Morgen bin ich wieder da
Die Suche nach meinem zweiten Leben
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Morgen bin ich wieder da “
Äußerst eindrucksvoll hat die 21-jährige Sophie van der Stap den Umgang mit ihrer Krebserkankung beschrieben ("Heute bin ich blond"). Jetzt ist sie geheilt und begibt sich auf die große Reise ihres Lebens: rund um die Welt, auf der Suche nach einer neuen Zukunft.
Klappentext zu „Morgen bin ich wieder da “
Geheilt. Doch wirkliches Glück kann Sophie nicht empfinden, denn es hat sich ein Loch aufgetan, wo ihre Zukunftsträume waren. Und wie soll sie damit umgehen, dass ihre Freundin Chantal den Krebs nicht überleben wird? Sophie ergreift die Flucht nach vorn: Sie begibt sich auf eine Reise um die Welt, auf der Suche nach sich selbst. »Ich stehe vor einem leeren Raum, am Fuße eines Neubeginns, ohne Haken in der Wand. Und die einzige Person, die den Raum füllen kann, bin ich.«
Lese-Probe zu „Morgen bin ich wieder da “
Morgen bin ich wieder da von Sophie van der Stap27. März 2007. Eigentlich nur ein Datum, und doch so viel mehr. An diesem Tag bin ich von zu Hause weggefahren. Die schmerzhaften Erinnerungen folgten zu schnell aufeinander, als dass ich sie hätte abschütteln können. Nicht einmal für einen Tag, eine Minute, einen Augenblick. Ich machte einen Umweg über Deutschland nach Spanien, aber bald zeigte sich, dass Spanien nicht groß und weit genug war. Die Kilometer spulten sich schnell ab, fast so schnell wie meine Gedanken. In meinem Kopf drängten sich die Worte, im Rückspiegel die Lkws, aber die Straße vor mir war leer. Und vor allem: frei.
240.638 zeigte der Kilometerzähler an, doch nur die letzten 638 waren von mir. Ich fuhr aus Amsterdam weg, weg von allem, was mein Leben beherrschte und bestimmte, hin zu einem neuen, leeren Tag. Einem Tag, so dachte ich, der nur in Spanien auszufüllen war. Aber Einsamkeit kann man leider nicht ausfüllen, das weiß ich inzwischen. Es war vielmehr die Einsamkeit, die mich ausfüllte.
Das Leben bedeutete mir mehr als ich dem Leben. Den vorausgegangenen Rollentausch musste ich machtlos zulassen, und ich driftete immer weiter von meinem eigenen Spielfeld ab in Richtung Seitenauslinie. Vielleicht war es ja schon immer so. Vielleicht ist es einfach so. Vielleicht hat mein Machbarkeitsglaube mehr von einem Traum als vom Wachzustand. Ich weiß es nicht. Wie auch immer: Mein Unglaube an Grenzen nagte wie besessen an meinem Glauben an Möglichkeiten. Die Erkenntnis, dass das Leben aus mehr Zufällen besteht, als ich je hatte wahrhaben wollen, kroch wie eine Nacktschnecke in mich hinein. Es herrschte Krieg in meiner Philosophie, und den Konflikt musste ich selbst lösen.
Einerseits folgte ich den Pfaden eines Traums, andererseits entfernte ich mich aus einem früheren Traum, den ich von meiner Zukunft
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abkoppeln musste. Mit Chantals Sterben und dem Schrumpfen meines Herzens wurde die kalte Decke, die sich um mich gelegt hatte, immer erstickender.
Wenn die Wirklichkeit sich verschiebt, dann verschieben sich unsere Erwartungen mit. Meine Erwartungen passten sich unmerklich den neuen Pflastersteinen an, die ich an einem windigen Januarmorgen vor zwei Jahren zum ersten Mal betrat. An jenem Morgen wurde alles anders. Es ist schwer nachzuvollziehen, was mit einem sehr jungen Menschen passiert, wenn der Weg vor ihm aufhört zu existieren. Du kannst nicht mehr träumen, und du wagst nicht mehr zu träumen, ohne den Schmerz der Einsamkeit zu spüren, die nicht auszufüllen ist. Du bist krank und wirst vielleicht noch im selben Jahr sterben. Die Aktivitäten am Wegrand kommen plötzlich zum Stillstand.
