Ich wünschte, ich könnte dich hassen - Ein Brief an meinen Entführer
"Ein zutiefst bewegendes Buch."
THE HERALD
"Die Geschichte einer Entführung nimmt auch den Leser in Geiselhaft. Entkommen? Unmöglich!"
FOCUS
"Du hast mich zuerst gesehen. Auf dem Flughafen, an jenem Tag im August. Dein...
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Produktinformationen zu „Ich wünschte, ich könnte dich hassen - Ein Brief an meinen Entführer “
"Ein zutiefst bewegendes Buch."
THE HERALD
"Die Geschichte einer Entführung nimmt auch den Leser in Geiselhaft. Entkommen? Unmöglich!"
FOCUS
"Du hast mich zuerst gesehen. Auf dem Flughafen, an jenem Tag im August. Dein intensiver Blick, noch nie hat mich jemand so angeschaut. Ich hab dir vertraut. Dann hast du mich entführt. Raus aus meinem Leben, weg von allem, was ich kannte. Hinein ins Nirgendwo, in Sand und Hitze und Dreck und Gefahr. Du hast geglaubt, dass ich mich in dich verliebe. Und dort im Nirgendwo, in Sand und Hitze und Dreck und Gefahr, hab ich mich in dich verliebt. Doch ich wünschte, ich könnte dich hassen."
Lese-Probe zu „Ich wünschte, ich könnte dich hassen - Ein Brief an meinen Entführer “
Ich wünschte, ich könnte dich hassen von Lucy Christopher... mehr
Du hast mich gesehen, bevor ich dich gesehen habe. An diesem Tag damals im August, auf dem Flughafen, hat dieser Blick in deinen Augen gelegen - als wolltest du etwas von mir, als würdest du dich schon lange danach sehnen. Niemand hatte mich bis dahin derart intensiv angeschaut. Das hat mich unruhig gemacht und wohl auch überrascht. Diese blauen, blauen Augen, dieses eisige Blau in deinem Blick, der mich traf, als könnte ich ihn wärmen. Sie sind ziemlich heftig, deine Augen, und zugleich, na ja, sind sie auch ziemlich schön.
Du hast kurz geblinzelt, als ich dich ansah, und dich weggedreht, als wärst du nervös ... als wäre es dir peinlich, dass du irgendein Mädchen am Flughafen anstarrst. Dabei war ich nicht einfach irgendein Mädchen, oder? Das hast du gut hingekriegt. Ich bin drauf reingefallen. Es ist komisch, ich habe immer geglaubt, blauen Augen könnte man trauen. Ich dachte, sie signalisieren Sicherheit. Die Guten haben immer babyblaue Augen. Dunkle Augen kennzeichnen die Schurken ... den Sensenmann, den Joker aus Batman, Zombies. Alle sind sie dunkel.
Ich hatte mich mit meinen Eltern gestritten. Mum hatte an meinem knappen Top rumgenörgelt und Dad war einfach schlecht gelaunt, weil er zu wenig geschlafen hatte. Dich zu sehen war also eine wunderbare Ablenkung. Hast du das von vornherein so geplant - hast du gewartet, bis meine Eltern mich zur Schnecke machen, und bist erst dann auf mich zugekommen? Mir war damals schon klar, dass du mich beobachtet hattest. Und du kamst mir auf seltsame Weise bekannt vor. Ich hatte dich schon mal gesehen ... irgendwo ... Aber wer warst du bloß? Meine Blicke wanderten immer wieder zurück zu deinem Gesicht.
Du warst schon seit London in meiner Nähe. Ich hatte dich in der Schlange am Check-in-Schalter gesehen, mit deiner kleinen Tasche als Handgepäck. Auch im Flugzeug hatte ich dich bemerkt. Und jetzt warst du hier, im Flughafen von Bangkok, genau in dem Coffeeshop, in dem ich mir gerade einen Kaffee holen wollte.
Ich bestellte und wartete darauf, dass der Kaffee fertig wurde. Ich fummelte mit meinem Geld herum. Ich drehte mich nicht um, aber mir war klar, dass du mich immer noch im Blick hattest. Wahrscheinlich klingt das ziemlich schräg, aber ich habe es einfach gespürt. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich bei jedem Blinzeln von dir auf.
Die Typ an der Kasse hielt den Becher fest, bis ich mein Geld parat hatte. Kenny stand auf seinem Namensschild - verrückt, dass ich mich daran noch erinnere.
»Wir nehmen keine englischen Münzen«, sagte Kenny, nachdem er mir beim Zählen zugesehen hatte. »Hast du keinen Schein?«
»Hab ich in London ausgegeben.«
Kenny schüttelte den Kopf und zog den Kaffeebecher zurück. »Neben dem Duty-free-Shop gibt's einen Geldautomaten.«
Ich merkte, wie jemand hinter mich trat, und drehte mich um.
»Lass mich das bezahlen«, sagtest du. Deine Stimme war tief und leise, als wolltest du nur von mir gehört werden, und mir fiel der eigenartige Akzent auf. Dein kurzärmliges Hemd roch nach Eukalyptus und du hattest eine kleine Narbe seitlich an der Wange. Dein Blick war so intensiv, dass ich dir nicht länger in die Augen schauen konnte.
