Niemands Mutter
Eine wahre Begebenheit! 1889 in Franken: Die Mutter der kleinen Anna stirbt. Den Vater kennt sie nicht, so wächst das Mädchen bei der Patentante auf: in ärmlichsten Verhältnissen und immer auf der Suche nach Mutterliebe, die Anna niemand geben kann.
Eine wahre Begebenheit! 1889 in Franken: Die Mutter der kleinen Anna stirbt. Den Vater kennt sie nicht, so wächst das Mädchen bei der Patentante auf: in ärmlichsten Verhältnissen und immer auf der Suche nach Mutterliebe, die Anna niemand geben kann.
NiemandsMutter von GunterHaug
LESEPROBE
Februar 1924
Was um alles in der Welt sollte das werden?
Was wollte dieses Mädchen denn bloß von ihr? Erst stand das junge Dingmit einem alten schwarzen Lederkoffer in der Hand einfach nur so da undlächelte entrückt vor sich hin. Und nun starrte sie ihr auch noch seit einerganzen Weile ins Gesicht. Einfach so! Aber wieso? Anscheinend hatte die wohlnichts Besseres zu tun, als dumm in der Gegend herumzustehen und andere Leutevon der Arbeit abzuhalten. Mit einem ärgerlichen Seufzer knallte Anna den schweren,blechernen Wassereimer vor sich auf den hart gefrorenen Boden. Sie stemmteherausfordernd die Hände in die Hüften und musterte das Mädchen mit den dickenblonden Zöpfen missbilligend aus ihren blaugrauen Augen.
»Also, was willst du nun hier?«, herrschte sieihre ungebetene Besucherin unfreundlich an. Schließlich hatte sie heute nochmehr zu tun, als fremde Leute zu empfangen. Der Nachmittag war bereitsangebrochen und das Tagespensum noch längst nicht bewältigt. Man musste sichsputen mit der Arbeit um diese Jahreszeit. Lichtmess hin oder her. »Lichtmess,bei Tag zu Nacht ess« ,lautete zwar die alte Bauernweisheit. Gut und schön, aber dennoch würde kurznach fünf Uhr der Abend dämmern - auch heute, am Lichtmesstag. Und überdiesstand ihr der Sinn weiß Gott nicht nach Gesprächen. Welcher Art von Gesprächenauch immer ...
»Also, falls du gekommen bist, weil du eine Stellung bei uns suchst - dahast du Pech! Da bist du umsonst gekommen. Der Bauer hat heute Morgen nämlichschon eine neue Untermagd eingestellt«, deutete Anna zum Hauptgebäude desSchandhofes hinüber, wo zwei Männer gerade ein Pferdefuhrwerk zurück in dieScheune schoben. »Da hättest du schon ein bisschen früher aufstehen müssen.Bist wohl eher das Leben in der Stadt gewohnt, oder wie?«Anna schien es, als seien ihre Worte gar nicht bis an die Ohren des Mädchensgedrungen. Immer noch verharrte die andere auf dem gleichen Fleck und trugdiesen merkwürdig entrückten Gesichtsausdruck zur Schau, während ein leichtesLächeln um ihre Mundwinkel spielte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Dass siegegen die Wand redete und noch nicht einmal eine Antwort bekam, während dieArbeit weiter liegen blieb. Wütend klatschte sie in die Hände.
»Also, was ist jetzt? Was willst du hier? Kannst du denn auf eine klareFrage keine klare Antwort geben?« Immer noch diesesLächeln! Doch wenigstens schien sich die junge Frau nun aus ihrer Erstarrung zulösen und räusperte sich verlegen.
