhr, den SMS hervorriefen. Es musste eine Art verschärftes Fegefeuer sein, solche Botschaften durch den Äther zu schicken, wie Tischtennis in Zeitlupe.
Allerdings hing Fleur ebenso sklavisch an ihrem Telefon wie die Mädchen da unten, das war ihr klar. Als ihr Handy den Signalton für eine neue SMS hören ließ, griff sie sofort zu, um die neue Nachricht von ihrer Nichte Daisy zu lesen: »Hey, Flirty! Bin unterwegs mit Kuchen & Wein XXX«
Fleurs zweiter Vorname war Thérèse, wurde also mit T abgekürzt, und Daisy hatte daraus den Spitznamen Flirty gemacht, was ihr sehr gut gefiel: Es klang jugendlicher und fröhlicher als »Tante Fleur«, wie ihr Neffe sie nannte.
»Kuchen & Wein klingt gut«, schrieb sie zurück und setzte noch ein Herz dazu.
Kuchen und Wein klang wirklich gut. Vor allem Wein. Im Laden war heute viel los gewesen, Fleur tat schon das Gesicht weh vom vielen Lächeln, und ihre Füße schmerzten entsetzlich. Ihre Boutique hatte sich auf exklusive Labels aus ganz Europa spezialisiert: Abendmode und enge Jeans, Bademoden und Accessoires, Fleurs Lager war voll mit handverlesenen Stücken, die es nur bei ihr zu kaufen gab - und was sie verkaufte, war nicht billig. Ab Oktober, wenn die Touristen verschwanden und die Sommerhäuser winterfest gemacht wurden, verfiel Fleur in eine Art Winterschlaf und machte nur am Wochenende auf. Und nachdem heute zwei überfällige Lieferungen gleichzeitig gekommen waren, freute sie sich schon wieder auf die ruhige Zeit. Sie streckte die Hand aus, um ihre Zigeunerperücke abzunehmen, überlegte es sich dann aber anders. Daisy würde sich totlachen, wenn sie sie so sah, und sie hörte sie so gern lachen.
Sie warf das Schultertuch aufs Bett und schaute nachdenklich auf die Wendeltreppe, die in den Wohnbereich hinunterführte. Seit ihre kleine Hündin Babette gestorben war, hatte sich Fleur darangemacht, das Haus zu renovieren. Sie hatte die Wände mit Wimborne White von Farrow & Ball gestrichen und ihre Möbel mit hellem Damast neu beziehen lassen. Um die Fenster zog sich spinnwebenfeine Spitze, am Kamin standen zwei Engel aus Alabaster Wache, ein Lüster hing von der Decke. Die acht Stühle am Esstisch waren mit Leinenhussen bezogen, und auf ihrer Chaiselongue türmten sich weiße Kissen mit Quasten. Sie hatte das Zimmer nicht ohne Grund weiß eingerichtet: Sie hatte sich geschworen, sich nie mehr einen Hund anzuschaffen, weil der Schmerz bei Babettes Tod so unerträglich gewesen war, dass sie so etwas nicht noch einmal erleben wollte. Und nichts half besser gegen die Sogwirkung eines Welpen im Schaufenster der Tierhandlung oder die traurigen Augen eines Hundes aus dem Tierheim als eine empfindliche Umgebung zu Hause - eine Umgebung, die dreckige Pfoten oder Hundehaare einfach nicht zuließ.
Die einzigen Farbkleckse in ihrem Wohnbereich waren die Bilder an der Wand, die meisten von Río. Río malte aufregende Bilder vom Meer, in wilden Ölfarben, aber es gab auch ein außergewöhnliches Porträt, das schon ungefähr zwanzig Jahre alt war. Es zeigte Fleur, die am Ende ihres langen Esstisches saß, ein Glas Bordeaux vor sich, eine Gauloise zwischen den eleganten Fingern (zwei Jahre später hatte sie aufgehört zu rauchen, und gelegentlich vermisste sie es immer noch). Die Haare waren zu einem lockeren Knoten geschlungen, und sie spielte mit einer Strähne, die sich gelöst hatte. Ihre Aufmerksamkeit war auf irgendetwas zu ihrer Rechten gerichtet, offenbar auf einen Menschen, mit dem sie ein wenig flirtete. Tatsächlich zeigte das Bild Fleur im vollen Flirt-Modus: eine Augenbraue hochgezogen, provokativer Schmollmund, funkelnde Augen. Fleur liebte dieses Bild.
Sie ging in die Küche, wo der Duft vom Ragout noch in der Luft hing, das sie am Abend zuvor gekocht hatte. Fleur packte Teller, Servietten, Gläser und den Weinkühler auf ein Tablett. Sie wollte gerade alles auf die Terrasse bringen, als es an der Tür klingelte. »Komm rum, Daisy Liebes«, schnurrte sie in die Gegensprechanlage. »Ich bin auf der Terrasse.«
Fleurs Terrasse zeigte Richtung Seglerhafen und war der perfekte Ort, um den Booten und ihren Besitzern nachzuspionieren. Corbans Boot lag auch hier, aber in diesem Sommer hatte er noch nicht viel Gelegenheit gehabt, es zu benutzen, weil er geschäftlich in Dublin festhing. Als Río Fleur gebeten hatte, ihren Liebsten zu beschreiben, hatte sie ihn lachend als ihren höchst eigenen Mr Big bezeichnet.
Corban war der letzte in einer ziemlich langen Kette von Liebhabern. Fleur hielt nicht viel von der Ehe. Sie hatte es einmal versucht, als sie sich mit neunzehn Jahren in einen hübschen Iren verliebt hatte, der an der Sorbonne in Paris studierte. Fleur erinnerte sich noch vage daran, wie man sich an einen guten Film erinnert, den man vor langer Zeit gesehen hat. Rosarote Brille, Picknicks an der Seine, die Gedichte von Emily Dickinson und Sylvia Plath in Übersetzung. Spaziergänge durch die engen Gassen des Quartier Latin, starker Wein und noch stärkere Zigaretten in billigen Cafés, heimliche Stunden in seinem Bett, wenn die Concierge ihr Mittagschläfchen hielt. Sie hatten sich tief in die Augen gesehen, schwach in den Knien vor Begehren und Bewunderung. Als Tom sie gebeten hatte, mit ihm nach Irland zu kommen, hatte sie so atemlos wie Molly Bloom geantwortet: »Ja - ja! Ja, natürlich!«
Sie hatten auf dem Standesamt in Dublin geheiratet, und ein Jahr lang hatte es ihr gut gefallen Briefe mit der Anrede Mrs Thomas O'Farrell zu bekommen. Dann hatten sie sich getrennt und irgendwann scheiden lassen, und sie hatte Briefe mit der Anrede »Mrs Tom« oder Mrs T. O'Farrell« ungelesen in den Papierkorb geworfen. Sie hatte beschlossen, kein Mann sei es wert, dass sie Mrs Tom, Dick oder Harry hieße. Sie war Fleur - Fleur Thérèse Odette O'Farrell. Den Nachnamen hatte sie behalten, weil kein Mensch in Irland in der Lage war, ihren richtigen Namen auszusprechen, Saint-Euverte. Und Tom? Tom war mit einer Polizistin nach Kanada gezogen. Sie hatte ihn nie wiedergesehen.
»Hallo! Was um Gottes willen hast du denn an?« Als Fleur sich umdrehte, sah sie Daisy in der Terrassentür stehen, die sie neugierig anschaute.