Du hattest schon einen Geldschein in der Hand, in einer mir fremden Währung. Ich glaube, ich hab vergessen, mich zu bedanken. Tut mir leid. Du nahmst Kenny den Kaffee ab. Der Pappbecher verformte sich ein wenig in deinem festen Griff.
»Zucker? Einer?«
Ich nickte nur. Deine plötzliche Gegenwart und die Tatsache, dass du mit mir sprachst, verwirrten mich, darum konnte ich nichts anderes tun.
»Mach dir keine Gedanken, ich hol ihn schon. Setz dich einfach hin.« Du zeigtest auf den Platz, wo du eben gesessen hattest, an einen Tisch zwischen künstlichen Palmen drüben beim Fenster.
Ich zögerte. Aber du hattest wohl vorhergesehen, dass das der Fall sein würde. Sanft berührtest du mich an der Schulter und ich spürte die Wärme deiner Hand durch mein Top. »Hey, das geht schon okay, ich beiß nicht«, hast du leise gesagt. »Ist sowieso nichts anderes frei, außer du willst dich zur Addams Family da drüben setzen.«
Ich folgte deinem Blick bis zu den freien Stühlen bei einer großen Familie. Zwei von den kleineren Kindern robbten gerade quer über den Tisch und ihre Eltern stritten sich über ihre Köpfe hinweg. Heute frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich mich neben sie gesetzt hätte. Wir hätten uns über das Reisen mit kleinen Kindern und über Erdbeermilchshakes unterhalten können. Danach wäre ich wieder zu meinen Eltern gegangen. Ich blickte hoch in dein Gesicht, sah die Lachfältchen. Das tiefe Blau deiner Augen war voller Geheimnisse. Sie zogen mich magisch an.
»Ich hab mich gerade erst von meiner eigenen Familie abgesetzt«, sagte ich. »Ich will nicht schon wieder eine.«
»Na, umso besser.« Du hast mir zugezwinkert. »Also eine Portion Zucker.«
Du führtest mich dorthin, wo du vorher gesessen hattest. Es saßen noch ein paar andere Leute in der Nähe von deinem Tischchen, was mich beruhigte. Ich brauchte zehn Schritte bis dorthin. Benommen setzte ich mich auf einen Stuhl gegenüber vom Fenster. Ich sah dir zu, wie du den Kaffeebecher zur Theke hinübertrugst und den Deckel abnahmst. Ich sah, wie du Zucker in den Kaffee kipptest und wie dir beim Vorbeugen die Haare ins Gesicht fielen. Du hast gelächelt, als du bemerkt hast, dass ich dir zusehe. Ich frage mich, ob es da passiert ist. Hast du gelächelt, während du es getan hast?
Ich muss einen Moment lang weggeschaut haben, vielleicht um die Flugzeuge zu beobachten, die auf der anderen Seite der Scheibe starteten. Ein Jumbojet wankte auf seinem Fahrwerk und hinterließ schwarze Rauchwolken in der Luft. Ein zweiter stand in Warteposition. Deine Hände müssen schnell gewesen sein beim Reinkippen. Ob du dir wohl ein spezielles Ablenkungsmanöver ausgedacht hast oder ob einfach niemand geguckt hat? Es muss irgendein Pulver gewesen sein, denke ich mir, wahrscheinlich nur ganz wenig davon. Vielleicht sah es wie Zucker aus. Jedenfalls schmeckte es so.
Ich wandte mich wieder um und sah, wie du zum Tisch kamst und dabei geschmeidig um die anderen Passagiere herumkurvtest, die dir mit ihren Kaffeebechern in der Hand in den Weg traten. Du schautest keinen von ihnen an. Nur mich. Vielleicht hat dich deshalb niemand wahrgenommen. Du hast dich wie ein Jäger bewegt, bist leise neben einer Reihe von Topfpflanzen entlanggetrottet, direkt auf mich zu.
Du stelltest zwei Kaffeebecher auf den Tisch und schobst einen davon rüber zu mir, den andern ignoriertest du. Du hast einen Teelöffel zwischen die Finger genommen und ihn lässig um deinen Daumen kreisen lassen, um ihn dann wieder aufzufangen. Ich betrachtete dein Gesicht. Du warst auf eine raue Art schön, aber du warst auch älter, als ich zuerst gedacht hatte. Eigentlich zu alt dafür, dass ich hier mit dir herumsaß. Anfang oder Mitte zwanzig, vielleicht sogar noch älter. Als ich dich aus der Ferne in der Schlange am Check-in gesehen hatte, warst du mir dünn und eher klein vorgekommen, wie die Achtzehnjährigen an meiner Schule. Aber als ich dich jetzt ganz aus der Nähe anschaute, merkte ich, dass deine Arme sehnig und sonnengebräunt waren, und deine Gesichtshaut wirkte gegerbt von Wind und Wetter. Du warst braun wie ein Haufen Dreck.
»Ich bin Ty«, sagtest du.