Bis zu dieser befristeten Atempause hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich jemals noch das Leben führen würde, das ich heute führe, denn eines Tages erblickte ich im Spiegel nicht nur mich selbst, sondern auch meine eigene Sterblichkeit. Damals wusste ich noch nicht, dass der ungebetene Gast neben mir mein Spiegelbild besser wiedergab, als es je irgendein Spiegel getan hatte. Und ich wusste noch nicht, dass sich in diesem Bild eine Schriftstellerin verbarg, oder eine Frau, die in den Armen eines Tangotänzers zum Leben erwacht. Man muss nur lange genug hinsehen – irgendetwas zerbricht immer. Ein Stück Unbefangenheit oder vielleicht ein weiteres Stück Romantik.
Seit jenem Tag im Januar, als ich dem Tod die Hand reichte, ist mein Leben zu einer Aneinanderreihung von Augenblicken geworden. Ich reise von Moment zu Moment, ohne mich irgendwo niederzulassen. Das Phänomen Zeit sieht ganz anders aus als vorher, als ich noch langfristige Pläne hatte. Zeit ist kein Brunnen mehr, so tief, dass man nicht auf den Grund sehen kann. Einen Grund, den nicht einmal die Sonne erreicht. Da ist bloß noch eine Pfütze, die von Tag zu Tag kleiner wird.
Ich musste mich nicht nur von der Zukunft abkoppeln, sondern auch von der Vergangenheit, in der ich so hochfliegende Träume gehabt hatte. Erst als ich alles losließ, gelang es mir, mich an das zu klammern, was ich zu tun hatte: überleben. Ich schöpfte Glück aus dem, was ich hatte, und Gleichmut aus dem, was ich nicht hatte. Gleichmut führt zu neuen Träumen und Türen.
Der Spiegel erschien mir leer, so ganz ohne die Jungmädchenträume von gestern und die wohldurchdachten Pläne von morgen, die bei allem, was ich tat, wie heißes Wachs an mir klebten. Aber seltsamerweise wirkte das auch sehr befreiend. Ohne Erwartungen ist alles leichter und sogar schöner. Wie sich zeigte, lagen meine Träume viel näher, als ich je geglaubt hätte. Das Paradoxe an all dem ist, dass das Nichts des Todes mich dem Quell des Lebens so nahe brachte. Vom Geborenwerden in einem Netz von Vorschriften und Etiketten hin zum Menschwerden, wie ich mir vorstelle, dass der Mensch gedacht ist: universell und frei.
An jenem 27. März, als mich schon der Aprilwind vorwärtstrieb, befand ich mich an einem Scheideweg zwischen zwei Welten. Links lag die Welt, die von unserem Dasein bestimmt wird, rechts jene, die von unserem Tod bestimmt wird. Ich stehe noch immer dazwischen, springe zwischen den beiden Erdkugeln hin und her und korrigiere beständig meine Definition von Leben und Zeit, begleitet von der stets präsenten, schmerzhaften Ironie des Lebens: dass wir erst dann wissen, was Leben ist, wenn wir ein Stück davon verloren haben. So wie ein Mensch, der uns nahesteht, einen Teil von uns mitnimmt in jene andere Welt, für die wir noch keine gültige Eintrittskarte haben. Oder als säßen wir selbst ganz vorn in dem Klassenzimmer, in dem die besten Schüler in der ersten Reihe aufs Sterben warten. In diesem Raum lernen wir leben, und erst wenn wir wissen, wie das geht, können wir alles loslassen, was nötig ist, um schließlich allein zu sterben.
Mein Leben hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Es gleicht in nichts mehr dem Leben, das ich vor zwei Jahren in aller Zufriedenheit geführt habe. Eine ganze Menge ist geschehen, und die Erinnerungen an die Ereignisse sind mir zu viel. Sie verdrängen alles andere aus meinem Kopf. Wie eine Mauer stehen sie zwischen mir und meinem damaligen Leben. Selbst zwischen mir und der immer wieder erwachenden Straße unter mir. Die Müllmänner mit ihren unverrückbaren Arbeitszeiten, die Fensterputzer auf der anderen Straßenseite, der Bäcker schräg gegenüber, täglich ab sechs geöffnet. Ich fühle mich isoliert, weit weg von diesen Banalitäten, die ich durchs Fenster, aus der Entfernung, täglich sehe.
