In der Falle
Roman. Ausgezeichnet mit dem Finnischer Krimipreis 2010
Eigentlich wollte Vesa Levola nichts mit den Drogengeschäften seines Vaters zu tun haben. Doch als dieser seine Geschäftspartner von der russischen Mafia hintergeht, landen beide in einer Falle. Die Erpresser zwingen Vesa, mit dem Revolver auf den Kopf des...
Leider schon ausverkauft
Buch
3.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „In der Falle “
Klappentext zu „In der Falle “
Eigentlich wollte Vesa Levola nichts mit den Drogengeschäften seines Vaters zu tun haben. Doch als dieser seine Geschäftspartner von der russischen Mafia hintergeht, landen beide in einer Falle. Die Erpresser zwingen Vesa, mit dem Revolver auf den Kopf des Vaters zu zielen. Nach dessen Tod haben sie mit dem Sohn leichtes Spiel. Marko Leinos schwarzer Kriminalroman erzählt vom Milieu der Kleinkriminellen in Finnland und von der Jagd nach dem großen Geld. Doch wie schlau es Leinos fragwürdige Helden auch anstellen, es gibt immer einen, der noch skrupelloser ist. Wer in diesem Roman nicht in der Falle sitzt, hat es bloß noch nicht gemerkt. Spannend, blutig, böse und dabei oft unglaublich komisch!
Lese-Probe zu „In der Falle “
In der Falle von Marko LeinoÜbersetzt von Anu Pyykönen-Stohner
... mehr
Der Versöhnungssex war kraftlos, ein schnelles, routinemäßiges Geruckel, bei dem sich beide im Stillen wünschten, dass Viitasalo schnell kam.
Als er sich von seiner Frau auf die eigene Seite rollte, fror er, obwohl er schwitzte. Sari rutschte in seinen Arm und legte ihm die Hand auf die Brust. Ihre sachte streichelnden Finger waren warm.
»Liebst du mich denn überhaupt noch?«, fragte sie mit einem leichten Schniefen.
Viitasalo legte ihr den Arm um die Taille. Er spürte, dass sie zitterte.
»Natürlich lieb ich dich«, sagte er. »Ich lieb dich jetzt und werde dich immer lieben.«
»Auch wenn ich arbeitslos werde?«
»Was hat das damit zu tun?«
Ihre Hand hob sich von seiner Brust, und sie drehte sich so schnell von ihm weg, dass sich sein Handgelenk unangenehm verbog. Er verzog das Gesicht, hielt aber still. Sari zitterte am ganzen Körper und weinte.
»Was ist denn?«, flüsterte Viitasalo.
»Ich hab Angst. Kerttula hat mich für morgen zu sich bestellt«, sagte Sari. Sie war kaum zu verstehen.
»Kerttula? Ist das euer Abteilungsleiter?«
»Er ist der Personalchef.«
Bevor Viitasalo noch etwas sagen konnte, setzte sich Sari auf und stieg aus dem Bett.
»Wohin gehst du?«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Sari auf dem Weg zur Schlafzimmertür. Ihre nackten Füße klatschten feucht aufs Parkett. »Ich les noch eine Weile.«
»Sari?« Viitasalo knipste die Nachttischlampe an.
»Was?«
»Damals, bei der Sache mit Liina, da hattest du doch diese Medikamente. Vielleicht solltest du sie dir wieder verschreiben lassen?«
»Das hier ist was anderes. Außerdem hab ich mir was aus der Apotheke geholt«, antwortete Sari. »Einschlaf- und Durchschlaftabletten. Sie helfen bloß nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte Viitasalo. Er war überrascht, dass Sari von sich aus etwas unternommen hatte. Für ihn war es ein gutes Zeichen.
»Ich bin zu müde zum Schlafen.«
Jetzt setzte sich auch Viitasalo auf. Er sah seine Frau, die in der Tür stand, und er sah ihre Verzweiflung. »Und wenn du dir was Stärkeres geben und dich zum Beispiel krankschreiben lassen würdest?«
Sari drehte sich um, ihre Augen funkelten. »Du hast echt keine Ahnung. Ausgerechnet jetzt? Da würden die mich doch als erste rausschmeißen. Sie nehmen uns alle unter die Lupe. Und jeder belauert jeden, nur um seine eigene Haut zu retten.«
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst. Es geht doch bestimmt nicht nur darum, dass Leute abgeschossen werden.«
»Doch, genau darum geht es! Letzten Montag ist Raisa zu spät gekommen, weil der dämliche Bus eine Panne hatte und sie auf den nächsten warten musste, und weißt du, was Harri gemacht hat: Er ist zu Kerttula gegangen und hat ihm erzählt, dass sie ein paar Minuten über der Gleitzeit war. Mann, begreif doch endlich!«
Sari ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Viitasalo konnte sich nicht erinnern, von diesen Raisas, Harris und Kerttulas schon mal was gehört zu haben. Hatte Sari nie von ihnen erzählt, oder hatte er nur nicht zugehört?
»Ich versuch's ja«, sagte er, aber die geschlossene Tür antwortete nicht. Auch Viitasalo war jetzt nicht mehr müde. Seine Gedanken kreisten wieder um Liinas Geburt, um die Zeit danach, um das Jahr, das Sari zu Hause gewesen war. Um das Jahr, über das bei ihnen nicht gesprochen wurde. Es war das Jahr, von dem auch seine Probleme mit Sundström herrührten. Wieder einmal überlegte er, ob es besser gewesen wäre, wenn er sich damals nicht mit ihm eingelassen hätte. Klar, sie wären aus den Schulden nicht herausgekommen, schon das Haus war teuer, und Saris Kaufsucht hätte ihnen den Rest gegeben. Und trotzdem: Wäre es nicht besser gewesen, wenn er als Polizist gehandelt hätte, wie man es von einem Polizisten erwartete? Er wusste es nicht. Für Saris Depressionen konnte niemand etwas, aber deshalb machte das Gesetz noch lange keinen Unterschied zwischen ihm in seiner Zwangslage und Gewohnheitsverbrechern wie Sundström.