Dein Blick schnellte kurz zur Seite und dann wieder zurück, bevor du mir deine Hand entgegenstrecktest. Deine Finger lagen warm und rau auf meiner Hand, als du sie nahmst und sie festhieltst, doch richtig geschüttelt hast du sie nicht. Du zogst nur eine Augenbraue hoch und ich begriff plötzlich, worum es dir ging.
»Gemma«, sagte ich reflexhaft.
Du hast genickt, als wüsstest du das schon. Und so war es ja auch.
»Wo sind deine Eltern?«
»Die sind schon vorne am Gate und warten auf mich.« Nervös fügte ich hinzu: »Ich hab ihnen gesagt, ich wäre gleich wieder da - ich wollte nur schnell einen Kaffee.«
Deine Mundwinkel hoben sich und du lächeltest ein bisschen. »Wann geht euer Flug?«
»In etwa einer Stunde.«
»Und wohin?«
»Vietnam.« Du wirktest beeindruckt. Ich lächelte dich an, zum ersten Mal, glaube ich. »Mum ist dauernd dort«, ergänzte ich. »Sie ist Kuratorin - so eine Art Künstlerin, die Bilder sammelt, statt selbst zu malen.«
Keine Ahnung, warum ich das Gefühl hatte, ich müsste es erklären. Wahrscheinlich war es ein Reflex, den ich mir in der Schule angewöhnt hatte, wo dauernd Leute irgendwas von mir wissen wollten, die keinen Plan hatten.
»Und dein Vater?«
»Er arbeitet in der City - er ist Börsenmakler.«
»Also ein Nadelstreifentyp.«
»Könnte man sagen. Ich find's ja ziemlich langweilig, sich um das Geld von andern Leuten zu kümmern, aber er sieht das ganz anders.«
Ich merkte, dass ich ins Plappern kam, und nahm einen Schluck von meinem Kaffee, um meinen Redefluss zu stoppen. Beim Trinken sah ich, dass dir Schweiß aus den Haaren über die Stirn lief. Aber es war nicht heiß, direkt über uns lief nämlich eine Klimaanlage auf Hochtouren. Dein Blick flitzte nervös durch den Raum und du brachtest es kaum fertig, mir in die Augen zu schauen. Deine Unruhe ließ dich schüchtern wirken, wodurch ich dich gleich noch mehr mochte. Aber da war immer noch irgendwas an dir, an das ich mich vage erinnerte.
»Tja«, nuscheltest du. »Und was willst du mal machen? Hättest du gern so einen Job wie dein Dad? Oder würdest du lieber reisen wie deine Mum?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das würde ihnen gefallen. Aber ich hab keine Ahnung. Gibt einfach nichts, was mir richtig vorkommt.«
»Nichts, was ... bedeutsam genug ist?«
»Ja, vielleicht. Ich meine, die häufen doch nur Zeug an. Dad sammelt Geld von anderen Leuten und Mum sammelt Kunst. Ich hab das Gefühl, die machen nichts, was wirklich ihr eigenes Ding ist.«
Ich drehte mich weg. Ich hasste es, über die Arbeit meiner Eltern zu sprechen. Den ganzen Flug von London hierher war es um nichts anderes gegangen; Mum hatte endlos über die Gemälde geredet, die sie in Vietnam kaufen wollte. Im Moment waren diese Dinge wirklich das Allerletzte, worüber ich mich unterhalten wollte. Du hast wieder ein bisschen gelacht, mit belegter Stimme. Der Teelöffel ruhte friedlich auf deinem Daumen, es war wie Zauberei. Ich fragte mich immer noch, ob es okay war, hier zu sitzen, zusammen mit dir. Aber weißt du, es war irgendwie verrückt, ich hatte das Gefühl, ich könnte dir alles erzählen. Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn ich nicht so einen Kloß im Hals gehabt hätte. Oft wünsche ich mir, es hätte genau da aufgehört - mit deinem Lachen und meiner Nervosität.
Ich sah mich rasch um, weil ich wissen wollte, ob meine Eltern nach mir suchten. Dabei war mir klar, dass sie das garantiert nicht taten. Bestimmt passte es ihnen bestens in den Kram, dass sie in aller Ruhe am Gate sitzen und mit möglichst intelligenter Miene in den Zeitschriften lesen konnten, die sie mitgebracht hatten. Außerdem hätte Mum das Gefühl, sie würde in unserm Streit über meine Klamotten klein beigeben, wenn sie jetzt kam und mich suchte. Trotzdem schaute ich mich um. Ein Schwarm namenloser Gesichter zog an mir vorüber und bewegte sich auf die Theke zu, an der die Getränke ausgeschenkt wurden. Menschen, überall waren Menschen. Das laute Mahlgeräusch und das Zischen der Kaffeemaschine. Das Kreischen kleiner Kinder.
Der Geruch von Eukalyptus, der aus deinem karierten Hemd aufstieg. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Kaffee.
»Was für Bilder sammelt deine Mutter?«, hast du gefragt und mich mit deiner sanften Stimme wieder zurückgeholt.
»Hauptsächlich Farben. Bilder von Gebäuden. Formen. Kennst du Rothko? Mark Rothko?«
Du hast die Stirn gerunzelt.