Wenn ich auf jenen Tag zurückblicke, weiß ich, dass es nach allen Abzweigungen, die ich ausprobiert habe, im Grunde nur in eine Richtung weitergeht. Ich kann nicht zurück in das Leben, dem ich mein Leben lang Gestalt gegeben habe, und sich daran zu klammern macht das Loslassen nur schwerer. Ich kann nur vorwärts. Ich muss weiter, auf einem neuen Weg, einem Weg, an dem die Raststätten noch unverschmutzt und die Bahnhöfe leer sind. Ich habe vergeblich dagegen angekämpft, habe versucht, an Gewohntem festzuhalten, und bin dabei keinen Schritt weitergekommen. All der Stillstand weist letztlich in eine Richtung: nach rechts. Oder ich schaukle mit auf den Wellen der Veränderung, versuche mir die Veränderung zu eigen zu machen. Rückwärts oder vorwärts.
Ich blickte auf die leere Straße vor mir und trat das Gaspedal noch weiter durch. It is a wide open road.
Dem Navigationsgerät zufolge hatte ich noch 264 Kilometer vor mir. Mein erstes Ziel war Heidelberg, denn dort lag Chantal im Sterben, und Menschen, die sterben, stehen nun mal ganz oben auf der Liste. Erst recht, wenn sie Chantal Smithuis heißen. Es war halb acht Uhr abends, als ich Heidelberg erreichte. Das Navi wusste zum Glück, wo ich hinmusste, denn ich selbst wusste es nicht. Nach sehr vielen Linkskurven und ein paar Rechtskurven tauchten rechts die Wörter Krankenhaus St. Vincentius auf, in weißen Neonbuchstaben an der Fassade eines für eine Klinik ungewöhnlich schönen Gebäudes. Ich schaute unwillkürlich zu den Fenstern hinauf, die meiner Freundin einen herrlichen Blick über den Fluss bescherten. Zehn Minuten später sollte ich mit allen Sinnen erfahren, dass Chantal sich, mehr als irgendjemand sonst, am Grün und Rosa einiger Häuser am anderen Ufer erfreute, an den roten Streifen ihrer Bettwäsche, den Käsebroten und vor allem an dem Moment um sechs Uhr, wenn es Zeit war für ein warmes Bad mit Rosenblättern, dem Höhepunkt ihres Tages.
Sie war von den Zehen bis zur Brust gelähmt, außerdem kahl und nicht mehr wiederzuerkennen. Das kam von den Medikamenten, die ihr rund um die Uhr eingeflößt wurden. Sie war gefangen in einem Körper, der nicht mehr der ihre war.
Während sich der Himmel erst grau, dann blau und schließlich rosa färbte, dachte ich an unsere Freundschaft zurück. Es war eine Freundschaft weniger Tage, aber vieler Momente. Momente, in denen es um Dinge ging, die wir schon getan hatten, und um Dinge, die wir noch tun sollten. Unsere erste Begegnung vor anderthalb Jahren, bei der ich eine Gänsehaut bekommen hatte; drei Stunden, die wie drei Minuten verflogen. Wir teilten miteinander eine Welt, die niemand sonst mit uns teilen konnte. Ob wir nun auf dem Albert-Cuyp-Markt Muscheln kauften oder zusammen ins Krankenhaus gingen, um wieder einen Befund zu erhalten, der unser Leben bestimmen sollte, ein Leben, das in Chantals Fall zum Stillstand gekommen ist.
