Ostfriesensünde / Ann Kathrin Klaasen ermittelt Bd.4
Kriminalroman. Der vierte Fall für Ann Kathrin Klaasen
Mord an der Nordseeküste
Ann Kathrin Klaasens vierter Fall lässt sie noch einmal tief in ihre eigene Vergangenheit eindringen
Was geschah damals wirklich bei dem Banküberfall, bei dem Ann Kathrins Vater ums Leben kam? Bis heute konnte dieser Fall nicht...
Ann Kathrin Klaasens vierter Fall lässt sie noch einmal tief in ihre eigene Vergangenheit eindringen
Was geschah damals wirklich bei dem Banküberfall, bei dem Ann Kathrins Vater ums Leben kam? Bis heute konnte dieser Fall nicht...
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Produktinformationen zu „Ostfriesensünde / Ann Kathrin Klaasen ermittelt Bd.4 “
Klappentext zu „Ostfriesensünde / Ann Kathrin Klaasen ermittelt Bd.4 “
Mord an der NordseeküsteAnn Kathrin Klaasens vierter Fall lässt sie noch einmal tief in ihre eigene Vergangenheit eindringen
Was geschah damals wirklich bei dem Banküberfall, bei dem Ann Kathrins Vater ums Leben kam? Bis heute konnte dieser Fall nicht geklärt werden. Doch jetzt verfolgt Ann Kathrin eine neue Spur. Es sind Fotos ihres Vaters aufgetaucht, die nicht zu dem Bild passen, das Ann Kathrin von ihrem Vater hat. Aber als Ann Kathrin die Frau aufsucht, der die Fotos gehören, liegt diese tot im Wohnzimmer. Ein Zufall?
"Ann Kathrin Klaasen ist eine der interessantesten Ermittlerinnen der jüngsten Zeit ."
Oliver Schwambach, Saarbrücker Zeitung
Lese-Probe zu „Ostfriesensünde / Ann Kathrin Klaasen ermittelt Bd.4 “
Ostfriesensünde von Klaus Peter Wolf Die Polizeiinspektion Aurich, das Hotel Inselfriede auf Spiekeroog, die Störtebeker-Teestube in Marienhafe, das Restaurant Minna am Markt in Norden und das Café ten Cate, die Landschaft, Fähren und Häuser gibt es in Ostfriesland wirklich.
Die Internetseite Gelsenkirchener Geschichten existiert tatsächlich, und im Schwarzen Bock in Wiesbaden habe ich oft übernachtet.
Doch auch wenn dieser Roman ganz in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
BETRETEN DER SANDBANK VERBOTEN. LEBENSGEFAHR! BEI AUFLAUFENDEM WASSER WIRD DER RÜCKWEG DURCH EINEN PRIEL MIT REISSENDER STRÖMUNG ABGESCHNITTEN! JEDERZEIT KANN PLÖTZLICH SEENEBEL AUFTRETEN
Kurverwaltung Spiekeroog
Der Nebel kroch wie ein Tier über den Deich und zog sich, als Ann Kathrin Klaasen näher kam, zurück, als hätte er Angst vor ihr. Sie blieb stehen. Sie hielt den Atem an und staunte nur. Der Nebel verharrte jetzt ebenfalls in seiner Position. Sie kam sich belauert vor.
Das glaubt mir kein Mensch, dachte sie, atmete aus und machte einen Schritt vorwärts auf das hüfthohe weiße Gebilde zu.
Feuchte warme Luft, die über dem Boden abkühlt, mehr ist das nicht. Nebel hat keine Augen. Keinen Verstand. Keinen Plan. Er ist nicht wie deine verfluchten Mörder, sagte sie sich. Der Nebel hat nichts Menschliches an sich.
Trotzdem wich er vor ihr zurück. Sie begann an ihrem Verstand zu zweifeln. War sie kurz davor, durchzudrehen? Hatte der ständige Umgang mit den Abgründen der menschlichen Seele sie endgültig geschafft?
... mehr
Den Job kann keiner unbeschadet lange machen, Ann, hatte Weller zu ihr gesagt, und dabei den Rest vom Satz nur gedacht und nicht gesprochen: Eine Frau erst recht nicht. Sie hatte es ihm angesehen.
