Ganz oder gar nicht
Autobiografie
Lothar Matthäus erzählt zum ersten Mal seine Geschichte ehrlich, offen und mit viel Selbstkritik: Wie er nach einer einfachen, arbeitsamen Jugend den Sprung in den Profi-Fußball schaffte. Sein Talent ihn immer höher führte, er...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ganz oder gar nicht “
Lothar Matthäus erzählt zum ersten Mal seine Geschichte ehrlich, offen und mit viel Selbstkritik: Wie er nach einer einfachen, arbeitsamen Jugend den Sprung in den Profi-Fußball schaffte. Sein Talent ihn immer höher führte, er Titel um Titel sammelte: Deutschland, Italien, UEFA-Pokal, Weltmeister. Doch Matthäus zeigt auch die dunklen, verborgenen Seiten des Fußballs: Er erzählt von Intrigen durch Vereinskollegen ebenso wie von Koffern voller Geld.
Klappentext zu „Ganz oder gar nicht “
Lothar Matthäus ist eine Legende, viele seiner Tore schrieben Fußballgeschichte. Doch der Rekordnationalspieler musste auch Niederlagen wegstecken - auf dem Platz wie im Privatleben. Nach seiner aktiven Laufbahn wurde Matthäus zum Liebling der Boulevardmedien, seine bedingungslose Ehrlichkeit brachte ihm in der Öffentlichkeit auch Kritik ein.Zum ersten Mal erzählt er nun ganz persönlich seine Geschichte: Authentisch, selbstkritisch und mit großer Offenheit bilanziert er sein Leben mit den großen Sternstunden, aber auch den Schattenseiten.
Lese-Probe zu „Ganz oder gar nicht “
Ganz oder gar nicht von Lothar Matthäus und Martin Häusler1. Kapitel Meine zweite Halbzeit läuft
HIER DER LODDAR, DORT GRANDE LOTHAR
Es ist noch nicht so lange her, da hielt ich mit meinem Auto an einem serbischen Grenzübergang. Ich reichte meinen Pass durchs Fenster und beobachtete den Gesichtsausdruck des Beamten. Er zog die linke Augenbraue hoch, bückte sich, sodass er mir ins Gesicht blicken konnte, und sagte auf Englisch: »Herr Matthäus, ich werde Ihnen Ihren Pass nicht wieder aushändigen können.« Nicht mehr aushändigen? Wie bitte? Ich war entsetzt und fragte nach dem Grund. Da fing er an zu lachen. »Damit Sie das Land nicht mehr verlassen können. Bleiben Sie hier und kümmern Sie sich um unseren Fußball!«
So etwas passiert mir im Ausland.
In Deutschland dagegen würden mir einige am liebsten den Pass wegnehmen, damit ich nicht mehr ins Land reinkomme.
In Italien wiederum interessiert es nicht, welches Auto ich fahre, ob ich als Fünfzigjähriger eine junge Frau habe, viermal geschieden bin oder mich auf einer Pressekonferenz versprochen habe. Es gibt keine Häme, es gibt keinen Spott, es gibt keinen Neid. Ich treffe auf Respekt und Anerkennung.
... mehr
Selbst heute, zwanzig Jahre nach meinen Erfolgen bei Inter Mailand, werde ich im Giuseppe-Meazza-Stadion immer noch von Tausenden mit Applaus empfangen, wenn ich die Tribüne hochgehe, um mir mal wieder ein Spiel anzuschauen. Diese Achtung ist unglaublich; dieses Gefühl, dass man weiterhin ein Teil dieser Familie ist. Der Verein ist längst umstrukturiert, neue Angestellte arbeiten in den Büros, aber die Fans vergessen dich nicht. Sie erinnern sich, was du für ihren Verein geleistet, welche Momente du ihren Herzen geschenkt hast. Egal, wo ich in Italien hinkomme, ob auf Sizilien, in Rom, in Verona oder selbst beim Italiener in München - ich habe dort einen Spitznamen: Il grande. Der Große. Wer in Italien »grande« sagt, meint »Grande Lothar«. Nur hier, in Deutschland, bin ich »der Loddar«. Das ist schon kurios, denn ich finde eigentlich nicht, dass ich fußballerisch für Italien mehr geleistet habe als für Deutschland.
In diesem Buch will ich sowohl den Fans in meiner Heimat als auch den Leuten, die mich Loddar nennen, zeigen, wer ich wirklich bin. Ich habe es zu lange den Journalisten überlassen, über mich zu schreiben. Journalisten, denen ich mich oft zu schnell anvertraut habe, die meinen Namen missbrauchten. So entstand ein Image von mir - aber wer kennt mich wirklich? Die meisten haben sich ein Bild von mir gemacht über provozierende Schlagzeilen, abstruse Anekdoten und billige Pointen. Aber ist das Lothar Matthäus? Bin das ich? Ich werde klarstellen, vervollständigen und erklären, was mich ausmacht, warum ich der bin, der ich bin, und was sich hinter manchen Entscheidungen verborgen hat, die für Irritationen sorgten.
Natürlich ist mir bewusst, dass ich für mein Image auch selbst verantwortlich bin. Zu oft habe ich vergessen, wie interessant ich für die Öffentlichkeit bin. Vielleicht habe ich zu sehr in mein Privatleben blicken lassen, zu viele Interviews gegeben. Nicht unbedingt, weil ich sie geben wollte, sondern - es mag komisch klingen - weil ich ein höflicher Mensch bin und dazu erzogen wurde, auf Fragen zu antworten. Vielleicht war es aber auch mein Kampf um Anerkennung, der mich zu offenherzig werden ließ, zu blind und zu naiv, um zu bemerken, wenn jemand meine Gutmütigkeit ausnutzen wollte. Das gilt für Journalisten, aber auch für Menschen in meinem Umfeld, in denen ich ursprünglich Freunde vermutete. Ich habe erst später realisiert, dass sie nichts anderes waren als Profiteure.
