Im Land des Feuerfalken
Wo im ersten Teil um 1894 Sioban und Emily um Gleichberechtigung, Liebe und gegen die allzu starre Moral der Zeit ankämpfen, ist nun das 20 Jahrhundert angebrochen und wir lernen Siobans Töchter Sarah und Josie kennen. Beide haben denselben Vater: den Maori Amiri. Mit ihm brach Sioban die Ehe - als ihr Gatte Walter von der Liebesbeziehung erfuhr, erschlug er Amiri und verstieß Sioban. Sie lebt nun in einer Blockhütte im Wald, eine Tochter, Josie, wächst bei ihr auf, die andere Tochter, Sarah, hat Walter bei sich im Gutshaus in Kilkenny behalten.
Die Schwestern könnten unterschiedlicher kaum sein: wo Sarah die Vernünftige ist und das tut, was man von ihr erwartet, war Josie immer schon die Unangepasste, Ungestüme. Dass sich die Beiden selten sehen, bekümmert sie nicht. Es scheint fast, als würde Sarah ihre Mutter gar nicht vermissen, sie sogar verachten, wie die anderen O'Brians das tun. Sie vergisst gerne, dass auch sie eigentlich nicht wirklich dazugehört, Maori-Blut in ihren Adern fließt. Josie scheint näher an ihren Wurzeln zu sein, sie spürt den Atem des Wakatipusees und liebt es, draußen im Wald bei den Tieren zu sein.
Als die Mädchen heranwachsen, junge Frauen werden, vergisst Josie all diese Fähigkeiten. Sie riskiert ihren guten Ruf, lässt sich von einem 30 Jahre älteren Mann als Künstlerin unterstützen und pfeift auf „gutes Benehmen". Für die brave Sarah scheint das Glück zunächst perfekt: Jamie erwidert ihre Liebe und sie verloben sich. Doch dann meldet er sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst nach Europa. Als er 1918 in die Heimat zurückkehrt, ist er ein anderer Mensch geworden. Er hat im Bombenhagel einen Arm verloren, doch weitaus schlimmer wurde seine Seele verwundet. Die Hochzeit findet nicht statt und Sarah heiratet einen anderen - obwohl sie Jamie liebt.
Die Befreiung der beiden Schwestern aus ihren falschen Leben kostet viel Mut und sie müssen dafür einen harten langen Weg gehen. Josie macht sich auf zu den Maori, um ihre Wurzeln endlich kennenzulernen. Ob sie je wieder in die Welt der Weißen zurückkehrt? Und wird es Sarah gelingen, ein spätes Glück mit dem geliebten Jamie zu finden? Ein dichtes Buch mit stimmigen Charakteren, ein Schmöker im besten Sinn des Wortes - und eine Geschichte, bei der man nach knapp 500 kurzweiligen Seiten am liebsten gleich eine Fortsetzung lesen möchte.
Aber dann bricht der Erste Weltkrieg in Europa aus, und er wirft seinen dunklen Schatten bis zum anderen Ende der Welt. Sarah heiratet einen ungeliebten Mann, ihre Schwester wendet sich von der Familie ab. Bald müssen sie erkennen, dass ein Leben ohne Wurzeln nicht wert ist, gelebt zu werden. Und die beiden Frauen kämpfen um ihr Glück ...
Der zweite, in sich abgeschlossene Teil von Julie Peters' farbenprächtiger Neuseelandsaga.
Prolog
Glenorchy, Oktober 1907
Er mochte, wie ihre schwarzen Zöpfe auf und ab wippten, wenn sie lief.
Sarah O'Brien lief nicht oft. Meist stand das Mädchen brav neben ihrer Großmutter, die seine Hand festhielt, während sie Robs Mam aufzählte, was sie brauchte. Nur wenn sie nach ihrem Geldbeutel griff und die Münzen auf den Tresen zählte, ließ sie Sarah los, und auch dann stand das Mädchen ganz starr und brav daneben und wartete. Nicht mal die Zuckerstange, die Robs Mam ihm hinhielt, nahm es ohne die Erlaubnis ihrer Großmutter.