»Na ja, solche Sachen eben. Ich finde es ziemlich daneben. Diese ewigen Farbflächen.« Ich kam schon wieder ins Plappern. Ich unterbrach mich und blickte deine Hand an, die jetzt auf meiner lag. War das okay? Wolltest du dich an mich ranmachen? In der Schule hatte das noch nie jemand auf so eine Art getan wie du. Auf meinen Blick hin zogst du deine Hand schnell weg, als wäre dir genau wie mir eben erst klar geworden, wo sie war.
»Entschuldigung.« Du hast mit den Achseln gezuckt, aber in deinen Augen lag ein Glitzern, das mich zurücklächeln ließ. »Ich bin wohl ... ein bisschen angespannt.«
Du legtest die Hand wieder hin, diesmal direkt neben meine, kaum ein paar Zentimeter weit weg. Wenn ich meinen kleinen Finger nur ein bisschen streckte, hätte ich sie berühren können. Du trugst keinen Ehering. Überhaupt keinen Schmuck.
»Was machst du so?«, fragte ich. »In die Schule gehst du bestimmt nicht mehr, oder?«
Ich krümmte mich, noch während ich das sagte. Dieser Satz war total dämlich, das wussten wir beide. Du warst eindeutig ein ganzes Stück älter als alle anderen Jungen, mit denen ich bis jetzt auf diese Art geredet hatte. In den Mundwinkeln und um die Augen herum hattest du winzige Sonnenfältchen und du schienst total eins mit dir. Deine Bewegungen wirkten selbstbewusst, nicht so ungeschickt und linkisch wie die der Jungs in meiner Schule.
Mit einem Seufzen lehntest du dich zurück. »Tja, ich mach wohl auch so was wie Kunst«, sagtest du. »Aber ich male keine Farbflächen. Ich reise ein bisschen, mache was mit Pflanzen ... baue Sachen. So in der Art.«
Ich nickte, als würde ich dich verstehen. Ich wollte dich fragen, warum du mich angesprochen hattest ... und ob wir uns von irgendwoher kannten. Ich wollte wissen, woher dein Interesse an mir kam. Ich war schließlich nicht blöd, jeder konnte sehen, dass ich viel jünger war als du. Aber ich habe dich nicht gefragt. Ich war wohl zu nervös, außerdem wollte ich nichts Fragwürdiges, Fieses an dir entdecken. Mit dem schönsten Mann weit und breit hier zu sitzen und an einem Kaffee, den er mir gekauft hatte, zu nippen, gab mir wohl das Gefühl erwachsen zu sein. Wer weiß, vielleicht hieltest du mich für älter, als ich war, obwohl ich von Lipgloss abgesehen nicht geschminkt war. Oder vielleicht warst du in Wirklichkeit jünger, als du aussahst. Während du kurz aus dem Fenster schautest, ließ ich mir die Haarsträhne, die ich hinters Ohr gesteckt hatte, nach vorne ins Gesicht fallen und biss mir auf die Lippen, damit sie röter aussahen.
»Ich war noch nie in Vietnam«, sagtest du schließlich.
»Ich auch nicht. Amerika würde mich mehr interessieren.« »Echt? Diese ganzen Städte dort, und überall so viele Men-
schen ...?«
Deine Finger zuckten, als du mich anschautest, und dein Blick streifte die Haarsträhne, die ich gerade nach vorne geholt hatte. Kurz darauf hast du dich über den Tisch gebeugt und sie mir wieder hinters Ohr gesteckt. Dann hast du gezögert.
»Entschuldige, ich ... « Du bist ein bisschen rot geworden. Deine Finger blieben länger als nötig an meiner Schläfe liegen. Mein Ohr wurde ganz heiß von der Berührung. Dann bewegten sich deine Finger zu meinem Kinn. Du hast es mit dem Daumen etwas angehoben, um mich besser anschauen zu können, als wolltest du meine Züge in dem Kunstlicht über meinem Kopf genau studieren. Und, na ja, du hast mich wirklich richtig angeschaut ... deine Augen waren wie zwei Sterne. So hast du mich gefangen, mich festgesetzt hier im Flughafen von Bangkok, wie ein kleines Tier, das vom Licht angelockt wird. Und tatsächlich flatterten Flügel in meinem Innern. Große, dicke Nachtfalterflügel. Es war leicht, mich einzufangen, mich zu dir zu ziehen. Ich war dir schon ins Netz gegangen.
»Möchtest du nicht lieber nach Australien?«, sagtest du.
Ich lachte kurz auf, weil deine Frage so ernsthaft klang. Da zogst du deine Finger weg.
»Klar.« Ich zuckte atemlos mit den Schultern. »Da will doch jeder hin.«
Daraufhin wurdest du still und hast den Blick gesenkt. Ich schüttelte den Kopf und spürte noch immer deine Berührung. Ich wollte, dass du weitersprichst.
»Bist du Australier?«
Dein Akzent war verwirrend. Du hörtest dich nicht so an wie die Schauspieler in Neighbours, dieser australischen Soap. Manchmal klangst du einfach britisch. Dann wieder, als kämst du überhaupt nirgendwoher. Ich wartete auf deine Antwort, aber es kam keine. Darum lehnte ich mich vor und schubste dich leicht am Unterarm.