Ich habe daraus gelernt, und trotzdem wird mir dieser Fehler vielleicht auch zukünftig passieren. Ich will mich nicht verbiegen.
HERZ GEHT VOR GEHIRN
Eines kann ich mir jedoch nicht vorwerfen: dass das, was ich der Öffentlichkeit preisgab, unehrlich oder verfälscht gewesen wäre. Ich bin Ehrlichkeitsfanatiker. Ich bin Gerechtigkeitsfanatiker. Und ich bin ein Herzmensch. Das heißt, ich handele aus dem Herzen - so sehr, dass ich mir manchmal wünschte, mehr das Hirn benutzt zu haben. Aber mein Herz überstimmte regelmäßig den Kopf.
Trotz der vielen unliebsamen Dinge, die ich mit dieser Maxime erlebt habe, stehe ich nach wie vor zur Stimme meines Herzens. Weil ich an das Gute glauben will. Weil ich mich um andere sorgen, weil ich vertrauen will. Deshalb bereue ich auch keine Hochzeit, denn sie kamen alle von Herzen. Sie waren alle ehrlich und folgten meinem inneren Leitsatz: Mache es ganz, oder mache es gar nicht! Natürlich hätte ich auch hier zu mir sagen können: »Lothar, bist du wahnsinnig! Nach vier Monaten heiraten? Kann das gut gehen?« Warum nicht? Ganz oder gar nicht.
Ist man in einer mitunter verlogenen und sinnentleerten Welt auf der Suche und trifft dabei seine Entscheidungen meist aus dem Herzen, läuft man nun mal Gefahr, häufiger zu scheitern als andere. Ich bin häufiger gescheitert. In der Ehe wie im Fußball. Wobei meine privaten Niederlagen die schlimmsten waren, die ich je erlebt habe, schlimmer als jeder verpasste Pokal.
Meine Prinzipien habe ich deswegen nicht geändert. Selbst dann nicht, wenn ich merkte, dass mein Vertrauen ausgenutzt wurde oder Ausgebufftere auf Traumposten gelandet sind. Auch über die Kollision meiner Werte und Prinzipien mit den Regeln dieser Branche und den Ansprüchen mancher Lebensgefährtin werde ich in diesem Buch schreiben.
SEHNSUCHT NACH RUHE
In den letzten Jahren wurde ich von einer großen Sehnsucht getrieben. Damit meine ich nicht so sehr die Sehnsucht, im Privaten endlich anzukommen, ein letztes Mal zu heiraten, noch einmal Vater zu werden und einen Ruhepol zu finden. Die Sehnsucht hieß, endlich meine Qualitäten als Trainer auch in meiner Heimat zeigen zu können. Im Ausland hatte der Weg meiner Mannschaften ja auf unterschiedlichste Art und Weise meist nach oben geführt. Neben den sportlichen Erfolgen in den Meisterschaften und Pokalwettbewerben und trotz aller unrühmlichen Schlagzeilen habe ich in Österreich, Serbien, Israel und Ungarn vor allem stabile Fundamente hinterlassen. Ich entdeckte viele neue Talente, die heute Nationalspieler sind oder im Ausland unter Vertrag stehen. Die Jungs hatten Respekt vor mir und vertrauten sich mir an, als sei ich ihr Vater. Das macht mich stolz und zufrieden. Ich konnte dabei viel lernen. Auf meinen Trainerstationen begegnete ich den unterschiedlichsten Mentalitäten und entwickelte ein Gespür dafür, wie man mit Spielern individuell umgehen muss. Gerade bei den Multikultimannschaften von heute sind solche Erkenntnisse extrem wichtig. Auch in Deutschland.
Nur hat es in dem Land, in dem ich mit neun Jahren meinen Spieler- pass erhielt, mit 18 in die erste Bundesliga wechselte, sieben Meistertitel errang und zweimal den DFB-Pokal hochhielt, für das ich sowohl Weltmeister als auch Europameister wurde, bisher nicht hingehauen. Ich sage nicht, dass es ungerecht ist, in Deutschland noch keinen Trainerjob bekommen zu haben. Vielleicht traut man sich nicht, weil ich zu sehr polarisiere, vielleicht hat man Angst vor dem starken Fokus, der auf mir liegt, oder man ist voreingenommen aufgrund der Geschichten, die aus meinem Leben an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Ich werde in diesem Buch erzählen, wie trotz alledem viele Manager und Präsidenten mit mir redeten und welche Umstände im letzten Moment dazu führten, dass doch nichts daraus wurde.
Inzwischen hat sich meine große Sehnsucht gelegt. Auch weil ich der Bundesliga zumindest zurzeit keine großen Experimente zutraue. Ich habe das Gefühl, dass sich die Liga aus einem Karussell mit 25 Trainern bedient. Fliegt einer raus, kommt direkt der nächste Altbekannte. Man verlässt sich auf die Trainer, die man kennt. Egal wie mittelmäßig oder wie erfolglos. Egal wie oft abgestiegen oder rausgeschmissen. Michael Skibbe wird aus Erfolglosigkeit in Frankfurt entlassen, fünf Monate später ist er Cheftrainer bei Hertha BSC Berlin und überlebt dort gerade mal sechs Wochen. Auf ihn folgt mit Otto Rehhagel ein über Siebzigjähriger, der trotz seiner großen Verdienste auch nicht imstande ist, den Klassen- erhalt zu schaffen. Das sind Beispiele einer merkwürdigen Personalpolitik in einem millionenschweren Business, über die nicht nur ich, sondern längst auch Spieler und Fans die Stirn runzeln. Der Fußball kann doch nur profitieren von neuen Leuten, von anderen Gesichtern, von charismatischen Trainern, die auch mal polarisieren. Wenn ich immer nur auf denselben Personalpool zurückgreife, kann sich kaum etwas verändern.