»Scheißleben!«, flüsterte Viitasalo und ließ sich schwer auf den Rücken fallen. Das helle Licht der Nachttischlampe ließ die schlecht verputzte Zimmerdecke wie einen Gletscher aussehen, mit tiefen Rissen und vom Wind zusammengetriebenen Schneewehen. Viitasalo kniff die Augen halb zu und entdeckte einen hungrigen Eisbären in der Zimmerecke. Bald würde das Tier seinen Schweiß riechen und angreifen.
»Wer von uns ist eigentlich verrückter, ich oder Sari?«, hörte er sich fragen.
Warum hatte er verrückt gesagt? Hielt er Sari nur wegen ihrer Schlafprobleme wirklich für verrückt? Hielt er sich selbst für verrückt? Viitasalo fror immer mehr. Alles ging den Bach hinunter, und er konnte nichts dagegen machen. Dann kamen die Kopfschmerzen. Zu viel Wein, zu viel Sauna-Bier. Zu viel von allem.
Vesa machte nicht mal den Versuch zu erraten, was es bedeutete, als einer der Russen nach draußen ging und mit einem zusammengerollten Stück grüner LKW-Plane zurückkam. Er hätte es auch nie erraten. Seitdem waren fünf Minuten vergangen, aber im Vergleich zu ihnen war alles, was er in seinem bisherigen Leben hatte aushalten müssen, nichts gewesen. Gar nichts.
Inzwischen stand er auf der grünen Plane und schaute auf den Scheitel seines Vaters, dem der Schweiß in glitzernden Tropfen aus der Kopfhaut trat. Aus den Augenwinkeln warf Vesa einen Blick auf Macho, der ein paar Meter rechts von ihm stand und ihn über den Lauf seiner Pistole hinweg ansah. Hinter Macho stand das gelangweilt wirkende Russenduo.
Als Vesa einen Blick in die andere Richtung warf, sah er Turunen seelenruhig eine Zigarette rauchen und abwarten. Turunen stand noch an derselben Stelle wie vor fünf Minuten. Da hatte Vesa noch neben ihm gestanden. Er hätte wieder gern die Zeit zurückgedreht, noch weiter zurück diesmal, so weit, bis er ein kleiner Junge war, der im Hof auf der Schaukel saß und wartete, dass sein Vater ihn anschubste, sein Vater, der damals noch der wichtigste Mensch der Welt für ihn war. Wenn es damals, nach dem Schaukelalter, anders gekommen wäre, wenn sein Vater der kräftige ehemalige Boxer geblieben wäre, den er bewunderte
und den die anderen Kinder auf dem Hof respektierten - wenn alles anders gekommen wäre, dann würde er jetzt nicht auf dieser Plane stehen, und sein Vater würde nicht mit auf die Brust gesunkenem Kinn vor ihm knien.
Turunen hatte neben Vesa gestanden, als Macho und einer der Russen die Plane auf dem Boden ausbreiteten.
»Fedor«, hatte Turunen gesagt und in die Richtung von Vater genickt, der zusammengesunken in der Hallenecke saß.
Fedor war zu Vater gegangen und hatte ihn auf die Beine gezerrt. Vaters Knie hatten nachgegeben, aber er hatte sich zusammengerissen. Fedor hatte Vater auf die Plane gestoßen und ihn an den Schultern auf die Knie gedrückt. Danach hatten Macho und die Russen Turunen angeschaut, und Vesa hatte gespürt, wie sich Turunens Hand auf seine Schulter legte. Er hätte sie gern abgeschüttelt, aber er traute sich nicht, sich auch nur zu bewegen.
»Liebst du deinen Vater?«, hatte Turunen gefragt.
»Ja«, hatte Vesa mit erstickter Stimme gesagt. Und plötzlich hatte er noch eine Chance gesehen. Vielleicht war Turunen doch nicht so hart, wie er wirkte. »Ja, ich lieb ihn. Bringt uns nicht um - bitte!« »Dich bringen wir nicht um«, hatte Turunen sanft gesagt. »Macho hat mir erzählt, dass es nur dein Vater ist, der mich für einen Trottel hält. So war's doch, Macho? Dass sich der jüngere der Levolas korrekt benommen hat?«
»Ja«, hatte Macho gesagt und ihn angegrinst. »Er war okay. - Im Gegensatz zu seinem Papa«, hatte er hinzugefügt und mit der Stiefelspitze Vater in die Seite getreten. »Und? Was steht jetzt am Ende des Regenbogens, sag? Ein Sack Blumenerde, oder was?«
Vesa hatte gesehen, wie Vaters Schultern zitterten. Vater hatte geweint, aber nur stumm.
»Sieh mal, es ist so: Du hast deinen Vater lieb, aber mir schuldet er zwanzigtausend Euro, und er ist erwiesenermaßen ein Idiot«, hatte Turunen gesagt. »Die zwanzigtausend wären demnach das Erbe, das dir der Idiot hinterlässt.«
»Ich hab kein Geld«, hatte Vesa geantwortet.
»Das macht nichts. Geld ist nur ein Tauschmittel, abstrakt und hoffnungslos überbewertet. Du bezahlst konkret mit Arbeit«, hatte Turunen gesagt und Vesa auf die Schulter geklopft. Danach hatte er die Hand zu Vesas Erleichterung nicht wieder auf die Schulter zurückgelegt. »Und jetzt rate, was deine erste Arbeit ist?«
Vesa hatte den Kopf wenden müssen, um Turunen anzuschauen, der ihn anlächelte. Er hatte vom Tabak dunkle Zähne und pralle, trockene Lippen.
