Sternschnuppen
Bei Svenja läuft alles nach Plan: Gerade hat sie ihren Traumjob bekommen und ist auf dem Weg nach oben. Doch dann wird sie schwanger - und ist kurz danach auch noch ihren Freund los. Was nun? Sie engagiert ein "Kindermädchen": den Russen Alexej. Und der ist ziemlich attraktiv.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sternschnuppen “
Bei Svenja läuft alles nach Plan: Gerade hat sie ihren Traumjob bekommen und ist auf dem Weg nach oben. Doch dann wird sie schwanger - und ist kurz danach auch noch ihren Freund los. Was nun? Sie engagiert ein "Kindermädchen": den Russen Alexej. Und der ist ziemlich attraktiv.
Lese-Probe zu „Sternschnuppen “
Sternschnuppen von Anne HertzProlog
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Natürlich habe ich schon viele solche Geschichten gehört. In meinem Job wird man rund um die Uhr von irgendwelchen Leuten zugelabert. Meistens nicke ich dann nur freundlich und gebe mir Mühe, einen möglichst interessierten Eindruck zu machen - wobei ich in Wahrheit innerlich auf Durchzug schalte.
Besonders schlimm war es in der Zeit, als ich nach meiner Ausbildung den Job in einem großen Kölner Hotel bekam und die ersten Monate an der Bar arbeiten musste. Kaum zu glauben, mit welcher Hartnäckigkeit sich Gäste - vor allem einsame Geschäftsleute - am Tresen festkrallen können, um einem stundenlang und in epischer Breite ihre gesamte Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Ob man sie hören will oder nicht. Wie sie einmal mit bloßen Händen einen wild gewordenen Kampfhund gebändigt haben. Wie das damals war, als sie ihre Frau kennengelernt haben - und warum die Schlampe dann später mit ihrem besten Kumpel durchgebrannt ist und auch noch den Porsche mitgenommen hat. Wobei meist der Verlust des Porsches und des Kumpels wesentlich mehr zu schmerzen schien als das Entschwinden der Gattin. Und irgendwann, nach dem achten bis zehnten Gin Tonic, holen solche Typen dann immer die Fotos ihrer Kinder aus dem Portemonnaie und zeigen sie mit stolzgeschwellter Brust herum, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, die zur Fortpflanzung fähig sind. Genau zu diesem Zeitpunkt kommt stets eine Ausführung über die dramatische Geburt des Sprösslings. Wie sie damals, drei Wochen vor Termin, mit ihrer Frau überstürzt ins Krankenhaus mussten, weil plötzlich die Wehen eingesetzt hatten. Im Taxi, bei Schnee und Regen, Orkanböen und Katastrophenwarnungen. Beinahe noch während der Fahrt, quasi auf der Rückbank des Wagens, ist das Kind schließlich zur Welt gekommen, nur mit Mühe und Not hat man es noch in den Kreißsaal geschafft, wo die Ärzte eigentlich nur die Nabelschnur durchtrennen mussten. Ein Wettlauf mit der Zeit, ein gnadenloser Kampf um Leben und Tod ...
Na ja, bisher habe ich dann immer gedacht, dass an solchen Geschichten wahrscheinlich nur eine einzige Sache stimmt: die Fahrt mit dem Taxi zum Krankenhaus. Gibt's doch in der heutigen Zeit und bei der modernen Medizin gar nicht mehr, so eine Geburt kann man schließlich richtig schön gemütlich planen. Genau so habe ich das gesehen. Bis vor ungefähr zwanzig Minuten jedenfalls. Seit neunzehn Minuten liege ich nämlich selbst auf der Rückbank eines Taxis. Und wenn der Fahrer nicht gleich aufhört, vor jeder dunkelgelben Ampel brav anzuhalten, stehen die Chancen gut, dass ich ihm für alle Zeiten die Sitze versaue.
Bevor ich ihn anbrüllen kann, dass er gefälligst aufs Gas drücken soll, wenn er nicht Augenzeuge einer blutigen Sturzgeburt werden will, fährt mir ein stechender Schmerz durch den Körper. Ich kann nur noch laut nach Luft schnappen und mich zusammenkrümmen.
»Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya.«
Ach ja, als wäre meine Lage an sich nicht schon misslich genug, sitzt neben mir auf der Rückbank auch noch ein Kerl, der hektisch meinen Kopf tätschelt und dabei verständnisloses Zeug redet. Alexej heißt er, allerdings wird er lieber Sascha genannt. Als ich ihn vor einem guten halben Jahr kennenlernte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich ausgerechnet in seiner Gegenwart mein Leben aushauchen würde. Aber ich habe mir in meinem Leben so einiges nicht träumen lassen. Meine eigentlichen Pläne wurden vor nicht allzu langer Zeit durch diverse Widrigkeiten in Schutt und Asche gelegt. Da kommt es auf so eine Kleinigkeit wie die genauen Umstände meiner ersten Entbindung auch nicht mehr an.
»Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya!«, ruft Sascha jetzt noch einmal beschwörend, nimmt meinen Kopf in beide Hände wie in eine Schraubpresse und beugt sich über mich. Seine grünen Augen mustern mich eindringlich, als wolle er per Hypnose die Geburt verzögern. »Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya! «
»Was faselst du da eigentlich?«, bringe ich stoßweise mit letzter Kraft hervor.
»Ich mache Mut«, erklärt Sascha. »Ist ein Sprichwort aus Heimat, von meine Mama: Alles ist gut, was gut endet. Ich säähr zuversichtlich bin, dass wir schon schaffen.« Sein stark durchbrechender russischer Akzent straft ihn Lügen, denn eigentlich spricht Sascha ziemlich gut Deutsch. Er scheint also sehr nervös zu sein.