»Ty?«, sagte ich und probierte deinen Namen aus. Sein Klang gefiel mir. »Wie ist es da überhaupt, in Australien?«
Da lächeltest du und mit diesem Lächeln veränderte sich dein ganzes Gesicht. Es begann zu leuchten, als ginge in deinem Innern die Sonne auf.
»Das wirst du bald sehen«, sagtest du.
...
Übersetzung: Beate Schäfer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Du hast mich gesehen, bevor ich dich gesehen habe. An diesem Tag damals im August, auf dem Flughafen, hat dieser Blick in deinen Augen gelegen - als wolltest du etwas von mir, als würdest du dich schon lange danach sehnen. Niemand hatte mich bis dahin derart intensiv angeschaut. Das hat mich unruhig gemacht und wohl auch überrascht. Diese blauen, blauen Augen, dieses eisige Blau in deinem Blick, der mich traf, als könnte ich ihn wärmen. Sie sind ziemlich heftig, deine Augen, und zugleich, na ja, sind sie auch ziemlich schön.
Du hast kurz geblinzelt, als ich dich ansah, und dich weggedreht, als wärst du nervös ... als wäre es dir peinlich, dass du irgendein Mädchen am Flughafen anstarrst. Dabei war ich nicht einfach irgendein Mädchen, oder? Das hast du gut hingekriegt. Ich bin drauf reingefallen. Es ist komisch, ich habe immer geglaubt, blauen Augen könnte man trauen. Ich dachte, sie signalisieren Sicherheit. Die Guten haben immer babyblaue Augen. Dunkle Augen kennzeichnen die Schurken ... den Sensenmann, den Joker aus Batman, Zombies. Alle sind sie dunkel.
Ich hatte mich mit meinen Eltern gestritten. Mum hatte an meinem knappen Top rumgenörgelt und Dad war einfach schlecht gelaunt, weil er zu wenig geschlafen hatte. Dich zu sehen war also eine wunderbare Ablenkung. Hast du das von vornherein so geplant - hast du gewartet, bis meine Eltern mich zur Schnecke machen, und bist erst dann auf mich zugekommen? Mir war damals schon klar, dass du mich beobachtet hattest. Und du kamst mir auf seltsame Weise bekannt vor. Ich hatte dich schon mal gesehen ... irgendwo ... Aber wer warst du bloß? Meine Blicke wanderten immer wieder zurück zu deinem Gesicht.
Du warst schon seit London in meiner Nähe. Ich hatte dich in der Schlange am Check-in-Schalter gesehen, mit deiner kleinen Tasche als Handgepäck. Auch im Flugzeug hatte ich dich bemerkt. Und jetzt warst du hier, im Flughafen von Bangkok, genau in dem Coffeeshop, in dem ich mir gerade einen Kaffee holen wollte.
Ich bestellte und wartete darauf, dass der Kaffee fertig wurde. Ich fummelte mit meinem Geld herum. Ich drehte mich nicht um, aber mir war klar, dass du mich immer noch im Blick hattest. Wahrscheinlich klingt das ziemlich schräg, aber ich habe es einfach gespürt. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich bei jedem Blinzeln von dir auf.
Die Typ an der Kasse hielt den Becher fest, bis ich mein Geld parat hatte. Kenny stand auf seinem Namensschild - verrückt, dass ich mich daran noch erinnere.
»Wir nehmen keine englischen Münzen«, sagte Kenny, nachdem er mir beim Zählen zugesehen hatte. »Hast du keinen Schein?«
»Hab ich in London ausgegeben.«
Kenny schüttelte den Kopf und zog den Kaffeebecher zurück. »Neben dem Duty-free-Shop gibt's einen Geldautomaten.«
Ich merkte, wie jemand hinter mich trat, und drehte mich um.
»Lass mich das bezahlen«, sagtest du. Deine Stimme war tief und leise, als wolltest du nur von mir gehört werden, und mir fiel der eigenartige Akzent auf. Dein kurzärmliges Hemd roch nach Eukalyptus und du hattest eine kleine Narbe seitlich an der Wange. Dein Blick war so intensiv, dass ich dir nicht länger in die Augen schauen konnte.
Du hattest schon einen Geldschein in der Hand, in einer mir fremden Währung. Ich glaube, ich hab vergessen, mich zu bedanken. Tut mir leid. Du nahmst Kenny den Kaffee ab. Der Pappbecher verformte sich ein wenig in deinem festen Griff.
»Zucker? Einer?«
Ich nickte nur. Deine plötzliche Gegenwart und die Tatsache, dass du mit mir sprachst, verwirrten mich, darum konnte ich nichts anderes tun.
»Mach dir keine Gedanken, ich hol ihn schon. Setz dich einfach hin.« Du zeigtest auf den Platz, wo du eben gesessen hattest, an einen Tisch zwischen künstlichen Palmen drüben beim Fenster.