»Danach ist dein Erbe nur noch zehntausend Miese.«
»Ich versteh nicht.«
»Doch, du verstehst schon«, hatte Turunen gesagt und Vesa mit dem Griff nach vorn die eigene Pistole gereicht. »Du erschießt deinen Vater, den du so lieb hast.«
»Nein, verdammte Scheiße, das könnt ihr nicht machen!«, hatte Vesa geschrien, und seine Stimme hatte sich dabei überschlagen und war ins Falsett gerutscht. »Ihr könnt mich auch umbringen, aber das nicht!«
»Du hörst mir nicht zu«, hatte Turunen gesagt, in dessen Gesicht keine Spur von einem Lächeln mehr gewesen war. »Wenn du mir zugehört hättest, hättest du verstanden, dass wir dich auf keinen Fall umbringen. Es wäre einfach ein schlechtes Geschäft.« Turunens hässliches Lächeln war wieder zurückgekehrt. »Liebst du denn deine Mutter auch? Anita heißt sie, nicht, Macho?«
»Stimmt.«
»Sag, liebst du deine Mutter, Vesa?«
»Wie?«, hatte Vesa gefragt. Er hatte nicht verstanden, worauf Turunen hinauswollte. Was hatte Mutter mit der Sache zu tun? Sie hatte doch keine Ahnung von Vaters Geschäften.
»Was ich sagen will: Wenn du deinen Vater nicht umbringen willst, dann bringen wir zusätzlich zu deinem Vater auch deine Mutter um. Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast, dann begreifst du, dass das ein ganz schlechter Deal für dich wäre. Wenn wir uns nämlich auch noch mit den inneren Angelegenheiten eurer Familie beschäftigen müssen, dann wird noch einmal ein ordentlicher Zuschlag fällig. Dann schuldest du uns zu den zwanzigtausend noch einmal zwanzigtausend, die ich dir für zwei Liquidationen in Rechnung stellen muss. Plus fünftausend Schmutzzulage, dass ich's nicht vergesse. Kann natürlich sein, dass dir das Geld egal ist. Dann betrachte es von der Gefühlsseite her: Willst du lieber Halbwaise oder Waise sein? Wenn ich dein Schuldenberater wäre, würde ich sagen, dass man dir ein Angebot macht, das du eigentlich nicht ausschlagen kannst.« Turunen hatte seine Rede mit einem hässlichen Lachen geschlossen.
Vesa hatte eine Weile die Waffe angeschaut und dann seinen Vater. Vater hatte den Blick gehoben, seine Augen waren voller Tränen gewe sen, seine Lippen hatten sich lautlos bewegt, und er hatte sachte den Kopf geschüttelt. »Ist das nicht eine einfache Wahl?«, war von irgendwo in der Ferne Turunens Stimme gekommen. »Vater oder Vater und Mutter. Überleg's dir. Dein Vater ist so oder so tot. Aber soll, nur weil du schwach bist, auch deine Mutter sterben? Was deinen Vater betrifft, braucht es nur eine kleine Bewegung des Zeigefingers. Und ob das nun dein Finger oder irgendein anderer ist - was soll's? Denk auch daran, was für ein Scheißkerl er ist. Ein Scheißvater ist er in jedem Fall. Was schuldest du ihm? Weißt du, was ich immer sage: Jeder Sohn hat genug von einem Ödipus in sich, dass ihm so was keine Probleme macht. Für mich war es wenigstens so. Ich wusste immer, dass ich meinen Vater eines Tages umbringen würde, die Frage war nur, wie.«
»Du hast deinen eigenen Vater umgebracht?«, hatte Vesa entsetzt gefragt. »Nein. Mir war noch nichts eingefallen, was schmerzhaft genug gewesen wäre, da ist er vor einen Bus gelaufen«, hatte Turunen lächelnd geantwortet. »Du hast es besser. Du brauchst nur abzudrücken. Um ehrlich zu sein, bin ich fast ein bisschen neidisch.«
Die Waffe in Vesas Hand fühlte sich kalt und schwer an. Er sah seinen Vater immer noch zittern.
»Schießt du jetzt oder nicht?«
Turunens Stimme ließ Sohn und Vater zusammenzucken. Vesas Gedanken schweiften ab. Wenn er die Augen schloss, sah er Bilder aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit aufblitzen, Bilder, die in schneller Folge auf sein Bewusstsein einstürmten und vor jedem neuen Bild wieder zerflossen. Es war, als blätterte man fieberhaft in einem Album, um das eine Bild zu finden, das man suchte. Auf allen Bildern waren sie zu zweit, nur Vater und Sohn. Und auf allen Bildern lachten sie. Vaters Blick war immer liebevoll, und auf vielen Bildern hatte er schützend den Arm um den Sohn gelegt. Es sind falsche Bilder, dachte Vesa, so war es gerade nicht! Er war seinem Vater nie wichtig gewesen. Oder doch? Hatte er nur alles vergessen? Nein, die Bilder logen. Warum nur musste alles immer schlimmer werden?
Ich muss nachdenken, überlegte Vesa, während er die Augen wieder öffnete. Er musste ein letztes Mal die Möglichkeiten durchgehen, wie sie den Hals doch noch aus der Schlinge ziehen könnten. Vaters schweißnasser Kopf bebte. Was, wenn ich mich selbst erschieße?, überlegte Vesa. »Falls du gerade Pläne machst: In der Waffe ist nur eine Kugel.«
Turunens Stimme echote durch die Halle. »Je nachdem, wie Macho heute drauf ist, schaffst du's vielleicht sogar, auf einen von uns zu schießen. Vielleicht triffst du sogar und knipst einem von uns das Licht aus - von Anfängern hat man schon die tollsten Sachen gehört. Aber danach müssen wir dich leider erschießen. Und danach erschießen wir deinen Vater und deine Mutter. Vielleicht überlegst du's dir noch mal.«
»Vesa, tu's!« Vaters Stimme war kaum zu verstehen. »Was hast du gesagt?«, fragte Vesa.