Aus diesen Gründen habe ich meinen Wunsch vielleicht nicht begraben, aber doch losgelassen, damit er meinem Lebensglück nicht mehr im Wege steht.
DIE MEINUNG DER ANDEREN
Klar könnte ich spekulieren: Hätte ich meine Karriere in München beendet, wäre ich heute Trainer vom FC Bayern. Aber ich bin kein Typ, der Dinge aus der Vergangenheit lange mit sich herumschleppt und sein Herz dadurch schwer werden lässt. Ich habe nie lange gefeiert und mir auf Siege etwas eingebildet. Ich habe aber auch Niederlagen oder falsche Entscheidungen nie lange betrauert.
Meine Karriere als Trainer ist bisher nicht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich kann mich doch nicht hinsetzen und lauthals lamentieren, wie es der Deutsche so gerne macht. Ich habe mein Leben, ich habe meine Freunde, ich bin gesund, ich habe eine gewisse Sicherheit, und ich habe vor allem eines: Freiheit. Und solange ich keinen Trainerjob habe, genieße ich sie. Eine Freiheit, die ein Karl-Heinz Rummenigge vielleicht nicht hat, weil er jeden Tag am Schreibtisch sitzen muss. Daher komme ich auch gut damit zurecht, wenn Karl-Heinz öffentlich äußert, die zweite Lebenshälfte des Lothar Matthäus sei ja bisher nicht so positiv verlaufen. Ich fresse solche Kommentare nicht mehr wie früher in mich hinein, weil ich weiß, dass irgendwann auch wieder andere Zeiten kommen werden.
Ich war immer zufrieden mit dem, was ich hatte. Ich wäre auch als Raumausstatter oder Innenarchitekt glücklich geworden. Vielleicht hätte ich dann längst das warme Zuhause, das ich suche, vielleicht wäre ich nicht viermal geschieden. Vielleicht müsste ich dann nicht immer Koffer packen. Andererseits hätte ich vieles andere nicht erleben können, großartige Momente, wertvolle Begegnungen und lehrreiche Misserfolge.
2. Kapitel Meine Heimat, meine Wurzeln
EINE FAMILIE IN FRANKEN
Ich bin ein Arbeiterkind. Der Lebensinhalt meiner Eltern war die Arbeit, tägliche, harte, ehrliche Arbeit. Blicke ich zurück auf meine Kindheit, sehe ich die beiden eigentlich immer nur arbeiten. Ihnen ist nichts geschenkt worden, und so lernte ich, dass ohne Arbeit auch mir nichts geschenkt werden würde.
Mein Vater Heinz stammt aus Schlesien. Er hat nie viel über seine Heimat erzählt, nur die Geschichte von der Flucht hörten wir immer wieder. Wie sie als neunköpfige Familie ihr Zuhause in Triebel verlassen mussten, weil »der Russe« nahte. Triebel liegt drei Kilometer östlich der Neiße und heißt heute Trzebiel. Mein Großvater war dort Stellmacher, er hatte eine eigene Werkstatt in dem 2 400 Einwohner kleinen Städtchen. Mehrfach war er mit seiner Familie umgezogen, um schließlich hier heimisch zu werden.
Als sich der Zweite Weltkrieg dem Ende neigte und die Radiomeldungen Anfang Februar 1945 immer bedrohlicher klangen, wollten sie alle weg. Es waren zu viele, um rechtzeitig in Sicherheit gelangen zu können. Doch weil sich eines Abends deutsche Soldaten bei meinen Großeltern selbst zum Essen einluden, bekamen sie die Gelegenheit, schon am nächsten Tag mit dem Militärbus nach Hoyerswerda mitgenommen zu werden. Von dort würde ein Flüchtlingszug Richtung Westen gehen. Am 15. Februar 1945 - das Datum weiß mein Vater noch ganz genau - verließen sie ihre Heimat für immer. Sie zogen so viel Schichten Kleidung übereinander, wie sie nur konnten, packten so viele Koffer, wie sie besaßen, und begaben sich auf eine Fahrt ins Ungewisse. Mit 14 anderen Flüchtlingen in einen Güterwaggon gepfercht kam der Matthäus- Clan nach drei Tagen und drei Nächten in seiner neuen Heimat an. Niemand wusste, wo man war. Es hätte das Rheinland sein können, es hätte Ostfriesland sein können. Aber es war Franken. Noch am Bahnhof von Erlangen wurden die Familien aufgeteilt und in alle Ecken der Region geschickt. Für meine Familie ging es nach Höfen, eine kleine Ortschaft westlich von Herzogenaurach. Von Herzen willkommen waren sie hier nicht.
Mein Vater war damals vierzehn Jahre alt und das älteste aller Geschwisterkinder. Er wurde von klein auf hart rangenommen und in die Arbeitsabläufe integriert. Schon auf der Flucht war es an ihm, mit ein wenig Geld in der Tasche aus dem Güterwaggon zu springen, um mit irgendetwas Essbarem zurückzukommen, das alle neun satt machte. »Freiheit«, hat mein Vater mal gesagt, »Freiheit haben wir eigentlich nie groß gehabt.« Obwohl er die Leibesertüchtigung - wie es damals hieß - liebte, reihenweise Goldene Sportabzeichen nach Hause getragen hatte, einen ganz guten Fußball spielte und daher eigentlich immer Sportlehrer werden wollte, schlug er den Berufsweg seines Vaters ein. 1949 schloss er im väterlichen Betrieb seine Zimmermannslehre ab. Eine handwerkliche Tradition, der auch ich mich später anschließen sollte.