»Das ist mein Outfit für das Festival, was sagst du dazu?« Fleur breitete ihren Rock aus und versuchte sich an einer Flamenco- Drehung. »Ich bin die Wahrsagerin. Was hältst du davon? Stark, oder?«
»Ich bin entzückt«, erwiderte Daisy, ging zum Tisch und ließ ihre Tasche darauffallen. »Das muss ich knipsen.« Sie hielt ihr iPhone hoch, stellte sich hin wie ein Profi-Fotograf und verfiel in die üblichen Klischees: »Großartig. Das Kinn ein bisschen höher! Die Schultern runter!«
Klick, klick, klick ging die Kamera, während Fleur herumtanzte und ein bisschen Bizet vor sich hinsummte. Dann steckte Daisy ihr Telefon wieder in die Tasche und küsste ihre Tante zur Begrüßung auf beide Wangen. »Was soll denn die Geschichte mit der Wahrsagerin?«, fragte sie. »Ich dachte, das ist normalerweise Ríos Spezialität.«
»Erzähl ich dir später. Jetzt will ich erst mal hören, was bei dir los ist. Setz dich hin, gib mir den Wein und den Kuchen.« Daisy nahm die Flasche und das Kuchenpäckchen aus der Tasche, und Fleur griff nach dem Korkenzieher. »Bist du endlich zur Vernunft gekommen und hast ihn in die Wüste geschickt?«, fragte sie, während sie die Folie vom Flaschenhals abpulte.
»Ja. Du wirst dich freuen zu hören, was für eine Vorgeschichte der böse Bube hatte, Flirty. Aber ich habe noch bessere Neuigkeiten.«
»Oh, was denn?«
»Rate.«
»Du hast einen neuen Vertrag.«
»Nein.«
»Du bist gebeten worden, bei Irlands nächstes Topmodel in der Jury mitzuwirken.«
»Das ist in der Tat richtig, aber es ist nicht die gute Neuigkeit, die ich meine.«
»Du hast ein Shooting mit Testino.«
»Im Traum.«
Fleur schenkte Wein ein und reichte ein Glas zu Daisy hinüber. »Du bist auf dem Cover der Vogue.«
»Hör auf zu spinnen.«
»Ich gebe auf«, seufzte Fleur.
»Genau. Genau das tue ich.«
»Wie bitte?«
»Ich höre auf zu modeln.«
Fleur stellte ihr Glas ab. »Und das ist kein Witz?«
»Nein, kein Witz. Ganz ehrlich.«
»Aber warum, Daisy?«
»Ich kann es nicht mehr leiden. So einfach ist das. Ich gehe als Freiwillige nach Afrika.«
Fleur trank einen Schluck Wein und sah ihre Nichte an. Es war mehr als deutlich, dass sie es ernst meinte. Daisy war Steinbock, und wenn Steinböcke sich zu etwas entschließen, dann gibt es kein Zurück.
»Alle Achtung! Ist dir die Entscheidung schwergefallen?«
Daisy schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Agentin hat mich gefragt, ob ich vierundzwanzig Stunden darüber nachdenken will, und ich habe erst Ja gesagt und dann Nein. Praktisch gleichzeitig. Ich musste wirklich nicht mehr darüber nachdenken. Im Grunde geht es mir schon länger schlecht damit.«
»Du hast doch bloß zwei Jahre als Model gearbeitet«, bemerkte Fleur.
»Und ein Jahr lang ging es mir schlecht dabei, das ist eindeutig zu lange. Ich bin einfach nicht dafür geschaffen.«
»Du bist ein tapferes Mädchen.«
»Nein, bin ich nicht. Ich tue nur, was ich immer schon tun wollte, nämlich etwas bewirken. Du hast keine Ahnung, wie es ist, von diesen mageren Hippen umgeben zu sein, die stöhnen, wenn sie mal ein Pfund zunehmen, während überall auf der Welt Leute verhungern.«
»Und wirst du den Promi-Status nicht vermissen, meine Schöne?«
»Ganz bestimmt nicht. Ich wäre gern berühmt, wenn ich ein echtes Talent hätte, Singen oder Schreiben oder Malen oder so. Aber es ist eigentlich nur peinlich, berühmt zu sein, weil man ein Model ist.« Daisy schnitt zwei Scheiben Schokoladenkuchen ab und ließ sie auf Teller fallen. »Ha! Ade, du blöde Diät, lasst die Kalorien tanzen!«
»Und warum Afrika?«, fragte Fleur.
»Eine Freundin von mir hat gesagt, ich muss das machen. Sie hat über Facebook schon eine ganze Reihe von Leuten dazu gebracht.«
»Sehr effektiv.«
»Genau. Ich bin mit allen Leuten in Kontakt, die runtergehen, und sie klingen durch die Bank sehr vernünftig. Facebook ist einfach toll, wenn es um Netzwerkarbeit geht. Hast du dich schon angemeldet, Flirty?«
»Ich will das immer machen, aber in letzter Zeit war hier viel los. Vielleicht komme ich im Winter dazu, wenn es etwas ruhiger wird.«
»Für mich wird es ein ziemlich heißer Winter. Ich werde in einem Township in Kwazulu-Natal arbeiten und mithelfen, eine Schule aufzubauen.«
»Richtig bauen?«
»Ja! Meine Freundin sagt, sie ist abends immer total fertig, aber sie hat sich nie im Leben besser gefühlt.«
»Na, ich bewundere dich wirklich. Und ein bisschen neidisch bin ich auch. Ich hätte gern mal Gelegenheit gehabt, so etwas zu tun, als ich in deinem Alter war. Wann geht's los?«
»Nächste Woche.«
»Nein, so bald schon?«
»Jemand ist ausgefallen, also bin ich eingesprungen. Wenn ich den Platz nicht gekriegt hätte, hätte ich sechs Monate warten müssen.«
»Na, dann gute Reise.« Fleur hob ihr Glas. »Auf Afrika!«
»Und auf dich, Wahrsagerin!« Daisy trank einen Schluck Wein und sah Fleur dann bewundernd an. »Eine Frage habe ich aber schon: Wie machst du das?«
»Die Wahrsagerei?«
»Ja!«
»Río hat mir ihre Glaskugel geliehen.«
Daisy hob eine Augenbraue. »Eine Glaskugel? Und das funktioniert?«
»Aber sicher! Ich habe vorhin mal reingeschaut, und da hat sie mir gesagt, um halb acht heute Abend würde ich mit meiner Nichte Sancerre trinken und Schokoladenkuchen schlemmen. Und zack! Wie unheimlich ist das denn? Jetzt ist es halb acht, und du bist da. Mit Sancerre und Schokoladenkuchen.«
»Du musst also nur in die Kugel schauen und irgendwas murmeln, so von wegen Reise übers Meer und Treffen mit dunkelhäutigen Fremden?«
»So sieht's aus. Ich habe noch nicht wirklich darüber nachgedacht. Río hat mir ein Lehrbuch gegeben, aber das scheint mir ziemlich nutzlos zu sein.«
»Wie macht Río es denn normalerweise?«
»Sie improvisiert - das kann sie ja. Sie hat einfach sehr viel Intuition.«
»Na ja, Fleur, ich sage das nicht gern, aber du und improvisieren ...«
Fleur zuckte mit den Schultern. »Ich versuche es einfach. Río sagt, sie hat letztes Jahr fast vierhundert Euro eingenommen, und Corban hat mir versprochen, er verdoppelt die Summe, die ich einnehme. Und das Geld ist ja fürs Hospiz bestimmt.«
»Aber wenn sich rumspricht, dass du Blödsinn erzählst, wird doch keiner mehr kommen.« Fleur schaute sie beleidigt an. »Es sind doch nur fünf Euro, Daisy. Und für einen guten Zweck.«
»Flirty, wenn du dein Geld nicht wert bist, geben die Leute ihr Geld lieber bei der Tombola aus. Wenn du die Einnahmen verdoppeln willst, musst du dir irgendwas ausdenken, was die Zuhörer beeindruckt.«
»Aber ich kann doch nun mal nicht in die Zukunft schauen, Daisy! Das ist doch albern!«
»Natürlich ist es albern, aber ...« Daisy kniff die Augen zusammen und schenkte Fleur ihr berühmtes Sphinx-Lächeln. »Aber ich habe eine ziemlich gute Idee, glaube ich. Wo ist die Glaskugel?«
»Oben.«
»Zeig mal her.«
»Okay.« Fleur stand auf und streckte sich. »Autsch! Ich muss mich, glaube ich, oben erst mal umziehen. Wenn ich den Kummerbund nicht ausziehe, kann ich keinen Kuchen essen.«
»Warum hast du ihn denn so eng gebunden?«
»Aus Eitelkeit natürlich, chérie.«
Im Schlafzimmer angekommen, sprang Fleur aus dem Kostüm und zog sich eine Jogginghose an. Wenn sie es recht überlegte, war sie froh, dass Daisy sich entschieden hatte, mit dem Modeln aufzuhören. Sie wusste, dass ihr älterer Bruder François gar nicht glücklich war, seine Tochter in einem so oberflächlichen Milieu zu wissen. Sie war seine einzige Tochter, und er beschützte sie wie seinen Augapfel. Er hatte sie ziemlich streng erzogen, wie es in Frankreich üblich war. Fleur erinnerte sich, dass er selbst von ihrem Vater nach Dublin geschickt worden war, um sie zu retten, als sie weggelaufen war. Ironie des Schicksals, dass ihr Bruder sich dann selbst in eine Irin verliebt hatte - und dann auch noch in ein Mädchen aus Galway. So waren beide Geschwister in Irland geblieben und hatten sich an der Westküste ihre Existenz aufgebaut. Fleur hatte ihre Boutique in Lissamore, und er hatte einen Laden für Fischereibedarf im nahen Galway. Schön, dass jemand aus der Familie in der Nähe war, obwohl sie sehr verschieden waren. François war sehr für die Jagd, fürs Schießen und Fischen. Vor allem aber war es schön, dass ihre Nichte in der Nähe war; Daisy war für sie eine Art Ersatztochter.