»Du hast es gehört«, sagte Vater und hob den Kopf. »Ich bin schon tot, so oder so. Kümmer dich um Mutter und dich selbst. Sag Anita, dass ich sie liebe.«
Vesa sah Vaters Blick, den Nebel in seinen Augen. Vater war in Gedanken schon nicht mehr bei ihnen, auch wenn er Vesa noch ansah und Worte an ihn richtete. Er hatte den Blick eines Mannes, der sich abgefunden hatte. Es war der Blick eines Toten.
»Erschieß mich!« Es war eine fast stumme Bitte.
»Ich kann nicht«, flüsterte Vesa.
»Doch, du kannst«, sagte Vater fest und senkte wieder den Kopf.
»Mach es schnell!«
»Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat.« Turunens Stimme kam wie aus einer anderen Welt. »Wenn du auf mich nicht hörst, hör wenigstens auf deinen Vater.«
In Vesas Welt waren nur noch seine Hand mit der Pistole, Vaters wieder auf die Brust gesunkenes Kinn und dessen schwitzender, dünn behaarter Kopf. Vesa streckte die Hand aus und drückte die Pistole gegen Vaters Schädel. Vater erschauerte, dann holte er tief Luft, seine Schultern hoben sich, und er nickte. Vesa zitterte so sehr, dass er die andere Hand zu Hilfe nehmen musste.
»Vater, verzeih mir!«, sagte Vesa. Dann schloss er die Augen. Er hörte das Rauschen in den Ohren, als ihm das Blut in den Kopf stieg. Er hielt den Atem an und drückte ab. Doch statt eines Knalls hörte er nur ein Knacken. Trotzdem spürte er Vaters Kopf wegsinken. Hatte das Rauschen in seinem Kopf nur den Knall übertönt?
Erst als Vesa Turunen lachen hörte, machte er die Augen auf. Vater lag neben seinen Füßen auf dem Rücken, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Die Augen sahen ihn an.
»Du hast mich erschossen«, sagte Vater.
Danach ging alles ganz schnell, und Vesa ahnte mehr, was geschah, als dass er es sah: Ilja ging neben Vater in die Hocke und verstellte Vesa die Sicht. Auch der Schuss, der dann fiel, war nicht wirklich laut. Da war nur ein trockenes, kurzes Bellen, das für einen Augenblick die Luft zerriss. Dann war es still.
»Deine Waffe war nicht geladen, Junior«, hörte Vesa Turunen sagen.
»Hast du's auf Video, Macho?«
»Gestochen scharf«, antwortete Macho.
»Fedor, sag Ilja, dass er aus dem Bild gehen soll, damit Macho unseren Filmstar noch zusammen mit der Leiche verewigen kann.« Fedor übersetzte, und Ilja gehorchte. Vesa drehte sich langsam um und schaute in Machos Richtung. Macho hatte in der einen Hand seine Pistole und in der anderen sein Handy. Er war beim Filmen so konzentriert, dass ihm die Zungenspitze zwischen den Lippen herausschaute.
Vesa begriff, was Macho auf dem Display sah: ihn neben seinem erschossenen Vater, die Pistole noch in der Hand.
»Okay, das reicht. Wenn wir den Anfang noch ein bisschen bearbeiten, wird das oscarreif«, sagte Turunen, als könnte er Vesas Gedanken lesen. »Und? Wie fühlst du dich jetzt?«
»Ihr wollt mir das anhängen«, sagte Vesa tonlos.
»Da gibt's nicht viel anzuhängen. Du hast es getan. Du hast abgedrückt und nicht gewusst, dass das Magazin leer ist. Das macht dich zum Mörder, astrein.«
»Nein«, sagte Vesa und schüttelte den Kopf. Er konnte noch nicht wieder nach unten schauen, dorthin, wo sein Vater lag. Wenn er es tat, würde Vater ihn nicht mehr mit weit aufgerissenen Augen ansehen. Er würde nichts und niemanden mehr ansehen. »Doch«, sagte Turunen, der lächelnd auf Vesa zukam. »Du warst bereit, es zu tun, und du hast es getan. Ilja hat deine Arbeit nur sauber zu Ende gebracht. Du könntest verdammt stolz auf dich sein. Viele bringen ihre Väter nur symbolisch um. Du hast mehr Mumm gehabt.«
»Und warum habt ihr's aufgenommen?« Vesa presste die Worte aus sich heraus.
»Damit du weißt, dass du von jetzt an keine andere Wahl mehr hast, als nach meiner Pfeife zu tanzen«, sagte Turunen und gab Vesa einen Klaps auf die Schulter. »Wenn du jemals das Maul aufmachst, wo und gegenüber wem auch immer, ist das Filmchen schneller auf YouTube, als du den Computer hochfahren kannst. Und weißt du, wo du dann landest?« Turunen zwinkerte ihm zu. »So, und jetzt darfst du deinen Vater begraben. Danach sag ich dir, wie du deine Schulden bei mir abarbeitest und was du deiner Mutter sagst. Aber zuerst: Mein aufrichtiges Beileid, Ödipus!«
Als die anderen in Gelächter ausbrachen, konnte Vesa nicht mehr. Er drehte sich noch von Vater weg, dann fiel er auf die Knie. Die Waffe löste sich aus seiner Hand und traf mit einem metallischen Scheppern auf dem Betonfußboden auf. Er erbrach in schluckaufähnlichen Wellen, und als die Schleuse erst geöffnet war, kam der stinkende Brei so lange und am Ende so gallebitter, dass Vesa dachte, er müsste sterben.
»Jetzt steh schon auf! Das Wichtigste hast du ja noch gar nicht erledigt. Ich sagte doch, du musst deinen Vater unter die Erde bringen.«
Vesa kroch auf allen vieren, und das Wasser strömte ihm aus den Augen. Die Kotze kam ihm aus den Nasenlöchern und aus dem Mund, und er zitterte am ganzen Körper. Es hörte einfach nicht auf. Er glaubte nicht mehr, er müsste sterben. Er wünschte es sich.