Wir wussten, was es heißt, als junge Frau Krebspatientin zu sein, zusammen auf einem leeren Bahnsteig zu stehen, weil wir als Einzige den Zug verpasst hatten. Da standen wir still in einem Leben, das vierundzwanzig Stunden am Tag an uns vorbeirauschte. Während wir auf den Zug warteten und in einer Zeitschrift mit retuschierten weißen Zähnen auf der Titelseite blätterten, entdeckten wir die Welt des Todes, während um uns herum alle damit beschäftigt waren, das Leben zu entdecken. Dennoch ging dieses Leben auch für uns weiter, zwangsläufig. Es hatte sich nur ein Loch aufgetan an der Stelle, an der vor noch gar nicht langer Zeit unsere Träume den Kurs bestimmt hatten. Beim nächsten Befund blieb Chantal allein zurück. Ich erwischte den Zug buchstäblich in letzter Sekunde. Sie hatte ihn wieder verpasst. Chantal war diejenige, die allein auf dem leeren Bahnsteig zurückblieb.
Der Landrover kroch im ersten Gang vorsichtig in die Einfahrt der Tiefgarage. Ein ungeheures Piepen ertönte. Auf einer deutschen Autobahn mag ich mich ja wie ein kleiner Michael Schumacher fühlen, in einer deutschen Tiefgarage bin ich nichts weiter als eine Frau am Steuer. Erleichtert lenkte ich den Wagen auf einen freien Stellplatz, eigens für Frauen reserviert in diesem frauenfreundlichen – oder auch frauenfeindlichen, je nachdem, aus welcher feministischen Perspektive man es betrachtet – Parkhaus und horchte auf seinen letzten Seufzer. Der erste Tag des Wegseins war fast zu Ende. Und der erste ist immer der schwierigste.
© Droemer Knaur Verlag
Übersetzung: Barbara Heller
Wenn die Wirklichkeit sich verschiebt, dann verschieben sich unsere Erwartungen mit. Meine Erwartungen passten sich unmerklich den neuen Pflastersteinen an, die ich an einem windigen Januarmorgen vor zwei Jahren zum ersten Mal betrat. An jenem Morgen wurde alles anders. Es ist schwer nachzuvollziehen, was mit einem sehr jungen Menschen passiert, wenn der Weg vor ihm aufhört zu existieren. Du kannst nicht mehr träumen, und du wagst nicht mehr zu träumen, ohne den Schmerz der Einsamkeit zu spüren, die nicht auszufüllen ist. Du bist krank und wirst vielleicht noch im selben Jahr sterben. Die Aktivitäten am Wegrand kommen plötzlich zum Stillstand.
Bis zu dieser befristeten Atempause hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich jemals noch das Leben führen würde, das ich heute führe, denn eines Tages erblickte ich im Spiegel nicht nur mich selbst, sondern auch meine eigene Sterblichkeit. Damals wusste ich noch nicht, dass der ungebetene Gast neben mir mein Spiegelbild besser wiedergab, als es je irgendein Spiegel getan hatte. Und ich wusste noch nicht, dass sich in diesem Bild eine Schriftstellerin verbarg, oder eine Frau, die in den Armen eines Tangotänzers zum Leben erwacht. Man muss nur lange genug hinsehen – irgendetwas zerbricht immer. Ein Stück Unbefangenheit oder vielleicht ein weiteres Stück Romantik.
Seit jenem Tag im Januar, als ich dem Tod die Hand reichte, ist mein Leben zu einer Aneinanderreihung von Augenblicken geworden. Ich reise von Moment zu Moment, ohne mich irgendwo niederzulassen. Das Phänomen Zeit sieht ganz anders aus als vorher, als ich noch langfristige Pläne hatte. Zeit ist kein Brunnen mehr, so tief, dass man nicht auf den Grund sehen kann. Einen Grund, den nicht einmal die Sonne erreicht. Da ist bloß noch eine Pfütze, die von Tag zu Tag kleiner wird.
Ich musste mich nicht nur von der Zukunft abkoppeln, sondern auch von der Vergangenheit, in der ich so hochfliegende Träume gehabt hatte. Erst als ich alles losließ, gelang es mir, mich an das zu klammern, was ich zu tun hatte: überleben. Ich schöpfte Glück aus dem, was ich hatte, und Gleichmut aus dem, was ich nicht hatte. Gleichmut führt zu neuen Träumen und Türen.