Sie breitete jetzt trotzig die Arme aus und rannte dann auf den Nebel zu. Vor ihr bildete sich eine Gasse. Der Nebel wich nach links und rechts aus.
Ann Kathrin lachte. So ähnlich musste Moses sich gefühlt haben, als sich vor ihm das Meer teilte.
Das Gewitter über dem Meer war so weit weg, dass Ann Kathrin den Donner nicht hören konnte. Die Blitze über Norderney wurden von den Wolken reflektiert. Sie nahm sie als weiches warmes Licht wahr. Ein fernes Wetterleuchten. Trotzdem verlieh all das diesem verlassenen Küstenstreifen, an dem vor kurzem noch friedliche Touristen Wattwanderungen mit Kurt Knittel unternommen hatten, etwas Gespenstisches.
Ein Paar Turnschuhe von der letzten organisierten Wattführung waren liegen geblieben. Ann Kathrin stolperte darüber.
Sie blieb in ihrer Nebelschneise auf der Deichwiese stehen und rieb sich die Arme. Ob Frank schon zu Hause war? Sie stellte sich vor, dass er gerade seine berühmte Fischsuppe kochte.
Jetzt in der Küche zu sitzen und eine heiße Suppe zu löffeln war schon eine Verlockung, doch etwas hielt sie hier an dieser einsamen Stelle in Norddeich fest. Es war nicht nur das Naturschauspiel, sondern eine merkwürdige Vorahnung, als sei dies hier die Ankündigung einer großen Veränderung.
Aber zu Hause im Distelkamp 13 wartete Frank Weller nicht auf sie. Ann Kathrin fror. Mitten im August. Sie brauchte ihn jetzt so sehr! Ihn und nicht seine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Das Wort »Nachtschicht« hatte plötzlich einen schmerzhaften Klang.
Wie um sich selbst zu bestrafen, aß sie gar nichts, sondern wälzte sich in dem französischen Bett, das ihr noch nie so groß vorgekommen war. Sie drückte sich das Kissen gegen die Ohren, aber die Holzbalken hatten nie lauter geknarrt als in dieser Nacht. Der Wind hämmerte gegen das Garagentor und irgendwo im Haus klapperte eine Tür.
Ann Kathrin stand auf und ging noch einmal herum, prüfte, getrieben von einer inneren Unruhe, jedes Türschloss und ließ die Rollläden herunter.
Es war kurz vor halb vier morgens, als sie endlich einschlief.
An Tagen wie diesen neigte Ann Kathrin zu der Annahme, die Dinge hätten ein Eigenleben und würden sich gegen sie verschwören. Der Wecker zum Beispiel, der zwar die ganze Nacht laut tickte, aber ausgerechnet heute Morgen nicht klingelte, musste sich mit dem Vergaser abgesprochen haben. Oder warum war der ausgerechnet jetzt verstopft, wenn sie dringend zwanzig Minuten herausholen musste, um noch pünktlich vor Gericht zu erscheinen? Und wieso hatte ihr Handy, zum Teufel nochmal, hier keinen Empfang, wo sonst alle Balken im Display hell leuchteten?
»Zufall«, hatte ihr Vater gesagt, »ist das Pseudonym, das Gott wählt, wenn er inkognito bleiben möchte.«
Ihr Vater ... Sie hatte heute Nacht wieder von ihm geträumt. Er und seine Sprüche. »Der Teufel ist ein Eichhörnchen.« Es kam ihr vor, als würde er sie aus seinem Grab heraus auslachen.
Sie hatte keine Lust, jetzt so weiterzumachen. Es war einfach nicht ihr Tag. Sie würde vor Gericht heute keine gute Nummer abgeben. Sie kannte Heiko Käfer, den Anwalt des Beschuldigten. Ein schmieriger Typ. Er hatte einen Ring kleiner, gelblicher Fettgeschwulste um die Augen und das Weiße in seinen Augen war gelblich verfärbt. Auch die braunen Hautflecken auf seinem Handrücken deuteten darauf hin, dass der Mann eine kranke Leber hatte, eine Fettleber, durch zu gutes Leben und zu viel Alkohol, vermutete Ann Kathrin.