Ich zögerte. Aber du hattest wohl vorhergesehen, dass das der Fall sein würde. Sanft berührtest du mich an der Schulter und ich spürte die Wärme deiner Hand durch mein Top. »Hey, das geht schon okay, ich beiß nicht«, hast du leise gesagt. »Ist sowieso nichts anderes frei, außer du willst dich zur Addams Family da drüben setzen.«
Ich folgte deinem Blick bis zu den freien Stühlen bei einer großen Familie. Zwei von den kleineren Kindern robbten gerade quer über den Tisch und ihre Eltern stritten sich über ihre Köpfe hinweg. Heute frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich mich neben sie gesetzt hätte. Wir hätten uns über das Reisen mit kleinen Kindern und über Erdbeermilchshakes unterhalten können. Danach wäre ich wieder zu meinen Eltern gegangen. Ich blickte hoch in dein Gesicht, sah die Lachfältchen. Das tiefe Blau deiner Augen war voller Geheimnisse. Sie zogen mich magisch an.
»Ich hab mich gerade erst von meiner eigenen Familie abgesetzt«, sagte ich. »Ich will nicht schon wieder eine.«
»Na, umso besser.« Du hast mir zugezwinkert. »Also eine Portion Zucker.«
Du führtest mich dorthin, wo du vorher gesessen hattest. Es saßen noch ein paar andere Leute in der Nähe von deinem Tischchen, was mich beruhigte. Ich brauchte zehn Schritte bis dorthin. Benommen setzte ich mich auf einen Stuhl gegenüber vom Fenster. Ich sah dir zu, wie du den Kaffeebecher zur Theke hinübertrugst und den Deckel abnahmst. Ich sah, wie du Zucker in den Kaffee kipptest und wie dir beim Vorbeugen die Haare ins Gesicht fielen. Du hast gelächelt, als du bemerkt hast, dass ich dir zusehe. Ich frage mich, ob es da passiert ist. Hast du gelächelt, während du es getan hast?
Ich muss einen Moment lang weggeschaut haben, vielleicht um die Flugzeuge zu beobachten, die auf der anderen Seite der Scheibe starteten. Ein Jumbojet wankte auf seinem Fahrwerk und hinterließ schwarze Rauchwolken in der Luft. Ein zweiter stand in Warteposition. Deine Hände müssen schnell gewesen sein beim Reinkippen. Ob du dir wohl ein spezielles Ablenkungsmanöver ausgedacht hast oder ob einfach niemand geguckt hat? Es muss irgendein Pulver gewesen sein, denke ich mir, wahrscheinlich nur ganz wenig davon. Vielleicht sah es wie Zucker aus. Jedenfalls schmeckte es so.
Ich wandte mich wieder um und sah, wie du zum Tisch kamst und dabei geschmeidig um die anderen Passagiere herumkurvtest, die dir mit ihren Kaffeebechern in der Hand in den Weg traten. Du schautest keinen von ihnen an. Nur mich. Vielleicht hat dich deshalb niemand wahrgenommen. Du hast dich wie ein Jäger bewegt, bist leise neben einer Reihe von Topfpflanzen entlanggetrottet, direkt auf mich zu.
Du stelltest zwei Kaffeebecher auf den Tisch und schobst einen davon rüber zu mir, den andern ignoriertest du. Du hast einen Teelöffel zwischen die Finger genommen und ihn lässig um deinen Daumen kreisen lassen, um ihn dann wieder aufzufangen. Ich betrachtete dein Gesicht. Du warst auf eine raue Art schön, aber du warst auch älter, als ich zuerst gedacht hatte. Eigentlich zu alt dafür, dass ich hier mit dir herumsaß. Anfang oder Mitte zwanzig, vielleicht sogar noch älter. Als ich dich aus der Ferne in der Schlange am Check-in gesehen hatte, warst du mir dünn und eher klein vorgekommen, wie die Achtzehnjährigen an meiner Schule. Aber als ich dich jetzt ganz aus der Nähe anschaute, merkte ich, dass deine Arme sehnig und sonnengebräunt waren, und deine Gesichtshaut wirkte gegerbt von Wind und Wetter. Du warst braun wie ein Haufen Dreck.
»Ich bin Ty«, sagtest du.
Dein Blick schnellte kurz zur Seite und dann wieder zurück, bevor du mir deine Hand entgegenstrecktest. Deine Finger lagen warm und rau auf meiner Hand, als du sie nahmst und sie festhieltst, doch richtig geschüttelt hast du sie nicht. Du zogst nur eine Augenbraue hoch und ich begriff plötzlich, worum es dir ging.
»Gemma«, sagte ich reflexhaft.
Du hast genickt, als wüsstest du das schon. Und so war es ja auch.
»Wo sind deine Eltern?«
»Die sind schon vorne am Gate und warten auf mich.« Nervös fügte ich hinzu: »Ich hab ihnen gesagt, ich wäre gleich wieder da - ich wollte nur schnell einen Kaffee.«
Deine Mundwinkel hoben sich und du lächeltest ein bisschen. »Wann geht euer Flug?«
»In etwa einer Stunde.«
»Und wohin?«
»Vietnam.« Du wirktest beeindruckt. Ich lächelte dich an, zum ersten Mal, glaube ich. »Mum ist dauernd dort«, ergänzte ich. »Sie ist Kuratorin - so eine Art Künstlerin, die Bilder sammelt, statt selbst zu malen.«
Keine Ahnung, warum ich das Gefühl hatte, ich müsste es erklären. Wahrscheinlich war es ein Reflex, den ich mir in der Schule angewöhnt hatte, wo dauernd Leute irgendwas von mir wissen wollten, die keinen Plan hatten.