Dabei hatte Rob Sarah schon laufen gesehen. Er hatte ihr jedes Mal nachlaufen wollen, weil ihm so gefiel, wie alles an ihr wippte und wehte. Auch ihre großen, dunklen Augen und die zarte Haut gefielen ihm. Oft kniff er die Mädchen, weil sie dann so schön kreischten, aber bei Sarah hielt er sich zurück, denn sie weinte immer sofort. Die anderen Mädchen lachte er aus und nannte sie Heulsuse, wenn sie in Tränen ausbrachen. Die dicke Vera zum Beispiel, die in der Schule vor ihm saß und so kurzsichtig war wie ein Maulwurf und Zähne wie ein Karnickel hatte. «Maulnickel», riefen die Jungs ihr nach.
Sarah konnte er auch deshalb nicht so gut necken, weil er sie nicht jeden Tag in der Dorfschule von Glenorchy sah. Sie hatte ihren eigenen Privatlehrer, zusammen mit Jamie O'Brien, der drei Jahre älter und der jüngste Sohn ihrer Großmutter war. Er war also eigentlich ihr Onkel, was Rob so ungewöhnlich fand, dass er Jamie bei den seltenen sich bietenden Gelegenheiten damit aufzog.
Heute aber wollte er niemanden ärgern. Nein, Rob wollte seinen ganzen Mut zusammennehmen und Sarah etwas schenken. Das hatte er sich schon lange vorgenommen, aber bisher hatte er nicht das Richtige gefunden.
Als ihre Großmutter Sarahs Hand losließ und nach ihrem Geld kramte, schlich er hinter dem Regal mit den Sämereien zu Sarah. «Hallo», flüsterte er, und weil sie nicht reagierte, räusperte er sich und schob die Daumen unter seine Hosenträger, wie er's den größeren Jungs abgeschaut hatte, die sich immer ganz lässig gegen die Pfeiler des Vordachs lehnten und den Mädchen nachpfiffen. «Hallo, Sarah», sagte er mit extratiefer Stimme.
Sie fuhr zu ihm herum und musterte ihn vom verwuschelten dunklen Scheitel bis hinunter zu den schiefgelaufenen Schuhen. Dann blickte sie neugierig in sein Gesicht. «Hallo?» Als wäre sie sich nicht sicher, ob sie mit ihm reden dürfte.
«Ich hab was für dich.» Jetzt wurde es schwierig. Er musste ja überlegen wirken und gleichzeitig seine Liebesgabe aus der Hosentasche ziehen. Sorgfältig hatte er sie in ein sauberes Taschentuch gewickelt, das sich nur schwer herausziehen ließ. Fast wäre der dicke Klicker zu Boden gefallen, aber irgendwie schaffte er es, ihn aufzufangen. «Da.»
Sarah sah ihn bloß an.
Es war die schönste Murmel, die er je besessen hatte, ein Klicker mit orangeweißen Spiralen. Nicht blau oder grün wie die, um die auf dem Schulhof gespielt wurde.
«Was soll ich denn damit?» Sie runzelte die Stirn.
«Nimm schon. Ich schenk sie dir. Ist meine allerschönste, und sie gehört jetzt dir.»
Sie zögerte, streckte aber schließlich die Hand aus und nahm den Klicker mit spitzen Fingern. «Was macht man damit?»
«Hast du noch nie Murmeln gespielt?» Er war enttäuscht. Dann wusste sie das Geschenk ja gar nicht zu schätzen! Er hatte sechs seiner besten Klicker dafür hergeben müssen, weil Henry nicht um diese tolle Murmel spielen wollte, sondern sie immer nur ganz stolz rumzeigte.