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
Der Versöhnungssex war kraftlos, ein schnelles, routinemäßiges Geruckel, bei dem sich beide im Stillen wünschten, dass Viitasalo schnell kam.
Als er sich von seiner Frau auf die eigene Seite rollte, fror er, obwohl er schwitzte. Sari rutschte in seinen Arm und legte ihm die Hand auf die Brust. Ihre sachte streichelnden Finger waren warm.
»Liebst du mich denn überhaupt noch?«, fragte sie mit einem leichten Schniefen.
Viitasalo legte ihr den Arm um die Taille. Er spürte, dass sie zitterte.
»Natürlich lieb ich dich«, sagte er. »Ich lieb dich jetzt und werde dich immer lieben.«
»Auch wenn ich arbeitslos werde?«
»Was hat das damit zu tun?«
Ihre Hand hob sich von seiner Brust, und sie drehte sich so schnell von ihm weg, dass sich sein Handgelenk unangenehm verbog. Er verzog das Gesicht, hielt aber still. Sari zitterte am ganzen Körper und weinte.
»Was ist denn?«, flüsterte Viitasalo.
»Ich hab Angst. Kerttula hat mich für morgen zu sich bestellt«, sagte Sari. Sie war kaum zu verstehen.
»Kerttula? Ist das euer Abteilungsleiter?«
»Er ist der Personalchef.«
Bevor Viitasalo noch etwas sagen konnte, setzte sich Sari auf und stieg aus dem Bett.
»Wohin gehst du?«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Sari auf dem Weg zur Schlafzimmertür. Ihre nackten Füße klatschten feucht aufs Parkett. »Ich les noch eine Weile.«
»Sari?« Viitasalo knipste die Nachttischlampe an.
»Was?«
»Damals, bei der Sache mit Liina, da hattest du doch diese Medikamente. Vielleicht solltest du sie dir wieder verschreiben lassen?«
»Das hier ist was anderes. Außerdem hab ich mir was aus der Apotheke geholt«, antwortete Sari. »Einschlaf- und Durchschlaftabletten. Sie helfen bloß nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte Viitasalo. Er war überrascht, dass Sari von sich aus etwas unternommen hatte. Für ihn war es ein gutes Zeichen.
»Ich bin zu müde zum Schlafen.«
Jetzt setzte sich auch Viitasalo auf. Er sah seine Frau, die in der Tür stand, und er sah ihre Verzweiflung. »Und wenn du dir was Stärkeres geben und dich zum Beispiel krankschreiben lassen würdest?«
Sari drehte sich um, ihre Augen funkelten. »Du hast echt keine Ahnung. Ausgerechnet jetzt? Da würden die mich doch als erste rausschmeißen. Sie nehmen uns alle unter die Lupe. Und jeder belauert jeden, nur um seine eigene Haut zu retten.«
»Meinst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst. Es geht doch bestimmt nicht nur darum, dass Leute abgeschossen werden.«
»Doch, genau darum geht es! Letzten Montag ist Raisa zu spät gekommen, weil der dämliche Bus eine Panne hatte und sie auf den nächsten warten musste, und weißt du, was Harri gemacht hat: Er ist zu Kerttula gegangen und hat ihm erzählt, dass sie ein paar Minuten über der Gleitzeit war. Mann, begreif doch endlich!«
Sari ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Viitasalo konnte sich nicht erinnern, von diesen Raisas, Harris und Kerttulas schon mal was gehört zu haben. Hatte Sari nie von ihnen erzählt, oder hatte er nur nicht zugehört?
»Ich versuch's ja«, sagte er, aber die geschlossene Tür antwortete nicht. Auch Viitasalo war jetzt nicht mehr müde. Seine Gedanken kreisten wieder um Liinas Geburt, um die Zeit danach, um das Jahr, das Sari zu Hause gewesen war. Um das Jahr, über das bei ihnen nicht gesprochen wurde. Es war das Jahr, von dem auch seine Probleme mit Sundström herrührten. Wieder einmal überlegte er, ob es besser gewesen wäre, wenn er sich damals nicht mit ihm eingelassen hätte. Klar, sie wären aus den Schulden nicht herausgekommen, schon das Haus war teuer, und Saris Kaufsucht hätte ihnen den Rest gegeben. Und trotzdem: Wäre es nicht besser gewesen, wenn er als Polizist gehandelt hätte, wie man es von einem Polizisten erwartete? Er wusste es nicht. Für Saris Depressionen konnte niemand etwas, aber deshalb machte das Gesetz noch lange keinen Unterschied zwischen ihm in seiner Zwangslage und Gewohnheitsverbrechern wie Sundström.
»Scheißleben!«, flüsterte Viitasalo und ließ sich schwer auf den Rücken fallen. Das helle Licht der Nachttischlampe ließ die schlecht verputzte Zimmerdecke wie einen Gletscher aussehen, mit tiefen Rissen und vom Wind zusammengetriebenen Schneewehen. Viitasalo kniff die Augen halb zu und entdeckte einen hungrigen Eisbären in der Zimmerecke. Bald würde das Tier seinen Schweiß riechen und angreifen.
»Wer von uns ist eigentlich verrückter, ich oder Sari?«, hörte er sich fragen.
Warum hatte er verrückt gesagt? Hielt er Sari nur wegen ihrer Schlafprobleme wirklich für verrückt? Hielt er sich selbst für verrückt? Viitasalo fror immer mehr. Alles ging den Bach hinunter, und er konnte nichts dagegen machen. Dann kamen die Kopfschmerzen. Zu viel Wein, zu viel Sauna-Bier. Zu viel von allem.
Vesa machte nicht mal den Versuch zu erraten, was es bedeutete, als einer der Russen nach draußen ging und mit einem zusammengerollten Stück grüner LKW-Plane zurückkam. Er hätte es auch nie erraten. Seitdem waren fünf Minuten vergangen, aber im Vergleich zu ihnen war alles, was er in seinem bisherigen Leben hatte aushalten müssen, nichts gewesen. Gar nichts.