Trotz meiner Schmerzen bringe ich so etwas wie ein Lächeln zustande. »Ja, das schaffen wir schon«, erwidere ich mit dem Optimismus der Verzweifelten. Jetzt lächelt Sascha auch und streicht mir über den Kopf.
»Alles gut«, meint er wieder. »Ich bin da. Ich immer dableiben.«
Immer?
Ob das wirklich so gut ist?
Fünf Minuten später haben wir die Frauenklinik des Universitätskrankenhauses Eppendorf erreicht, und ich werde von zwei geübten Helfern auf ein rollbares Bett gewuchtet. Als wir den Eingang zum Kreißsaal erreichen, sehe ich ein bekanntes Gesicht - die Hebamme von der Voranmeldung! Sie begrüßt mich freundlich.
»Na, Frau Christiansen? Ich dachte, wir sehen uns erst in drei Wochen?«
»Dachte ich auch«, erwidere ich schlapp. »Aber offenbar hat's hier irgendwer etwas eiliger.«
»Versuchen Sie, sich zwischen den Wehen zu entspannen. Ich werde Sie gleich untersuchen.« Sie nickt dem Pfleger, der mittlerweile die Sanitäter abgelöst hat, zu. »Kreißsaal 3 ist frei, ich komme sofort hinterher.«
Sascha steht ein wenig unschlüssig herum und tritt von einem Bein aufs andere.
»Ich bin übrigens Hebamme Barbara«, stellt sie sich ihm vor. »Kommen Sie mit. Sie wollen doch bestimmt Ihre Frau bei der Geburt unterstützen.« Sofort nickt er erfreut und marschiert hinter meinem Bett her. Ich will das Missverständnis aufklären, aber die nächste Wehe trifft mich mit einer derartigen Wucht, dass ich nur noch aufstöhnen kann und mich ergeben in mein Schicksal füge.
Eigentlich wollte meine Schwester Merle bei der Geburt dabei sein, aber die war weder zu Hause noch auf dem Handy zu erreichen. Dann also Sascha statt Merle, ich werde mit ihr telefonieren, wenn ich das alles hier hinter mir habe. Was hoffentlich bald ist, denn noch so eine Wehe, und ich lasse mich freiwillig einschläfern.
»So, mal sehen ... « Die Hebamme beginnt mit ihrer Untersuchung. »Hm, der Muttermund ist noch ziemlich fest, die Wehen waren wohl noch nicht so effektiv. Sind zwar schon in sehr kurzen Abständen, aber sie müssen noch stärker werden.« Bitte? Was sagt die dumme Kuh da? Hat die eine Ahnung, welche grauenhaften Schmerzen ich erlebe?
»Auf alle Fälle haben wir noch Zeit, ein CTG zu schreiben.« Als sie Saschas Blick sieht, erklärt sie kurz: »Cardiotokogramm. Das ist ein Gerät, das die Wehen der Gebärenden und die Herztöne des Kindes aufzeichnet. Damit man immer weiß, wie es dem Baby geht.«
Ein CTG, auch das noch! Bei allen Vorsorgeuntersuchungen musste ich dafür zwanzig Minuten still liegen, das schaffe ich jetzt unter keinen Umständen. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass wir keineswegs noch so viel Zeit haben. Es wird mich garantiert gleich zerreißen - ich könnte wetten, dass ich noch in der nächsten halben Stunde Mutter werde.
Während mich die Hebamme verkabelt, greife ich unwillkürlich nach Saschas Hand. Sie ist weich und warm, und als er meinen Druck erwidert, fühle ich mich ein ganz kleines bisschen sicherer. »Ich bleiben da«, flüstert er und lächelt mich an. »Wir haben schon bald überstanden.«
Ich würde lachen, wenn ich nicht so große Schmerzen hätte. Wir? Ja, aber sicher doch!
Eine Viertelstunde später steht fest, dass ich recht damit behalte, dass es nicht mehr lange dauern kann. Allerdings anders, als gedacht. Die Hebamme guckt kurz auf die Aufzeichnung des CTG, dann holt sie einen Weißkittel, der sich uns als Dr. Meyer-Klose vorstellt. Auch er schaut sich das Blatt an, wendet sich dann zur Hebamme und nuschelt etwas von »pathologischem CTG«. Sie nickt, dann zieht sich Meyer-Klose einen Stuhl an mein Bett, setzt sich und fällt sein Urteil.
»Frau Christiansen, ich denke, wir werden jetzt einen Kaiserschnitt machen. Die kindlichen Herztöne sind nicht besonders gut, und eine natürliche Geburt wäre wahrscheinlich zu anstrengend. Ich würde auch lieber eine Vollnarkose machen, denn dann können wir schneller operieren, als wenn wir jetzt noch warten, bis die spinale sitzt.«
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz«, versuche ich so gefasst wie unter Wehen möglich herauszubringen.
»Bei einer spinalen, also einer Rückenmarksbetäubung, wären Sie während der Operation bei Bewusstsein. Die Vorbereitungszeit dafür dauert aber länger, und ich möchte den Kaiserschnitt jetzt so schnell wie möglich machen, damit die Herztöne nicht noch schlechter werden.«
Mir wird auf einmal ganz kalt, ich merke, dass Panik in mir hochkriecht. Sascha hält meine Hand jetzt ganz fest, und darüber bin ich wirklich verdammt froh.
»Worauf warten wir also?«, krächze ich matt.
»Keine Sorge, es geht gleich los. Das Team erwartet uns schon im OP.« Dr. Meyer-Klose strahlt mich über den Rand seiner genau genommen randlosen Brille an, und ich frage mich, ob er diesen Wird-schon-werden-Blick auf irgendeinem Kommunikationsseminar gelernt hat. Was für ein furchtbarer Tag!