Der Spiegel erschien mir leer, so ganz ohne die Jungmädchenträume von gestern und die wohldurchdachten Pläne von morgen, die bei allem, was ich tat, wie heißes Wachs an mir klebten. Aber seltsamerweise wirkte das auch sehr befreiend. Ohne Erwartungen ist alles leichter und sogar schöner. Wie sich zeigte, lagen meine Träume viel näher, als ich je geglaubt hätte. Das Paradoxe an all dem ist, dass das Nichts des Todes mich dem Quell des Lebens so nahe brachte. Vom Geborenwerden in einem Netz von Vorschriften und Etiketten hin zum Menschwerden, wie ich mir vorstelle, dass der Mensch gedacht ist: universell und frei.
An jenem 27. März, als mich schon der Aprilwind vorwärtstrieb, befand ich mich an einem Scheideweg zwischen zwei Welten. Links lag die Welt, die von unserem Dasein bestimmt wird, rechts jene, die von unserem Tod bestimmt wird. Ich stehe noch immer dazwischen, springe zwischen den beiden Erdkugeln hin und her und korrigiere beständig meine Definition von Leben und Zeit, begleitet von der stets präsenten, schmerzhaften Ironie des Lebens: dass wir erst dann wissen, was Leben ist, wenn wir ein Stück davon verloren haben. So wie ein Mensch, der uns nahesteht, einen Teil von uns mitnimmt in jene andere Welt, für die wir noch keine gültige Eintrittskarte haben. Oder als säßen wir selbst ganz vorn in dem Klassenzimmer, in dem die besten Schüler in der ersten Reihe aufs Sterben warten. In diesem Raum lernen wir leben, und erst wenn wir wissen, wie das geht, können wir alles loslassen, was nötig ist, um schließlich allein zu sterben.
Mein Leben hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Es gleicht in nichts mehr dem Leben, das ich vor zwei Jahren in aller Zufriedenheit geführt habe. Eine ganze Menge ist geschehen, und die Erinnerungen an die Ereignisse sind mir zu viel. Sie verdrängen alles andere aus meinem Kopf. Wie eine Mauer stehen sie zwischen mir und meinem damaligen Leben. Selbst zwischen mir und der immer wieder erwachenden Straße unter mir. Die Müllmänner mit ihren unverrückbaren Arbeitszeiten, die Fensterputzer auf der anderen Straßenseite, der Bäcker schräg gegenüber, täglich ab sechs geöffnet. Ich fühle mich isoliert, weit weg von diesen Banalitäten, die ich durchs Fenster, aus der Entfernung, täglich sehe.
Wenn ich auf jenen Tag zurückblicke, weiß ich, dass es nach allen Abzweigungen, die ich ausprobiert habe, im Grunde nur in eine Richtung weitergeht. Ich kann nicht zurück in das Leben, dem ich mein Leben lang Gestalt gegeben habe, und sich daran zu klammern macht das Loslassen nur schwerer. Ich kann nur vorwärts. Ich muss weiter, auf einem neuen Weg, einem Weg, an dem die Raststätten noch unverschmutzt und die Bahnhöfe leer sind. Ich habe vergeblich dagegen angekämpft, habe versucht, an Gewohntem festzuhalten, und bin dabei keinen Schritt weitergekommen. All der Stillstand weist letztlich in eine Richtung: nach rechts. Oder ich schaukle mit auf den Wellen der Veränderung, versuche mir die Veränderung zu eigen zu machen. Rückwärts oder vorwärts.
Ich blickte auf die leere Straße vor mir und trat das Gaspedal noch weiter durch. It is a wide open road.
Dem Navigationsgerät zufolge hatte ich noch 264 Kilometer vor mir. Mein erstes Ziel war Heidelberg, denn dort lag Chantal im Sterben, und Menschen, die sterben, stehen nun mal ganz oben auf der Liste. Erst recht, wenn sie Chantal Smithuis heißen. Es war halb acht Uhr abends, als ich Heidelberg erreichte. Das Navi wusste zum Glück, wo ich hinmusste, denn ich selbst wusste es nicht. Nach sehr vielen Linkskurven und ein paar Rechtskurven tauchten rechts die Wörter Krankenhaus St. Vincentius auf, in weißen Neonbuchstaben an der Fassade eines für eine Klinik ungewöhnlich schönen Gebäudes. Ich schaute unwillkürlich zu den Fenstern hinauf, die meiner Freundin einen herrlichen Blick über den Fluss bescherten. Zehn Minuten später sollte ich mit allen Sinnen erfahren, dass Chantal sich, mehr als irgendjemand sonst, am Grün und Rosa einiger Häuser am anderen Ufer erfreute, an den roten Streifen ihrer Bettwäsche, den Käsebroten und vor allem an dem Moment um sechs Uhr, wenn es Zeit war für ein warmes Bad mit Rosenblättern, dem Höhepunkt ihres Tages.