«Nee, hab ich nicht. Zeigst du mir, wie das geht?» Sie stand ratlos da, die Murmel rollte auf ihrer Handfläche hin und her.
«Klar!» Seine Augen leuchteten auf. Die Sache schien sich ja doch noch zum Guten zu wenden! Rob nahm Sarahs Hand und führte sie aus dem Laden. Mit einem Satz sprang er von der Veranda unter dem Vordach und landete elegant im Staub. «Pass auf, das geht so: Du musst mit deinem Klicker die anderen raushauen.»
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine anderen Murmeln dabeihatte. Das Säckchen war im Haus, er versteckte es immer unter der Matratze, weil die Zwillinge Matt und Josh ihm ständig alles klauten.
«Guck mal, Jamie, was Rob mir geschenkt hat!» Während er noch versuchte, die Regeln zu erklären - was ja im Grunde sinnlos war ohne Murmeln -, hatte Sarah Jamie entdeckt. Er hatte draußen bei der Kutsche auf sie gewartet und überprüfte gerade die Gurte und das Zaumzeug der beiden Ponys, die vor den Kastenwagen gespannt waren.
Sarah lief zu ihrem Onkel, der für sie wie ein Bruder war. Rob schlenderte möglichst lässig hinterdrein. Auf keinen Fall durfte er zeigen, wie blöd er es fand, dass sie lieber Jamie die Murmel zeigte, statt mit ihm zu spielen.
Das Schlimmste aber war, dass Jamie nur einen flüchtigen Blick auf den orangefarbenen Klicker warf und beiläufig bemerkte: «Ja, schön. Solche hab ich auch zu Hause.»
«Ist doch gar nicht wahr», protestierte Rob. Er baute sich, die Fäuste in die Seiten gestemmt, vor Jamie auf. «Solche Klicker gibt's nur ganz selten.»
«Und?» Jamie zuckte mit den Schultern. Er löste eine Schnalle am Zaum und verschloss sie wieder. Rob musste zugeben, dass Jamie verflucht gelassen wirkte. In ihm regte sich Wut.
«Und weil es die so selten gibt, kannst du gar nicht ganz viele davon haben. Der hier ist orange, siehst du? Orangefarbene Klicker gibt's fast nie.»
Jamie zuckte mit den Schultern. «Kinderkram. Ich spiel nicht mehr mit Klickern.»
Natürlich nicht, er war ja schon zwölf.
Rob dachte fieberhaft nach. Er hatte Sarah so sehr beeindrucken wollen, aber das war ihm mit der Murmel wohl gründlich misslungen. Jetzt steckte Sarah sie in die Tasche ihres Kittelkleids und beobachtete gespannt, was Jamie machte. Der wusste genau, dass sie ihm zusah, und veranstaltete ein großes Getue, zog jeden Riemen und jede Schnalle fest, kontrollierte sogar die Hufe der beiden Ponys und stolzierte um den Kastenwagen herum, als gehörte ihm die ganze Welt.
Das machte Rob so wütend! Er hatte es sich so schön ausgemalt, wie er Sarah den Klicker schenkte. Wie sie sich artig bei ihm bedankte, und ja, er hatte sich sogar ausgemalt, wie sie ihn nach Kilkenny Hall einlud. Sarahs Familie hatte so ein riesiges Haus und nicht nur ein kleines, schäbiges wie seine Eltern. Darin lebte es sich bestimmt tausendmal besser. Das behauptete zumindest sein Pa. «Bei den O'Briens wird von goldenen Tellern gegessen», höhnte er immer.
Sein Pa mochte die O'Briens nicht so sehr. Er wusste nicht genau, warum.
Aber vor allem hatte Rob sich vorgestellt, wie Sarah ihn anlächeln würde. Wie sie ihm versichern würde, ihr habe noch nie jemand was so Schönes geschenkt. Und jetzt interessierte sie sich gar nicht für den Klicker, der ihn sechs seiner schönsten Murmeln gekostet hatte!