Vor dem Operationssaal muss sich Sascha von mir verabschieden, er darf nicht mit hinein. »Viel Glück«, sagt er und streichelt meine Hand. »Ich warten hier, vor den Operationssaal.«
»Dem Operationssaal«, korrigiere ich ihn stöhnend. »Ich warte vor DEM Operationssaal.«
Sascha grinst mich nur an und tätschelt noch einmal meine Hand. »Ich weiß, du wirst schaffen. Du schon wieder bist ganz alte Svenja.« Ich werde weggerollt, bevor ich seinen Satz grammatisch umstellen kann. Die Tür schließt sich hinter mir, und Sascha winkt mir noch einmal durch die Verglasung zu.
Im OP ist es saukalt, und als ich mich umgucke, blicke ich in fünf grünvermummte Gesichter. Auweia! Jetzt wird's ernst.
»So, Frau Christiansen, ich bin Florian Müller und als Anästhesist zuständig für die Narkose«, begrüßt mich einer der Vermummten. »Entspannen Sie sich! Wenn Sie wieder aufwachen, sind Sie schon Mutter. Wollen mal kurz gucken«, er dreht sich zur Seite und studiert den Kalender, der an der Wand hängt. 13.04.2007. » Uih, Freitag der Dreizehnte - na, Sie sind ja hoffentlich nicht abergläubisch«, erkundigt er sich.
Und wenn - würde das etwas ändern? Ich kann jetzt wohl kaum einfach nach Hause gehen, bin ich versucht zu sagen. Aber ich lasse es, und bevor ich mir noch weiter Gedanken darüber machen kann, ob der Operateur möglicherweise an böse Omen glaubt und deswegen zittrige Hände hat, geht bei mir das Licht aus ... und ich träume. Träume davon, wie zum Teufel ich eigentlich hier gelandet bin. Von Carsten. Von dem letzten Abend, an dem ich ihn gesehen habe. Von Merle, Sascha, von den ungefähr tausend neuen Menschen, die mir in den vergangenen Wochen begegnet sind. Und von meinem ersten Tag im neuen Job. Gut sechs Monate liegt der jetzt zurück. Damals dachte ich, dass in meinem Leben nun alles richtig schön glatt verlaufen würde. So, wie ich es mir vorgenommen hatte. Tja. Dachte ich.
1. Kapitel
Herzlich willkommen im Royal Fürstenberger! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise und werden in diesem Haus einen guten Start haben!« Peer Steinfeld schüttelt euphorisch meine Hand und zeigt dabei sein strahlend weißes Hollywood-Gebiss. Sieht ein bisschen aufgesetzt aus, aber vielleicht kann er ja nicht anders lächeln. Er ist groß und schlank, steckt in einem schwarzen Anzug, hat seine leicht graumelierten Haare ordentlich zurückgegelt und trägt eine Gucci-Brille. Ende vierzig schätze ich ihn, vielleicht auch schon kurz über fünfzig. In jedem Fall sieht er ganz genau so aus, wie man sich einen Hoteldirektor vorstellt.
»Vielen Dank, Herr Steinfeld, das hoffe ich auch«, erwidere ich höflich und strahle ihn ebenso breit an. Dann lasse ich meinen Blick durch die großzügige Lobby schweifen, in der er mich gerade in Empfang genommen hat.
Das Royal Fürstenberger ist Hamburgs erste Adresse, ein Grandhotel wie in alten Zeiten mit jeder Menge Prunk und Pomp. Direkt am Alsterufer gelegen, im Nobelstadtteil Pöseldorf, umgeben von herrschaftlichen Villen, teuren Restaurants und noch viel teureren Boutiquen. Zum Hotel gehört eine eigene Spielbank und ein kleiner Park, durch den die Gäste flanieren können. Das letzte Mal - von meinem Gespräch mit der Geschäftsleitung der Fürstenberger-Gruppe mal abgesehen - war ich vor zwanzig Jahren hier, als ich als Schülerin ein dreiwöchiges Praktikum gemacht habe. Schon damals dachte ich, dass es ein absoluter Traum sein müsste, einmal in diesem Hotel zu arbeiten. Und am nächsten Montag übernehme ich nun also ganz offiziell die Leitung des Luxustempels. Mit meinen nur sechsunddreißig Jahren verantworte ich dann eines der wichtigsten Fürstenberger-Hotels - ich könnte platzen vor Stolz!
»Dann will ich Sie mal in die Örtlichkeiten einweisen«, sagt Steinfeld und bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, dass ich das Hotel schon kenne; zum einen würde das besserwisserisch wirken, zum anderen ist mein Praktikum ja wirklich schon ein paar Jahre her.
Wir schlendern über den dicken, kostbaren Teppich, der das Geräusch jedes Schrittes aufzusaugen scheint. Hier und da nickt Peer Steinfeld einem Mitarbeiter zu, ich tue es ihm gleich und fühle mich wie die Queen von England, die durch das Meer ihrer Untertanen schreitet. Ich wünschte, Carsten könnte mich jetzt sehen! Aber leider musste ich ihn bis auf weiteres in München zurücklassen. Jedenfalls so lange, bis er einen neuen Job in Hamburg gefunden hat und mir hinterherziehen kann. Was hoffentlich bald sein wird ...
Prompt wandern meine Gedanken zu Carsten ab, während ich brav hinter Herrn Steinfeld hertrotte. »Muss das denn unbedingt sein?«, meinte mein Freund, als ich ihm im Sommer erzählte, dass die Fürstenberg-Gruppe mich in die engere Wahl für den Direktorenposten des Hamburger Hauses in Betracht ziehen würde. Dr. Hubert Wiedemeyer, Deutschlandchef und mein persönlicher Mentor, hatte mir in einem Vieraugengespräch erklärt, dass meine Chancen in der Tat ausgezeichnet seien.
»Wenn ich die Stelle bekomme - ja, dann muss es sein«, lautete meine Antwort.