Inzwischen stand er auf der grünen Plane und schaute auf den Scheitel seines Vaters, dem der Schweiß in glitzernden Tropfen aus der Kopfhaut trat. Aus den Augenwinkeln warf Vesa einen Blick auf Macho, der ein paar Meter rechts von ihm stand und ihn über den Lauf seiner Pistole hinweg ansah. Hinter Macho stand das gelangweilt wirkende Russenduo.
Als Vesa einen Blick in die andere Richtung warf, sah er Turunen seelenruhig eine Zigarette rauchen und abwarten. Turunen stand noch an derselben Stelle wie vor fünf Minuten. Da hatte Vesa noch neben ihm gestanden. Er hätte wieder gern die Zeit zurückgedreht, noch weiter zurück diesmal, so weit, bis er ein kleiner Junge war, der im Hof auf der Schaukel saß und wartete, dass sein Vater ihn anschubste, sein Vater, der damals noch der wichtigste Mensch der Welt für ihn war. Wenn es damals, nach dem Schaukelalter, anders gekommen wäre, wenn sein Vater der kräftige ehemalige Boxer geblieben wäre, den er bewunderte
und den die anderen Kinder auf dem Hof respektierten - wenn alles anders gekommen wäre, dann würde er jetzt nicht auf dieser Plane stehen, und sein Vater würde nicht mit auf die Brust gesunkenem Kinn vor ihm knien.
Turunen hatte neben Vesa gestanden, als Macho und einer der Russen die Plane auf dem Boden ausbreiteten.
»Fedor«, hatte Turunen gesagt und in die Richtung von Vater genickt, der zusammengesunken in der Hallenecke saß.
Fedor war zu Vater gegangen und hatte ihn auf die Beine gezerrt. Vaters Knie hatten nachgegeben, aber er hatte sich zusammengerissen. Fedor hatte Vater auf die Plane gestoßen und ihn an den Schultern auf die Knie gedrückt. Danach hatten Macho und die Russen Turunen angeschaut, und Vesa hatte gespürt, wie sich Turunens Hand auf seine Schulter legte. Er hätte sie gern abgeschüttelt, aber er traute sich nicht, sich auch nur zu bewegen.
»Liebst du deinen Vater?«, hatte Turunen gefragt.
»Ja«, hatte Vesa mit erstickter Stimme gesagt. Und plötzlich hatte er noch eine Chance gesehen. Vielleicht war Turunen doch nicht so hart, wie er wirkte. »Ja, ich lieb ihn. Bringt uns nicht um - bitte!« »Dich bringen wir nicht um«, hatte Turunen sanft gesagt. »Macho hat mir erzählt, dass es nur dein Vater ist, der mich für einen Trottel hält. So war's doch, Macho? Dass sich der jüngere der Levolas korrekt benommen hat?«
»Ja«, hatte Macho gesagt und ihn angegrinst. »Er war okay. - Im Gegensatz zu seinem Papa«, hatte er hinzugefügt und mit der Stiefelspitze Vater in die Seite getreten. »Und? Was steht jetzt am Ende des Regenbogens, sag? Ein Sack Blumenerde, oder was?«
Vesa hatte gesehen, wie Vaters Schultern zitterten. Vater hatte geweint, aber nur stumm.
»Sieh mal, es ist so: Du hast deinen Vater lieb, aber mir schuldet er zwanzigtausend Euro, und er ist erwiesenermaßen ein Idiot«, hatte Turunen gesagt. »Die zwanzigtausend wären demnach das Erbe, das dir der Idiot hinterlässt.«
»Ich hab kein Geld«, hatte Vesa geantwortet.
»Das macht nichts. Geld ist nur ein Tauschmittel, abstrakt und hoffnungslos überbewertet. Du bezahlst konkret mit Arbeit«, hatte Turunen gesagt und Vesa auf die Schulter geklopft. Danach hatte er die Hand zu Vesas Erleichterung nicht wieder auf die Schulter zurückgelegt. »Und jetzt rate, was deine erste Arbeit ist?«
Vesa hatte den Kopf wenden müssen, um Turunen anzuschauen, der ihn anlächelte. Er hatte vom Tabak dunkle Zähne und pralle, trockene Lippen.
»Danach ist dein Erbe nur noch zehntausend Miese.«
»Ich versteh nicht.«
»Doch, du verstehst schon«, hatte Turunen gesagt und Vesa mit dem Griff nach vorn die eigene Pistole gereicht. »Du erschießt deinen Vater, den du so lieb hast.«
»Nein, verdammte Scheiße, das könnt ihr nicht machen!«, hatte Vesa geschrien, und seine Stimme hatte sich dabei überschlagen und war ins Falsett gerutscht. »Ihr könnt mich auch umbringen, aber das nicht!«
»Du hörst mir nicht zu«, hatte Turunen gesagt, in dessen Gesicht keine Spur von einem Lächeln mehr gewesen war. »Wenn du mir zugehört hättest, hättest du verstanden, dass wir dich auf keinen Fall umbringen. Es wäre einfach ein schlechtes Geschäft.« Turunens hässliches Lächeln war wieder zurückgekehrt. »Liebst du denn deine Mutter auch? Anita heißt sie, nicht, Macho?«
»Stimmt.«
»Sag, liebst du deine Mutter, Vesa?«
»Wie?«, hatte Vesa gefragt. Er hatte nicht verstanden, worauf Turunen hinauswollte. Was hatte Mutter mit der Sache zu tun? Sie hatte doch keine Ahnung von Vaters Geschäften.