Er war so enttäuscht. So wütend. Er wollte ihr wehtun. Sie sollte ihn endlich beachten und nicht immer nur diesen Jamie anhimmeln! Er drängte sich zwischen die beiden. Er funkelte Sarah an. «Ich weiß, wer deine Mutter ist», sagte er drohend.
«Mam Helen ist meine Mutter», entgegnete Sarah. «Gar nicht wahr, die ist deine Großmutter.»
«Nein, Mam Helen ist meine Mutter», wiederholte Sarah stur. Sie wich seinem bohrenden Blick aus.
«Stimmt ja gar nicht. Deine Großmutter kümmert sich um dich, weil deine Mutter dich nicht will. Sie hat nämlich ein anderes Baby. Das liebt sie viel mehr als dich.»
Sarahs Unterlippe zitterte. «Das ist nicht wahr!»
Zufrieden verschränkte Rob die Arme vor der Brust.
Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. «Und wenn doch? Ich hab nämlich noch was gehört. Deine Mutter hat sich mit einem dreckigen Wilden eingelassen, einem Maori. Der hat ihr das Kind gemacht, und du bist auch von ihm.»
Dicke Tränen rannen über Sarahs Wangen. «Hör auf», jammerte sie leise, aber jetzt war Rob in Fahrt gekommen. Jetzt hatte er erreicht, was er wollte. Sie schaute ihn an. Endlich hatte sie keinen Blick mehr für Jamie.
«Und weißt du, was sie noch tut? Sie arbeitet wie ein Mann. Und reitet wie einer. Deine Mutter ist voll abartig!»
Sarah drehte den Kopf zur Seite, aber sie lief nicht weg, sondern ballte nur ihre kleinen Hände zu Fäusten.
Rob hörte nicht auf. «Und als der Mann deiner Mam davon erfahren hat, dass sie's mit dem Maori treibt, da hat er ihn totgeschlagen.»
«Du lügst!», schrie Sarah plötzlich. Jetzt war sie knallrot im Gesicht. Sie stürzte vor, und ihre kleinen Fäuste trommelten auf seine Brust ein. «Du bist ein doofer Lügner! Mein Pop hat niemanden umgebracht, er ist der beste Pop auf der Welt!»
Es wäre für Rob ein Leichtes gewesen, die Schläge abzuwehren, aber er tat es nicht, sondern ließ es einfach zu. Irgendwie tat sie ihm jetzt doch leid. Sarah heulte so sehr, und Jamie, der vorhin noch so lässig gewirkt hatte, stand mit aschfahlem, versteinertem Gesicht auf der anderen Seite des Kastenwagens und starrte ihn an.
«Sarah! Rob! Auseinander!»
Die schneidende Stimme der alten Mrs. O'Brien ließ beide herumfahren. Sarah schniefte und wischte sich den Rotz mit dem Ärmel von der Nase, was ihr sofort einen Klaps in den Nacken eintrug. «Benimm dich, Kind», sagte Mrs. O'Brien. «Und du!» Jetzt wandte sie sich an Rob. «Schlägst Mädchen, weil die sich nicht so gut wehren können? Bist ja keinen Deut besser als dein Vater!»
Sie packte Sarahs Arm und zerrte sie mit sich. «Jamie!», rief sie. «Pass auf, dass die Jungs von Mrs. Gregory die Einkäufe sicher auf der Ladefläche verstauen. Sarah und ich sind drüben auf dem Postamt. Und wehe, du streitest dich mit Rob!», fügte sie drohend hinzu.
«Nein, Mam», sagte Jamie leise und schlich mit gesenktem Kopf davon.
Rob starrte ihm erstaunt nach. Was denn, gab's heute keine Keile, weil er Sarah beleidigt hatte? Sonst reichte es doch schon, sie böse anzugucken, dass Jamie sich auf ihn stürzte.