Käfer liebte es, Kripobeamte vorzuführen. Er tat es geradezu genüsslich. Entscheidungen, die sie unter großem Druck in Sekunden fällen mussten, studierte er ruhig bei einem Latte macchiato mit drei Stückchen Zucker und fieselte fein auseinander, was wie warum falsch gelaufen war. Nach Befragungen durch ihn fühlte sie sich jedes Mal als Idiotin, völlig unfähig und hoffnungslos überfordert. Er zögerte nicht, Verfahrensfehler aus anderen Verhaftungen ins Feld zu führen, um den Richter davon zu überzeugen, dass dem Angeklagten Unrecht geschah: »Ich kenne die werte Kommissarin aus anderen Prozessen. Ihre unorthodoxen Methoden haben sich oft am äußersten Rand der Rechtsstaatlichkeit bewegt und wurden schon mehrfach juristisch korrigiert. Die Staatskasse musste sogar schon Schadenersatz zahlen, weil ...«
Nein, das würde sie sich heute nicht antun.
Danke, Wecker! Danke, Vergaser! Danke, Handy! Ich habe die Botschaft verstanden. Ich werde zu Hause bleiben. Ich werde zu Dr. Bill gehen und mich krankschreiben lassen.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Rückspiegel. Sie hatte nicht geduscht und die Haare einfach mit einer Spange zusammengeklemmt. Ihre Haut war blass und ihre Lippen wirkten blutleer. Sie klatschte sich mit der offenen Hand ins Gesicht, um ein bisschen mehr Farbe zu bekommen. Vergeblich.
Dr. Bills Praxis war wegen einer Fortbildung geschlossen. Ann Kathrin Klaasen sah zum Marktplatz hinüber. An der Fischbude hatte sich eine Schlange gebildet. Sie bekam Hunger auf ein Krabbenbrötchen und hielt ihr Gesicht in die Sonne.
Ein paar freie Tage sind alles, was ich brauche, dachte sie und ging zu Dr. Ekkehart Wolter. Es saßen nur drei Leute im Wartezimmer. Ann Kathrin nahm sich ein Glas Wasser. Neben ihr blätterte eine alte Dame aus dem Seniorenzentrum der AWO in einer Zeitschrift. Das Blatt interessierte sie nicht. Sie wollte ein Gespräch beginnen und stellte sich vor.
Ann Kathrin antwortete freundlich, ohne sich innerlich auf den Dialog einzulassen. Als Frau Klocke aufgerufen wurde, erhob sie sich umständlich und stöhnte. Dabei fiel ihre Handtasche auf den Boden. Der Inhalt kippte aus. Ann Kathrin bückte sich sofort und half Frau Klocke beim Zusammenpacken.
Das Portemonnaie lag offen. Das Foto hinter der Plastikfolie nahm Ann Kathrin die Luft. Das da war ohne jeden Zweifel ihr Vater. Mit seinem unwiderstehlichen Lachen stand er an einem Sandstrand neben einer Bikinischönheit. Er hatte locker einen Arm um ihre Hüfte gelegt.
Ann Kathrin konnte nicht anders. Ohne um Erlaubnis zu fragen, fingerte sie das Bild aus der Hülle, um es genauer betrachten zu können. Hitze- und Kälteschauer liefen ihr in Wellenbewegungen über den Körper.
Hintendrauf stand mit dünner Kugelschreiberschrift: Hotel Inselfriede, Süderloog 12, Spiekeroog. Frau Klocke registrierte die merkwürdige Reaktion und fragte: »Kennen Sie meine Tochter?«
Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, aber das da neben ihr ist ...« Sie sprach die Worte »mein Vater « nicht aus. Sie öffnete nur tonlos den Mund.
»Das ist das letzte Foto, das ich von meiner Tochter habe. Sie ist vor Spiekeroog ertrunken.«
Das Wartezimmer begann um Ann Kathrin zu trudeln. Sie sackte zusammen.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie das beruhigende Gesicht von Dr. Wolter. Neben ihm seine Frau, die sich an Ann Kathrins Arm zu schaffen machte.
Ann Kathrin sah nicht hin. Sie vermutete, dass man ihr gerade Blut abgenommen hatte. In Wirklichkeit hing sie an einem Tropf. Dr. Wolter hatte ihren Blutdruck gemessen und sah sich Ann Kathrins EKG an.
