Insel der verlorenen Liebe
happy-end-buecher
1860 auf St. Kilda, einer Insel vor Schottland: Die kleine Màiri genießt ein unbeschwertes Leben auf der Insel. Bis zu dem Tag, an dem ein Schiff vor der Küste untergeht. Es gibt...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
"Ein tolles Buch."
happy-end-buecher
1860 auf St. Kilda, einer Insel vor Schottland: Die kleine Màiri genießt ein unbeschwertes Leben auf der Insel. Bis zu dem Tag, an dem ein Schiff vor der Küste untergeht. Es gibt nur einen einzigen Überlebenden: Adrian, ein künstlerisch begabter Junge. Màiri und ihre Eltern pflegen ihn gesund und zwischen Adrian und Màiri entwickelt sich eine Freundschaft, die ihr Leben grundlegend verändern wird. Doch Màiris Mutter gegenüber bleibt Adrian immer seltsam distanziert. Was hat es mit seinem Verhalten auf sich? Und verbirgt er vielleicht sogar ein dunkles Geheimnis?
"Ein spannender Roman um eine verbotene Liebe, ein tödliches Geheimnis und eine verwunschene Insel. Genau das Richtige für lange Abende."
Uelzener Anzeiger
Prolog
Auf dem Nordatlantik, 27. August 1930
Seit Stunden schon stand die Gräfin regungslos an der Reling
und starrte auf das graue, aufgewühlte Meer. Weder
die Kälte noch der starke Wind, der immer wieder Gischt
über das Deck des Motorseglers spritzte, störte die alte
Dame. Es schien, als würde sie die Naturgewalten des rauen
Atlantiks nicht wahrnehmen. Ihr Blick fixierte einen imaginären
Punkt irgendwo am Horizont, und in ihrem Gesicht
zeigte sich der Ausdruck gespannter Erwartung.
Captain Barrow, Kommandant der HMS Harebell, trat von
der Brücke auf das Deck und klopfte seine Pfeife sorgsam an
einem Pfosten aus. Während er die Pfeife mit frischem Tabak
füllte, beobachtete er die Gräfin zunehmend besorgt. Es war
ein Fehler gewesen, ihrem Wunsch, sie als Passagier mitzunehmen,
nachzukommen, denn die HMS Harebell war auf dieser
Fahrt nicht als Passagierschiff unterwegs. Die Lady hatte ihm
für die Überfahrt jedoch hundert Pfund gegeben, für den Captain
eine Menge Geld. Obwohl er seit Jahren diese gefährliche
und schwierige Strecke befuhr, war seine Heuer nicht gerade
üppig. Stürme, Unwetter und Gegenströmungen machten jede
Fahrt aufs Neue zu einem Abenteuer, und man wusste nie, ob
das Schiff Stunden oder gar Tage für die Überfahrt benötigte.
Der Captain hatte diese Fahrten immer gehasst. Glücklicher-
weise war es heute das letzte Mal, dass er die vermaledeite Inselgruppe
im Nordatlantik ansteuerte, darum wohl hatte er
auch der eindringlichen Bitte der alten Dame nachgegeben,
obwohl eine Mitnahme von Passagieren auf der heutigen, letzten
Fahrt nicht vorgesehen war. Hundert Pfund - das bedeutete,
dass er endlich das schadhafte Dach und die undichten
Fenster an seinem Haus richten lassen konnte, und seiner Frau
wollte er einen weichen und warmen Wintermantel kaufen.
Natürlich konnte er sich keinen Pelzmantel, wie die Gräfin einen
trug, leisten, aber seine Frau sollte im kommenden Winter
nicht wieder frieren müssen. Barrows Blick schweifte über die
Gestalt der Lady. Sie musste schon alt sein, sicher an die siebzig
Jahre, wenn nicht sogar älter, aber ihre Haltung war aufrecht
und ihr Rücken gerade. Lediglich beim Laufen stützte sie
sich auf einen Stock, dessen Griff aus Gold war, wie der Captain
bemerkt hatte. Nachdem er seine Pfeife angezündet und
ein paar Züge inhaliert hatte, trat er neben die Dame.
»Mylady, es wird bald dunkel, und es ist kalt. Möchten Sie
sich nicht unter Deck begeben?«
Langsam wandte sie sich zu ihm um. Ihr Blick begegnete
dem seinen, beinahe hypnotisch hielt sie ihn fest, als sie leise,
aber bestimmt sagte: »Sie brauchen sich keine Sorgen um
mich zu machen, Captain. Ich weiß, was ich tue.«
Dann drehte sie sich wieder dem Meer zu und schien
die Anwesenheit Barrows vergessen zu haben. Der Captain
seufzte. Er war für alle Menschen an Bord, einschließlich seiner
einzigen Passagierin, verantwortlich. Nicht auszudenken,
was es für ihn bedeutete, wenn der Lady etwas geschah, zumal
sie ohne Begleitung reiste, was für eine Dame ihres Alters und
ihres Standes völlig unüblich war. Wenigstens erweckte sie den
Anschein, gesund und rüstig zu sein, und der Blick aus ihren
grüngrauen Augen war der einer jungen Frau. Früher musste
sie einmal sehr schön gewesen sein. Auch wenn ihr Gesicht
von tiefen Falten durchzogen und ihr Haar schlohweiß war,
die edlen und wohlgeformten Gesichtszüge waren deutlich zu
erkennen und wiesen auf eine starke Willenskraft hin. Dennoch
wollte Barrow, dass sie jetzt das Deck verließ und sich in
ihre Kabine begab, denn bei der Fahrt durch die Nacht musste
er sich ganz auf das Manövrieren durch die zahlreichen vor
ihnen liegenden Untiefen und Riffe konzentrieren.