Im gleichen Jahr lernte mein Vater meine Mutter kennen. »Aus Blödsinn «, sagt er heute noch. Damit meint er die Weihnachtsfeier des FC Herzogenaurach, auf der man sich in der Gaststätte Zum Weißen Hahn näherkam. Katharina, meine Mutter, war genauso alt wie mein Vater. Sie hatte keine Vertreibung hinter sich, sie war ein Mädchen aus dem Ort. Ihr Vater, der Betreiber des Wasserwerks, wurde an die russische Front geschickt und kehrte nie wieder aus dem Krieg zurück. Obwohl meine Großmutter immer auf ein Wiedersehen hoffte, wurde der Vermisste irgendwann für tot erklärt, damit es wenigstens Witwenrente geben konnte. Meine Großmutter starb leider schon 1954. Zwei Jahre später heirateten meine Eltern. Es war eine nicht gern gesehene evangelisch-katholische Mischehe, die im konservativen Bayern dazu führte, dass ich einige Jahre später selbstverständlich katholisch getauft wurde.
Im Jahr 1960 trat mein Vater seinen Job bei Puma an, als Hausmeister. Er war zwar gelernter Schreiner, wurde aber schnell zum Mädchen für alles, reparierte, schraubte, wechselte Glühbirnen aus, verkaufte Snacks und Getränke und half, wo Not am Mann war. Für einen Arbeitsbesessenen wie ihn war es geradezu ideal, dass er mit meiner Mutter eine Wohnung in der Würzburger Straße 11 fand, direkt neben dem Firmengelände von Puma. Von Tür zu Tür brauchte er nicht mal eine Minute.
Meine Mutter stellte meinem Vater morgens um fünf nicht nur sein Frühstück hin und schmiss den ganzen Haushalt, sondern saß zusätzlich in stundenlanger Heimarbeit für Puma an der Steppmaschine. Ständig bekam sie Kartons unfertiger Fußballschuhe geliefert, um sie mit den nächsten Arbeitsschritten zu komplettieren. Gut möglich, dass ich irgendwann einmal einen Schuh trug, den meine Mutter zusammengenäht hatte.
ICH WAR DER SOHN VON PUMA
Das Leben meiner Eltern stand derart im Zeichen der Arbeit, dass mein Vater seinen Pflichten bei Puma selbst dann nachging, als ich am 21. März 1961 um 15.20 Uhr geboren wurde. Es war der Hausarzt, der meine Mutter ins Krankenhaus nach Erlangen fuhr.
Ich wuchs mit einem vier Jahre älteren und damit zwei Köpfe größeren Bruder auf. Wolfgang spielte auch Fußball. Zusammen kickten wir mit allem, was uns vor die Füße kam. Wir verstanden uns gut, auch wenn ich immer seine abgetragenen Sachen anziehen und seine alten Fahrräder fahren musste. Wolfgang hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich für ihn nur der kleine Bruder bin. Dennoch wollte ich mich natürlich ständig mit ihm messen. Ich wollte allen beweisen, dass ich mithalten kann. Ich glaube, dass ich durch diese bis zur Erschöpfung geführten Eins-gegeneins- Spiele im Hinterhof oder im Wohnzimmer sowie die ständigen Ringkämpfe mit Wolfgang angefangen habe zu lernen, mich auch gegen vermeintlich Stärkere durchzusetzen.
Wenn man so will, war dieser Hinterhof die Keimzelle meines Könnens. Wo heute ein weiteres Einfamilienhaus mit gepflastertem Carport steht, lieferte ich mir mit meinem Bruder Zweikämpfe auf einem unebenen Lehmboden, auf dem der Ball ständig versprang. Rechts und links die Gemüsebeete meiner Eltern, unser Tor war die obligatorische Teppichstange. War ich alleine, war die Mauer mein Anspielpartner. Vielleicht habe ich schon hier gelernt, wie es funktioniert, platziert zu spielen, nicht übers Tor zu schießen oder Freistöße ständig in die Wolken zu jagen. Denn schoss ich zu hoch, zersprang die einfach verglaste Fensterscheibe der Oma, die dahinter wohnte. »Halt den Ball flach im Hinterhof!«, schimpfte mein Vater mit mir, der die neue Scheibe nicht nur bezahlen musste, sondern immer auch höchstpersönlich einsetzte.
Das alte Haus steht noch. Wir bewohnten rund siebzig Quadratmeter im ersten Stock, der über eine quietschende und blank gebohnerte Holztreppe zu erreichen war. Vom Flur aus ging es rechts in die große Küche, in der wir uns morgens und abends auch wuschen. Für damalige Zeiten nichts Ungewöhnliches. Toilette und Bad lagen im Erdgeschoss. Vier Mietparteien hatten sich abzustimmen, also musste man vor der Toilette zuweilen auch warten. Das Bad nutzten wir nur samstags, dann war uns für eine Stunde heißes Wasser zugeteilt. Einmal wurde die Wanne vollgemacht, und der Countdown lief. Mein Bruder und ich bekamen je zehn Minuten. In warmem Wasser und Badeschaum zu spielen und zu entspannen, daran war nicht zu denken.