Sie war von den Zehen bis zur Brust gelähmt, außerdem kahl und nicht mehr wiederzuerkennen. Das kam von den Medikamenten, die ihr rund um die Uhr eingeflößt wurden. Sie war gefangen in einem Körper, der nicht mehr der ihre war.
Während sich der Himmel erst grau, dann blau und schließlich rosa färbte, dachte ich an unsere Freundschaft zurück. Es war eine Freundschaft weniger Tage, aber vieler Momente. Momente, in denen es um Dinge ging, die wir schon getan hatten, und um Dinge, die wir noch tun sollten. Unsere erste Begegnung vor anderthalb Jahren, bei der ich eine Gänsehaut bekommen hatte; drei Stunden, die wie drei Minuten verflogen. Wir teilten miteinander eine Welt, die niemand sonst mit uns teilen konnte. Ob wir nun auf dem Albert-Cuyp-Markt Muscheln kauften oder zusammen ins Krankenhaus gingen, um wieder einen Befund zu erhalten, der unser Leben bestimmen sollte, ein Leben, das in Chantals Fall zum Stillstand gekommen ist.
Wir wussten, was es heißt, als junge Frau Krebspatientin zu sein, zusammen auf einem leeren Bahnsteig zu stehen, weil wir als Einzige den Zug verpasst hatten. Da standen wir still in einem Leben, das vierundzwanzig Stunden am Tag an uns vorbeirauschte. Während wir auf den Zug warteten und in einer Zeitschrift mit retuschierten weißen Zähnen auf der Titelseite blätterten, entdeckten wir die Welt des Todes, während um uns herum alle damit beschäftigt waren, das Leben zu entdecken. Dennoch ging dieses Leben auch für uns weiter, zwangsläufig. Es hatte sich nur ein Loch aufgetan an der Stelle, an der vor noch gar nicht langer Zeit unsere Träume den Kurs bestimmt hatten. Beim nächsten Befund blieb Chantal allein zurück. Ich erwischte den Zug buchstäblich in letzter Sekunde. Sie hatte ihn wieder verpasst. Chantal war diejenige, die allein auf dem leeren Bahnsteig zurückblieb.
Der Landrover kroch im ersten Gang vorsichtig in die Einfahrt der Tiefgarage. Ein ungeheures Piepen ertönte. Auf einer deutschen Autobahn mag ich mich ja wie ein kleiner Michael Schumacher fühlen, in einer deutschen Tiefgarage bin ich nichts weiter als eine Frau am Steuer. Erleichtert lenkte ich den Wagen auf einen freien Stellplatz, eigens für Frauen reserviert in diesem frauenfreundlichen – oder auch frauenfeindlichen, je nachdem, aus welcher feministischen Perspektive man es betrachtet – Parkhaus und horchte auf seinen letzten Seufzer. Der erste Tag des Wegseins war fast zu Ende. Und der erste ist immer der schwierigste.
© Droemer Knaur Verlag
Übersetzung: Barbara Heller
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Autoren-Porträt von Sophie Van Der Stap
Sophie van der Stap, geboren am 11. Juni 1983 in Amsterdam, studierte Politologie, als bei ihr Anfang 2005 Krebs diagnostiziert wurde. Ihre Erfahrungen mit der Krankheit hat sie in ihrem Bestseller "Heute bin ich blond" verarbeitet. Ihr zweites Buch "Morgen bin ich wieder da" wurde in den Niederlanden von Presse und Lesern gleichermaßen gefeiert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sophie Van Der Stap
- 2009, 256 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Niederländ. v. Barbara Heller
- Übersetzer: Barbara Heller
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426275015
- ISBN-13: 9783426275016
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