»Bei allem Respekt, Mylady, aber auf diesem Schiff bin
ich der Captain, und ich fordere Sie auf, das Deck sofort zu
verlassen. In der Dunkelheit ist das Schiff schwer zu steuern,
und in dieser Gegend muss man jederzeit mit einem plötzlich
aufkommenden Sturm rechnen.«
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über das Gesicht
der alten Dame, und sie murmelte kaum hörbar: »Das ist mir
bekannt, Captain. Sie wissen gar nicht, wie sehr mir die Wetterverhältnisse
dieser Gegend bekannt sind.« Sie warf einen
letzten Blick auf den Horizont, der in der hereinbrechenden
Dunkelheit kaum noch zu erkennen war. »Wann werden wir
unser Ziel erreichen?«
Captain Barrow zuckte mit den Schultern.
»Wenn das Wetter über Nacht ruhig bleibt, werden wir
Hirta wohl in den frühen Morgenstunden anlaufen.« Er bot
ihr seinen Arm und fuhr fort: »Darf ich Sie in Ihre Kabine
begleiten? Ich werde dafür Sorge tragen, dass man Ihnen Tee
und Sandwiches bringt.«
Sie legte ihre schmale, behandschuhte Hand auf seinen
Ärmel. »Ich habe keinen Hunger, Captain, aber ein heißer
Tee wäre sehr freundlich.«
Während sie gemeinsam unter Deck gingen, konnte Cap-
tain Barrow die Frage, die ihm seit dem Morgen, als sie aus
Oban ausgelaufen waren, auf der Zunge brannte, nicht mehr
zurückhalten.
»Verzeihen Sie meine Neugierde, Mylady, aber was treibt
eine Dame wie Sie auf diese unwirtliche und gottverlassene
Insel?«
Die Lady zuckte zusammen und fuhr den Captain mit
lauter und kraftvoller Stimme an: »St. Kilda ist nicht von
Gott verlassen! Im Gegenteil, erst als sich Menschen, die
von nichts eine Ahnung haben, einmischten, begannen Zerfall
und Untergang einer starken und mutigen Gemeinschaft.
Bitte mäßigen Sie ihre Aussagen, Captain.«
Barrow schluckte eine heftige Erwiderung über diese Maßregelung
hinunter und schwieg. Er hatte gutes Geld bekommen,
und die Gründe, warum eine verschrobene alte Frau
nach St. Kilda reiste, konnten ihm gleichgültig sein. Er tat hier
seine Arbeit - alles Weitere war nicht sein Problem. Es würde
so oder so das letzte Mal sein, dass ein Mensch St. Kilda aufsuchte.
In zwei, spätestens drei Tagen war alles vorbei, und
er freute sich auf seine neue Route, die ihm zugeteilt worden
war. Nach ein paar Tagen Urlaub, den er sich redlich verdient
hatte, würde er nur noch die Tagesroute zwischen Oban und
der Insel Mull befahren und konnte jeden Abend zu Hause
bei seiner Frau sein.
Sie waren bei seiner Kajüte angekommen, die er der Lady
großzügigerweise für die Nacht zur Verfügung gestellt hatte.
»Bitte sehr«, sagte er und öffnete die Tür.
Die kleine Missstimmung war verschwunden, und die alte
Dame schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
»Ich hoffe, es macht Ihnen keine allzu großen Umstände,
mir Ihren Schlafplatz zu überlassen, Captain.«
»Das ist schon in Ordnung, Mylady. Ich werde die Nacht
ohnehin auf der Brücke verbringen, an Schlaf ist bei dieser
Überfahrt nicht zu denken.«
Sie dankte ihm mit einem hoheitsvollen Nicken, als wäre
sie die Königin höchstpersönlich, dann trat sie in die Kajüte
und schloss die Tür hinter sich.
»Verrückte Alte«, murmelte Barrow, zog an seiner inzwischen
erkalteten Pfeife und kehrte auf die Brücke zurück. In
der Tasche seiner Uniformjacke raschelten die Pfundnoten,
und dieses Geräusch veranlasste Barrow, nicht weiter über
die Gräfin nachzudenken.
Captain Barrow war wenig erstaunt, die Gräfin am nächsten
Morgen bereits vor Sonnenaufgang erneut an Deck zu sehen.
Wieder stand sie an der Reling. Sie roch die Insel, bevor
die ersten Felsformationen durch den Nebel hindurch sichtbar
wurden. Das Kreischen tausender Seevögel klang in ihren
Ohren, schöner als ein gutes Orchester, und noch heute, nach
so unendlich langer Zeit, konnte sie den Ruf eines Basstölpels
von dem eines Papageientauchers unterscheiden. Langsam
schälten sich die Konturen eines Stacs aus dem Dunst, und die
Gräfin wusste, dass dem Schiff nun der gefährlichste Teil der
Fahrt bevorstand. Es war eine ruhige Nacht gewesen, doch
jetzt galt es, den einer riesigen Felsnadel gleich steil und hoch
aus dem Meer aufragenden Stac und die gefährlichen Riffe zu
umschiffen und die HMS Harebell sicher an den Kai der Village
Bay, dem einzigen Schiffslandeplatz auf der Insel Hirta,
zu manövrieren. Kaum war die Gefahrenstelle umschifft,
schien es, als wären sie in eine andere Welt eingetaucht. Das
Meer war ruhig und glatt wie ein polierter Spiegel, und kaum
ein Windhauch erreichte die Village Bay. Ein Gefühl absoluten
Friedens erfüllte die alte Dame, und sie seufzte erleichtert. Ihre
Entscheidung, nach St. Kilda zu kommen, war richtig gewesen,
auch wenn die Erinnerung sehr schmerzlich war.