»Aber warum bieten sie dir nicht einfach die Leitung in München an? Hotel ist doch Hotel!«
»Zum einen hat das Münchener Fürstenberger erst seit einem Jahr einen neuen Direktor. Und außerdem ist das nun einmal so in dieser Branche. Wer aufsteigen will, muss die Stadt und oft sogar das Land wechseln.«
»Toll, und ich darf hinterherziehen! «, maulte er.
»Das haben wir mal so ausgemacht, erinnerst du dich? Beim nächsten Stellenwechsel bin ich dran, hast du damals gesagt. Schließlich habe ich vor acht Jahren für dich auf den Job in Singapur verzichtet.«
»Für uns«, korrigierte Carsten mich prompt. »Für uns hast du das getan. Und für die Familie, die wir gründen wollten.« In dem Moment, in dem er das sagte, tat es ihm offenbar schon wieder leid. »Entschuldige«, schob er schnell hinterher. »So war das nicht gemeint.«
»Doch, so war's gemeint«, erwiderte ich, wobei ich ihn aber gleichzeitig versöhnlich anlächelte. »Aber es hat nun einmal nicht geklappt mit Kindern, das ist nicht zu ändern.«
Nachdem sowohl Carsten als auch ich einige Jahre kreuz und quer durch die Welt gereist waren - er als Wirtschaftsprüfer, ich durch alle möglichen Hotels und alle möglichen Bereiche - und uns mehr oder weniger nur ein paar Tage im Monat sehen konnten, wollten wir endlich unser gemeinsames Leben beginnen. Also zogen wir zusammen nach München, wo Carsten bei einer großen Unternehmensberatung und ich im Royal Fürstenberger anfangen konnte. Ich war damals achtundzwanzig, Carsten fast dreißig - genau der richtige Zeitpunkt, um ein paar niedliche Kinder in die Welt zu setzen und für eine Weile Erziehungsurlaub zu nehmen.
Wir versuchten wirklich alles, ich rannte von einem Arzt zum nächsten, in die Kinderwunschklinik, zu diversen Heilpraktikern, aber ich wurde einfach nicht schwanger. Mit dreißig gab ich dann frustriert auf - und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf meine Karriere. Wenn ich schon kein Baby bekam, dann wollte ich diese Unabhängigkeit dazu nutzen, beruflich richtig durchzustarten. Mit Erfolg: Zuerst leitete ich den Empfang, wurde dann Reservierungschefin und unter dem neuen Direktor sogar Stellvertreterin - tja, und jetzt bin ich also hier. Natürlich auch dank Wiedemeyer, wie er mir gegenüber immer wieder betont. »Frau Christiansen«, teilte er mir in unserem letzten Gespräch gewichtig mit. »Ich habe mich sehr für Sie eingesetzt. Sie sind nun die erste weibliche Direktorin in einem deutschen Fürstenberger. Enttäuschen Sie mich nicht!«
»Keine Sorge«, hatte ich erwidert. »Das habe ich nicht vor. Sie werden sehen, dass Sie in mir genau die richtige Frau für den Job gefunden haben.« Mittlerweile hat Carsten sich auch an den Gedanken gewöhnt und schon jede Menge Bewerbungen in Hamburg laufen. Müsste wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht bald etwas ergeben würde.
»Am Sonntag«, unterbricht Peer Steinfeld meine Gedanken, »lernen Sie dann die gesamte Belegschaft kennen. Wir haben eine kleine Nachmittagsveranstaltung geplant.«
»Sehr schön.«
»Immerhin haben wir gut hundert Mitarbeiter, die Aushilfen nicht mit eingerechnet.« Er bleibt kurz stehen und mustert mich intensiv. »Es ist ein großes Haus, Frau Christiansen, aber ich denke, das werden Sie schon schaffen.«
»Das denke ich auch«, erwidere ich mit einem strahlenden Lächeln, obwohl in seinem Ton ein Hauch von »Na, mal sehen, ob die das wuppt!« mitschwingt. Typisch Kerl, kann sich nicht vorstellen, dass eine Frau seine würdige Nachfolgerin sein kann. Aber dem werde ich es schon noch zeigen! Das heißt, ihm persönlich wohl eher nicht, nächste Woche macht Steinfeld sich nach Hongkong davon, wo er die Leitung des dortigen Royal Fürstenberger übernehmen wird. Bis Montag soll er mich kurz mit den Mitarbeitern und den wichtigsten Abläufen vertraut machen, eine Aufgabe, die er offenbar gern übernimmt, denn jetzt erklärt er mir mit großspuriger Geste: »Dort drüben ist die Rezeption.«
»Ach was, so sieht eine Rezeption also aus?«, liegt mir auf der Zunge, aber im Job habe ich mir angewöhnt, meine spontane Seite zu unterdrücken. Als jüngere Frau muss man gelegentlich darauf pochen, wirklich ernst genommen zu werden, da ist die Rolle des Klassenclowns nicht eben hilfreich. Also sage ich nichts und folge Peer Steinfeld weiter. Ich blicke an die Decke und bewundere den riesigen Kristallleuchter, der direkt über uns baumelt. Mein Vorgänger bemerkt meinen Blick. »Wir haben eine Reinigungsfirma, die sich einmal im Monat um die Kronleuchter kümmert. Ansonsten wird hier natürlich täglich gesaugt und geputzt, aber ich habe Ihnen bereits ein Mappe zusammengestellt, in der alles steht.«
»Sehr gut«, bedanke ich mich. Dann nicke ich den zwei Damen zu, die hinter der Rezeption stehen und uns mit unverhohlener Neugierde mustern. Beide tragen die Hotel-Livree, ein schmal geschnittenes, nachtblaues Kostüm mit goldenen Reversknöpfen. Als Direktorin werde ich diese Uniform glücklicherweise nicht tragen müssen, ich fühle mich in so etwas immer irgendwie verkleidet. Ein schlichter, grauer Hosenanzug, wie ich ihn heute Morgen angezogen habe, die langen blonden Haare ordentlich hochgesteckt - eben ganz business woman.