»Und dein Vater?«
»Er arbeitet in der City - er ist Börsenmakler.«
»Also ein Nadelstreifentyp.«
»Könnte man sagen. Ich find's ja ziemlich langweilig, sich um das Geld von andern Leuten zu kümmern, aber er sieht das ganz anders.«
Ich merkte, dass ich ins Plappern kam, und nahm einen Schluck von meinem Kaffee, um meinen Redefluss zu stoppen. Beim Trinken sah ich, dass dir Schweiß aus den Haaren über die Stirn lief. Aber es war nicht heiß, direkt über uns lief nämlich eine Klimaanlage auf Hochtouren. Dein Blick flitzte nervös durch den Raum und du brachtest es kaum fertig, mir in die Augen zu schauen. Deine Unruhe ließ dich schüchtern wirken, wodurch ich dich gleich noch mehr mochte. Aber da war immer noch irgendwas an dir, an das ich mich vage erinnerte.
»Tja«, nuscheltest du. »Und was willst du mal machen? Hättest du gern so einen Job wie dein Dad? Oder würdest du lieber reisen wie deine Mum?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das würde ihnen gefallen. Aber ich hab keine Ahnung. Gibt einfach nichts, was mir richtig vorkommt.«
»Nichts, was ... bedeutsam genug ist?«
»Ja, vielleicht. Ich meine, die häufen doch nur Zeug an. Dad sammelt Geld von anderen Leuten und Mum sammelt Kunst. Ich hab das Gefühl, die machen nichts, was wirklich ihr eigenes Ding ist.«
Ich drehte mich weg. Ich hasste es, über die Arbeit meiner Eltern zu sprechen. Den ganzen Flug von London hierher war es um nichts anderes gegangen; Mum hatte endlos über die Gemälde geredet, die sie in Vietnam kaufen wollte. Im Moment waren diese Dinge wirklich das Allerletzte, worüber ich mich unterhalten wollte. Du hast wieder ein bisschen gelacht, mit belegter Stimme. Der Teelöffel ruhte friedlich auf deinem Daumen, es war wie Zauberei. Ich fragte mich immer noch, ob es okay war, hier zu sitzen, zusammen mit dir. Aber weißt du, es war irgendwie verrückt, ich hatte das Gefühl, ich könnte dir alles erzählen. Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn ich nicht so einen Kloß im Hals gehabt hätte. Oft wünsche ich mir, es hätte genau da aufgehört - mit deinem Lachen und meiner Nervosität.
Ich sah mich rasch um, weil ich wissen wollte, ob meine Eltern nach mir suchten. Dabei war mir klar, dass sie das garantiert nicht taten. Bestimmt passte es ihnen bestens in den Kram, dass sie in aller Ruhe am Gate sitzen und mit möglichst intelligenter Miene in den Zeitschriften lesen konnten, die sie mitgebracht hatten. Außerdem hätte Mum das Gefühl, sie würde in unserm Streit über meine Klamotten klein beigeben, wenn sie jetzt kam und mich suchte. Trotzdem schaute ich mich um. Ein Schwarm namenloser Gesichter zog an mir vorüber und bewegte sich auf die Theke zu, an der die Getränke ausgeschenkt wurden. Menschen, überall waren Menschen. Das laute Mahlgeräusch und das Zischen der Kaffeemaschine. Das Kreischen kleiner Kinder.
Der Geruch von Eukalyptus, der aus deinem karierten Hemd aufstieg. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Kaffee.
»Was für Bilder sammelt deine Mutter?«, hast du gefragt und mich mit deiner sanften Stimme wieder zurückgeholt.
»Hauptsächlich Farben. Bilder von Gebäuden. Formen. Kennst du Rothko? Mark Rothko?«
Du hast die Stirn gerunzelt.
»Na ja, solche Sachen eben. Ich finde es ziemlich daneben. Diese ewigen Farbflächen.« Ich kam schon wieder ins Plappern. Ich unterbrach mich und blickte deine Hand an, die jetzt auf meiner lag. War das okay? Wolltest du dich an mich ranmachen? In der Schule hatte das noch nie jemand auf so eine Art getan wie du. Auf meinen Blick hin zogst du deine Hand schnell weg, als wäre dir genau wie mir eben erst klar geworden, wo sie war.
»Entschuldigung.« Du hast mit den Achseln gezuckt, aber in deinen Augen lag ein Glitzern, das mich zurücklächeln ließ. »Ich bin wohl ... ein bisschen angespannt.«
Du legtest die Hand wieder hin, diesmal direkt neben meine, kaum ein paar Zentimeter weit weg. Wenn ich meinen kleinen Finger nur ein bisschen streckte, hätte ich sie berühren können. Du trugst keinen Ehering. Überhaupt keinen Schmuck.