Ihr Telefon ließ seinen Signalton hören: Daisy hatte ihr ein Foto weitergeleitet. O lá lá, was für ein Spaß! Der Rock wirbelte um ihre Beine, die eng geschnürte Taille betonte ihre Kurven und sie lächelte direkt in die Kamera. Sie schickte es weiter an Corban, nur so zum Spaß. Der Text dazu lautete: Werfen Sie einen Blick in die Zukunft - für eine kleine Gebühr. Dann drückte sie auf Senden.
Als sie mit der Glaskugel und dem Lehrbuch wieder ins Wohnzimmer kam, saß Daisy da und las etwas auf ihrem iPhone.
»Eine großartige Idee, Flirty. Schau dir das mal an.«
»Was denn?«
»Mein Facebook-Profil.«
»Wow, so viele Freunde hast du?«, staunte Fleur bei einem Blick über Daisys Schulter. »Aber was hat das mit deiner großartigen Idee zu tun?«
»Warte nur.«
Sie ging mit dem Cursor auf »Status« ganz oben in dem Profil und tippte: »Wer ist am Wochenende in der Gegend um Coolnamara? Geht zur Wahrsagerin beim Festival in Lissamore, sie ist fantastisch!«
Fleur schaute ihre Nichte skeptisch an. »Daisy, das wird eine Katastrophe!«
»Ach was. Denn du wirst fantastisch sein. Pass auf.«
Daisy klickte auf einen Namen, sodass ein neues Profil aufging. Ein hübsches Mädchen namens Sofia. Daisy scrollte ein Stück herunter, sodass man einiges über Sofia erfuhr: ihren Geburtstag, dass sie Waage war, dass sie Single war, aber nicht bleiben wollte. Ihre Lieblingsfilme waren Mamma Mia und Disneys Die Schöne und das Biest, ihr Lieblingsbuch war Der Junge im gestreiften Pyjama, sie hatte einen braunen Gürtel in Karate und kochte fantastische Nudelgerichte, weil ihre Mutter Italienerin war. Es gab Fotos von ihr, von einigen Reisen rund um die Welt: vor dem Opernhaus in Sydney, vor dem Eiffelturm, dem Colosseum ... Und einige Bemerkungen, die sich auf diese Reisen bezogen. Auf den süßen Typen in Paris und vieles mehr. Und dass sie sich freute, nächstes Wochenende im Club N in Coolnamara zu sein.
»Sehr erhellend, meine Liebe«, sagte Fleur. »Aber warum zeigst du mir das alles?«
»Weil ich ganz sicher weiß, dass sie am Wochenende in Lissamore sein wird.«
»Ja, und?«
»Stell dir mal folgendes vor: Sie sucht in Facebook herum, sie liest, dass auf dem Festival eine tolle Wahrsagerin ist, und sie denkt sich, die probiere ich aus. Versetz dich mal in ihre Lage.«
»Was meinst du denn?«
»Stell dir vor, du wärst Sofia.« Fleur sah Daisy fragend an, zuckte dann mit den Schultern und sagte: »Okay, ich bin Sofia.«
»Herzlich willkommen, Sofia!«, sagte Daisy, verbeugte sich und setzte ein geheimnisvolles Gesicht auf. Dann starrte sie kurz in die Glaskugel, die Fleur auf den Tisch gestellt hatte, und fügte mit übertriebenem osteuropäischem Akzent hinzu: »Ein Waage, würde ich sagen, nicht wahr? Hmm. Was sehe ich noch? Oh, ich sehe dich in einem Hosenanzug. Weiße Hosen und nackte Füße. Du tanzt ... nein, das ist kein Tanz. Es sieht aus wie ein Tritt. Hast du Talent für Karate, Sofia? Und ich sehe noch mehr - du bist weit gereist, viele fremde Länder und Städte. Sydney, Rom, Paris ... und was ist das hier? Ein Club, aber diesmal tanzt du wirklich. In der Zukunft. Vielleicht nächsten Freitag. Du gehst mit einer Freundin zum Tanzen, in einen Club namens ... ich kann es nicht genau erkennen, irgendwas mit N?«
»Nein«, lächelte Fleur, als der Groschen endlich fiel. »Club M heißt er.«
»Siehst du?« Daisy ließ sich mit triumphierendem Lächeln in die Polster fallen. »Verstehst du? Das ist genial! Das spricht sich über Facebook blitzschnell herum, und alle, die an dem langen Wochenende in Coolnamara sind, kommen in Scharen, um dich zu sehen - wie ist dein Künstlername?«
»Keine Ahnung.«
»Na, komm schon. Wie wär's mit Teiresia?«
»Von Thérèse?«
»Nein. Teiresias war ein berühmter Seher im alten Griechenland. «
Fleur seufzte bewundernd auf. »Verstand hat das Mädchen auch noch.«
»Klingt aber gut, musst du zugeben, oder? Die berühmte Madame Teiresia, die alles weiß.«
»Ja, aber Daisy ... wie soll das denn ablaufen?«
»Ganz einfach. Du liest die Profile auf deinem iPhone, das du raffiniert unter dem Tisch versteckst.«
»Aber ich habe kein Facebook-Profil.«
»Ja, ich weiß. Aber du kannst dich unter meinem Namen einloggen. Die Möchtegern-Berühmtheit, das Model Daisy de Saint-Euverte. Du hast doch gesehen, wie viele Freunde ich habe. Und die haben wieder Freunde, und ich habe Einfluss. Manchmal ist es ganz nützlich, überall mitzumischen.«
»Du hast zu viel getrunken, Liebes, das funktioniert nicht.«
»Sei nicht so negativ, Flirty!« Daisy griff nach dem Lehrbuch der Wahrsagerei und blätterte ein wenig darin. »Dank doch einfach mal an die ganze Kohle, die du für die Hospiz-Stiftung einnimmst.«
»Aber wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Da kann so viel schiefgehen. Was, wenn Mr Norman ohne Freunde aus Nenagh reinkommt? Was sage ich denn dem?«
»Dem sagst du, dass es keinen Sinn hat, in seiner Zukunft zu lesen, weil ... er keine hat.«
»Das kann ich doch nicht machen! Der arme Norman denkt doch, er muss bald sterben.«
»Ja, hm, da hast du recht. Aber du kannst ihm sagen, dass du seine Aura nicht siehst. Hör zu, was das Buch sagt: Manchmal kann man in der Glaskugel etwas erkennen, manchmal aber auch nicht. Tatsächlich haben einige der besten Wahrsager sogar wochenweise die Gabe verloren. Lassen Sie sich also nicht entmutigen, wenn die Bilder nicht auf Kommando kommen. Das ist deine Rettung. Das kannst du dir kopieren und an den Eingang deines Zelts hängen.« Daisy warf einen schnellen Blick auf das Buchcover. »Dr. R.A. Mayne. Da siehst du's. Dein spiritueller Mentor hat sogar einen Doktortitel.«
»Aber das Buch ist von 1928!«
»Das müssen deine Kunden ja nicht erfahren. Los jetzt, neuer Versuch. Diesmal kannst du mir wahrsagen. Ich heiße, sagen wir, Jana.« Daisys Finger eilten über ihr iPhone, und dann reichte sie es zu Fleur hinüber.