Trotz der frühen Morgenstunde - es war sieben Uhr, als die
Leinen des Schiffes vertäut wurden - hatten sich sämtliche Inselbewohner
am Kai versammelt und starrten neugierig auf
die Ankömmlinge. Als die Gräfin von Bord ging, bemühte sie
sich, nicht in die verhärmten und faltenreichen Gesichter der
Frauen zu blicken, die vor ihrer Zeit gealtert waren. Sie beachtete
auch nicht die bärtigen älteren Männer, in deren Augen
Hoffnungslosigkeit stand, ebenso wenig die erwartungsvollen
und beinahe freudigen Blicke der wenigen jungen Männer.
Nur die Kinder, die sich daumenlutschend und barfüßig an
die Hände ihrer Mütter klammerten, rührten die alte Dame.
Sie alle mussten nun ihre Heimat verlassen und in eine ungewisse
Zukunft aufbrechen - in eine Welt, die sich von der, die
sie kannten, so sehr unterschied wie der Mond von der Erde.
Obwohl die Menschen nur auf das Festland Schottlands und
nicht auf einen anderen Kontinent gebracht wurden, würde
von nun an ihr Leben nicht mehr so sein wie bisher. Manche
würden es schaffen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren,
aber die Alten würden daran zerbrechen. Sie selbst war
jung, sehr jung gewesen, als sie die Heimat verlassen musste.
Dennoch war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach
St. Kilda gesehnt hatte. Die Blicke der Leute folgten der Gräfin,
als sie aufrecht und mit festen Schritten, nur leicht auf ihren
Gehstock gestützt, zielstrebig durch die Village Bay ging,
und sie hörte die eine oder andere getuschelte Bemerkung hinter
sich. Am Rand der einzigen Straße Hirtas verharrte die
Gräfin, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Tief sog sie die Luft ein und stieß sie mit einem Keuchen wie
der aus. Es war, als würde sie mit der Seeluft eine andere Welt
in ihren Körper aufnehmen - eine Welt, der sie einst angehört
und die sie niemals vergessen hatte. Die Gräfin setzte ihren
Weg fort. Einfache, einstöckige Steinhäuser säumten die gewundene,
mit grob behauenen und unebenen Steinen gepflasterte
Straße, die diese Bezeichnung kaum verdiente. Jedes der
elf Häuser glich dem nächsten wie ein Ei dem anderen, und an
jedem war der Verfall deutlich zu erkennen. Hier klaffte ein
Loch im Dach, dort waren Fensterscheiben gesprungen und
notdürftig mit Pappe oder gar nur mit Lumpen zugestopft,
und aus den an die Häuser angebauten kleinen Ställen drangen
keine Geräusche des Viehs.
In der Luft lag der Geruch nach Torffeuer. Aus allen Kaminen
stieg Rauch in den Himmel, der an diesem Schicksalstag
so dicht über der Insel hing, als wolle Gott selbst schützend
seine Hand über dieses letzte Paradies auf Erden halten.
Doch es war zu spät. In wenigen Stunden bereits würde Hirta
nur noch eine Ansammlung von Steinmauern ohne jegliches
menschliche Leben sein. Die Insel würde wieder den Seevögeln
gehören, die hier seit Tausenden von Jahren nisteten. Zielstrebig
ging die Gräfin auf das fünfte Haus auf der linken Seite zu
und trat ohne zu zögern ein. Die Tür war unverschlossen, denn
Schlösser und Schlüssel kannte man auf Hirta nicht. Es hatte
hier nie etwas gegeben, das zu stehlen sich lohnte, und alles,
was die Menschen besaßen, gehörte allen, gleichgültig, wer es
erworben, gefangen oder hergestellt hatte. Langsam sah sich
die Lady in dem niedrigen Raum um. Im Kamin brannte - wie
in den anderen zehn Häusern - ein letztes Torffeuer. Waren
diese erloschen, würde auch das Leben auf St. Kilda für immer
erloschen sein. Über dem Kaminsims hing eine verblichene,
an den Ecken eingerissene Reproduktion eines Gemäldes der
Königin Victoria, und die Lippen der Lady kräuselten sich zu
einem Lächeln. Wie oft hatte sie als Kind dieses Bild angesehen
und sich nicht vorstellen können, wie ein Mensch solch
steife Kleidung tragen und sich darin wohlfühlen konnte. Man
hatte ihr erklärt, wer Königin Victoria war und welche Bedeutung
sie für das Land hatte, aber es hatte sie damals nicht interessiert.
Vorsichtig, als würde das Bild bei ihrer Berührung verschwinden,
strich sie über das brüchige Papier. Auf der Spindel
des Spinnrads in der Ecke steckte noch ein Knäuel Wolle, ganz
so, als hätte die Spinnerin nur kurz das Haus verlassen und
käme jeden Moment wieder, um die Arbeit fortzusetzen. Auf
dem Tisch lag eine Bibel - aufgeschlagen bei dem Kapitel Exodus
des Alten Testaments. Exodus - Tod - wie ungemein passend.