Aber der Triumph schmeckte schal. Rob schaute sich noch einmal um -- vielleicht hatte ja einer der älteren Jungs alles mitbekommen und konnte weitererzählen, wie lässig er gewesen war? Doch da war niemand. Er zuckte die Schultern und machte sich auf die Suche nach seinen Brüdern.
Wenn er Jamie nicht vermöbeln konnte, dann bestimmt die beiden.
Als er den Laden betrat, blickte seine Mutter auf. «Geh zu deinem Vater, Rob», sagte sie. «Es ist Zeit für seinen Nachmittagstee.» Das war ihm natürlich viel lieber als das Aufladen der Kisten und Säcke. Rob verließ den Laden durch das Lager und lief quer über den Hinterhof zum Wohnhaus. Sein Vater saß in seinem Rollstuhl im Wohnzimmer an seinem angestammten Platz.
Rob setzte erst Wasser auf und stellte alles für den Tee bereit, außerdem ein Tellerchen mit Schokokeksen. Erst dann betrat er das Wohnzimmer.
Sein Vater starrte aus dem Fenster. «Pa? Ich bring dir gleich Tee.»
Der Kopf wandte sich ihm zu, der Körper verharrte steif im Rollstuhl, gehalten von zwei Lederriemen um Brust und Bauch, damit er nicht herausfiel. Rasch trat Rob zu seinem Vater und öffnete die Gurtschnallen.
Sein Vater hasste es, angeschnallt zu sein.
Er hockte sich zu ihm. «Ich hab dir doch den großen orangefarbenen Klicker gezeigt? Der war für Sarah.»
«ra ... baien?», lallte sein Vater.
«Genau, für Sarah O'Brien. Ich mag sie sehr.» Eigentlich müsste er sich schämen, weil er so gemein zu ihr gewesen war.
«Weißt du was? Ich glaube, wenn wir groß sind, werde ich sie heiraten», fuhr er fort und nickte zufrieden. «Sie hängt zwar immer mit Jamie rum, aber mit mir hat sie's doch viel besser.»
Sein Vater schüttelte heftig den Kopf. «Ihe ... Muhaaa...»
«Was ist mit ihrer Mutter?»
Seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren konnte sein Vater sich nicht mehr richtig artikulieren, und er war an den Rollstuhl gefesselt. Dennoch hatte er einen wachen Verstand, und Rob saß gerne bei ihm und lernte von ihm.
Ihre Mutter ist eine Hure.
«Das weiß ich, Pa. Aber Sarah ist ein hübsches Mädchen, und tüchtig ist sie auch, dafür sorgt die alte Mrs. O'Brien schon.»
Rob ging in die Küche und goss den Tee auf.
Alle O'Briens sind Verbrecher. Sie haben uns zugrunde gerichtet. Sieh dir an, was haben wir denn? Einen kleinen Laden, der uns kaum über Wasser hält. Einst waren wir reich, aber sie haben uns alles genommen. Sitzen in ihrem Palast und lachen sich ins Fäustchen.
Atemlos hielt sein Vater inne. Er sagte selten so viel auf einmal.
Rob hockte sich wieder neben ihn. «Erzählst du mir davon?»
Versprichst du, sie nicht zu heiraten?
Rob war verunsichert. «Es war nur so eine Idee.» Die Schwärmerei eines Zehnjährigen.
Wenn du sie heiratest, musst du mir was versprechen. Rob nickte. Seinem Vater würde er alles versprechen. « ... ichte schie sugunde.»
Richte sie zugrunde.
«Ich versprech's, Pa.» Rob lachte nervös.
Bestimmt heiratete Sarah irgendwann Jamie. Er brauchte sich gar keine Hoffnungen zu machen. Und auch keine Sorgen.
Sarah blieb auf dem Weg zum Postamt einfach stehen. «Wieso bin ich eigentlich nicht mehr bei meiner richtigen Mam?», fragte sie ihre Großmutter.