»Jana!«, sagte Fleur und starrte aufs Display, als müsste sie Hieroglyphen lesen. »Willkommen, Jana!«
»Du musst so tun, als würdest du in die Kugel sehen«, erklärte Daisy.
»Ich kann aber nicht gleichzeitig in die Kugel und auf Janas Profil schauen.«
»Dann brauchst du einen Schleier. Versuch's mal hiermit.« Daisy nahm ihren Schal ab und legte ihn ihrer Tante über den Kopf. »Perfekt, jetzt noch mal.«
»Jana«, wiederholte Fleur. »Dein Sternzeichen sind die Fische, nicht wahr? Ich sehe - hm - ein Buch mit dem Titel Die Frau des Zeitreisenden. Und ich sehe Meryl Streep in Latzhosen - du lieber Himmel, ist denn Mamma mia in jedem Profil bei Facebook?«
»Also wirklich! Du darfst nicht aus der Rolle fallen, Madame Teiresia. Hier trink noch einen Schluck.«
»Danke, Jana. Nun, was sehe ich da? Du singst - und ist das da Simon Cowell? Hast du bei X-Factor vorgesungen?«
Eine Dreiviertelstunde später hatte Fleur noch einem halben Dutzend Leuten die Zukunft vorhergesagt, und allmählich machte es ihr Spaß.
»Nicht schlecht für jemanden, der keine Ahnung von Facebook hat«, bemerkte Daisy und verteilte den Rest aus der Weinflasche auf beide Gläser. »Du kommst auch noch auf den Geschmack, Flirty, warte nur. Aber jetzt kommt der Knüller. Jetzt bin ich Paris Hilton.«
»Paris Hilton ist eine deiner Facebook-Freundinnen?«
»Nein, ist sie nicht. Aber wir wissen doch alles über sie. Es kann doch kein Problem sein, ihre Geheimnisse zu enthüllen.«
»Willkommen«, hauchte Fleur und fuhr mit beiden Händen über die Glaskugel. Aber als sie sich gerade ein paar Fragen für Paris ausdachte, klingelte ihr Telefon in der Küche. Mit dem Weinglas in der Hand entschuldigte sie sich und ging nach nebenan, um das Gespräch anzunehmen. Es war Corban.
»Hallo, chérie«, gurrte sie in den Hörer. Wenn sie ein bisschen zu viel getrunken hatte oder wenn sie wütend war - was selten vorkam -, wurde ihr französischer Akzent ein wenig stärker.
»Ich hab deine Nachricht bekommen«, sagte er ihr. »Und ich muss sagen, du siehst toll aus. Sehr, sehr verführerisch. Weißt du was, Fleur? Ich verdopple deine Einnahmen nicht nur, ich werde sie vervierfachen. Unter einer Bedingung.«
»Nämlich?«
»Wenn ich am Freitag komme, musst du das Kostüm tragen.« Fleur lächelte ins Telefon. »Damit du es mir ausziehen kannst?«
»Nein, damit du es dir ausziehen kannst. Während ich zuschaue. «
Fleur lächelte noch mehr. Sie tat so, als müsste sie darüber nachdenken, und trank einen Schluck aus ihrem Weinglas. Dann lachte sie laut los. »Abgemacht«, sagte sie.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Fleur O'Farrell kam sich dumm vor. Sie stand vor dem Schrank in ihrem Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel. Normalerweise gab sie sich viel Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung, aber an diesem Nachmittag trug sie einen geblümten Rock über einem gerüschten Petticoat, einen kirschroten Kummerbund und eine weit ausgeschnittene Bluse. Sie war barfüßig, hatte einen Seidenschal um ihre Schultern geschlungen und trug große vergoldete Kreolen an den Ohren. Die Krönung des Ganzen war die Perücke: eine Esmeralda-Perücke aus künstlichen schwarzen Locken. Sie sah aus wie eine Statistin aus einer zweitklassigen Carmen-Inszenierung.
Ihre Freundin Río Kinsella hatte sie dazu überredet, auf dem diesjährigen Festival von Lissamore die Wahrsagerin zu spielen. Río machte das normalerweise selbst, aber in diesem Sommer steckte sie bis zum Hals in Arbeit und hatte wirklich keine Zeit. Also hatte sie Fleur mit ihrem Kostüm ausgestattet und ihr auch ihre Kristallkugel geliehen, dazu eine Tischdecke aus Samt und ein Lehrbuch mit dem Titel Die Zukunft lesen lernen - in sechs Lektionen. Auf dem Innentitel war zu lesen, dass dieses Meisterwerk aus dem Jahr 1928 stammte.
Fleur wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und griff nach dem abgenutzten Buch. Auf dem Umschlag prangte eine dunkeläugige Schönheit, die in eine Glaskugel starrte, und hinten auf dem Buch hieß es: »Fehlt Ihnen Selbstbewusstsein, sind Sie arbeitslos oder ohne Lebensmut? Sind Sie bereit für die Zukunft oder stochern Sie blind im Nebel? Wünschen Sie sich Gesundheit, Glück und Erfolg?«
Offenbar hatte sich seit 1928 nicht viel verändert. Die Menschen stellten immer noch dieselben Fragen, hatten immer noch dieselben Hoffnungen und Wünsche. Heutzutage jedoch starrten sie in der Regel nicht mehr in Glaskugeln, sondern rollten ihre Yoga-Matten aus oder steckten sich Hopi-Kerzen in die Ohren, die ihnen bei ihrer Nabelschau behilflich sein sollten. Nein, im Grunde war alles beim Alten geblieben, dachte Fleur.
Hip Hop drang durch das offene Fenster an ihr Ohr. Ein Jugendlicher fuhr müßig die Hauptstraße entlang, posierte lässig hinter dem Steuer seines Cabrios und wartete darauf, zu sehen und gesehen zu werden. Es war Hochsaison, und deshalb war durchaus einiges geboten. Mädchen in angesagten Markenklamotten spazierten am Wasser entlang, saßen auf der Hafenmauer, hingen gemeinsam an iPods, schwatzten in ihre Handys oder lasen E-Mails. Hübsche Mädchen mit Fitnessstudiofiguren, Bräune aus der Spraydose und GHD-gepflegten Haaren, Designerbrillen und passenden Taschen. Teure Mädchen, deren Väter die Boutiquenrechnungen bezahlten und deren Mütter sich genauso anzogen wie die Töchter. Mädchen, die keine Ahnung hatten, was das Wort »Rezession« bedeutete.
Lissamore war normalerweise gar nicht der Ort, an dem sich so viel Schickeria tummelte. Das Dorf war eher die Spielwiese für die Eltern, Erholungsort für die abgespannten Bewohner der teuren Viertel von Dublin, die einen Sommermonat oder die Weihnachtswoche hier verbrachten. Der Nachwuchs verschwand, sobald die ersehnte Volljährigkeit erreicht war, eher an die hippen Locations auf dem Kontinent oder in Amerika.