»Meine Damen«, ruft Peer Steinfeld den zwei Frauen zu, als er mit mir vor der Rezeption stehen bleibt. »Darf ich vorstellen: Das ist Svenja Christiansen, meine Nachfolgerin.«
»Angenehm«, sage ich und schüttele der Frau links hinterm Tresen die Hand.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Natürlich habe ich schon viele solche Geschichten gehört. In meinem Job wird man rund um die Uhr von irgendwelchen Leuten zugelabert. Meistens nicke ich dann nur freundlich und gebe mir Mühe, einen möglichst interessierten Eindruck zu machen - wobei ich in Wahrheit innerlich auf Durchzug schalte.
Besonders schlimm war es in der Zeit, als ich nach meiner Ausbildung den Job in einem großen Kölner Hotel bekam und die ersten Monate an der Bar arbeiten musste. Kaum zu glauben, mit welcher Hartnäckigkeit sich Gäste - vor allem einsame Geschäftsleute - am Tresen festkrallen können, um einem stundenlang und in epischer Breite ihre gesamte Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Ob man sie hören will oder nicht. Wie sie einmal mit bloßen Händen einen wild gewordenen Kampfhund gebändigt haben. Wie das damals war, als sie ihre Frau kennengelernt haben - und warum die Schlampe dann später mit ihrem besten Kumpel durchgebrannt ist und auch noch den Porsche mitgenommen hat. Wobei meist der Verlust des Porsches und des Kumpels wesentlich mehr zu schmerzen schien als das Entschwinden der Gattin. Und irgendwann, nach dem achten bis zehnten Gin Tonic, holen solche Typen dann immer die Fotos ihrer Kinder aus dem Portemonnaie und zeigen sie mit stolzgeschwellter Brust herum, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, die zur Fortpflanzung fähig sind. Genau zu diesem Zeitpunkt kommt stets eine Ausführung über die dramatische Geburt des Sprösslings. Wie sie damals, drei Wochen vor Termin, mit ihrer Frau überstürzt ins Krankenhaus mussten, weil plötzlich die Wehen eingesetzt hatten. Im Taxi, bei Schnee und Regen, Orkanböen und Katastrophenwarnungen. Beinahe noch während der Fahrt, quasi auf der Rückbank des Wagens, ist das Kind schließlich zur Welt gekommen, nur mit Mühe und Not hat man es noch in den Kreißsaal geschafft, wo die Ärzte eigentlich nur die Nabelschnur durchtrennen mussten. Ein Wettlauf mit der Zeit, ein gnadenloser Kampf um Leben und Tod ...
Na ja, bisher habe ich dann immer gedacht, dass an solchen Geschichten wahrscheinlich nur eine einzige Sache stimmt: die Fahrt mit dem Taxi zum Krankenhaus. Gibt's doch in der heutigen Zeit und bei der modernen Medizin gar nicht mehr, so eine Geburt kann man schließlich richtig schön gemütlich planen. Genau so habe ich das gesehen. Bis vor ungefähr zwanzig Minuten jedenfalls. Seit neunzehn Minuten liege ich nämlich selbst auf der Rückbank eines Taxis. Und wenn der Fahrer nicht gleich aufhört, vor jeder dunkelgelben Ampel brav anzuhalten, stehen die Chancen gut, dass ich ihm für alle Zeiten die Sitze versaue.
Bevor ich ihn anbrüllen kann, dass er gefälligst aufs Gas drücken soll, wenn er nicht Augenzeuge einer blutigen Sturzgeburt werden will, fährt mir ein stechender Schmerz durch den Körper. Ich kann nur noch laut nach Luft schnappen und mich zusammenkrümmen.
»Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya.«
Ach ja, als wäre meine Lage an sich nicht schon misslich genug, sitzt neben mir auf der Rückbank auch noch ein Kerl, der hektisch meinen Kopf tätschelt und dabei verständnisloses Zeug redet. Alexej heißt er, allerdings wird er lieber Sascha genannt. Als ich ihn vor einem guten halben Jahr kennenlernte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich ausgerechnet in seiner Gegenwart mein Leben aushauchen würde. Aber ich habe mir in meinem Leben so einiges nicht träumen lassen. Meine eigentlichen Pläne wurden vor nicht allzu langer Zeit durch diverse Widrigkeiten in Schutt und Asche gelegt. Da kommt es auf so eine Kleinigkeit wie die genauen Umstände meiner ersten Entbindung auch nicht mehr an.
»Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya!«, ruft Sascha jetzt noch einmal beschwörend, nimmt meinen Kopf in beide Hände wie in eine Schraubpresse und beugt sich über mich. Seine grünen Augen mustern mich eindringlich, als wolle er per Hypnose die Geburt verzögern. »Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya! «
»Was faselst du da eigentlich?«, bringe ich stoßweise mit letzter Kraft hervor.
»Ich mache Mut«, erklärt Sascha. »Ist ein Sprichwort aus Heimat, von meine Mama: Alles ist gut, was gut endet. Ich säähr zuversichtlich bin, dass wir schon schaffen.« Sein stark durchbrechender russischer Akzent straft ihn Lügen, denn eigentlich spricht Sascha ziemlich gut Deutsch. Er scheint also sehr nervös zu sein.
Trotz meiner Schmerzen bringe ich so etwas wie ein Lächeln zustande. »Ja, das schaffen wir schon«, erwidere ich mit dem Optimismus der Verzweifelten. Jetzt lächelt Sascha auch und streicht mir über den Kopf.
»Alles gut«, meint er wieder. »Ich bin da. Ich immer dableiben.«
Immer?
Ob das wirklich so gut ist?
Fünf Minuten später haben wir die Frauenklinik des Universitätskrankenhauses Eppendorf erreicht, und ich werde von zwei geübten Helfern auf ein rollbares Bett gewuchtet. Als wir den Eingang zum Kreißsaal erreichen, sehe ich ein bekanntes Gesicht - die Hebamme von der Voranmeldung! Sie begrüßt mich freundlich.