Neben der Küche gab es noch das Wohnzimmer und hinten die zwei Schlafzimmer, eines für meine Eltern, eines für mich und meinen Bruder. Unser Kinderzimmer war kärglich und erinnerte an eine Jugendherberge oder eine Kaserne. Ein Etagenbett aus Holz, zwei Schränke, fertig. Selbst für die Hausaufgaben war kein Platz, dafür setzten wir uns an den Küchentisch. An die Wände hatten mein Bruder und ich Poster von Borussia Mönchengladbach gepinnt, von Berti Vogts und Günter Netzer. Die Deko hatten wir über meinen Vater bekommen, denn Puma war Ausrüster von Mönchengladbach. Der FC Bayern München interessierte uns nicht; für den war Adidas zuständig.
Puma und Adidas gingen aus ein und derselben Herzogenauracher Schuhmacher-Familie hervor. Die zwei Brüder Adolf und Rudolf Dassler gründeten in den zwanziger Jahren eine gemeinsame Sportschuhproduktion und zerstritten sich - nein, das ist untertrieben, sie waren bis aufs Blut verfeindet. 1948 gingen sie getrennte Wege. Adolf (später sein Sohn Horst) baute das Adidas-Imperium auf, Rudolf (später sein Sohn Armin) begründete das Puma-Imperium. Beide stellten in bitterer Konkurrenz Sportschuhe her, Kontakt hatten die Familien untereinander kaum bis gar nicht. Diese Feindschaft war im Dorf kein Geheimnis, von Betrügereien war die Rede und auch von Denunziationen im Nationalsozialismus.
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Selbst heute, zwanzig Jahre nach meinen Erfolgen bei Inter Mailand, werde ich im Giuseppe-Meazza-Stadion immer noch von Tausenden mit Applaus empfangen, wenn ich die Tribüne hochgehe, um mir mal wieder ein Spiel anzuschauen. Diese Achtung ist unglaublich; dieses Gefühl, dass man weiterhin ein Teil dieser Familie ist. Der Verein ist längst umstrukturiert, neue Angestellte arbeiten in den Büros, aber die Fans vergessen dich nicht. Sie erinnern sich, was du für ihren Verein geleistet, welche Momente du ihren Herzen geschenkt hast. Egal, wo ich in Italien hinkomme, ob auf Sizilien, in Rom, in Verona oder selbst beim Italiener in München - ich habe dort einen Spitznamen: Il grande. Der Große. Wer in Italien »grande« sagt, meint »Grande Lothar«. Nur hier, in Deutschland, bin ich »der Loddar«. Das ist schon kurios, denn ich finde eigentlich nicht, dass ich fußballerisch für Italien mehr geleistet habe als für Deutschland.
In diesem Buch will ich sowohl den Fans in meiner Heimat als auch den Leuten, die mich Loddar nennen, zeigen, wer ich wirklich bin. Ich habe es zu lange den Journalisten überlassen, über mich zu schreiben. Journalisten, denen ich mich oft zu schnell anvertraut habe, die meinen Namen missbrauchten. So entstand ein Image von mir - aber wer kennt mich wirklich? Die meisten haben sich ein Bild von mir gemacht über provozierende Schlagzeilen, abstruse Anekdoten und billige Pointen. Aber ist das Lothar Matthäus? Bin das ich? Ich werde klarstellen, vervollständigen und erklären, was mich ausmacht, warum ich der bin, der ich bin, und was sich hinter manchen Entscheidungen verborgen hat, die für Irritationen sorgten.
Natürlich ist mir bewusst, dass ich für mein Image auch selbst verantwortlich bin. Zu oft habe ich vergessen, wie interessant ich für die Öffentlichkeit bin. Vielleicht habe ich zu sehr in mein Privatleben blicken lassen, zu viele Interviews gegeben. Nicht unbedingt, weil ich sie geben wollte, sondern - es mag komisch klingen - weil ich ein höflicher Mensch bin und dazu erzogen wurde, auf Fragen zu antworten. Vielleicht war es aber auch mein Kampf um Anerkennung, der mich zu offenherzig werden ließ, zu blind und zu naiv, um zu bemerken, wenn jemand meine Gutmütigkeit ausnutzen wollte. Das gilt für Journalisten, aber auch für Menschen in meinem Umfeld, in denen ich ursprünglich Freunde vermutete. Ich habe erst später realisiert, dass sie nichts anderes waren als Profiteure.
Ich habe daraus gelernt, und trotzdem wird mir dieser Fehler vielleicht auch zukünftig passieren. Ich will mich nicht verbiegen.
HERZ GEHT VOR GEHIRN
Eines kann ich mir jedoch nicht vorwerfen: dass das, was ich der Öffentlichkeit preisgab, unehrlich oder verfälscht gewesen wäre. Ich bin Ehrlichkeitsfanatiker. Ich bin Gerechtigkeitsfanatiker. Und ich bin ein Herzmensch. Das heißt, ich handele aus dem Herzen - so sehr, dass ich mir manchmal wünschte, mehr das Hirn benutzt zu haben. Aber mein Herz überstimmte regelmäßig den Kopf.
Trotz der vielen unliebsamen Dinge, die ich mit dieser Maxime erlebt habe, stehe ich nach wie vor zur Stimme meines Herzens. Weil ich an das Gute glauben will. Weil ich mich um andere sorgen, weil ich vertrauen will. Deshalb bereue ich auch keine Hochzeit, denn sie kamen alle von Herzen. Sie waren alle ehrlich und folgten meinem inneren Leitsatz: Mache es ganz, oder mache es gar nicht! Natürlich hätte ich auch hier zu mir sagen können: »Lothar, bist du wahnsinnig! Nach vier Monaten heiraten? Kann das gut gehen?« Warum nicht? Ganz oder gar nicht.