»Sie sind kollabiert«, sagte er. »Bleiben Sie ruhig noch ein bisschen liegen.« Er zeigte auf den Tropf. »Das da ist nur Kochsalzlösung. Sie brauchen jetzt eine Menge Flüssigkeit.«
Bevor er sie gehen ließ, musste sie ihm versprechen, sich ein paar Tage auszuruhen. Aber sie dachte gar nicht daran, sich jetzt zu Hause hinzulegen. Sie besuchte stattdessen Frau Klocke in ihrer 45-Quadratmeter- Wohnung auf dem AWO-Gelände in der Schulstraße 71.
Draußen vor dem Fenster hoppelten Kaninchen zu einem Stück altem Brot. Sie wurden von einer Möwe vertrieben, die ihnen die Beute mit ihrem spitzen Schnabel abnahm und mit den Flügeln flatterte, als wolle sie die Kaninchen warnen, nicht noch einmal ihr Jagdrevier zu betreten.
Frau Klocke hatte sich gerade einen Ostfriesentee gekocht. Der ganze Raum roch danach. Ann Kathrin mochte eigentlich gar keinen Tee, sie trank viel lieber Kaffee, aber sie wollte sich jetzt nicht mit solchen Nebensächlichkeiten aufhalten.
Schon nach dem ersten Tässchen ging es Ann Kathrin besser. Frau Klocke erzählte von ihrer Tochter Isolde, die Kriminalhauptkommissarin gewesen sei. Der Mann an ihrer Seite sei ein gewisser Ludwig Stein, der Lebensgefährte ihrer Tochter. Die beiden seien sehr glücklich miteinander gewesen.
Frau Klocke hatte noch mehr Fotos von ihm. Ann Kathrin spürte wieder einen Anflug von Schwindel. Dann sah sie ihren Vater mit dieser Frau in Venedig auf dem Markusplatz. Auf dem nächsten Bild stieg er mit ihr in eine Gondel. Dann kamen Fotos aus Rom und Amsterdam. Ihr Vater trug bunte Hemden und lockere, farbige Jacketts, die sie früher nie an ihm gesehen hatte.
Nun wollte Frau Klocke etwas über die Beziehung zwischen Ann Kathrin und ihrer Tochter wissen. Frau Klocke sah Ann Kathrin dabei freudig aufgeregt an, fast als könne eine kleine Anekdote ihre Tochter für eine kurze Zeit wieder lebendig machen.
Ann Kathrin musste die nette Dame enttäuschen. Um freier sprechen zu können, erhob sie sich aus dem plüschigen Sessel und verfiel in ihren Verhörgang. Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte, eine Kehrtwendung.
»Ich kenne Ihre Tochter gar nicht. Aber das da ist mein Vater. Er war bei der Kripo und wurde bei einem Banküberfall erschossen. Der Täter läuft immer noch frei herum und ...«
Frau Klocke schüttelte den Kopf. »Nein, junge Frau. Sie irren sich. Meine Tochter war bei der Kripo! Nicht Herr Stein. Er war Geschäftsmann, hat mit Diamanten gehandelt und mit Antiquitäten.«
Ann Kathrin musste sich setzen. Die Kraft wich aus ihr. Sie bat Frau Klocke um ein Glas Wasser. Dann räusperte Ann Kathrin sich. »Danke, Frau Klocke. Tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache. Es geht mir nicht besonders. Wissen Sie, mein Vater war bis zu seinem Tod mit meiner Mutter verheiratet und ...«
Frau Klocke winkte beschwichtigend ab. »Aber liebes Kind, das ist nicht Ihr Vater. Das ist Herr Stein. Bestimmt sieht er Ihrem Vater ein wenig ähnlich. Wahrscheinlich wünschen Sie sich einfach zu sehr, dass er noch lebt. Glauben Sie mir, wenn jemand das versteht, dann ich. Manchmal sehe ich meine Tochter auf der Straße vor mir her laufen. Ich rufe sie dann und bin mir ganz sicher, ja, das ist sie.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Den Job kann keiner unbeschadet lange machen, Ann, hatte Weller zu ihr gesagt, und dabei den Rest vom Satz nur gedacht und nicht gesprochen: Eine Frau erst recht nicht. Sie hatte es ihm angesehen.