»Was ich sagen will: Wenn du deinen Vater nicht umbringen willst, dann bringen wir zusätzlich zu deinem Vater auch deine Mutter um. Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast, dann begreifst du, dass das ein ganz schlechter Deal für dich wäre. Wenn wir uns nämlich auch noch mit den inneren Angelegenheiten eurer Familie beschäftigen müssen, dann wird noch einmal ein ordentlicher Zuschlag fällig. Dann schuldest du uns zu den zwanzigtausend noch einmal zwanzigtausend, die ich dir für zwei Liquidationen in Rechnung stellen muss. Plus fünftausend Schmutzzulage, dass ich's nicht vergesse. Kann natürlich sein, dass dir das Geld egal ist. Dann betrachte es von der Gefühlsseite her: Willst du lieber Halbwaise oder Waise sein? Wenn ich dein Schuldenberater wäre, würde ich sagen, dass man dir ein Angebot macht, das du eigentlich nicht ausschlagen kannst.« Turunen hatte seine Rede mit einem hässlichen Lachen geschlossen.
Vesa hatte eine Weile die Waffe angeschaut und dann seinen Vater. Vater hatte den Blick gehoben, seine Augen waren voller Tränen gewe sen, seine Lippen hatten sich lautlos bewegt, und er hatte sachte den Kopf geschüttelt. »Ist das nicht eine einfache Wahl?«, war von irgendwo in der Ferne Turunens Stimme gekommen. »Vater oder Vater und Mutter. Überleg's dir. Dein Vater ist so oder so tot. Aber soll, nur weil du schwach bist, auch deine Mutter sterben? Was deinen Vater betrifft, braucht es nur eine kleine Bewegung des Zeigefingers. Und ob das nun dein Finger oder irgendein anderer ist - was soll's? Denk auch daran, was für ein Scheißkerl er ist. Ein Scheißvater ist er in jedem Fall. Was schuldest du ihm? Weißt du, was ich immer sage: Jeder Sohn hat genug von einem Ödipus in sich, dass ihm so was keine Probleme macht. Für mich war es wenigstens so. Ich wusste immer, dass ich meinen Vater eines Tages umbringen würde, die Frage war nur, wie.«
»Du hast deinen eigenen Vater umgebracht?«, hatte Vesa entsetzt gefragt. »Nein. Mir war noch nichts eingefallen, was schmerzhaft genug gewesen wäre, da ist er vor einen Bus gelaufen«, hatte Turunen lächelnd geantwortet. »Du hast es besser. Du brauchst nur abzudrücken. Um ehrlich zu sein, bin ich fast ein bisschen neidisch.«
Die Waffe in Vesas Hand fühlte sich kalt und schwer an. Er sah seinen Vater immer noch zittern.
»Schießt du jetzt oder nicht?«
Turunens Stimme ließ Sohn und Vater zusammenzucken. Vesas Gedanken schweiften ab. Wenn er die Augen schloss, sah er Bilder aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit aufblitzen, Bilder, die in schneller Folge auf sein Bewusstsein einstürmten und vor jedem neuen Bild wieder zerflossen. Es war, als blätterte man fieberhaft in einem Album, um das eine Bild zu finden, das man suchte. Auf allen Bildern waren sie zu zweit, nur Vater und Sohn. Und auf allen Bildern lachten sie. Vaters Blick war immer liebevoll, und auf vielen Bildern hatte er schützend den Arm um den Sohn gelegt. Es sind falsche Bilder, dachte Vesa, so war es gerade nicht! Er war seinem Vater nie wichtig gewesen. Oder doch? Hatte er nur alles vergessen? Nein, die Bilder logen. Warum nur musste alles immer schlimmer werden?
Ich muss nachdenken, überlegte Vesa, während er die Augen wieder öffnete. Er musste ein letztes Mal die Möglichkeiten durchgehen, wie sie den Hals doch noch aus der Schlinge ziehen könnten. Vaters schweißnasser Kopf bebte. Was, wenn ich mich selbst erschieße?, überlegte Vesa. »Falls du gerade Pläne machst: In der Waffe ist nur eine Kugel.«
Turunens Stimme echote durch die Halle. »Je nachdem, wie Macho heute drauf ist, schaffst du's vielleicht sogar, auf einen von uns zu schießen. Vielleicht triffst du sogar und knipst einem von uns das Licht aus - von Anfängern hat man schon die tollsten Sachen gehört. Aber danach müssen wir dich leider erschießen. Und danach erschießen wir deinen Vater und deine Mutter. Vielleicht überlegst du's dir noch mal.«
»Vesa, tu's!« Vaters Stimme war kaum zu verstehen. »Was hast du gesagt?«, fragte Vesa.
»Du hast es gehört«, sagte Vater und hob den Kopf. »Ich bin schon tot, so oder so. Kümmer dich um Mutter und dich selbst. Sag Anita, dass ich sie liebe.«
Vesa sah Vaters Blick, den Nebel in seinen Augen. Vater war in Gedanken schon nicht mehr bei ihnen, auch wenn er Vesa noch ansah und Worte an ihn richtete. Er hatte den Blick eines Mannes, der sich abgefunden hatte. Es war der Blick eines Toten.
»Erschieß mich!« Es war eine fast stumme Bitte.
»Ich kann nicht«, flüsterte Vesa.
»Doch, du kannst«, sagte Vater fest und senkte wieder den Kopf.
»Mach es schnell!«
»Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat.« Turunens Stimme kam wie aus einer anderen Welt. »Wenn du auf mich nicht hörst, hör wenigstens auf deinen Vater.«
In Vesas Welt waren nur noch seine Hand mit der Pistole, Vaters wieder auf die Brust gesunkenes Kinn und dessen schwitzender, dünn behaarter Kopf. Vesa streckte die Hand aus und drückte die Pistole gegen Vaters Schädel. Vater erschauerte, dann holte er tief Luft, seine Schultern hoben sich, und er nickte. Vesa zitterte so sehr, dass er die andere Hand zu Hilfe nehmen musste.
»Vater, verzeih mir!«, sagte Vesa. Dann schloss er die Augen. Er hörte das Rauschen in den Ohren, als ihm das Blut in den Kopf stieg. Er hielt den Atem an und drückte ab. Doch statt eines Knalls hörte er nur ein Knacken. Trotzdem spürte er Vaters Kopf wegsinken. Hatte das Rauschen in seinem Kopf nur den Knall übertönt?