»Na, Frau Christiansen? Ich dachte, wir sehen uns erst in drei Wochen?«
»Dachte ich auch«, erwidere ich schlapp. »Aber offenbar hat's hier irgendwer etwas eiliger.«
»Versuchen Sie, sich zwischen den Wehen zu entspannen. Ich werde Sie gleich untersuchen.« Sie nickt dem Pfleger, der mittlerweile die Sanitäter abgelöst hat, zu. »Kreißsaal 3 ist frei, ich komme sofort hinterher.«
Sascha steht ein wenig unschlüssig herum und tritt von einem Bein aufs andere.
»Ich bin übrigens Hebamme Barbara«, stellt sie sich ihm vor. »Kommen Sie mit. Sie wollen doch bestimmt Ihre Frau bei der Geburt unterstützen.« Sofort nickt er erfreut und marschiert hinter meinem Bett her. Ich will das Missverständnis aufklären, aber die nächste Wehe trifft mich mit einer derartigen Wucht, dass ich nur noch aufstöhnen kann und mich ergeben in mein Schicksal füge.
Eigentlich wollte meine Schwester Merle bei der Geburt dabei sein, aber die war weder zu Hause noch auf dem Handy zu erreichen. Dann also Sascha statt Merle, ich werde mit ihr telefonieren, wenn ich das alles hier hinter mir habe. Was hoffentlich bald ist, denn noch so eine Wehe, und ich lasse mich freiwillig einschläfern.
»So, mal sehen ... « Die Hebamme beginnt mit ihrer Untersuchung. »Hm, der Muttermund ist noch ziemlich fest, die Wehen waren wohl noch nicht so effektiv. Sind zwar schon in sehr kurzen Abständen, aber sie müssen noch stärker werden.« Bitte? Was sagt die dumme Kuh da? Hat die eine Ahnung, welche grauenhaften Schmerzen ich erlebe?
»Auf alle Fälle haben wir noch Zeit, ein CTG zu schreiben.« Als sie Saschas Blick sieht, erklärt sie kurz: »Cardiotokogramm. Das ist ein Gerät, das die Wehen der Gebärenden und die Herztöne des Kindes aufzeichnet. Damit man immer weiß, wie es dem Baby geht.«
Ein CTG, auch das noch! Bei allen Vorsorgeuntersuchungen musste ich dafür zwanzig Minuten still liegen, das schaffe ich jetzt unter keinen Umständen. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass wir keineswegs noch so viel Zeit haben. Es wird mich garantiert gleich zerreißen - ich könnte wetten, dass ich noch in der nächsten halben Stunde Mutter werde.
Während mich die Hebamme verkabelt, greife ich unwillkürlich nach Saschas Hand. Sie ist weich und warm, und als er meinen Druck erwidert, fühle ich mich ein ganz kleines bisschen sicherer. »Ich bleiben da«, flüstert er und lächelt mich an. »Wir haben schon bald überstanden.«
Ich würde lachen, wenn ich nicht so große Schmerzen hätte. Wir? Ja, aber sicher doch!
Eine Viertelstunde später steht fest, dass ich recht damit behalte, dass es nicht mehr lange dauern kann. Allerdings anders, als gedacht. Die Hebamme guckt kurz auf die Aufzeichnung des CTG, dann holt sie einen Weißkittel, der sich uns als Dr. Meyer-Klose vorstellt. Auch er schaut sich das Blatt an, wendet sich dann zur Hebamme und nuschelt etwas von »pathologischem CTG«. Sie nickt, dann zieht sich Meyer-Klose einen Stuhl an mein Bett, setzt sich und fällt sein Urteil.
»Frau Christiansen, ich denke, wir werden jetzt einen Kaiserschnitt machen. Die kindlichen Herztöne sind nicht besonders gut, und eine natürliche Geburt wäre wahrscheinlich zu anstrengend. Ich würde auch lieber eine Vollnarkose machen, denn dann können wir schneller operieren, als wenn wir jetzt noch warten, bis die spinale sitzt.«
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz«, versuche ich so gefasst wie unter Wehen möglich herauszubringen.
»Bei einer spinalen, also einer Rückenmarksbetäubung, wären Sie während der Operation bei Bewusstsein. Die Vorbereitungszeit dafür dauert aber länger, und ich möchte den Kaiserschnitt jetzt so schnell wie möglich machen, damit die Herztöne nicht noch schlechter werden.«
Mir wird auf einmal ganz kalt, ich merke, dass Panik in mir hochkriecht. Sascha hält meine Hand jetzt ganz fest, und darüber bin ich wirklich verdammt froh.
»Worauf warten wir also?«, krächze ich matt.
»Keine Sorge, es geht gleich los. Das Team erwartet uns schon im OP.« Dr. Meyer-Klose strahlt mich über den Rand seiner genau genommen randlosen Brille an, und ich frage mich, ob er diesen Wird-schon-werden-Blick auf irgendeinem Kommunikationsseminar gelernt hat. Was für ein furchtbarer Tag!
Vor dem Operationssaal muss sich Sascha von mir verabschieden, er darf nicht mit hinein. »Viel Glück«, sagt er und streichelt meine Hand. »Ich warten hier, vor den Operationssaal.«
»Dem Operationssaal«, korrigiere ich ihn stöhnend. »Ich warte vor DEM Operationssaal.«
Sascha grinst mich nur an und tätschelt noch einmal meine Hand. »Ich weiß, du wirst schaffen. Du schon wieder bist ganz alte Svenja.« Ich werde weggerollt, bevor ich seinen Satz grammatisch umstellen kann. Die Tür schließt sich hinter mir, und Sascha winkt mir noch einmal durch die Verglasung zu.