Die Gräfin schaute in die Flammen. Wenn das Feuer erloschen
und die Kamine kalt sind, wird zum ersten Mal seit
über tausend Jahren auf Hirta kein Feuer mehr brennen,
dachte sie wehmütig. Und es wird niemals wieder entzündet
werden. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihr seit der Village Bay
ein alter Mann gefolgt war. Er war an der Tür stehen geblieben
und hatte sie beobachtet, jetzt trat er in den niedrigen Raum.
Als sie ihn bemerkte und stumm in sein Gesicht schaute, trat
er vor sie und legte seine Hände auf ihre Schultern.
»Ich wusste, eines Tages kommst du wieder nach Hause«,
sagte er leise, als wären nicht Jahrzehnte seit ihrer letzten Begegnung
vergangen. Beim Blick in seine Augen schien es der
Gräfin, als wären sie wieder die Kinder, die einst dachten, ihr
Leben würde auch so verlaufen wie das Leben der Menschen
seit Hunderten von Jahren auf St. Kilda - von harter Arbeit
geprägt, aber geradlinig und ohne besondere Vorkommnisse.
Damals ahnten sie nicht, was das Schicksal für sie bestimmt
hatte ...
Erster Teil
Màiri
Hirta, Hauptinsel des Archipels St. Kilda
April 1860
1. Kapitel
Màiri konnte das Ende des Gottesdiensts kaum abwarten.
Nur mit halbem Ohr hörte sie den Worten des
Reverends zu, während sie sich immer wieder umschaute,
aber sie konnte Neill nirgends entdecken.
»Das wird Ärger geben«, murmelte Màiri leise, doch laut
genug, dass ihr Vater die Worte hörte und ihr prompt einen
derben Schlag auf den Rücken versetzte. Màiri verstummte
und versuchte, sich auf das Schlussgebet zu konzentrieren.
Kaum dass Reverend Munro die Gemeinde entlassen hatte,
eilte Màiri nach draußen und sah sich suchend um. Hinter
der Ecke des einstöckigen, L-förmigen Hauses, das gleichzeitig
als Kirche und als Schulhaus diente, sprang ein großer,
kräftiger Junge ihr in den Weg. Seine blonden, halblangen
Locken standen wirr in alle Richtungen, und seine grauen
Augen strahlten wie die aufgehende Sonne.
»Hu!«, rief er und grinste.
»Neill, hast du mich erschreckt!« Màiri legte eine Hand
auf ihr Herz. »Du warst nicht in der Kirche. Das wird dir
wieder eine Rüge und einen Eintrag einbringen.«
Neill Mackay lachte, nahm Màiris Hand und rief: »Komm
mit, lass uns zu unserem Platz gehen. Ich muss dir etwas sagen.«
So schnell sie konnten, rannten die beiden Kinder den
steilen, steinigen Weg auf den vegetationslosen Hügel hin-
ter der Kirche hinauf. Die dichte Wolkendecke, die seit dem
Morgen den Himmel bedeckt hatte, begann sich zu lichten.
Hier und da zeigten sich erste blaue Flecken, aber der Wind
wehte kalt und scharf über die Insel. Je höher die Kinder
stiegen, desto stärker blies der Wind, zerrte an ihrer Kleidung
und zerzauste ihre Haare. Den Kindern machte es
nichts aus, denn sie kannten es um diese Jahreszeit nicht anders.
Der Berg Oiseval erhob sich an die tausend Fuß über
die Village Bay, in der sich ihr kleines Dorf befand, aber
Màiri und Neill zeigten keine Erschöpfung und hielten nicht
inne, bis sie auf dem Gipfel angekommen waren. Hier gab es
eine Ansammlung von großen Steinblöcken, die wild übereinanderlagen
und eine kleine Höhle bildeten. Lachend kroch
Màiri auf allen vieren in den Schlupfwinkel und war so ein
wenig vor dem Wind geschützt, der auf der Kuppe des Hügels
noch viel kräftiger als unten im Dorf blies. Solange die
Kinder denken konnten, waren die Steine ihr geheimes Versteck.
Nur selten kamen andere auf den Gipfel des Berges,
da es hier oben nichts gab, was den Bewohnern der Insel
dienlich gewesen wäre. Das Mädchen löste das Band aus
ihrem Haar, und eine Flut von dunkelroten Locken ergoss
sich auf ihren Rücken. Mit den Fingern fuhr sie zwei-, dreimal
durch die wilde Mähne, dann band sie die Haare mit
dem groben, ungefärbten Wollband wieder im Nacken zusammen.
»Warum warst du heute Morgen nicht beim Gottesdienst?«,
fragte sie ihren Freund und sah ihn erwartungsvoll
an. »Der Reverend wird dich morgen in der Schule dafür
schlagen. Vielleicht wirst du auch den ganzen Tag in der
Ecke stehen müssen.«
Neill schüttelte den Kopf und lachte laut. Dabei warf er
den Kopf in den Nacken, und sein Lachen vermischte sich
mit dem Wind und wurde über die ganze Insel getragen.
»Ich gehe nicht mehr in die Schule, Màiri.« Er streckte
seine Füße aus und schmunzelte. »Weißt du nicht, was heute
für ein Tag ist?«
Màiri legte einen Finger auf ihre mit Sommersprossen
übersäte Nase und überlegte.
»Sonntag, darum war ja auch Kirchgang.«
»Ich habe heute Geburtstag«, rief Neill stolz. »Ich bin jetzt
zwölf Jahre alt.«
»Oh!« Màiri klatschte freudig in die Hände. Sie gratulierte
Neill nicht, denn die Inselbewohner maßen Geburtstagen
keine Bedeutung zu. Màiri wusste nicht, dass die Menschen
auf dem Festland diesen Tag feierten und Geschenke
bekamen, aber Màiri wusste, was es für Neill bedeutete, das
zwölfte Lebensjahr erreicht zu haben. Der Junge deutete auf
seine Füße.