«Ach Kind, das ist eine lange Geschichte.» Mam Helen blieb ebenfalls stehen, obwohl sie es hasste, wenn sie bei ihren Besorgungen aufgehalten wurde. «Sagen wir einfach, deine Mam hatte ihre Gründe.»
«Rob hat mir einen Klicker geschenkt, guck mal.» Sie hielt Mam Helen die Murmel hin, die im Sonnenlicht funkelte.
«Hübsch», sagte ihre Großmutter zerstreut.
«Bin ich ein Maorikind?», fragte Sarah unvermittelt.
«Wer sagt denn so was?» Mam Helen packte Sarahs Hand fester und zog sie über die Straße. Ein Pferdefuhrwerk ratterte vorbei, der Mann auf dem Kutschbock grüßte mit einem Nicken. Mam Helen ignorierte ihn.
«Elendes Pack», hörte Sarah sie murmeln. «Glauben, sie wüssten, wer wir sind.»
«Rob hat das gesagt. Er sagt, ich bin bloß ein schmutziges Maorikind. Ist denn mein Pop gar nicht mein Pop?»
Sie versuchte, nicht weinerlich zu klingen, aber das war schwieriger als gedacht.
Ihre Großmutter antwortete nicht. Sie marschierte mit weit ausgreifenden Schritten auf das Postamt zu, schaute weder nach links noch nach rechts, als fürchte sie, angesprochen zu werden.
«Mach dir deshalb keine Sorgen», sagte sie schließlich.
Also bin ich ein Maorikind, dachte Sarah. Ein schmutziges Maorikind. Sie musste sich zwingen, nicht laut loszuheulen. Plötzlich konnte sie den Schmutz an ihrem Körper geradezu fühlen. Sie blieb stehen und wischte die Hand am Latz ihres Kleids ab. Ungehalten griff Mam Helen wieder nach ihr und zog sie mit sich. Sarah hätte sich am liebsten losgemacht, damit Mam Helen sie nicht anfassen musste. Ihre dreckige Hand.
Wie konnte Mam Helen sie nur liebhaben, wenn sie das schmutzige Kind eines Wilden war?
«Komm schon, Sarah, trödel nicht!», fuhr Mam Helen sie gereizt an.
Ich muss immer brav sein und alles tun, was sie sagt, dachte Sarah und schluckte ihre Tränen herunter. Vielleicht vergisst sie dann, was ich bin.
1. Kapitel
Kilkenny, August 1914
«Josie!»
Das Mädchen lief einfach weiter, den schmalen Pfad hinab, gesäumt von trockenem, vom Frost überzogenem Gras. Sie setzte mit einem übermütigen Sprung über einen Baumstamm, der quer über ihrem Weg lag. Wenn sie schnell genug rannte, pfiff ihr der eisige Wind um die Ohren. Dann konnte sie ihre Mam nicht mehr hören. Später würde sie behaupten, sie sei schon zu weit weg gewesen.
Eine Lüge, die Mam durchschauen würde, so viel stand fest. Und natürlich würde sie sich ordentlich Ärger einhandeln, weil sie weglief. Noch dazu barfuß! Unzählige Male hatte Mam ihr eingebläut, sie solle Schuhe tragen, solange sie bei den Verwandten zu Besuch war. Aber die Schuhe waren zu eng, sie scheuerten ihre Fersen auf und quetschten die Zehen ein. Josie lief lieber barfuß.
Sie wollte mit eigenen Augen sehen, worüber die Erwachsenen gestern Abend geredet hatten.
Die Rufe verklangen in der Ferne. Josie hatte den Fuß des Hügels erreicht, und über ihr erhob sich stolz, erhaben und düster Kilkenny Hall. Das Haus ihres Vaters.
Hier lebte er mit ihren Großeltern, ihrem Onkel Jamie und ihrer älteren Schwester Sarah.
Früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sie Mam oft gefragt, wieso sie nicht zusammen bei ihrem Papa wohnten. Mam hatte ihr dann immer über den Kopf gestreichelt und sie so traurig angeschaut, dass Josie selbst mit ihren vier, fünf, sechs Jahren begriffen hatte, wie sehr es ihrer Mam widerstrebte, darüber zu reden. Und schließlich, als sie sieben wurde, hörte sie auf, nach ihrem Vater zu fragen. Irgendwann hatte sie die volle Wahrheit begriffen, wenn sie auch bis heute nicht verstand, wie Walter O'Brien ihr Papa sein konnte und zugleich alle behaupteten, sie sei ein Maoribastard.
Josie erreichte den Pferdestall. Sie schlenderte über den Innenhof. Ein Stallbursche pfiff ein lustiges Lied und kratzte mit seiner Mistgabel über den Boden. Er rief etwas, und eine andere Stimme antwortete ihm.
Sie verharrte mitten in der Bewegung. Die Stimme kannte sie doch.
Sie hockte sich hin und lugte um die Ecke.
Richtig: In der Stallgasse stand ihr Onkel Jamie O'Brien. Breitschultrig, groß gewachsen und mit dem sandfarbenen Haar der O'Brien-Brüder, das bei ihm, dem jüngsten, immer zerzaust war. Heute jedoch nicht. Heute hatte er es säuberlich gescheitelt und gekämmt. Auch trug er nicht, wie sie's von ihm gewohnt war, die abgerissenen Kleider eines Mannes, der auf den Schafweiden zu Hause war, sondern eine feine Reithose, glänzende Stiefel und ein weißes Hemd mit Krawatte, dazu ein Jackett. Er sah aus wie ein richtiger Gentleman. Wie die Männer in den Liebesromanen von Mam, die Josie heimlich las.
Josie mochte Onkel Jamie. So richtig wie ein Onkel kam er ihr gar nicht vor. In den Büchern, die sie las, waren Onkel immer bärtig und alt, und meistens hatten sie weißes Haar. Jamie war erst neunzehn, viel jünger als ihre anderen Onkel oder ihre Patentante Emily. Sarah war nur drei Jahre jünger als er, und die war schließlich Josies Schwester.
Onkel Jamie zog den Sattelgurt seines Rappen fest. Ohne sich umzudrehen, rief er über die Schulter: «Kannst ruhig herkommen, Josie. Ich hab dich längst gesehen.»
Zögernd stand sie auf und machte zwei Schritte auf ihn zu. «Wie hast du mich bemerkt?», fragte sie.
«Was denn, soll ich etwa nicht merken, wenn meine Lieblingsnichte sich frühmorgens vom Fuchsbau wegschleicht, um sich im Stall herumzudrücken? Du bist mir eine! Weiß deine Mutter eigentlich, dass du hier bist?»
Er kam zu ihr, hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Josie kreischte vergnügt und zappelte, damit er sie wieder herunterließ. «Ich bin viel zu groß zum In-die-Luft-Werfen!», rief sie atemlos und strich ihr zerknautschtes Wollkleid glatt.
«Du bist auch zu klein, um in aller Frühe hier herumzustreunen. Hast du da drüben keine Aufgaben zu erledigen?» Sein Blick war tadelnd und zärtlich zugleich.
Verlegen senkte Josie den Blick und malte mit dem großen Zeh Muster in den Dreck der Stallgasse. «Kann schon sein.»
Jamie war das einzige Familienmitglied, das Josie und ihre Mutter manchmal besuchte. Die beiden wohnten im Wald, hoch oben in den Bergen über dem Wakatipusee. Dorthin verirrte sich nie jemand. Wer kam, tat es, weil er Josies Mam sehen wollte. Wenn Jamie kam, blieb er ein Stündchen, plauderte mit ihrer Mam -- sie redeten immer über langweiliges Zeug, das Josie nicht verstand -, aber er brachte ihr immer etwas mit: ein Buch aus der Bibliothek von Kilkenny Hall, das sie ehrfürchtig verschlang, bis er das nächste Mal kam und ein neues Buch mitbrachte, das er gegen das alte tauschte. Oft scherzte er, Josies galoppierender Bibliotheksdienst zu sein.