Ist man in einer mitunter verlogenen und sinnentleerten Welt auf der Suche und trifft dabei seine Entscheidungen meist aus dem Herzen, läuft man nun mal Gefahr, häufiger zu scheitern als andere. Ich bin häufiger gescheitert. In der Ehe wie im Fußball. Wobei meine privaten Niederlagen die schlimmsten waren, die ich je erlebt habe, schlimmer als jeder verpasste Pokal.
Meine Prinzipien habe ich deswegen nicht geändert. Selbst dann nicht, wenn ich merkte, dass mein Vertrauen ausgenutzt wurde oder Ausgebufftere auf Traumposten gelandet sind. Auch über die Kollision meiner Werte und Prinzipien mit den Regeln dieser Branche und den Ansprüchen mancher Lebensgefährtin werde ich in diesem Buch schreiben.
SEHNSUCHT NACH RUHE
In den letzten Jahren wurde ich von einer großen Sehnsucht getrieben. Damit meine ich nicht so sehr die Sehnsucht, im Privaten endlich anzukommen, ein letztes Mal zu heiraten, noch einmal Vater zu werden und einen Ruhepol zu finden. Die Sehnsucht hieß, endlich meine Qualitäten als Trainer auch in meiner Heimat zeigen zu können. Im Ausland hatte der Weg meiner Mannschaften ja auf unterschiedlichste Art und Weise meist nach oben geführt. Neben den sportlichen Erfolgen in den Meisterschaften und Pokalwettbewerben und trotz aller unrühmlichen Schlagzeilen habe ich in Österreich, Serbien, Israel und Ungarn vor allem stabile Fundamente hinterlassen. Ich entdeckte viele neue Talente, die heute Nationalspieler sind oder im Ausland unter Vertrag stehen. Die Jungs hatten Respekt vor mir und vertrauten sich mir an, als sei ich ihr Vater. Das macht mich stolz und zufrieden. Ich konnte dabei viel lernen. Auf meinen Trainerstationen begegnete ich den unterschiedlichsten Mentalitäten und entwickelte ein Gespür dafür, wie man mit Spielern individuell umgehen muss. Gerade bei den Multikultimannschaften von heute sind solche Erkenntnisse extrem wichtig. Auch in Deutschland.
Nur hat es in dem Land, in dem ich mit neun Jahren meinen Spieler- pass erhielt, mit 18 in die erste Bundesliga wechselte, sieben Meistertitel errang und zweimal den DFB-Pokal hochhielt, für das ich sowohl Weltmeister als auch Europameister wurde, bisher nicht hingehauen. Ich sage nicht, dass es ungerecht ist, in Deutschland noch keinen Trainerjob bekommen zu haben. Vielleicht traut man sich nicht, weil ich zu sehr polarisiere, vielleicht hat man Angst vor dem starken Fokus, der auf mir liegt, oder man ist voreingenommen aufgrund der Geschichten, die aus meinem Leben an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Ich werde in diesem Buch erzählen, wie trotz alledem viele Manager und Präsidenten mit mir redeten und welche Umstände im letzten Moment dazu führten, dass doch nichts daraus wurde.
Inzwischen hat sich meine große Sehnsucht gelegt. Auch weil ich der Bundesliga zumindest zurzeit keine großen Experimente zutraue. Ich habe das Gefühl, dass sich die Liga aus einem Karussell mit 25 Trainern bedient. Fliegt einer raus, kommt direkt der nächste Altbekannte. Man verlässt sich auf die Trainer, die man kennt. Egal wie mittelmäßig oder wie erfolglos. Egal wie oft abgestiegen oder rausgeschmissen. Michael Skibbe wird aus Erfolglosigkeit in Frankfurt entlassen, fünf Monate später ist er Cheftrainer bei Hertha BSC Berlin und überlebt dort gerade mal sechs Wochen. Auf ihn folgt mit Otto Rehhagel ein über Siebzigjähriger, der trotz seiner großen Verdienste auch nicht imstande ist, den Klassen- erhalt zu schaffen. Das sind Beispiele einer merkwürdigen Personalpolitik in einem millionenschweren Business, über die nicht nur ich, sondern längst auch Spieler und Fans die Stirn runzeln. Der Fußball kann doch nur profitieren von neuen Leuten, von anderen Gesichtern, von charismatischen Trainern, die auch mal polarisieren. Wenn ich immer nur auf denselben Personalpool zurückgreife, kann sich kaum etwas verändern.
Aus diesen Gründen habe ich meinen Wunsch vielleicht nicht begraben, aber doch losgelassen, damit er meinem Lebensglück nicht mehr im Wege steht.
DIE MEINUNG DER ANDEREN
Klar könnte ich spekulieren: Hätte ich meine Karriere in München beendet, wäre ich heute Trainer vom FC Bayern. Aber ich bin kein Typ, der Dinge aus der Vergangenheit lange mit sich herumschleppt und sein Herz dadurch schwer werden lässt. Ich habe nie lange gefeiert und mir auf Siege etwas eingebildet. Ich habe aber auch Niederlagen oder falsche Entscheidungen nie lange betrauert.
Meine Karriere als Trainer ist bisher nicht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich kann mich doch nicht hinsetzen und lauthals lamentieren, wie es der Deutsche so gerne macht. Ich habe mein Leben, ich habe meine Freunde, ich bin gesund, ich habe eine gewisse Sicherheit, und ich habe vor allem eines: Freiheit. Und solange ich keinen Trainerjob habe, genieße ich sie. Eine Freiheit, die ein Karl-Heinz Rummenigge vielleicht nicht hat, weil er jeden Tag am Schreibtisch sitzen muss. Daher komme ich auch gut damit zurecht, wenn Karl-Heinz öffentlich äußert, die zweite Lebenshälfte des Lothar Matthäus sei ja bisher nicht so positiv verlaufen. Ich fresse solche Kommentare nicht mehr wie früher in mich hinein, weil ich weiß, dass irgendwann auch wieder andere Zeiten kommen werden.
