Krankheit als Sprache der Seele
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Krankheit als Sprache der Seele von Ruediger Dahlke
LESEPROBE
I. Einführung in die Philosophie derKrankheitsbilder-Be-Deutung
1. Deutung und Wertung
Der Titel »Krankheit als Weg« hat zu einigenMißverständnissen geführt. Dabei ist er durchaus wörtlich und ohne Wertunggemeint. Krankheit ist ein gangbarer Weg, kein an sich guter oder schlechter. Eshängt ganz ausschließlich vom Betroffenen ab, was er daraus macht. Mit einerReihe von Patienten konnte ich miterleben, wie sie diesen Weg bewußt gingen undrückwirkend feststellen konnten, daß »ihr Übergewicht«, »ihr Herzinfarkt« odersogar »ihr Krebs« zur großen Chance geworden war. Bei der heiligen Theresa vonÁvila muß man heute annehmen, daß sie gerade ihr Herzinfarkt auf ihren späterenWeg brachte. Von Hildegard von Bingen wissen wir, wie eng ihre Visionen mitihrer Migräne zusammenhingen. Diese beiden herausragenden Frauen haben ganzoffenbar die Botschaften ihrer Krankheitsbilder angenommen und beispielhaft inihrem Leben umgesetzt. Genau das ist der Anspruch von »Krankheit als Weg«: anden eigenen Symptomen zu lernen und zu wachsen.
Dieses Konzept und die dahinterliegende Philosophie fürWertungen zu mißbrauchen, ist ein großes Mißverständnis. Esoterik hat geradenichts mit Schuldverteilung zu tun, geht sie doch, wie im ersten Bandausführlich dargestellt, davon aus, daß jeder Mensch grundsätzlich schuldig,weil von der Einheit abgesondert ist. Schuldigwerden ist keine Frage vonkleinen oder großen Fehlern im täglichen Leben, sondern eine grundsätzliche.Die menschliche Urschuld liegt im Verlassen der paradiesischen Einheit. DasLeben in dieser Welt der Gegensätze ist notwendigerweise voller Fehler und dientdazu, den Weg zurück zur Einheit zu finden. Jeder Fehler und jedesKrankheitsbild verdeutlichen so zur Vollkommenheit fehlende Elemente und werdendamit zur Entwicklungschance.
Krankheitsdeutungen zur Bewertung anderer Menschen zu mißbrauchen,ist ein Mißverständnis in mehrfacher Hinsicht. Zur Schuldverteilung bestehtzum einen keinerlei Anlaß, da die Urschuld längst verteilt ist und es dazukeiner menschlichen Mitarbeit bedarf. Genausogut könnte man den Betroffenen zuihrer Krankheit wegen der darin enthaltenen Entwicklungs- und Lernmöglichkeitengratulieren. Sogenannte »Primitive« sind uns diesbezüglich voraus, schätzen siedoch Krankheitssymptome als Eingriffe des Schicksals in ihr Leben und nehmensie bereitwillig als Bewährungsproben an. In vielen Stämmen sehnt der angehendeSchamane seine Einweihungskrankheit herbei, die ihn allein in neueErfahrungsbereiche einführen kann. Dieser Gedanke wird manchmal so konsequentverfolgt, daß ein Heiler nur diejenigen Krankheitsbilder behandeln darf, die erselbst schon mit Leib und Seele durchlebt hat. Versteht sich der Heiler alsSeelenführer durch die inneren Welten, ist diese Haltung zwingend, schließlichsollte ein Reiseführer das Land, durch das er führt, vorher kennengelernthaben.
Bei uns ist dieser Gedanke nur noch in Spuren vorhanden. Soläßt sich in dem Wort Schicksal das »geschickte Heil« (von lat. salus = dasHeil) erkennen. Auch an die Arzneimittelprüfungen der Homöopathen wäre zudenken. Der Arzt begibt sich hier freiwillig in den Erfahrungsraum derKrankheit, um das Muster seines Heilmittels kennenzulernen. Von einemPsychotherapeuten schließlich erwarten wir zu Recht, daß er die eigenen und diekollektiven Seelenlandschaften ausgiebig bereist hat und weiß, wohin er seinePatienten begleitet.
Die grundsätzliche und uns alle verbindende Tatsache desKrankseins einem Menschen anläßlich einer schweren Lernzeit mit entsprechendenWachstumschancen vorzuwerfen, ergibt keinen Sinn. Das hat jedenfalls nichts mitdem Konzept von »Krankheit als Weg« zu tun, sondern eher mit der Lust, jemandenzu drangsalieren.
Wer seinen Zeigefinger zur Waffe macht und andere »deutend« ihrerKrankheitsbilder bezichtigt oder sich diesbezüglich selbst beschuldigt, verrätaußerdem, daß erden ganzen Ansatz mißverstanden hat. Mit dem Mißbrauch derDeutung als Beschuldigung nach dem Motto »Du bist verstopft, weil du so einGeizkragen bist!« verkennt er den Schattencharakter in jedem Krankheitssymptom.Schatten ist dem Betroffenen definitionsgemäß unbewußt. Insofern wird der solcherartBeschuldigte die Deutung sowieso nicht akzeptieren können. Wenn er wüßte, daßer geizig ist, gäbe es nicht den geringsten Grund, verstopft zu sein. Schatteneignet sich nicht als Vorwurf. Bei diesem schwierigsten Thema unserer Existenzist im Gegenteil besonders behutsames Vorgehen notwendig. Der Betroffenebraucht seine ganze Kraft und von seiten der Umwelt viel Raum, um in kleineneigenen Schritten seinen Bezug zu dem im Krankheitsbild ausgedrückten Thema zuentdecken. Dabei erweist sich Wertung als ebenso hinderlich, wie Deutungsinnvoll ist.
Wer sich selbst in dieser Weise beschuldigt, verkenntebenfalls die Wachstumschancen von Krankheit. Das Durchschauen eines Krankheitsbildesbis zur seelischen Ebene ändert weder an der grundsätzlichen Schuld noch anden konkreten Tatsachen des anstehenden Problems etwas. Man wird dadurch auchkein besserer oder schlechterer Mensch, sondern lediglich wissender undverantwortungsbewußter. Ignoriert man dieses Wissen und diedamit einhergehende Verantwortung, ändert sich wenig, alles bleibt beim alten.Übernimmt man dagegen die Verantwortung für das eigene Schicksal, wirdKrankheit zur Chance und ermöglicht es, auf die Hinweise des eigenen Musters zuantworten.
Das Vorgehen dabei ist nicht einmal schwer. Auf derkörperlichen Ebene kann jeder deuten, nämlich mit dem Finger auf die Stelle,die ihm Beschwerden macht. Diese Erfahrung in Zusammenhang mit der seelischenEbene zu bringen, ist Ziel dieses Buches. Früher war das einmal genausoselbstverständlich, wie es das körperliche Hindeuten mit dem Finger bis heuteist. Es geht darum, den Finger im übertragenen Sinne in die Wunde zu legen.Das erfordert Mut, aber auch wieder nicht soviel, denn die Wunde ist bereitsda. Sie entsteht nicht erst, wenn man den Finger hineinlegt, dadurch wird sielediglich bewußter. Langfristig bekommt sie durch diesen mutigen Schritt dieMöglichkeit zu heilen.
© 1992 C. Bertelsmann, München
- Autor: Ruediger Dahlke
- 1997, 448 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442127564
- ISBN-13: 9783442127566
- Erscheinungsdatum: 01.11.1997
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