»Vater gab mir heute Morgen die Schuhe meines Bruders«,
rief Neill stolz. »Sie sind so gut wie neu, auch wenn sie seit
über einem Jahr niemand mehr getragen hat. Vater meint, ich
wäre groß für mein Alter, und die Schuhe passen fast. Nur
vorn habe ich Lappen reinstecken müssen, aber in ein paar
Monaten brauche ich das sicher nicht mehr.« Neill nahm
ihre Hände und drückte sie, während er laut und stolz fortfuhr:
»Ich bin jetzt ein Mann!«
Sich der Besonderheit des Augenblicks bewusst, sah Màiri
den Freund ernst an. Die Kinder der Insel trugen üblicherweise
keine Schuhe, weder sommers noch winters, auch
Màiri ging immer barfuß. Erst wenn sie in das Erwachsenenalter
eintraten, erhielten sie Schuhwerk, denn das Leder
musste vom Festland auf die Insel gebracht werden und
war deswegen furchtbar teuer. Bei ihrem Freund war es so
weit - er zählte zu den Erwachsenen. Nun musste er nicht
mehr fürchten, sich bei der Arbeit in den Klippen seine Füße
aufzureißen, obwohl die Jungen, seit sie laufen konnten, gewöhnt
waren, in den Felsen herumzuklettern und Vogelnester
auszunehmen. Irgendwann, wenn sie ins heiratsfähige
Alter kam, würde auch Màiri Schuhe erhalten, aber das dauerte
noch lange, war sie doch vor zwei Monaten erst zehn
Jahre alt geworden.
»Ich bin stolz auf dich, Neill. Darfst du dann auch zu den
Stacs mit hinausfahren?«
Er nickte feierlich.
»Sobald die Basstölpel nach Stac Lee kommen, wird mich
mein Vater mitnehmen.«
Màiri sah in seinen grauen Augen die Vorfreude, und sie
teilte sein Gefühl. Ungeachtet der Tatsache, dass Neills Bruder
beim Besteigen der Felsnadel Stac Lee, wo er die Nester
der Seevögel ausräumen sollte, abgestürzt und gestorben
war, konnte Neill es nicht mehr erwarten, bei der Arbeit
der Männer endlich richtig mitzuhelfen. Sein Bruder war bei
dem Unglück im letzten Jahr erst fünfzehn Jahre alt gewesen.
Obwohl er ein hervorragender Kletterer gewesen war, hatte
eine plötzlich auftretende Windbö ihn erfasst und ins tosende
Meer geschleudert.
Màiri hatte keine Angst um ihren Freund. Angst war etwas,
was die St. Kildaner nicht kannten. Nicht kennen durften,
denn jeder Tag war voller Gefahren. Für die Männer
mehr als für die Frauen, die zwar auf der Jagd nach den See-
vögeln nicht in die Klippen stiegen, aber dennoch stets den
Widrigkeiten des Wetters auf diesem entlegenen Archipel im
Nordatlantik trotzen mussten.
Neill beugte sich zu Màiri, sein Gesicht ganz an ihrem.
»Siehst du es? Mein Bart beginnt zu wachsen!«
Obwohl Màiri ganz genau hinschaute, konnte sie nicht
mehr als den üblichen leichten Flaum auf Neills Oberlippe
erkennen, doch sie versicherte, die ersten Bartstoppeln seien
bereits deutlich zu sehen. Die Männer der Insel rasierten sich
nie. Einerseits war es ein zu großer Zeitaufwand, andererseits
schützten Bärte vor Kälte und Wind, wenn sie in den Klippen
oder auf dem Meer unterwegs waren.
Seit der Besiedlung des Inselarchipels St. Kilda vor rund
zweitausend Jahren ernährten sich die Bewohner vom Fleisch
und den Eiern der Seevögel, die zwischen Frühjahr und
Herbst zu Tausenden die schroffen Klippen bevölkerten. Der
Hauptinsel Hirta vorgelagert waren die sogenannten Stacs -
steile, senkrecht aus dem Meer aufragende Felsnadeln, in deren
Nischen und Löchern vorrangig die Basstölpel nisteten.
Das Jagen dieser Vögel auf den Stacs war besonders gefährlich,
denn in den Klippen fand man kaum Halt, und die Brandung
schlug meterhoch gegen die Felsen. Vom Tod machten
die St. Kildaner - wie sie allgemein genannt wurden - kein
Aufhebens. Er war nichts Besonderes, stand manchmal täglich
vor der Tür und gehörte ebenso wie die Geburt zum
Leben. So war Màiri auch mächtig stolz auf ihren Freund,
dass er jetzt zu den Männern zählte, und verschwendete keinen
Gedanken daran, welchen Gefahren er von nun an Tag
für Tag ausgesetzt sein würde. Das Einsteigen in die Klippen
und das Erlegen der Seevögel war eine Arbeit, die ausschließlich
den Männern vorbehalten war. Die Frauen nahmen
die toten Vögel in Empfang, rupften sie, weideten sie
aus und legten sie in Salzlake ein, um ihr Fleisch, das nicht
sofort verzehrt wurde, haltbar zu machen. Die Federn wur-
den gesammelt und als Tribut für den Herrn der Inselgruppe
mit dem Dampfschiff, das in der Regel zweimal im Jahr in
der Village Bay anlegte, aufs Festland gebracht. Seit Jahrhunderten
gehörte St. Kilda offiziell dem Clan McLeod, der das
Geld aus dem Verkauf der Federn einstrich. Die St. Kildaner
sahen davon keinen Penny, erhielten als Ausgleich jedoch
Dinge des täglichen Lebens - wie zum Beispiel Töpfe, Pfannen,
Geschirr oder die Utensilien, die sie zum Spinnen und
Weben der Wolle brauchten, die von den Schafen, die auf
Hirta lebten, kam.