Sie breitete jetzt trotzig die Arme aus und rannte dann auf den Nebel zu. Vor ihr bildete sich eine Gasse. Der Nebel wich nach links und rechts aus.
Ann Kathrin lachte. So ähnlich musste Moses sich gefühlt haben, als sich vor ihm das Meer teilte.
Das Gewitter über dem Meer war so weit weg, dass Ann Kathrin den Donner nicht hören konnte. Die Blitze über Norderney wurden von den Wolken reflektiert. Sie nahm sie als weiches warmes Licht wahr. Ein fernes Wetterleuchten. Trotzdem verlieh all das diesem verlassenen Küstenstreifen, an dem vor kurzem noch friedliche Touristen Wattwanderungen mit Kurt Knittel unternommen hatten, etwas Gespenstisches.
Ein Paar Turnschuhe von der letzten organisierten Wattführung waren liegen geblieben. Ann Kathrin stolperte darüber.
Sie blieb in ihrer Nebelschneise auf der Deichwiese stehen und rieb sich die Arme. Ob Frank schon zu Hause war? Sie stellte sich vor, dass er gerade seine berühmte Fischsuppe kochte.
Jetzt in der Küche zu sitzen und eine heiße Suppe zu löffeln war schon eine Verlockung, doch etwas hielt sie hier an dieser einsamen Stelle in Norddeich fest. Es war nicht nur das Naturschauspiel, sondern eine merkwürdige Vorahnung, als sei dies hier die Ankündigung einer großen Veränderung.
Aber zu Hause im Distelkamp 13 wartete Frank Weller nicht auf sie. Ann Kathrin fror. Mitten im August. Sie brauchte ihn jetzt so sehr! Ihn und nicht seine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Das Wort »Nachtschicht« hatte plötzlich einen schmerzhaften Klang.
Wie um sich selbst zu bestrafen, aß sie gar nichts, sondern wälzte sich in dem französischen Bett, das ihr noch nie so groß vorgekommen war. Sie drückte sich das Kissen gegen die Ohren, aber die Holzbalken hatten nie lauter geknarrt als in dieser Nacht. Der Wind hämmerte gegen das Garagentor und irgendwo im Haus klapperte eine Tür.
Ann Kathrin stand auf und ging noch einmal herum, prüfte, getrieben von einer inneren Unruhe, jedes Türschloss und ließ die Rollläden herunter.
Es war kurz vor halb vier morgens, als sie endlich einschlief.
An Tagen wie diesen neigte Ann Kathrin zu der Annahme, die Dinge hätten ein Eigenleben und würden sich gegen sie verschwören. Der Wecker zum Beispiel, der zwar die ganze Nacht laut tickte, aber ausgerechnet heute Morgen nicht klingelte, musste sich mit dem Vergaser abgesprochen haben. Oder warum war der ausgerechnet jetzt verstopft, wenn sie dringend zwanzig Minuten herausholen musste, um noch pünktlich vor Gericht zu erscheinen? Und wieso hatte ihr Handy, zum Teufel nochmal, hier keinen Empfang, wo sonst alle Balken im Display hell leuchteten?
»Zufall«, hatte ihr Vater gesagt, »ist das Pseudonym, das Gott wählt, wenn er inkognito bleiben möchte.«
Ihr Vater ... Sie hatte heute Nacht wieder von ihm geträumt. Er und seine Sprüche. »Der Teufel ist ein Eichhörnchen.« Es kam ihr vor, als würde er sie aus seinem Grab heraus auslachen.
Sie hatte keine Lust, jetzt so weiterzumachen. Es war einfach nicht ihr Tag. Sie würde vor Gericht heute keine gute Nummer abgeben. Sie kannte Heiko Käfer, den Anwalt des Beschuldigten. Ein schmieriger Typ. Er hatte einen Ring kleiner, gelblicher Fettgeschwulste um die Augen und das Weiße in seinen Augen war gelblich verfärbt. Auch die braunen Hautflecken auf seinem Handrücken deuteten darauf hin, dass der Mann eine kranke Leber hatte, eine Fettleber, durch zu gutes Leben und zu viel Alkohol, vermutete Ann Kathrin.