In diesem Sommer allerdings war das Dorf mega-in, weil ein Film in der Umgebung gedreht wurde. Möchtegern-Filmstars hatten sich scharenweise eingefunden, nachdem in einem Artikel in einer überregionalen Zeitung erwähnt worden war, dass noch Statisten gesucht wurden. In dem Film Die Affäre O'Hara ging es um Gerard O'Hara, den Vater von Scarlett O'Hara aus Vom Winde verweht. Aber vor allem der Hauptdarsteller war eine Attraktion: Shane Byrne, Lokalmatador und Irlands Antwort auf Johnny Depp.
In wirtschaftlich düsteren Zeiten war der Film ein Segen für das Dorf. Viele Leute aus dem Ort, die nach dem Zusammenbruch der Bauindustrie arbeitslos geworden waren, konnten als Zimmerleute, Maler und Beleuchter arbeiten, arbeitslose Jugendliche wurden als Hilfskräfte eingestellt, und die leidende Gastronomie lebte ebenfalls auf. Die Hauptdarstellerin war schon ein paar Mal in Fleurs Laden gewesen, Río konnte in der Requisite mitarbeiten, und selbst Fleurs Liebster Corban war mit dabei, wenn auch eher am Rande. Er war der Produzent des Films, sein künstlerischer Beitrag war also eher klein, aber dafür saß er auf dem Geld: Da er die Produktion mitfinanziert hatte, war er ein wichtiger Faktor.
»Hat er schon zurückgeschrieben?« Eine Mädchenstimme, Typ Prinzessin, wenn man nach dem Akzent gehen durfte.
»Nein«, kam die mürrische Antwort.
Fleur reckte ein wenig den Hals und schaute hinunter. Auf dem Fensterbrett ihres Schaufensters saßen zwei Mädchen. Das Mädchen mit dem Dubliner Akzent kannte sie, es war in den letzten zwei Wochen schon mindestens ein halbes Dutzend Mal im Laden gewesen und hatte sich bei den teuren kleinen Fummeln aus Seide und Tüll bedient, immer mit der goldenen Kreditkarte ihres Vaters.
»Hast du bei deiner letzten SMS ein Fragezeichen ans Ende gesetzt?«
»Ja.«
»Mist, dann kannst du ihm jetzt nicht noch mal schreiben, Emily. Er ist dran.«
»Ich weiß. Ich hätte das blöde Fragezeichen nicht setzen dürfen. Er ignoriert mich total, der Scheißkerl.«
»Wie viele x hast du gemacht?«
»Drei. Aber zwei in kleinen Buchstaben.«
»Hm, das ist ganz schön heavy. Ich würde beim nächsten Mal nur die zwei kleinen machen.«
»Wenn es ein nächstes Mal gibt. Heute früh war auf seiner Facebook-Seite ein Kommentar von dieser Australierin.«
»Oh-oh ...«
Fleur hätte sich am liebsten aus dem Fenster gelehnt und runtergerufen: »Wie wär's denn mal mit Telefonieren?« Aber sie wusste, die Regeln der Handy-Etikette ließen das nicht zu. Sie konnte nicht verstehen, wie die Kids heutzutage mit der Ungewissheit zurechtkamen, mit dem emotionalen Aufruhr, den SMS hervorriefen. Es musste eine Art verschärftes Fegefeuer sein, solche Botschaften durch den Äther zu schicken, wie Tischtennis in Zeitlupe.
Allerdings hing Fleur ebenso sklavisch an ihrem Telefon wie die Mädchen da unten, das war ihr klar. Als ihr Handy den Signalton für eine neue SMS hören ließ, griff sie sofort zu, um die neue Nachricht von ihrer Nichte Daisy zu lesen: »Hey, Flirty! Bin unterwegs mit Kuchen & Wein XXX«
Fleurs zweiter Vorname war Thérèse, wurde also mit T abgekürzt, und Daisy hatte daraus den Spitznamen Flirty gemacht, was ihr sehr gut gefiel: Es klang jugendlicher und fröhlicher als »Tante Fleur«, wie ihr Neffe sie nannte.
»Kuchen & Wein klingt gut«, schrieb sie zurück und setzte noch ein Herz dazu.
Kuchen und Wein klang wirklich gut. Vor allem Wein. Im Laden war heute viel los gewesen, Fleur tat schon das Gesicht weh vom vielen Lächeln, und ihre Füße schmerzten entsetzlich. Ihre Boutique hatte sich auf exklusive Labels aus ganz Europa spezialisiert: Abendmode und enge Jeans, Bademoden und Accessoires, Fleurs Lager war voll mit handverlesenen Stücken, die es nur bei ihr zu kaufen gab - und was sie verkaufte, war nicht billig. Ab Oktober, wenn die Touristen verschwanden und die Sommerhäuser winterfest gemacht wurden, verfiel Fleur in eine Art Winterschlaf und machte nur am Wochenende auf. Und nachdem heute zwei überfällige Lieferungen gleichzeitig gekommen waren, freute sie sich schon wieder auf die ruhige Zeit. Sie streckte die Hand aus, um ihre Zigeunerperücke abzunehmen, überlegte es sich dann aber anders. Daisy würde sich totlachen, wenn sie sie so sah, und sie hörte sie so gern lachen.
Sie warf das Schultertuch aufs Bett und schaute nachdenklich auf die Wendeltreppe, die in den Wohnbereich hinunterführte. Seit ihre kleine Hündin Babette gestorben war, hatte sich Fleur darangemacht, das Haus zu renovieren. Sie hatte die Wände mit Wimborne White von Farrow & Ball gestrichen und ihre Möbel mit hellem Damast neu beziehen lassen. Um die Fenster zog sich spinnwebenfeine Spitze, am Kamin standen zwei Engel aus Alabaster Wache, ein Lüster hing von der Decke. Die acht Stühle am Esstisch waren mit Leinenhussen bezogen, und auf ihrer Chaiselongue türmten sich weiße Kissen mit Quasten. Sie hatte das Zimmer nicht ohne Grund weiß eingerichtet: Sie hatte sich geschworen, sich nie mehr einen Hund anzuschaffen, weil der Schmerz bei Babettes Tod so unerträglich gewesen war, dass sie so etwas nicht noch einmal erleben wollte. Und nichts half besser gegen die Sogwirkung eines Welpen im Schaufenster der Tierhandlung oder die traurigen Augen eines Hundes aus dem Tierheim als eine empfindliche Umgebung zu Hause - eine Umgebung, die dreckige Pfoten oder Hundehaare einfach nicht zuließ.
Die einzigen Farbkleckse in ihrem Wohnbereich waren die Bilder an der Wand, die meisten von Río. Río malte aufregende Bilder vom Meer, in wilden Ölfarben, aber es gab auch ein außergewöhnliches Porträt, das schon ungefähr zwanzig Jahre alt war. Es zeigte Fleur, die am Ende ihres langen Esstisches saß, ein Glas Bordeaux vor sich, eine Gauloise zwischen den eleganten Fingern (zwei Jahre später hatte sie aufgehört zu rauchen, und gelegentlich vermisste sie es immer noch). Die Haare waren zu einem lockeren Knoten geschlungen, und sie spielte mit einer Strähne, die sich gelöst hatte. Ihre Aufmerksamkeit war auf irgendetwas zu ihrer Rechten gerichtet, offenbar auf einen Menschen, mit dem sie ein wenig flirtete. Tatsächlich zeigte das Bild Fleur im vollen Flirt-Modus: eine Augenbraue hochgezogen, provokativer Schmollmund, funkelnde Augen. Fleur liebte dieses Bild.