»Ich finde es nur schade, dass wir Mr Munro keine Streiche
mehr spielen können«, sagte Màiri und grinste schelmisch.
»Weißt du noch, als wir Anfang des Jahres den Stuhl
mit Kreide beschmierten und er sich mit seiner schwarzen
Hose daraufgesetzt hat?«
»Ja, und ich spüre noch heute die Stockhiebe auf meinem
Hintern«, erwiderte Neill lachend und fuhr dann ernster fort:
»Ab morgen werde ich arbeiten und muss nie wieder in die
Schule gehen. Niemals wieder irgendwelche Zahlen zusammenzählen
oder sinnlose Buchstaben schreiben. Das brauche
ich nicht. Alles, was ein Mann fürs Leben wissen muss, werden
mir mein Vater und die anderen Männer beibringen.«
Màiri nickte und drückte seine Hand.
»Eigentlich gehe ich recht gerne in den Unterricht und
finde es schade, wenn ich nun im Sommer wieder mehr beim
Vieh und im Haus helfen muss. Ich höre gerne zu, wenn der
Reverend Geschichten über Länder wie Amerika oder Afrika
erzählt, wo die Menschen entweder rot oder schwarz wie Gewitterwolken
sind. Vielleicht reise ich eines Tages dorthin.«
Màiris Blick ging träumerisch in die Ferne, doch Neill
schüttelte missbilligend den Kopf.
»Was willst du in der Fremde? Du hast hier alles, was du
brauchst. Eines Tages wirst du meine Frau sein, und ich lasse
dich niemals fort.«
Die Worte, scherzhaft ausgesprochen, hatten dennoch einen
ernsten Unterton, der Màiri nicht entging. Sie und Neill
kannten sich, solange sie denken konnte, und es war für
beide selbstverständlich, dass sie eines Tages heiraten würden.
Noch waren sie Kinder, aber ihre Zukunft lag so klar
vor ihnen wie das Wasser in der Village Bay an einem warmen
Sommertag.
»Am Nachmittag wird Bruce den Mistress Stone besteigen
«, wechselte Neill das Thema. »Sollen wir dabei zusehen?«
Màiri nickte und stand auf.
»Natürlich, und ich möchte gerne die alte Kenna besuchen.
« Kenna war Neills Urgroßmutter, und keiner wusste
genau, wie alt sie war. Sie selbst wusste es ebenfalls nicht,
denn als sie geboren wurde, hatte es auf Hirta keine schriftlichen
Aufzeichnungen, geschweige denn so etwas wie ein Geburten-
oder Sterberegister gegeben. Erst mit der Ankunft der
Missionare Anfang des Jahrhunderts, die auf der Insel als
Geistliche und Lehrer fungierten, begann man, die Einwohner
zu registrieren. Diese Regelung empfanden die St. Kildaner
als völlig unnütz und überflüssig, aber sie konnten nichts
gegen die Anweisung der Regierung ausrichten. »Musst du
denn nicht nach Hause?« Neill stand auf. »Meine Mutter
sagte mir, dass es deinem Bruder nicht gutgeht.«
Màiri erhob sich ebenfalls.
»Er wird wahrscheinlich sterben. Deswegen war Mutter
nicht im Gottesdienst, sie wollte ihn nicht allein lassen.«
Màiri war nicht hartherzig, auch wenn sie so nüchtern
über den Tod sprach. Es war ihr zwar nicht gleichgültig,
dass es ihrem drei Wochen alten Bruder seit seiner Geburt
schlecht ging und heute Morgen kaum noch Leben in dem
kleinen Körper gewesen war, aber Màiri hatte bereits vier
Geschwister verloren. Alle hatten sie die ersten Wochen nicht
überlebt. So ging es allen Familien auf der Insel. Die meisten
Neugeborenen starben innerhalb der ersten vier Monate.
Das nahmen die Menschen auf St. Kilda ebenso hin wie das
Kommen und Gehen der Gezeiten.
Etwas langsamer, als sie auf den Oiseval gelaufen waren,
stiegen die beiden wieder zur Village Bay hinunter. Als die in
einer Reihe erbauten Häuser in Sichtweite kamen, stieg den
Kindern der Duft nach Essen in die Nase. Erst jetzt merkte
Màiri, wie hungrig sie war. Sie hob die Hand und winkte
dem Freund zu.
»Wir sehen uns später, Neill, beim Mistress Stone.«
Neill nickte, dann beeilte er sich ebenfalls, nach Hause zu
kommen. Auch wenn er erst auf dem Weg war, erwachsen zu
werden - sein Hunger und sein Appetit entsprachen dem eines
ausgewachsenen Mannes.
»Da ist der Junge der Mackays.« Reverend Donald Munro
trat vor die Tür und blickte Neill nach. »Der Bengel war
heute nicht im Gottesdienst. Es wird mit ihm schlimm enden,
eines Tages.« Eine große, hagere Frau in der Tracht einer
Krankenschwester bog just in diesem Augenblick um die
Ecke und hörte die Worte Munros. Seufzend stellte sie ihren
Korb ab und rieb sich mit beiden Händen den verkrampften
Rücken.