Käfer liebte es, Kripobeamte vorzuführen. Er tat es geradezu genüsslich. Entscheidungen, die sie unter großem Druck in Sekunden fällen mussten, studierte er ruhig bei einem Latte macchiato mit drei Stückchen Zucker und fieselte fein auseinander, was wie warum falsch gelaufen war. Nach Befragungen durch ihn fühlte sie sich jedes Mal als Idiotin, völlig unfähig und hoffnungslos überfordert. Er zögerte nicht, Verfahrensfehler aus anderen Verhaftungen ins Feld zu führen, um den Richter davon zu überzeugen, dass dem Angeklagten Unrecht geschah: »Ich kenne die werte Kommissarin aus anderen Prozessen. Ihre unorthodoxen Methoden haben sich oft am äußersten Rand der Rechtsstaatlichkeit bewegt und wurden schon mehrfach juristisch korrigiert. Die Staatskasse musste sogar schon Schadenersatz zahlen, weil ...«
Nein, das würde sie sich heute nicht antun.
Danke, Wecker! Danke, Vergaser! Danke, Handy! Ich habe die Botschaft verstanden. Ich werde zu Hause bleiben. Ich werde zu Dr. Bill gehen und mich krankschreiben lassen.
Sie betrachtete ihr Gesicht im Rückspiegel. Sie hatte nicht geduscht und die Haare einfach mit einer Spange zusammengeklemmt. Ihre Haut war blass und ihre Lippen wirkten blutleer. Sie klatschte sich mit der offenen Hand ins Gesicht, um ein bisschen mehr Farbe zu bekommen. Vergeblich.
Dr. Bills Praxis war wegen einer Fortbildung geschlossen. Ann Kathrin Klaasen sah zum Marktplatz hinüber. An der Fischbude hatte sich eine Schlange gebildet. Sie bekam Hunger auf ein Krabbenbrötchen und hielt ihr Gesicht in die Sonne.
Ein paar freie Tage sind alles, was ich brauche, dachte sie und ging zu Dr. Ekkehart Wolter. Es saßen nur drei Leute im Wartezimmer. Ann Kathrin nahm sich ein Glas Wasser. Neben ihr blätterte eine alte Dame aus dem Seniorenzentrum der AWO in einer Zeitschrift. Das Blatt interessierte sie nicht. Sie wollte ein Gespräch beginnen und stellte sich vor.
Ann Kathrin antwortete freundlich, ohne sich innerlich auf den Dialog einzulassen. Als Frau Klocke aufgerufen wurde, erhob sie sich umständlich und stöhnte. Dabei fiel ihre Handtasche auf den Boden. Der Inhalt kippte aus. Ann Kathrin bückte sich sofort und half Frau Klocke beim Zusammenpacken.
Das Portemonnaie lag offen. Das Foto hinter der Plastikfolie nahm Ann Kathrin die Luft. Das da war ohne jeden Zweifel ihr Vater. Mit seinem unwiderstehlichen Lachen stand er an einem Sandstrand neben einer Bikinischönheit. Er hatte locker einen Arm um ihre Hüfte gelegt.
Ann Kathrin konnte nicht anders. Ohne um Erlaubnis zu fragen, fingerte sie das Bild aus der Hülle, um es genauer betrachten zu können. Hitze- und Kälteschauer liefen ihr in Wellenbewegungen über den Körper.
Hintendrauf stand mit dünner Kugelschreiberschrift: Hotel Inselfriede, Süderloog 12, Spiekeroog. Frau Klocke registrierte die merkwürdige Reaktion und fragte: »Kennen Sie meine Tochter?«
Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, aber das da neben ihr ist ...« Sie sprach die Worte »mein Vater « nicht aus. Sie öffnete nur tonlos den Mund.
»Das ist das letzte Foto, das ich von meiner Tochter habe. Sie ist vor Spiekeroog ertrunken.«
Das Wartezimmer begann um Ann Kathrin zu trudeln. Sie sackte zusammen.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie das beruhigende Gesicht von Dr. Wolter. Neben ihm seine Frau, die sich an Ann Kathrins Arm zu schaffen machte.
Ann Kathrin sah nicht hin. Sie vermutete, dass man ihr gerade Blut abgenommen hatte. In Wirklichkeit hing sie an einem Tropf. Dr. Wolter hatte ihren Blutdruck gemessen und sah sich Ann Kathrins EKG an.