Sie ging in die Küche, wo der Duft vom Ragout noch in der Luft hing, das sie am Abend zuvor gekocht hatte. Fleur packte Teller, Servietten, Gläser und den Weinkühler auf ein Tablett. Sie wollte gerade alles auf die Terrasse bringen, als es an der Tür klingelte. »Komm rum, Daisy Liebes«, schnurrte sie in die Gegensprechanlage. »Ich bin auf der Terrasse.«
Fleurs Terrasse zeigte Richtung Seglerhafen und war der perfekte Ort, um den Booten und ihren Besitzern nachzuspionieren. Corbans Boot lag auch hier, aber in diesem Sommer hatte er noch nicht viel Gelegenheit gehabt, es zu benutzen, weil er geschäftlich in Dublin festhing. Als Río Fleur gebeten hatte, ihren Liebsten zu beschreiben, hatte sie ihn lachend als ihren höchst eigenen Mr Big bezeichnet.
Corban war der letzte in einer ziemlich langen Kette von Liebhabern. Fleur hielt nicht viel von der Ehe. Sie hatte es einmal versucht, als sie sich mit neunzehn Jahren in einen hübschen Iren verliebt hatte, der an der Sorbonne in Paris studierte. Fleur erinnerte sich noch vage daran, wie man sich an einen guten Film erinnert, den man vor langer Zeit gesehen hat. Rosarote Brille, Picknicks an der Seine, die Gedichte von Emily Dickinson und Sylvia Plath in Übersetzung. Spaziergänge durch die engen Gassen des Quartier Latin, starker Wein und noch stärkere Zigaretten in billigen Cafés, heimliche Stunden in seinem Bett, wenn die Concierge ihr Mittagschläfchen hielt. Sie hatten sich tief in die Augen gesehen, schwach in den Knien vor Begehren und Bewunderung. Als Tom sie gebeten hatte, mit ihm nach Irland zu kommen, hatte sie so atemlos wie Molly Bloom geantwortet: »Ja - ja! Ja, natürlich!«
Sie hatten auf dem Standesamt in Dublin geheiratet, und ein Jahr lang hatte es ihr gut gefallen Briefe mit der Anrede Mrs Thomas O'Farrell zu bekommen. Dann hatten sie sich getrennt und irgendwann scheiden lassen, und sie hatte Briefe mit der Anrede »Mrs Tom« oder Mrs T. O'Farrell« ungelesen in den Papierkorb geworfen. Sie hatte beschlossen, kein Mann sei es wert, dass sie Mrs Tom, Dick oder Harry hieße. Sie war Fleur - Fleur Thérèse Odette O'Farrell. Den Nachnamen hatte sie behalten, weil kein Mensch in Irland in der Lage war, ihren richtigen Namen auszusprechen, Saint-Euverte. Und Tom? Tom war mit einer Polizistin nach Kanada gezogen. Sie hatte ihn nie wiedergesehen.
»Hallo! Was um Gottes willen hast du denn an?« Als Fleur sich umdrehte, sah sie Daisy in der Terrassentür stehen, die sie neugierig anschaute.
»Das ist mein Outfit für das Festival, was sagst du dazu?« Fleur breitete ihren Rock aus und versuchte sich an einer Flamenco- Drehung. »Ich bin die Wahrsagerin. Was hältst du davon? Stark, oder?«
»Ich bin entzückt«, erwiderte Daisy, ging zum Tisch und ließ ihre Tasche darauffallen. »Das muss ich knipsen.« Sie hielt ihr iPhone hoch, stellte sich hin wie ein Profi-Fotograf und verfiel in die üblichen Klischees: »Großartig. Das Kinn ein bisschen höher! Die Schultern runter!«
Klick, klick, klick ging die Kamera, während Fleur herumtanzte und ein bisschen Bizet vor sich hinsummte. Dann steckte Daisy ihr Telefon wieder in die Tasche und küsste ihre Tante zur Begrüßung auf beide Wangen. »Was soll denn die Geschichte mit der Wahrsagerin?«, fragte sie. »Ich dachte, das ist normalerweise Ríos Spezialität.«
»Erzähl ich dir später. Jetzt will ich erst mal hören, was bei dir los ist. Setz dich hin, gib mir den Wein und den Kuchen.« Daisy nahm die Flasche und das Kuchenpäckchen aus der Tasche, und Fleur griff nach dem Korkenzieher. »Bist du endlich zur Vernunft gekommen und hast ihn in die Wüste geschickt?«, fragte sie, während sie die Folie vom Flaschenhals abpulte.
»Ja. Du wirst dich freuen zu hören, was für eine Vorgeschichte der böse Bube hatte, Flirty. Aber ich habe noch bessere Neuigkeiten.«
»Oh, was denn?«
»Rate.«
»Du hast einen neuen Vertrag.«
»Nein.«
»Du bist gebeten worden, bei Irlands nächstes Topmodel in der Jury mitzuwirken.«
»Das ist in der Tat richtig, aber es ist nicht die gute Neuigkeit, die ich meine.«
»Du hast ein Shooting mit Testino.«
»Im Traum.«
Fleur schenkte Wein ein und reichte ein Glas zu Daisy hinüber. »Du bist auf dem Cover der Vogue.«
»Hör auf zu spinnen.«
»Ich gebe auf«, seufzte Fleur.
»Genau. Genau das tue ich.«
»Wie bitte?«
»Ich höre auf zu modeln.«
Fleur stellte ihr Glas ab. »Und das ist kein Witz?«
»Nein, kein Witz. Ganz ehrlich.«
»Aber warum, Daisy?«
»Ich kann es nicht mehr leiden. So einfach ist das. Ich gehe als Freiwillige nach Afrika.«
Fleur trank einen Schluck Wein und sah ihre Nichte an. Es war mehr als deutlich, dass sie es ernst meinte. Daisy war Steinbock, und wenn Steinböcke sich zu etwas entschließen, dann gibt es kein Zurück.
»Alle Achtung! Ist dir die Entscheidung schwergefallen?«
Daisy schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Agentin hat mich gefragt, ob ich vierundzwanzig Stunden darüber nachdenken will, und ich habe erst Ja gesagt und dann Nein. Praktisch gleichzeitig. Ich musste wirklich nicht mehr darüber nachdenken. Im Grunde geht es mir schon länger schlecht damit.«
»Du hast doch bloß zwei Jahre als Model gearbeitet«, bemerkte Fleur.
»Und ein Jahr lang ging es mir schlecht dabei, das ist eindeutig zu lange. Ich bin einfach nicht dafür geschaffen.«
»Du bist ein tapferes Mädchen.«
»Nein, bin ich nicht. Ich tue nur, was ich immer schon tun wollte, nämlich etwas bewirken. Du hast keine Ahnung, wie es ist, von diesen mageren Hippen umgeben zu sein, die stöhnen, wenn sie mal ein Pfund zunehmen, während überall auf der Welt Leute verhungern.«
»Und wirst du den Promi-Status nicht vermissen, meine Schöne?«
»Ganz bestimmt nicht. Ich wäre gern berühmt, wenn ich ein echtes Talent hätte, Singen oder Schreiben oder Malen oder so. Aber es ist eigentlich nur peinlich, berühmt zu sein, weil man ein Model ist.« Daisy schnitt zwei Scheiben Schokoladenkuchen ab und ließ sie auf Teller fallen. »Ha! Ade, du blöde Diät, lasst die Kalorien tanzen!«
»Und warum Afrika?«, fragte Fleur.