Erst als Vesa Turunen lachen hörte, machte er die Augen auf. Vater lag neben seinen Füßen auf dem Rücken, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Die Augen sahen ihn an.
»Du hast mich erschossen«, sagte Vater.
Danach ging alles ganz schnell, und Vesa ahnte mehr, was geschah, als dass er es sah: Ilja ging neben Vater in die Hocke und verstellte Vesa die Sicht. Auch der Schuss, der dann fiel, war nicht wirklich laut. Da war nur ein trockenes, kurzes Bellen, das für einen Augenblick die Luft zerriss. Dann war es still.
»Deine Waffe war nicht geladen, Junior«, hörte Vesa Turunen sagen.
»Hast du's auf Video, Macho?«
»Gestochen scharf«, antwortete Macho.
»Fedor, sag Ilja, dass er aus dem Bild gehen soll, damit Macho unseren Filmstar noch zusammen mit der Leiche verewigen kann.« Fedor übersetzte, und Ilja gehorchte. Vesa drehte sich langsam um und schaute in Machos Richtung. Macho hatte in der einen Hand seine Pistole und in der anderen sein Handy. Er war beim Filmen so konzentriert, dass ihm die Zungenspitze zwischen den Lippen herausschaute.
Vesa begriff, was Macho auf dem Display sah: ihn neben seinem erschossenen Vater, die Pistole noch in der Hand.
»Okay, das reicht. Wenn wir den Anfang noch ein bisschen bearbeiten, wird das oscarreif«, sagte Turunen, als könnte er Vesas Gedanken lesen. »Und? Wie fühlst du dich jetzt?«
»Ihr wollt mir das anhängen«, sagte Vesa tonlos.
»Da gibt's nicht viel anzuhängen. Du hast es getan. Du hast abgedrückt und nicht gewusst, dass das Magazin leer ist. Das macht dich zum Mörder, astrein.«
»Nein«, sagte Vesa und schüttelte den Kopf. Er konnte noch nicht wieder nach unten schauen, dorthin, wo sein Vater lag. Wenn er es tat, würde Vater ihn nicht mehr mit weit aufgerissenen Augen ansehen. Er würde nichts und niemanden mehr ansehen. »Doch«, sagte Turunen, der lächelnd auf Vesa zukam. »Du warst bereit, es zu tun, und du hast es getan. Ilja hat deine Arbeit nur sauber zu Ende gebracht. Du könntest verdammt stolz auf dich sein. Viele bringen ihre Väter nur symbolisch um. Du hast mehr Mumm gehabt.«
»Und warum habt ihr's aufgenommen?« Vesa presste die Worte aus sich heraus.
»Damit du weißt, dass du von jetzt an keine andere Wahl mehr hast, als nach meiner Pfeife zu tanzen«, sagte Turunen und gab Vesa einen Klaps auf die Schulter. »Wenn du jemals das Maul aufmachst, wo und gegenüber wem auch immer, ist das Filmchen schneller auf YouTube, als du den Computer hochfahren kannst. Und weißt du, wo du dann landest?« Turunen zwinkerte ihm zu. »So, und jetzt darfst du deinen Vater begraben. Danach sag ich dir, wie du deine Schulden bei mir abarbeitest und was du deiner Mutter sagst. Aber zuerst: Mein aufrichtiges Beileid, Ödipus!«
Als die anderen in Gelächter ausbrachen, konnte Vesa nicht mehr. Er drehte sich noch von Vater weg, dann fiel er auf die Knie. Die Waffe löste sich aus seiner Hand und traf mit einem metallischen Scheppern auf dem Betonfußboden auf. Er erbrach in schluckaufähnlichen Wellen, und als die Schleuse erst geöffnet war, kam der stinkende Brei so lange und am Ende so gallebitter, dass Vesa dachte, er müsste sterben.
»Jetzt steh schon auf! Das Wichtigste hast du ja noch gar nicht erledigt. Ich sagte doch, du musst deinen Vater unter die Erde bringen.«
Vesa kroch auf allen vieren, und das Wasser strömte ihm aus den Augen. Die Kotze kam ihm aus den Nasenlöchern und aus dem Mund, und er zitterte am ganzen Körper. Es hörte einfach nicht auf. Er glaubte nicht mehr, er müsste sterben. Er wünschte es sich.
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
... weniger
Autoren-Porträt von Marko Leino
Marko Leino wurde 1967 in Helsinki geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt. Er ist Schriftsteller und Drehbuchautor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marko Leino
- 2012, 445 Seiten, Maße: 15,4 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pyykönen-Stohner, Anu
- Übersetzer: Anu Pyykönen-Stohner
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552055630
- ISBN-13: 9783552055636
- Erscheinungsdatum: 06.02.2012
Rezension zu „In der Falle “
"Es gibt unverzichtbare Elemente in einem finnischen Krimi: Alkoholiker, böse, russische Mafiosi, einheimische Tölpel und als Zugabe Kriegsverbrecher aus Exjugoslawien. (...) Marko Leino verwendet alle diese Motive aber virtuos und mit schwarzem Humor, vor allem macht er immer wieder neue Fallgruben auf, sodass ein Gauner nach dem anderen ein finales Ende findet. Eine interessante Entdeckung für den deutschen Sprachraum." Ingeborg Sperl, Der Standard, 04.02.12"Einer der coolsten Krimis, die ich kenne, phantastisch gedacht und geschrieben. (...) Bei solch einer Gesellschaftsstudie jeden Kitsch und thrillerübliche Übertreibungen zu meiden, verdient großes Lob. Marko Leino muss man sich merken." Ellen Pomikalko, BuchMarkt, 01.09.12
Kommentar zu "In der Falle"
0 Gebrauchte Artikel zu „In der Falle“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "In der Falle".
Kommentar verfassen