»Was machst du so?«, fragte ich. »In die Schule gehst du bestimmt nicht mehr, oder?«
Ich krümmte mich, noch während ich das sagte. Dieser Satz war total dämlich, das wussten wir beide. Du warst eindeutig ein ganzes Stück älter als alle anderen Jungen, mit denen ich bis jetzt auf diese Art geredet hatte. In den Mundwinkeln und um die Augen herum hattest du winzige Sonnenfältchen und du schienst total eins mit dir. Deine Bewegungen wirkten selbstbewusst, nicht so ungeschickt und linkisch wie die der Jungs in meiner Schule.
Mit einem Seufzen lehntest du dich zurück. »Tja, ich mach wohl auch so was wie Kunst«, sagtest du. »Aber ich male keine Farbflächen. Ich reise ein bisschen, mache was mit Pflanzen ... baue Sachen. So in der Art.«
Ich nickte, als würde ich dich verstehen. Ich wollte dich fragen, warum du mich angesprochen hattest ... und ob wir uns von irgendwoher kannten. Ich wollte wissen, woher dein Interesse an mir kam. Ich war schließlich nicht blöd, jeder konnte sehen, dass ich viel jünger war als du. Aber ich habe dich nicht gefragt. Ich war wohl zu nervös, außerdem wollte ich nichts Fragwürdiges, Fieses an dir entdecken. Mit dem schönsten Mann weit und breit hier zu sitzen und an einem Kaffee, den er mir gekauft hatte, zu nippen, gab mir wohl das Gefühl erwachsen zu sein. Wer weiß, vielleicht hieltest du mich für älter, als ich war, obwohl ich von Lipgloss abgesehen nicht geschminkt war. Oder vielleicht warst du in Wirklichkeit jünger, als du aussahst. Während du kurz aus dem Fenster schautest, ließ ich mir die Haarsträhne, die ich hinters Ohr gesteckt hatte, nach vorne ins Gesicht fallen und biss mir auf die Lippen, damit sie röter aussahen.
»Ich war noch nie in Vietnam«, sagtest du schließlich.
»Ich auch nicht. Amerika würde mich mehr interessieren.« »Echt? Diese ganzen Städte dort, und überall so viele Men-
schen ...?«
Deine Finger zuckten, als du mich anschautest, und dein Blick streifte die Haarsträhne, die ich gerade nach vorne geholt hatte. Kurz darauf hast du dich über den Tisch gebeugt und sie mir wieder hinters Ohr gesteckt. Dann hast du gezögert.
»Entschuldige, ich ... « Du bist ein bisschen rot geworden. Deine Finger blieben länger als nötig an meiner Schläfe liegen. Mein Ohr wurde ganz heiß von der Berührung. Dann bewegten sich deine Finger zu meinem Kinn. Du hast es mit dem Daumen etwas angehoben, um mich besser anschauen zu können, als wolltest du meine Züge in dem Kunstlicht über meinem Kopf genau studieren. Und, na ja, du hast mich wirklich richtig angeschaut ... deine Augen waren wie zwei Sterne. So hast du mich gefangen, mich festgesetzt hier im Flughafen von Bangkok, wie ein kleines Tier, das vom Licht angelockt wird. Und tatsächlich flatterten Flügel in meinem Innern. Große, dicke Nachtfalterflügel. Es war leicht, mich einzufangen, mich zu dir zu ziehen. Ich war dir schon ins Netz gegangen.
»Möchtest du nicht lieber nach Australien?«, sagtest du.
Ich lachte kurz auf, weil deine Frage so ernsthaft klang. Da zogst du deine Finger weg.
»Klar.« Ich zuckte atemlos mit den Schultern. »Da will doch jeder hin.«
Daraufhin wurdest du still und hast den Blick gesenkt. Ich schüttelte den Kopf und spürte noch immer deine Berührung. Ich wollte, dass du weitersprichst.
»Bist du Australier?«
Dein Akzent war verwirrend. Du hörtest dich nicht so an wie die Schauspieler in Neighbours, dieser australischen Soap. Manchmal klangst du einfach britisch. Dann wieder, als kämst du überhaupt nirgendwoher. Ich wartete auf deine Antwort, aber es kam keine. Darum lehnte ich mich vor und schubste dich leicht am Unterarm.
»Ty?«, sagte ich und probierte deinen Namen aus. Sein Klang gefiel mir. »Wie ist es da überhaupt, in Australien?«
Da lächeltest du und mit diesem Lächeln veränderte sich dein ganzes Gesicht. Es begann zu leuchten, als ginge in deinem Innern die Sonne auf.
»Das wirst du bald sehen«, sagtest du.
...
Übersetzung: Beate Schäfer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Lucy Christopher
Lucy Christopher wurde 1981 in Wales geboren und wuchs in Australien auf. Bis zum Hauptstudium lebte sie in Melbourne. Nachdem sie sich als Schauspielerin, Kellnerin und Wanderführerin versucht hatte, zog sie nach England und machte ihren Master in Kreativem Schreiben. Inzwischen unterrichtet sie an der Bath Spa University. "Ich wünschte, ich könnte dich hassen" ist ihr Debüt. Bibliographische Angaben
- Autor: Lucy Christopher
- 368 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650549
- ISBN-13: 9783863650544
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