»Eine Freundin von mir hat gesagt, ich muss das machen. Sie hat über Facebook schon eine ganze Reihe von Leuten dazu gebracht.«
»Sehr effektiv.«
»Genau. Ich bin mit allen Leuten in Kontakt, die runtergehen, und sie klingen durch die Bank sehr vernünftig. Facebook ist einfach toll, wenn es um Netzwerkarbeit geht. Hast du dich schon angemeldet, Flirty?«
»Ich will das immer machen, aber in letzter Zeit war hier viel los. Vielleicht komme ich im Winter dazu, wenn es etwas ruhiger wird.«
»Für mich wird es ein ziemlich heißer Winter. Ich werde in einem Township in Kwazulu-Natal arbeiten und mithelfen, eine Schule aufzubauen.«
»Richtig bauen?«
»Ja! Meine Freundin sagt, sie ist abends immer total fertig, aber sie hat sich nie im Leben besser gefühlt.«
»Na, ich bewundere dich wirklich. Und ein bisschen neidisch bin ich auch. Ich hätte gern mal Gelegenheit gehabt, so etwas zu tun, als ich in deinem Alter war. Wann geht's los?«
»Nächste Woche.«
»Nein, so bald schon?«
»Jemand ist ausgefallen, also bin ich eingesprungen. Wenn ich den Platz nicht gekriegt hätte, hätte ich sechs Monate warten müssen.«
»Na, dann gute Reise.« Fleur hob ihr Glas. »Auf Afrika!«
»Und auf dich, Wahrsagerin!« Daisy trank einen Schluck Wein und sah Fleur dann bewundernd an. »Eine Frage habe ich aber schon: Wie machst du das?«
»Die Wahrsagerei?«
»Ja!«
»Río hat mir ihre Glaskugel geliehen.«
Daisy hob eine Augenbraue. »Eine Glaskugel? Und das funktioniert?«
»Aber sicher! Ich habe vorhin mal reingeschaut, und da hat sie mir gesagt, um halb acht heute Abend würde ich mit meiner Nichte Sancerre trinken und Schokoladenkuchen schlemmen. Und zack! Wie unheimlich ist das denn? Jetzt ist es halb acht, und du bist da. Mit Sancerre und Schokoladenkuchen.«
»Du musst also nur in die Kugel schauen und irgendwas murmeln, so von wegen Reise übers Meer und Treffen mit dunkelhäutigen Fremden?«
»So sieht's aus. Ich habe noch nicht wirklich darüber nachgedacht. Río hat mir ein Lehrbuch gegeben, aber das scheint mir ziemlich nutzlos zu sein.«
»Wie macht Río es denn normalerweise?«
»Sie improvisiert - das kann sie ja. Sie hat einfach sehr viel Intuition.«
»Na ja, Fleur, ich sage das nicht gern, aber du und improvisieren ...«
Fleur zuckte mit den Schultern. »Ich versuche es einfach. Río sagt, sie hat letztes Jahr fast vierhundert Euro eingenommen, und Corban hat mir versprochen, er verdoppelt die Summe, die ich einnehme. Und das Geld ist ja fürs Hospiz bestimmt.«
»Aber wenn sich rumspricht, dass du Blödsinn erzählst, wird doch keiner mehr kommen.« Fleur schaute sie beleidigt an. »Es sind doch nur fünf Euro, Daisy. Und für einen guten Zweck.«
»Flirty, wenn du dein Geld nicht wert bist, geben die Leute ihr Geld lieber bei der Tombola aus. Wenn du die Einnahmen verdoppeln willst, musst du dir irgendwas ausdenken, was die Zuhörer beeindruckt.«
»Aber ich kann doch nun mal nicht in die Zukunft schauen, Daisy! Das ist doch albern!«
»Natürlich ist es albern, aber ...« Daisy kniff die Augen zusammen und schenkte Fleur ihr berühmtes Sphinx-Lächeln. »Aber ich habe eine ziemlich gute Idee, glaube ich. Wo ist die Glaskugel?«
»Oben.«
»Zeig mal her.«
»Okay.« Fleur stand auf und streckte sich. »Autsch! Ich muss mich, glaube ich, oben erst mal umziehen. Wenn ich den Kummerbund nicht ausziehe, kann ich keinen Kuchen essen.«
»Warum hast du ihn denn so eng gebunden?«
»Aus Eitelkeit natürlich, chérie.«
Im Schlafzimmer angekommen, sprang Fleur aus dem Kostüm und zog sich eine Jogginghose an. Wenn sie es recht überlegte, war sie froh, dass Daisy sich entschieden hatte, mit dem Modeln aufzuhören. Sie wusste, dass ihr älterer Bruder François gar nicht glücklich war, seine Tochter in einem so oberflächlichen Milieu zu wissen. Sie war seine einzige Tochter, und er beschützte sie wie seinen Augapfel. Er hatte sie ziemlich streng erzogen, wie es in Frankreich üblich war. Fleur erinnerte sich, dass er selbst von ihrem Vater nach Dublin geschickt worden war, um sie zu retten, als sie weggelaufen war. Ironie des Schicksals, dass ihr Bruder sich dann selbst in eine Irin verliebt hatte - und dann auch noch in ein Mädchen aus Galway. So waren beide Geschwister in Irland geblieben und hatten sich an der Westküste ihre Existenz aufgebaut. Fleur hatte ihre Boutique in Lissamore, und er hatte einen Laden für Fischereibedarf im nahen Galway. Schön, dass jemand aus der Familie in der Nähe war, obwohl sie sehr verschieden waren. François war sehr für die Jagd, fürs Schießen und Fischen. Vor allem aber war es schön, dass ihre Nichte in der Nähe war; Daisy war für sie eine Art Ersatztochter.
Ihr Telefon ließ seinen Signalton hören: Daisy hatte ihr ein Foto weitergeleitet. O lá lá, was für ein Spaß! Der Rock wirbelte um ihre Beine, die eng geschnürte Taille betonte ihre Kurven und sie lächelte direkt in die Kamera. Sie schickte es weiter an Corban, nur so zum Spaß. Der Text dazu lautete: Werfen Sie einen Blick in die Zukunft - für eine kleine Gebühr. Dann drückte sie auf Senden.
Als sie mit der Glaskugel und dem Lehrbuch wieder ins Wohnzimmer kam, saß Daisy da und las etwas auf ihrem iPhone.
»Eine großartige Idee, Flirty. Schau dir das mal an.«
»Was denn?«
»Mein Facebook-Profil.«
»Wow, so viele Freunde hast du?«, staunte Fleur bei einem Blick über Daisys Schulter. »Aber was hat das mit deiner großartigen Idee zu tun?«
»Warte nur.«
Sie ging mit dem Cursor auf »Status« ganz oben in dem Profil und tippte: »Wer ist am Wochenende in der Gegend um Coolnamara? Geht zur Wahrsagerin beim Festival in Lissamore, sie ist fantastisch!«
Fleur schaute ihre Nichte skeptisch an. »Daisy, das wird eine Katastrophe!«
»Ach was. Denn du wirst fantastisch sein. Pass auf.«
Daisy klickte auf einen Namen, sodass ein neues Profil aufging. Ein hübsches Mädchen namens Sofia. Daisy scrollte ein Stück herunter, sodass man einiges über Sofia erfuhr: ihren Geburtstag, dass sie Waage war, dass sie Single war, aber nicht bleiben wollte. Ihre Lieblingsfilme waren Mamma Mia und Disneys Die Schöne und das Biest, ihr Lieblingsbuch war Der Junge im gestreiften Pyjama, sie hatte einen braunen Gürtel in Karate und kochte fantastische Nudelgerichte, weil ihre Mutter Italienerin war. Es gab Fotos von ihr, von einigen Reisen rund um die Welt: vor dem Opernhaus in Sydney, vor dem Eiffelturm, dem Colosseum ... Und einige Bemerkungen, die sich auf diese Reisen bezogen. Auf den süßen Typen in Paris und vieles mehr. Und dass sie sich freute, nächstes Wochenende im Club N in Coolnamara zu sein.