»Entschuldigung! Ich ... äh ... also, ich suche die Anna Reingruber ...«
Wie ein Donnerschlag wirkten diese Worte auf Anna, die auf alles eineAntwort gefunden hätte, nur eben nicht auf diese Frage. Wie denn auch?! Weshalbnannte sie die andere denn bei ihrem Mädchennamen? Wo sie, Anna, doch schonseit vierzehn Jahren nicht mehr Reingruber, sondernHammel hieß. Im Oktober 1910 hatte sie den Johann Georg Hammel geheiratet, undseitdem hieß sie auch Hammel. Nicht Reingruber! Wasalso sollte das? Und: Woher kannte diese unbekannte junge Frau ihrenMädchennamen? Wusste sie von ihrer Vergangenheit, mit der sie längst schonabgeschlossen hatte? Zumindest glaubte, abgeschlossen zu haben! Ein für alleMal! Zumindest bis dieses merkwürdige Geschöpf auf dem Schandhof aufgetauchtwar! Langsam ließ sich Anna auf einen der Strohballen niedersinken, die vor demSchuppen bereitlagen und mit denen die Knechte nach dem Melken und Ausmistendemnächst den Boden des Kuhstalls neu einstreuen würden.
»Was? Wen suchst du?«, murmelte sie leise undverwirrt, während sie ihren Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Schuppenwanddrückte. Die Antwort erfolgte dieses Mal rasch.
»Ich suche die Anna Reingruber.« Mit fester Stimme wiederholte das Mädchen sein Anliegenund betrachtete verwundert die abgearbeitete, ältere Frau, deren anfänglicheSchroffheit sich nun in eine seltsame Depression verwandelt zu haben schien.
Lange kam keine Antwort von der Magd, die regungslos auf dem Strohballenhockte. Dann endlich sah sie auf und bedachte die Besucherin mit einem müdenBlick, während sie langsam ihren Kopf schüttelte.
»Es gibt keine Anna Reingruber mehr! Schonlange nicht mehr!«
Als habe sie ein Peitschenhieb getroffen, so schmerzlich war die jungeFrau bei diesen Worten zusammengezuckt.
»Aber ... nein, ich weiß doch ganz genau, dass es hier auf dem Schandhofeine Anna Reingruber geben muss! Das hat man mir dochgesagt!« Aufgeregt gestikulierend näherte sie sich derMagd. »Da muss es eine Anna ... « Im selben Moment tippte sie sich mit derflachen Hand an die Stirn und lächelte entschuldigend. »Ach ja, natürlich! Dashabe ich ganz vergessen. Sie hat in der Zwischenzeit geheiratet! Sie heißtmittlerweile Hammel und nicht mehr Reingruber! Klar!Ich suche also die Anna Magdalena Hammel, um genau zu sein!«,wiederholte sie strahlend und mit erwartungsvoll glänzenden Augen.
Es schien Anna, als sei sie aus heiterem Himmel vom Blitz getroffenworden! Also doch! Dieses Mädchen suchte wirklich sie, Anna Magdalena Hammel,geborene Reingruber.
Und schlagartig war alles wieder da! Die lange und mühevoll verdrängteVergangenheit! Bittere Vergangenheit.
»Aber, was willst du denn von mir? Und: Woher kennst du mich überhaupt?!«, würgte sie fassungslos hervor. Tatsächlich: Mit einemMal, ganz plötzlich, war alles wieder da! Dieser ganze Schmerz! DieseTraurigkeit! Dieses Gefühl, ersticken zu müssen! Ersticken am eigenen Schmerz!Diesem unermesslichen Schmerz, den man vergessen musste, um zu überleben! Anden man bloß nicht denken durfte! Niemals! Und jetzt? Jetzt war es wieder da,dieses quälende und bohrende Gefühl! Diese Hoffnungslosigkeit! Die Verlorenheit!Furchtbar!
Die andere jedoch schien nichts von der Verzweiflung zu bemerken, diesie mit ihrer Frage bei Anna ausgelöst hatte. Ganz im Gegenteil!
Mit einem Jubelschrei stürzte sich die junge Frau auf diezusammengesunkene Gestalt zu ihren Füßen.
»Mutter! Endlich habe ich dich also gefunden! Mutter!« Inbrünstigschlang sie ihre Arme um die zusammenzuckende Magd. Dicke Tränen der Freude undder Erleichterung tropften aus ihren Augen auf Annas Wangen und die schwarzeSchürze.
© AgentK, Brackenheim
- Autor: Gunter Haug
- 2007, 1, 458 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828983154
- ISBN-13: 9783828983151
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