»Der Junge von Mackay wird ab morgen mit den Männern
arbeiten und nicht mehr zur Schule kommen«, sagte sie.
»Das hat mir vorhin seine Mutter erzählt, als ich Eier von
ihr holte.«
Der Reverend zuckte mit den Schultern.
»Er ist noch ein halbes Kind und begibt sich jetzt schon
Tag für Tag in Lebensgefahr. Was sind das für Eltern, die ihre
Kinder in diese selbstmörderischen Klippen schicken, kaum
dass sie laufen können?«
»Eltern, für die es nichts Besonderes ist, wenn ihre Kinder
sterben, und die ihnen nicht einmal einen Namen und einen
Grabstein geben«, erwiderte Schwester Wilhelmina mit einem
verkrampften Lächeln. »Der Säugling der Daraghs ist
vorhin gestorben, ich komme gerade aus dem Haus.«
Der Reverend sah Wilhelmina Steel bekümmert an.
»Wieder Tetanus?«
Sie nickte und ballte in hilflosem Zorn die Hände zu Fäusten.
»Man kann den Leuten sagen, was man will, sie ignorieren
es einfach! Sauberkeit und Hygiene scheinen für sie Teufelswerk
zu sein, das man auf jeden Fall meiden muss. Ach,
manchmal bin ich es so leid, immer wieder Kinder sterben zu
sehen, dabei wäre es so einfach, die Tetanusinfektionen einzudämmen,
wenn nicht sogar zu vermeiden. Die Leute müssten
lediglich ein paar einfache hygienische Maßnahmen bei
der Geburt beachten und die Säuglinge sauber halten. Können
Sie sich vorstellen, Donald, dass die Frauen ihre Kinder
gebären, während neben ihnen die toten Seevögel liegen?«
Schwester Wilhelmina schüttelte sich angeekelt.
»Solange die Frauen der Insel jedoch nicht gestatten, dass
Sie, liebe Schwester Wilhelmina, bei der Geburt dabei sein
dürfen, wird es Ihnen wohl kaum gelingen, an diesen Zuständen
etwas zu ändern.«
Die Krankenschwester runzelte verärgert die Stirn. Ob
wohl die St. Kildaner ihre Hilfe hin und wieder in Anspruch
nahmen, war sie bei den Geburten nach wie vor ausgeschlossen.
Die alte Kenna hatte, als Wilhelmina sich bitterlich darüber
beklagte, nur leise gesagt: »Seit Jahrtausenden bringen
die Frauen der Insel ihre Kinder allein und nur mit Gottes
Hilfe zur Welt. Sie müssen unsere Art zu leben respektieren.«
»Donald, Schwester Wilhelmina ... das Essen steht auf
dem Tisch.« Eine Frau trat aus der Tür und riss Wilhelmina
aus ihren Gedanken. Plötzlich spürte sie, wie hungrig sie war,
und lächelte die Ehefrau des Reverends freundlich an.
»Danke, Mrs Munro, es duftet köstlich.«
Margaret Munro erwiderte das Lächeln der Schwester
nicht. Stumm drehte sie sich um und ging ins Haus zurück,
ohne auf ihren Mann zu warten. Margaret, eine kleine, untersetzte
Frau mit mausbraunem, glattem Haar, führte gewissenhaft
ihren Haushalt. Ihren beiden Stieftöchtern war
sie eine liebevolle Ersatzmutter. Seit sie jedoch auf dieser Insel
war, fraß die Flamme der Eifersucht an ihr. Aufgewachsen
als einziges Kind eines Pfarrers, war sie nach dessen Tod
gezwungen gewesen, sich ihren Lebensunterhalt als Gouvernante
zu verdienen. Margaret war ein sogenanntes spätes
Mädchen, denn mit sechsundzwanzig Jahren war sie immer
noch unverheiratet gewesen. Das lag nicht nur an ihrem
wenig attraktiven Äußeren und ihrer Schüchternheit, die sie
sogar beim Unterrichten der ihr anvertrauten Kinder nicht
vollständig ablegen konnte, sondern auch an ihrer nicht vorhandenen
Mitgift. Ihr Vater hatte seine Familie von Woche
zu Woche gerade so ernähren können - zum Zurücklegen
war kein Penny übrig geblieben. Als dann der Witwer Donald
Munro auf der Suche nach einer Frau und Mutter für
seine zwei kleinen Töchter in ihr Leben trat, hatte Margaret
nicht lange überlegt. Der Reverend hatte das Angebot erhalten,
auf der Inselgruppe St. Kilda als Geistlicher und als Lehrer
zu arbeiten, doch dazu brauchte er eine Frau, die ihm den
Haushalt führte und seine Kinder erzog. Vier Wochen nach
ihrer ersten Begegnung im vergangenen Herbst traten sie
schon vor den Altar. Die Hochzeit musste schnell stattfinden,
da Munro und seine Familie bereits eine Woche später mit
dem letzten Dampfschiff in diesem Jahr nach St. Kilda reisen
mussten. Zwischen Oktober und April gab es keine Schiffsverbindung
vom Festland zu den Inseln im Nordatlantik.
Ihre Heirat beruhte nicht auf Liebe, sondern auf zweckmäßigen
Überlegungen. Margaret behandelte ihren Mann mit Respekt
und Freundlichkeit, die er erwiderte, dennoch teilte er
seine Gedanken nicht mir ihr, sondern mit Wilhelmina Steel,
die seit zwei Jahren als Krankenschwester auf Hirta lebte.