»Sie sind kollabiert«, sagte er. »Bleiben Sie ruhig noch ein bisschen liegen.« Er zeigte auf den Tropf. »Das da ist nur Kochsalzlösung. Sie brauchen jetzt eine Menge Flüssigkeit.«
Bevor er sie gehen ließ, musste sie ihm versprechen, sich ein paar Tage auszuruhen. Aber sie dachte gar nicht daran, sich jetzt zu Hause hinzulegen. Sie besuchte stattdessen Frau Klocke in ihrer 45-Quadratmeter- Wohnung auf dem AWO-Gelände in der Schulstraße 71.
Draußen vor dem Fenster hoppelten Kaninchen zu einem Stück altem Brot. Sie wurden von einer Möwe vertrieben, die ihnen die Beute mit ihrem spitzen Schnabel abnahm und mit den Flügeln flatterte, als wolle sie die Kaninchen warnen, nicht noch einmal ihr Jagdrevier zu betreten.
Frau Klocke hatte sich gerade einen Ostfriesentee gekocht. Der ganze Raum roch danach. Ann Kathrin mochte eigentlich gar keinen Tee, sie trank viel lieber Kaffee, aber sie wollte sich jetzt nicht mit solchen Nebensächlichkeiten aufhalten.
Schon nach dem ersten Tässchen ging es Ann Kathrin besser. Frau Klocke erzählte von ihrer Tochter Isolde, die Kriminalhauptkommissarin gewesen sei. Der Mann an ihrer Seite sei ein gewisser Ludwig Stein, der Lebensgefährte ihrer Tochter. Die beiden seien sehr glücklich miteinander gewesen.
Frau Klocke hatte noch mehr Fotos von ihm. Ann Kathrin spürte wieder einen Anflug von Schwindel. Dann sah sie ihren Vater mit dieser Frau in Venedig auf dem Markusplatz. Auf dem nächsten Bild stieg er mit ihr in eine Gondel. Dann kamen Fotos aus Rom und Amsterdam. Ihr Vater trug bunte Hemden und lockere, farbige Jacketts, die sie früher nie an ihm gesehen hatte.
Nun wollte Frau Klocke etwas über die Beziehung zwischen Ann Kathrin und ihrer Tochter wissen. Frau Klocke sah Ann Kathrin dabei freudig aufgeregt an, fast als könne eine kleine Anekdote ihre Tochter für eine kurze Zeit wieder lebendig machen.
Ann Kathrin musste die nette Dame enttäuschen. Um freier sprechen zu können, erhob sie sich aus dem plüschigen Sessel und verfiel in ihren Verhörgang. Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte, eine Kehrtwendung.
»Ich kenne Ihre Tochter gar nicht. Aber das da ist mein Vater. Er war bei der Kripo und wurde bei einem Banküberfall erschossen. Der Täter läuft immer noch frei herum und ...«
Frau Klocke schüttelte den Kopf. »Nein, junge Frau. Sie irren sich. Meine Tochter war bei der Kripo! Nicht Herr Stein. Er war Geschäftsmann, hat mit Diamanten gehandelt und mit Antiquitäten.«
Ann Kathrin musste sich setzen. Die Kraft wich aus ihr. Sie bat Frau Klocke um ein Glas Wasser. Dann räusperte Ann Kathrin sich. »Danke, Frau Klocke. Tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache. Es geht mir nicht besonders. Wissen Sie, mein Vater war bis zu seinem Tod mit meiner Mutter verheiratet und ...«
Frau Klocke winkte beschwichtigend ab. »Aber liebes Kind, das ist nicht Ihr Vater. Das ist Herr Stein. Bestimmt sieht er Ihrem Vater ein wenig ähnlich. Wahrscheinlich wünschen Sie sich einfach zu sehr, dass er noch lebt. Glauben Sie mir, wenn jemand das versteht, dann ich. Manchmal sehe ich meine Tochter auf der Straße vor mir her laufen. Ich rufe sie dann und bin mir ganz sicher, ja, das ist sie.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Klaus-Peter Wolf
Wolf, Klaus-PeterKlaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über zwölf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden einige Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Klaus-Peter Wolf
- 2013, Maße: 9 x 14,4 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596513030
- ISBN-13: 9783596513031
- Erscheinungsdatum: 25.07.2013
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