«Na dann, hinauf mit dir.» Er hob sie vor den Sattel. «Ich wollte sowieso hinunter nach Glenorchy, um die Blumen für Emilys Brautstrauß zu holen. Aber ein kleiner Abstecher zum Fuchsbau kann nicht schaden, was meinst du?»
«Weißt du, was ich immer schon mal wissen wollte?» «Nein, woher denn?»
«Wieso der Fuchsbau so heißt.»
Jamie kratzte sich am Kopf, fuhr dann mit der flachen Hand über die glattgekämmten Haare, als müsste er sich vergewissern, dass sie noch gut saßen. «Tja, das weiß keiner so genau. Als dein Onkel Finn damals mit Ruth dort einzog, hieß er noch nicht so, glaube ich. Aber damals war ich noch klein, noch kleiner als du heute.»
«Ich bin nicht klein», protestierte Josie, aber Jamie achtete nicht darauf.
«Mein Vater hat zuerst vom Fuchsbau geredet, glaube ich. Weil es so ein niedriges Gebäude ist und weil Finn in den letzten Jahren immer neue Räume angebaut hat. Und du weißt ja, es ist trotzdem verflucht eng und verwinkelt in diesem Haus, wie in einem Labyrinth. Darum der Fuchsbau.»
Josie nickte eifrig. Sie wusste, was Jamie meinte. «Warum haben Mam und ich nicht drüben in Kilkenny Hall übernachtet, sondern im Fuchsbau? Wieso leben wir draußen im Wald, wenn ihr und Finn und mein Vater und alle hier leben?»
«Tja ... Das soll dir lieber deine Mam erklären, kleine Lieblingsnichte.»
Josie strahlte. Er hatte sie seine Lieblingsnichte genannt. Das hieß doch bestimmt, dass er sie lieber mochte als Sarah und die beiden Töchter von Onkel Finn, oder?
Aber seine Antwort auf ihre Frage war ziemlich unbefriedigend, fand sie.
Jamie führte den Rappen aus der Stallgasse. Er rief dem Burschen noch etwas zu. Der lachte darauf und tippte sich grüßend an die Kappe. Jamie schwang sich hinter Josie in den Sattel. Sein starker Arm legte sich um ihre Brust, und sie lehnte sich gegen ihn. Mit der freien Hand hielt er die Zügel und lenkte das Pony über den Hof zum Pfad, der hinauf zum Fuchsbau führte.
«Freust du dich auf die Hochzeit?», fragte Jamie.
«Mhm.» Josie rutschte etwas weiter nach hinten. Sie atmete seinen Duft ein. Rasierwasser, Pfeifenrauch und etwas Herbes, das sie nicht zu benennen wusste. Männerschweiß vielleicht. Sie mochte, wie er roch.
«Du willst bestimmt auch eines Tages heiraten.»
Sie verdrehte sich halb vor ihm im Sattel, weil sie wissen wollte, ob er diese Worte mit jenem zärtlichen Blick begleitete, mit dem die Gentlemen in den Romanen immer ihre Ladys bedachten. Doch sein Blick ging in weite Ferne. Er schaute über den Wakatipusee, der in diesem Moment niedersank, als atmete er erschöpft aus. Hoch ragten die Berge um den See auf; jetzt im Winter waren die Stunden mit Sonnenschein kurz. So nah am Seeufer konnte man glauben, tagelang in nächtlicher Dunkelheit zu hausen.
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Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH
- Autor: Julie Peters
- 2012, 1. Auflage, 496 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 380525024X
- ISBN-13: 9783805250245
- Erscheinungsdatum: 19.04.2012
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