Im OP ist es saukalt, und als ich mich umgucke, blicke ich in fünf grünvermummte Gesichter. Auweia! Jetzt wird's ernst.
»So, Frau Christiansen, ich bin Florian Müller und als Anästhesist zuständig für die Narkose«, begrüßt mich einer der Vermummten. »Entspannen Sie sich! Wenn Sie wieder aufwachen, sind Sie schon Mutter. Wollen mal kurz gucken«, er dreht sich zur Seite und studiert den Kalender, der an der Wand hängt. 13.04.2007. » Uih, Freitag der Dreizehnte - na, Sie sind ja hoffentlich nicht abergläubisch«, erkundigt er sich.
Und wenn - würde das etwas ändern? Ich kann jetzt wohl kaum einfach nach Hause gehen, bin ich versucht zu sagen. Aber ich lasse es, und bevor ich mir noch weiter Gedanken darüber machen kann, ob der Operateur möglicherweise an böse Omen glaubt und deswegen zittrige Hände hat, geht bei mir das Licht aus ... und ich träume. Träume davon, wie zum Teufel ich eigentlich hier gelandet bin. Von Carsten. Von dem letzten Abend, an dem ich ihn gesehen habe. Von Merle, Sascha, von den ungefähr tausend neuen Menschen, die mir in den vergangenen Wochen begegnet sind. Und von meinem ersten Tag im neuen Job. Gut sechs Monate liegt der jetzt zurück. Damals dachte ich, dass in meinem Leben nun alles richtig schön glatt verlaufen würde. So, wie ich es mir vorgenommen hatte. Tja. Dachte ich.
1. Kapitel
Herzlich willkommen im Royal Fürstenberger! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise und werden in diesem Haus einen guten Start haben!« Peer Steinfeld schüttelt euphorisch meine Hand und zeigt dabei sein strahlend weißes Hollywood-Gebiss. Sieht ein bisschen aufgesetzt aus, aber vielleicht kann er ja nicht anders lächeln. Er ist groß und schlank, steckt in einem schwarzen Anzug, hat seine leicht graumelierten Haare ordentlich zurückgegelt und trägt eine Gucci-Brille. Ende vierzig schätze ich ihn, vielleicht auch schon kurz über fünfzig. In jedem Fall sieht er ganz genau so aus, wie man sich einen Hoteldirektor vorstellt.
»Vielen Dank, Herr Steinfeld, das hoffe ich auch«, erwidere ich höflich und strahle ihn ebenso breit an. Dann lasse ich meinen Blick durch die großzügige Lobby schweifen, in der er mich gerade in Empfang genommen hat.
Das Royal Fürstenberger ist Hamburgs erste Adresse, ein Grandhotel wie in alten Zeiten mit jeder Menge Prunk und Pomp. Direkt am Alsterufer gelegen, im Nobelstadtteil Pöseldorf, umgeben von herrschaftlichen Villen, teuren Restaurants und noch viel teureren Boutiquen. Zum Hotel gehört eine eigene Spielbank und ein kleiner Park, durch den die Gäste flanieren können. Das letzte Mal - von meinem Gespräch mit der Geschäftsleitung der Fürstenberger-Gruppe mal abgesehen - war ich vor zwanzig Jahren hier, als ich als Schülerin ein dreiwöchiges Praktikum gemacht habe. Schon damals dachte ich, dass es ein absoluter Traum sein müsste, einmal in diesem Hotel zu arbeiten. Und am nächsten Montag übernehme ich nun also ganz offiziell die Leitung des Luxustempels. Mit meinen nur sechsunddreißig Jahren verantworte ich dann eines der wichtigsten Fürstenberger-Hotels - ich könnte platzen vor Stolz!
»Dann will ich Sie mal in die Örtlichkeiten einweisen«, sagt Steinfeld und bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, dass ich das Hotel schon kenne; zum einen würde das besserwisserisch wirken, zum anderen ist mein Praktikum ja wirklich schon ein paar Jahre her.
Wir schlendern über den dicken, kostbaren Teppich, der das Geräusch jedes Schrittes aufzusaugen scheint. Hier und da nickt Peer Steinfeld einem Mitarbeiter zu, ich tue es ihm gleich und fühle mich wie die Queen von England, die durch das Meer ihrer Untertanen schreitet. Ich wünschte, Carsten könnte mich jetzt sehen! Aber leider musste ich ihn bis auf weiteres in München zurücklassen. Jedenfalls so lange, bis er einen neuen Job in Hamburg gefunden hat und mir hinterherziehen kann. Was hoffentlich bald sein wird ...
Prompt wandern meine Gedanken zu Carsten ab, während ich brav hinter Herrn Steinfeld hertrotte. »Muss das denn unbedingt sein?«, meinte mein Freund, als ich ihm im Sommer erzählte, dass die Fürstenberg-Gruppe mich in die engere Wahl für den Direktorenposten des Hamburger Hauses in Betracht ziehen würde. Dr. Hubert Wiedemeyer, Deutschlandchef und mein persönlicher Mentor, hatte mir in einem Vieraugengespräch erklärt, dass meine Chancen in der Tat ausgezeichnet seien.
»Wenn ich die Stelle bekomme - ja, dann muss es sein«, lautete meine Antwort.
»Aber warum bieten sie dir nicht einfach die Leitung in München an? Hotel ist doch Hotel!«
»Zum einen hat das Münchener Fürstenberger erst seit einem Jahr einen neuen Direktor. Und außerdem ist das nun einmal so in dieser Branche. Wer aufsteigen will, muss die Stadt und oft sogar das Land wechseln.«
»Toll, und ich darf hinterherziehen! «, maulte er.