Ich war immer zufrieden mit dem, was ich hatte. Ich wäre auch als Raumausstatter oder Innenarchitekt glücklich geworden. Vielleicht hätte ich dann längst das warme Zuhause, das ich suche, vielleicht wäre ich nicht viermal geschieden. Vielleicht müsste ich dann nicht immer Koffer packen. Andererseits hätte ich vieles andere nicht erleben können, großartige Momente, wertvolle Begegnungen und lehrreiche Misserfolge.
2. Kapitel Meine Heimat, meine Wurzeln
EINE FAMILIE IN FRANKEN
Ich bin ein Arbeiterkind. Der Lebensinhalt meiner Eltern war die Arbeit, tägliche, harte, ehrliche Arbeit. Blicke ich zurück auf meine Kindheit, sehe ich die beiden eigentlich immer nur arbeiten. Ihnen ist nichts geschenkt worden, und so lernte ich, dass ohne Arbeit auch mir nichts geschenkt werden würde.
Mein Vater Heinz stammt aus Schlesien. Er hat nie viel über seine Heimat erzählt, nur die Geschichte von der Flucht hörten wir immer wieder. Wie sie als neunköpfige Familie ihr Zuhause in Triebel verlassen mussten, weil »der Russe« nahte. Triebel liegt drei Kilometer östlich der Neiße und heißt heute Trzebiel. Mein Großvater war dort Stellmacher, er hatte eine eigene Werkstatt in dem 2 400 Einwohner kleinen Städtchen. Mehrfach war er mit seiner Familie umgezogen, um schließlich hier heimisch zu werden.
Als sich der Zweite Weltkrieg dem Ende neigte und die Radiomeldungen Anfang Februar 1945 immer bedrohlicher klangen, wollten sie alle weg. Es waren zu viele, um rechtzeitig in Sicherheit gelangen zu können. Doch weil sich eines Abends deutsche Soldaten bei meinen Großeltern selbst zum Essen einluden, bekamen sie die Gelegenheit, schon am nächsten Tag mit dem Militärbus nach Hoyerswerda mitgenommen zu werden. Von dort würde ein Flüchtlingszug Richtung Westen gehen. Am 15. Februar 1945 - das Datum weiß mein Vater noch ganz genau - verließen sie ihre Heimat für immer. Sie zogen so viel Schichten Kleidung übereinander, wie sie nur konnten, packten so viele Koffer, wie sie besaßen, und begaben sich auf eine Fahrt ins Ungewisse. Mit 14 anderen Flüchtlingen in einen Güterwaggon gepfercht kam der Matthäus- Clan nach drei Tagen und drei Nächten in seiner neuen Heimat an. Niemand wusste, wo man war. Es hätte das Rheinland sein können, es hätte Ostfriesland sein können. Aber es war Franken. Noch am Bahnhof von Erlangen wurden die Familien aufgeteilt und in alle Ecken der Region geschickt. Für meine Familie ging es nach Höfen, eine kleine Ortschaft westlich von Herzogenaurach. Von Herzen willkommen waren sie hier nicht.
Mein Vater war damals vierzehn Jahre alt und das älteste aller Geschwisterkinder. Er wurde von klein auf hart rangenommen und in die Arbeitsabläufe integriert. Schon auf der Flucht war es an ihm, mit ein wenig Geld in der Tasche aus dem Güterwaggon zu springen, um mit irgendetwas Essbarem zurückzukommen, das alle neun satt machte. »Freiheit«, hat mein Vater mal gesagt, »Freiheit haben wir eigentlich nie groß gehabt.« Obwohl er die Leibesertüchtigung - wie es damals hieß - liebte, reihenweise Goldene Sportabzeichen nach Hause getragen hatte, einen ganz guten Fußball spielte und daher eigentlich immer Sportlehrer werden wollte, schlug er den Berufsweg seines Vaters ein. 1949 schloss er im väterlichen Betrieb seine Zimmermannslehre ab. Eine handwerkliche Tradition, der auch ich mich später anschließen sollte.
Im gleichen Jahr lernte mein Vater meine Mutter kennen. »Aus Blödsinn «, sagt er heute noch. Damit meint er die Weihnachtsfeier des FC Herzogenaurach, auf der man sich in der Gaststätte Zum Weißen Hahn näherkam. Katharina, meine Mutter, war genauso alt wie mein Vater. Sie hatte keine Vertreibung hinter sich, sie war ein Mädchen aus dem Ort. Ihr Vater, der Betreiber des Wasserwerks, wurde an die russische Front geschickt und kehrte nie wieder aus dem Krieg zurück. Obwohl meine Großmutter immer auf ein Wiedersehen hoffte, wurde der Vermisste irgendwann für tot erklärt, damit es wenigstens Witwenrente geben konnte. Meine Großmutter starb leider schon 1954. Zwei Jahre später heirateten meine Eltern. Es war eine nicht gern gesehene evangelisch-katholische Mischehe, die im konservativen Bayern dazu führte, dass ich einige Jahre später selbstverständlich katholisch getauft wurde.
Im Jahr 1960 trat mein Vater seinen Job bei Puma an, als Hausmeister. Er war zwar gelernter Schreiner, wurde aber schnell zum Mädchen für alles, reparierte, schraubte, wechselte Glühbirnen aus, verkaufte Snacks und Getränke und half, wo Not am Mann war. Für einen Arbeitsbesessenen wie ihn war es geradezu ideal, dass er mit meiner Mutter eine Wohnung in der Würzburger Straße 11 fand, direkt neben dem Firmengelände von Puma. Von Tür zu Tür brauchte er nicht mal eine Minute.