Mit ihr besprach Donald alles, was seine Schäfchen anging,
und mit ihr teilte er seine Sorgen und Nöte. Stundenlang saßen
die beiden zusammen und diskutieren darüber, was man
tun konnte, um die Lebensumstände der St. Kildaner zu verbessern.
Es war nicht so, dass Donald Munro seine Frau von
diesen Gesprächen ausschloss. Jedoch hatte Margaret bald
bemerkt, dass man ihre Meinung nicht hören wollte und -
wenn sie etwas einwandte - weder Donald noch Wilhelmina
sie ernst nahmen. Meistens sagte Donald mit einer lapidaren
Handbewegung: »Ach, Margaret, davon verstehst du nichts,
aber ich meine, den Braten im Ofen zu riechen. Vielleicht
solltest du mal nach ihm sehen, bevor er verbrennt.«
Wilhelmina Steel war zwar auch keine schöne Frau, aber
sie war äußerlich wie charakterlich das Gegenteil von Margaret
Munro: groß, hager mit eckigen Körperformen, glattem,
braunem Haar und einem energischen Kinn. Darüber
hinaus war Schüchternheit für Wilhelmina ein Fremdwort -
die Frau strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Sie hatte den
Beruf der Krankenschwester bei niemand Geringerem als
Florence Nightingale erlernt, und das betonte Wilhelmina bei
jeder sich ihr bietenden Gelegenheit. Mit dem Engel der Verwundeten,
wie Miss Nightingale auch genannt wurde, war
sie zusammen auf der Krim gewesen. Seit ihrer Ankunft auf
St. Kilda hatte sich Schwester Wilhelmina zum Ziel gesetzt,
aus den sturen und schmutzigen Menschen, die die Insel bevölkerten,
ehrbare Inselbewohner zu machen. Leider waren
ihre Bemühungen bisher nur von wenig Erfolg gekrönt.
Die Krankenschwester wohnte oberhalb der Village Bay
in einem kleinen Steinhaus neben dem Haus der Munros.
Jeden Sonntag aß sie gemeinsam mit den Nachbarn zu Mittag.
Als Margaret die gebratene Hammelkeule auf den Tisch
stellte, seufzte Schwester Wilhelmina laut und sagte mit ihrer
tiefen, rauen Stimme: »Es wird Zeit, dass wieder ein Schiff
vom Festland kommt und frische Lebensmittel bringt. Dieses
ewige Hammelfleisch mag ich ebenso wenig essen wie die gesalzenen
und eingelegten Vögel.«
Margaret zuckte zusammen, ließ sich aber nichts anmerken.
Sie hatte sich mit dem Braten viel Mühe gemacht, und
Hammel gab es nur am Sonntag. An den Werktagen aßen
sie, ebenso wie die St. Kildaner, Haferbrei und zwei oder drei
Mal die Woche von den gebeizten Basstölpeln oder Papageientauchern.
Auf Hirta wurde zwar eine geringe Anzahl von
Rindern und Hühnern gehalten, aber diese dienten nicht vorrangig
als Nahrung, ebenso wenig wie die Schafe. Die Kühe
lieferten Milch, die Wolle der Schafe wurde gesponnen und
zu Tuch gewebt, aus dem die Frauen die Kleidung nähten,
und die Hühnereier waren eine Abwechslung zu den Eiern
der Seevögel. Gegen Ende des langen Winters, der hier sieben
oder gar acht Monate dauerte, wurde der eine oder andere
Hammel geschlachtet, und manchmal ein Huhn, aber hauptsächlich
ernährten sich die Inselbewohner von dem eingelagerten
Fleisch der Seevögel. Gemüse wurde nur in geringen
Mengen angebaut. Lediglich in der geschützten Umgebung
der Village Bay wuchsen Hafer und Kartoffeln, aber die Kartoffeln,
die Margaret im letzten Herbst eingelagert hatte, waren
längst aufgebraucht. Obst war, bis auf ein paar wilde
Beeren, den St. Kildanern gänzlich unbekannt, denn wegen
des stetigen rauen Wetters und der starken Winde gab es
auf dem gesamten Inselarchipel kein Gewächs, das mehr als
kniehoch war. Wer die Insel nicht verließ, sah in seinem Leben
nie einen Baum, und Äpfel lernten sie nur kennen, wenn
das Dampfschiff welche mitbrachte, was aber äußerst selten
geschah.
»Wann können wir mit dem Eintreffen des ersten Schiffes
rechnen?«, fragte Donald Munro, während er eine Scheibe
vom Hammelbraten abschnitt und Schwester Wilhelmina auf
den Teller legte.
»Das kommt auf das Wetter an. Die heftigen Frühjahrs-
stürme legen sich in der Regel gegen Ende des Monats, aber
darauf können wir uns nicht verlassen. Ich habe gehört, dass
es Jahre gegeben hat, da konnte während der ganzen Sommermonate
kein einziges Schiff die Überfahrt wagen. Hoffen
wir also, dass Petrus uns in diesem Jahr wohlgesinnt ist.
Vielleicht sprechen Sie ein paar Gebete zusätzlich, Sie haben
doch einen guten Draht zu dem da oben.«
Besuchen Sie uns im Internet:
www.weltbild.de
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur
Nachf. GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: Trevillion Images, Brighton
Satz: Uhl + Massopust,Aalen
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-840-1
- Autor: Ricarda Martin
- 687 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008403
- ISBN-13: 9783868008401
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 6Schreiben Sie einen Kommentar zu "Insel der verlorenen Liebe".
Kommentar verfassen