»Das haben wir mal so ausgemacht, erinnerst du dich? Beim nächsten Stellenwechsel bin ich dran, hast du damals gesagt. Schließlich habe ich vor acht Jahren für dich auf den Job in Singapur verzichtet.«
»Für uns«, korrigierte Carsten mich prompt. »Für uns hast du das getan. Und für die Familie, die wir gründen wollten.« In dem Moment, in dem er das sagte, tat es ihm offenbar schon wieder leid. »Entschuldige«, schob er schnell hinterher. »So war das nicht gemeint.«
»Doch, so war's gemeint«, erwiderte ich, wobei ich ihn aber gleichzeitig versöhnlich anlächelte. »Aber es hat nun einmal nicht geklappt mit Kindern, das ist nicht zu ändern.«
Nachdem sowohl Carsten als auch ich einige Jahre kreuz und quer durch die Welt gereist waren - er als Wirtschaftsprüfer, ich durch alle möglichen Hotels und alle möglichen Bereiche - und uns mehr oder weniger nur ein paar Tage im Monat sehen konnten, wollten wir endlich unser gemeinsames Leben beginnen. Also zogen wir zusammen nach München, wo Carsten bei einer großen Unternehmensberatung und ich im Royal Fürstenberger anfangen konnte. Ich war damals achtundzwanzig, Carsten fast dreißig - genau der richtige Zeitpunkt, um ein paar niedliche Kinder in die Welt zu setzen und für eine Weile Erziehungsurlaub zu nehmen.
Wir versuchten wirklich alles, ich rannte von einem Arzt zum nächsten, in die Kinderwunschklinik, zu diversen Heilpraktikern, aber ich wurde einfach nicht schwanger. Mit dreißig gab ich dann frustriert auf - und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf meine Karriere. Wenn ich schon kein Baby bekam, dann wollte ich diese Unabhängigkeit dazu nutzen, beruflich richtig durchzustarten. Mit Erfolg: Zuerst leitete ich den Empfang, wurde dann Reservierungschefin und unter dem neuen Direktor sogar Stellvertreterin - tja, und jetzt bin ich also hier. Natürlich auch dank Wiedemeyer, wie er mir gegenüber immer wieder betont. »Frau Christiansen«, teilte er mir in unserem letzten Gespräch gewichtig mit. »Ich habe mich sehr für Sie eingesetzt. Sie sind nun die erste weibliche Direktorin in einem deutschen Fürstenberger. Enttäuschen Sie mich nicht!«
»Keine Sorge«, hatte ich erwidert. »Das habe ich nicht vor. Sie werden sehen, dass Sie in mir genau die richtige Frau für den Job gefunden haben.« Mittlerweile hat Carsten sich auch an den Gedanken gewöhnt und schon jede Menge Bewerbungen in Hamburg laufen. Müsste wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht bald etwas ergeben würde.
»Am Sonntag«, unterbricht Peer Steinfeld meine Gedanken, »lernen Sie dann die gesamte Belegschaft kennen. Wir haben eine kleine Nachmittagsveranstaltung geplant.«
»Sehr schön.«
»Immerhin haben wir gut hundert Mitarbeiter, die Aushilfen nicht mit eingerechnet.« Er bleibt kurz stehen und mustert mich intensiv. »Es ist ein großes Haus, Frau Christiansen, aber ich denke, das werden Sie schon schaffen.«
»Das denke ich auch«, erwidere ich mit einem strahlenden Lächeln, obwohl in seinem Ton ein Hauch von »Na, mal sehen, ob die das wuppt!« mitschwingt. Typisch Kerl, kann sich nicht vorstellen, dass eine Frau seine würdige Nachfolgerin sein kann. Aber dem werde ich es schon noch zeigen! Das heißt, ihm persönlich wohl eher nicht, nächste Woche macht Steinfeld sich nach Hongkong davon, wo er die Leitung des dortigen Royal Fürstenberger übernehmen wird. Bis Montag soll er mich kurz mit den Mitarbeitern und den wichtigsten Abläufen vertraut machen, eine Aufgabe, die er offenbar gern übernimmt, denn jetzt erklärt er mir mit großspuriger Geste: »Dort drüben ist die Rezeption.«
»Ach was, so sieht eine Rezeption also aus?«, liegt mir auf der Zunge, aber im Job habe ich mir angewöhnt, meine spontane Seite zu unterdrücken. Als jüngere Frau muss man gelegentlich darauf pochen, wirklich ernst genommen zu werden, da ist die Rolle des Klassenclowns nicht eben hilfreich. Also sage ich nichts und folge Peer Steinfeld weiter. Ich blicke an die Decke und bewundere den riesigen Kristallleuchter, der direkt über uns baumelt. Mein Vorgänger bemerkt meinen Blick. »Wir haben eine Reinigungsfirma, die sich einmal im Monat um die Kronleuchter kümmert. Ansonsten wird hier natürlich täglich gesaugt und geputzt, aber ich habe Ihnen bereits ein Mappe zusammengestellt, in der alles steht.«
»Sehr gut«, bedanke ich mich. Dann nicke ich den zwei Damen zu, die hinter der Rezeption stehen und uns mit unverhohlener Neugierde mustern. Beide tragen die Hotel-Livree, ein schmal geschnittenes, nachtblaues Kostüm mit goldenen Reversknöpfen. Als Direktorin werde ich diese Uniform glücklicherweise nicht tragen müssen, ich fühle mich in so etwas immer irgendwie verkleidet. Ein schlichter, grauer Hosenanzug, wie ich ihn heute Morgen angezogen habe, die langen blonden Haare ordentlich hochgesteckt - eben ganz business woman.
»Meine Damen«, ruft Peer Steinfeld den zwei Frauen zu, als er mit mir vor der Rezeption stehen bleibt. »Darf ich vorstellen: Das ist Svenja Christiansen, meine Nachfolgerin.«
»Angenehm«, sage ich und schüttele der Frau links hinterm Tresen die Hand.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Anne Hertz
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Hertz
- 477 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006443
- ISBN-13: 9783868006445
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