Meine Mutter stellte meinem Vater morgens um fünf nicht nur sein Frühstück hin und schmiss den ganzen Haushalt, sondern saß zusätzlich in stundenlanger Heimarbeit für Puma an der Steppmaschine. Ständig bekam sie Kartons unfertiger Fußballschuhe geliefert, um sie mit den nächsten Arbeitsschritten zu komplettieren. Gut möglich, dass ich irgendwann einmal einen Schuh trug, den meine Mutter zusammengenäht hatte.
ICH WAR DER SOHN VON PUMA
Das Leben meiner Eltern stand derart im Zeichen der Arbeit, dass mein Vater seinen Pflichten bei Puma selbst dann nachging, als ich am 21. März 1961 um 15.20 Uhr geboren wurde. Es war der Hausarzt, der meine Mutter ins Krankenhaus nach Erlangen fuhr.
Ich wuchs mit einem vier Jahre älteren und damit zwei Köpfe größeren Bruder auf. Wolfgang spielte auch Fußball. Zusammen kickten wir mit allem, was uns vor die Füße kam. Wir verstanden uns gut, auch wenn ich immer seine abgetragenen Sachen anziehen und seine alten Fahrräder fahren musste. Wolfgang hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich für ihn nur der kleine Bruder bin. Dennoch wollte ich mich natürlich ständig mit ihm messen. Ich wollte allen beweisen, dass ich mithalten kann. Ich glaube, dass ich durch diese bis zur Erschöpfung geführten Eins-gegeneins- Spiele im Hinterhof oder im Wohnzimmer sowie die ständigen Ringkämpfe mit Wolfgang angefangen habe zu lernen, mich auch gegen vermeintlich Stärkere durchzusetzen.
Wenn man so will, war dieser Hinterhof die Keimzelle meines Könnens. Wo heute ein weiteres Einfamilienhaus mit gepflastertem Carport steht, lieferte ich mir mit meinem Bruder Zweikämpfe auf einem unebenen Lehmboden, auf dem der Ball ständig versprang. Rechts und links die Gemüsebeete meiner Eltern, unser Tor war die obligatorische Teppichstange. War ich alleine, war die Mauer mein Anspielpartner. Vielleicht habe ich schon hier gelernt, wie es funktioniert, platziert zu spielen, nicht übers Tor zu schießen oder Freistöße ständig in die Wolken zu jagen. Denn schoss ich zu hoch, zersprang die einfach verglaste Fensterscheibe der Oma, die dahinter wohnte. »Halt den Ball flach im Hinterhof!«, schimpfte mein Vater mit mir, der die neue Scheibe nicht nur bezahlen musste, sondern immer auch höchstpersönlich einsetzte.
Das alte Haus steht noch. Wir bewohnten rund siebzig Quadratmeter im ersten Stock, der über eine quietschende und blank gebohnerte Holztreppe zu erreichen war. Vom Flur aus ging es rechts in die große Küche, in der wir uns morgens und abends auch wuschen. Für damalige Zeiten nichts Ungewöhnliches. Toilette und Bad lagen im Erdgeschoss. Vier Mietparteien hatten sich abzustimmen, also musste man vor der Toilette zuweilen auch warten. Das Bad nutzten wir nur samstags, dann war uns für eine Stunde heißes Wasser zugeteilt. Einmal wurde die Wanne vollgemacht, und der Countdown lief. Mein Bruder und ich bekamen je zehn Minuten. In warmem Wasser und Badeschaum zu spielen und zu entspannen, daran war nicht zu denken.
Neben der Küche gab es noch das Wohnzimmer und hinten die zwei Schlafzimmer, eines für meine Eltern, eines für mich und meinen Bruder. Unser Kinderzimmer war kärglich und erinnerte an eine Jugendherberge oder eine Kaserne. Ein Etagenbett aus Holz, zwei Schränke, fertig. Selbst für die Hausaufgaben war kein Platz, dafür setzten wir uns an den Küchentisch. An die Wände hatten mein Bruder und ich Poster von Borussia Mönchengladbach gepinnt, von Berti Vogts und Günter Netzer. Die Deko hatten wir über meinen Vater bekommen, denn Puma war Ausrüster von Mönchengladbach. Der FC Bayern München interessierte uns nicht; für den war Adidas zuständig.
Puma und Adidas gingen aus ein und derselben Herzogenauracher Schuhmacher-Familie hervor. Die zwei Brüder Adolf und Rudolf Dassler gründeten in den zwanziger Jahren eine gemeinsame Sportschuhproduktion und zerstritten sich - nein, das ist untertrieben, sie waren bis aufs Blut verfeindet. 1948 gingen sie getrennte Wege. Adolf (später sein Sohn Horst) baute das Adidas-Imperium auf, Rudolf (später sein Sohn Armin) begründete das Puma-Imperium. Beide stellten in bitterer Konkurrenz Sportschuhe her, Kontakt hatten die Familien untereinander kaum bis gar nicht. Diese Feindschaft war im Dorf kein Geheimnis, von Betrügereien war die Rede und auch von Denunziationen im Nationalsozialismus.
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Autoren-Porträt von Lothar Matthäus, Martin Häusler
Martin Häusler arbeitete viele Jahre für Gruner+Jahr sowie Axel Springer als Redakteur, Reporter, Kolumnist und Ressortleiter. Er ist Autor mehrerer Bücher zu gesellschaftspolitischen Themen und lebt heute als freier Journalist in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Lothar Matthäus , Martin Häusler
- 2012, 240 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724675
- ISBN-13: 9783785724675
- Erscheinungsdatum: 12.10.2012
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