»Sehr erhellend, meine Liebe«, sagte Fleur. »Aber warum zeigst du mir das alles?«
»Weil ich ganz sicher weiß, dass sie am Wochenende in Lissamore sein wird.«
»Ja, und?«
»Stell dir mal folgendes vor: Sie sucht in Facebook herum, sie liest, dass auf dem Festival eine tolle Wahrsagerin ist, und sie denkt sich, die probiere ich aus. Versetz dich mal in ihre Lage.«
»Was meinst du denn?«
»Stell dir vor, du wärst Sofia.« Fleur sah Daisy fragend an, zuckte dann mit den Schultern und sagte: »Okay, ich bin Sofia.«
»Herzlich willkommen, Sofia!«, sagte Daisy, verbeugte sich und setzte ein geheimnisvolles Gesicht auf. Dann starrte sie kurz in die Glaskugel, die Fleur auf den Tisch gestellt hatte, und fügte mit übertriebenem osteuropäischem Akzent hinzu: »Ein Waage, würde ich sagen, nicht wahr? Hmm. Was sehe ich noch? Oh, ich sehe dich in einem Hosenanzug. Weiße Hosen und nackte Füße. Du tanzt ... nein, das ist kein Tanz. Es sieht aus wie ein Tritt. Hast du Talent für Karate, Sofia? Und ich sehe noch mehr - du bist weit gereist, viele fremde Länder und Städte. Sydney, Rom, Paris ... und was ist das hier? Ein Club, aber diesmal tanzt du wirklich. In der Zukunft. Vielleicht nächsten Freitag. Du gehst mit einer Freundin zum Tanzen, in einen Club namens ... ich kann es nicht genau erkennen, irgendwas mit N?«
»Nein«, lächelte Fleur, als der Groschen endlich fiel. »Club M heißt er.«
»Siehst du?« Daisy ließ sich mit triumphierendem Lächeln in die Polster fallen. »Verstehst du? Das ist genial! Das spricht sich über Facebook blitzschnell herum, und alle, die an dem langen Wochenende in Coolnamara sind, kommen in Scharen, um dich zu sehen - wie ist dein Künstlername?«
»Keine Ahnung.«
»Na, komm schon. Wie wär's mit Teiresia?«
»Von Thérèse?«
»Nein. Teiresias war ein berühmter Seher im alten Griechenland. «
Fleur seufzte bewundernd auf. »Verstand hat das Mädchen auch noch.«
»Klingt aber gut, musst du zugeben, oder? Die berühmte Madame Teiresia, die alles weiß.«
»Ja, aber Daisy ... wie soll das denn ablaufen?«
»Ganz einfach. Du liest die Profile auf deinem iPhone, das du raffiniert unter dem Tisch versteckst.«
»Aber ich habe kein Facebook-Profil.«
»Ja, ich weiß. Aber du kannst dich unter meinem Namen einloggen. Die Möchtegern-Berühmtheit, das Model Daisy de Saint-Euverte. Du hast doch gesehen, wie viele Freunde ich habe. Und die haben wieder Freunde, und ich habe Einfluss. Manchmal ist es ganz nützlich, überall mitzumischen.«
»Du hast zu viel getrunken, Liebes, das funktioniert nicht.«
»Sei nicht so negativ, Flirty!« Daisy griff nach dem Lehrbuch der Wahrsagerei und blätterte ein wenig darin. »Dank doch einfach mal an die ganze Kohle, die du für die Hospiz-Stiftung einnimmst.«
»Aber wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Da kann so viel schiefgehen. Was, wenn Mr Norman ohne Freunde aus Nenagh reinkommt? Was sage ich denn dem?«
»Dem sagst du, dass es keinen Sinn hat, in seiner Zukunft zu lesen, weil ... er keine hat.«
»Das kann ich doch nicht machen! Der arme Norman denkt doch, er muss bald sterben.«
»Ja, hm, da hast du recht. Aber du kannst ihm sagen, dass du seine Aura nicht siehst. Hör zu, was das Buch sagt: Manchmal kann man in der Glaskugel etwas erkennen, manchmal aber auch nicht. Tatsächlich haben einige der besten Wahrsager sogar wochenweise die Gabe verloren. Lassen Sie sich also nicht entmutigen, wenn die Bilder nicht auf Kommando kommen. Das ist deine Rettung. Das kannst du dir kopieren und an den Eingang deines Zelts hängen.« Daisy warf einen schnellen Blick auf das Buchcover. »Dr. R.A. Mayne. Da siehst du's. Dein spiritueller Mentor hat sogar einen Doktortitel.«
»Aber das Buch ist von 1928!«
»Das müssen deine Kunden ja nicht erfahren. Los jetzt, neuer Versuch. Diesmal kannst du mir wahrsagen. Ich heiße, sagen wir, Jana.« Daisys Finger eilten über ihr iPhone, und dann reichte sie es zu Fleur hinüber.
»Jana!«, sagte Fleur und starrte aufs Display, als müsste sie Hieroglyphen lesen. »Willkommen, Jana!«
»Du musst so tun, als würdest du in die Kugel sehen«, erklärte Daisy.
»Ich kann aber nicht gleichzeitig in die Kugel und auf Janas Profil schauen.«
»Dann brauchst du einen Schleier. Versuch's mal hiermit.« Daisy nahm ihren Schal ab und legte ihn ihrer Tante über den Kopf. »Perfekt, jetzt noch mal.«
»Jana«, wiederholte Fleur. »Dein Sternzeichen sind die Fische, nicht wahr? Ich sehe - hm - ein Buch mit dem Titel Die Frau des Zeitreisenden. Und ich sehe Meryl Streep in Latzhosen - du lieber Himmel, ist denn Mamma mia in jedem Profil bei Facebook?«
»Also wirklich! Du darfst nicht aus der Rolle fallen, Madame Teiresia. Hier trink noch einen Schluck.«
»Danke, Jana. Nun, was sehe ich da? Du singst - und ist das da Simon Cowell? Hast du bei X-Factor vorgesungen?«
Eine Dreiviertelstunde später hatte Fleur noch einem halben Dutzend Leuten die Zukunft vorhergesagt, und allmählich machte es ihr Spaß.
»Nicht schlecht für jemanden, der keine Ahnung von Facebook hat«, bemerkte Daisy und verteilte den Rest aus der Weinflasche auf beide Gläser. »Du kommst auch noch auf den Geschmack, Flirty, warte nur. Aber jetzt kommt der Knüller. Jetzt bin ich Paris Hilton.«
»Paris Hilton ist eine deiner Facebook-Freundinnen?«
»Nein, ist sie nicht. Aber wir wissen doch alles über sie. Es kann doch kein Problem sein, ihre Geheimnisse zu enthüllen.«
»Willkommen«, hauchte Fleur und fuhr mit beiden Händen über die Glaskugel. Aber als sie sich gerade ein paar Fragen für Paris ausdachte, klingelte ihr Telefon in der Küche. Mit dem Weinglas in der Hand entschuldigte sie sich und ging nach nebenan, um das Gespräch anzunehmen. Es war Corban.
»Hallo, chérie«, gurrte sie in den Hörer. Wenn sie ein bisschen zu viel getrunken hatte oder wenn sie wütend war - was selten vorkam -, wurde ihr französischer Akzent ein wenig stärker.
»Ich hab deine Nachricht bekommen«, sagte er ihr. »Und ich muss sagen, du siehst toll aus. Sehr, sehr verführerisch. Weißt du was, Fleur? Ich verdopple deine Einnahmen nicht nur, ich werde sie vervierfachen. Unter einer Bedingung.«
»Nämlich?«
»Wenn ich am Freitag komme, musst du das Kostüm tragen.« Fleur lächelte ins Telefon. »Damit du es mir ausziehen kannst?«
»Nein, damit du es dir ausziehen kannst. Während ich zuschaue. «
Fleur lächelte noch mehr. Sie tat so, als müsste sie darüber nachdenken, und trank einen Schluck aus ihrem Weinglas. Dann lachte sie laut los. »Abgemacht«, sagte sie.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Kate Thompson
Kate Thompson wurde in Belfast geboren und studierte in Dublin französische und englische Literatur, bevor sie eine gefeierte TV- und Theaterschauspielerin wurde. 1989 gewann sie den Best Actress Award. Nach neun Jahren Schauspielerei beschloss sie etwas ganz anderes zu unternehmen: zu schreiben. Heute lebt Kate Thompson mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrer Katze in Dublin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Thompson
- 2013, 1, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652061
- ISBN-13: 9783863652067
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