Verschlungene Wege
Roman
Reece Gilmore ist auf der Flucht: vor der Erinnerung und vor sich selbst. Aber je länger sie unterwegs ist, desto größer wird ihre Angst, niemals vergessen zu können. Als sie sich endlich in einem Dorf in Wyoming dem einfühlsamen Schriftsteller Brody...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Verschlungene Wege “
Reece Gilmore ist auf der Flucht: vor der Erinnerung und vor sich selbst. Aber je länger sie unterwegs ist, desto größer wird ihre Angst, niemals vergessen zu können. Als sie sich endlich in einem Dorf in Wyoming dem einfühlsamen Schriftsteller Brody anvertraut, glaubt sie, zur Ruhe zu kommen. Doch die Vergangenheit holt sie schon bald wieder ein ...Reece Gilmore landet eher unfreiwillig in dem kleinen Touristenort in Wyoming. Aber durch die herzliche Aufnahme der Dorfbewohner verspürt die Achtundzwanzigjährige nach einer monatelangen ziellosen Reise endlich wieder so etwas wie Heimatgefühle. Nur die Albträume und die Erinnerung an das, was sie in Boston erleben musste, lassen sie nicht los. Ihre Angst steigert sich noch, als sie auf einer einsamen Bergwanderung Zeugin eines Mordes wird. Doch eine Leiche wird nie gefunden und niemand außer dem Einzelgänger Brody glaubt ihr. Der zurückgezogen lebende Schriftsteller will Reece helfen, doch wie soll sie ihm klarmachen, dass sie sich vonjemandem aus ihrer Vergangenheit verfolgt fühlt? Reece zweifelt immer mehr an ihrem Verstand und erkennt nicht, dass sie tatsächlich in Gefahr ist ...
Klappentext zu „Verschlungene Wege “
Raue Landschaft, leidenschaftliche GefühleReece Gilmore ist auf der Flucht: vor der Erinnerung und vor sich selbst. Aber je länger sie unterwegs ist, desto größer wird ihre Angst, niemals vergessen zu können. Als sie sich endlich in einem Dorf in Wyoming dem einfühlsamen Schriftsteller Brody anvertraut, glaubt sie, zur Ruhe zu kommen. Doch die Vergangenheit holt sie schon bald wieder ein ...
Lese-Probe zu „Verschlungene Wege “
Reece Gilmore fuhr mit ihrem qualmenden, überhitzten Chevy Cavalier durch das bergige Gelände von Angel's Fist. Sie besaß noch hundertdreiundvierzig Dollar und ein paar Zerquetschte. Das dürfte gerade noch reichen, um den Wagen reparieren zu lassen und ihn und sich mit neuer Energie zu versorgen. Wenn sie Glück hatte und der Chevy nicht ernsthaft kaputt war, blieb ihr gerade noch genügend Geld übrig, um sich ein Zimmer zu nehmen.Aber dann wäre sie auf jeden Fall pleite.
Sie nahm den Dampf, der unter der Motorhaube hervorqualmte, als Zeichen, dass es höchste Zeit war, ihre Reise zu unterbrechen und sich einen Job zu suchen.
Was soll's, kein Problem, redete sie sich ein. Der kleine Ort in Wyoming, der sich an das kalte, blaue Gewässer eines Sees schmiegte, war so gut wie jeder andere. Vielleicht sogar besser. Er engte sie nicht ein mit seinem endlosen Himmel, in den die schneebedeckten Gipfel der Tetons hineinragten wie kühl-distanzierte Götter.
Sie war vor Tagesanbruch losgefahren und seit mehreren Stunden schon hatte sie sich bereits ziellos durch die Anselm-Adams-Postkartenlandschaft geschlängelt. Sie hatte Coy passiert, war durch Dubois gefahren - und obwohl sie mit dem Gedanken gespielt hatte, einen Abstecher nach Jackson Hole zu machen, war sie nach Süden abgebogen.
Irgendetwas musste sie ausgerechnet hier hingeführt haben. Während der letzten acht Monate hatte sie sich vorwiegend von Schildern und ihrem Instinkt leiten lassen. Vorsicht Kurve, Rutschgefahr bei Nässe. Nett, dass sich jemand die Mühe machte, solche Warnschilder aufzustellen.
Wenn das Sonnenlicht auf eine bestimmte Weise auf eine Nebenstraße schien oder eine Wetterfahne nach Süden zeigte, interpretierte sie das ebenfalls als Hinweis.
Gefiel ihr das Sonnenlicht oder die Wetterfahne, fuhr sie in die entsprechende Richtung, bis sie einen Ort fand, der zu diesem Zeitpunkt gerade richtig erschien. Dort blieb sie ein paar Wochen oder, wie in South Dakota, einige Monate. Sie suchte
... mehr
sich irgendeinen Job, sah sich die Gegend an und zog weiter, sobald sie Hinweise oder ihr Instinkt veranlassten, eine neue Richtung einzuschlagen.
Diese Lebensweise gab ihr ein Gefühl von Freiheit und führte dazu, dass die Angst, die zu ihrem ständigen Begleiter geworden war, ein wenig nachließ, was deutlich häufiger der Fall war. Die letzten Monate, in denen sie ganz auf sich selbst gestellt war, hatten ihr mehr geholfen als ein geschlagenes Jahr Therapie.
Doch wenn sie ehrlich war, hatte ihr die Therapie überhaupt erst dazu verholfen, wieder mit sich klarzukommen. Und zwar Tag für Tag aufs Neue, Nacht für Nacht. Und die vielen Stunden, die dazwischenlagen.
Und hier, in der geballten Faust von Angel's Fist, wartete ein weiterer Neuanfang auf sie.
Zumindest konnte sie hier ein paar Tage den See und die Berge genießen und genügend Geld verdienen, um ihre Weiterfahrt zu sichern. Ein Ort wie dieser, der laut Ortsschild sechshundertzweiunddreißig Einwohner hatte, lebte sicherlich hauptsächlich vom Tourismus, von der schönen Landschaft und dem nahegelegenen Nationalpark.
Ein Hotel gab es hier bestimmt, wahrscheinlich noch ein paar Bed & Breakfasts und unter Umständen eine Ferienranch im näheren Umkreis. Es könnte Spaß machen, auf einer Ferienranch zu arbeiten. Dort wurde immer jemand für Botengänge, Aufräum- und Putzarbeiten gebraucht - vor allem jetzt, wo das Frühlingstauwetter den Winter endlich zu vertreiben schien.
Doch da ihr Wagen mittlerweile noch heftigere, verzweifelte Rauchsignale von sich gab, brauchte sie zuallererst einmal einen Automechaniker.
Sie tuckerte die Straße entlang, die sich wie ein Band um den lang gestreckten, breiten See wand. Im Schatten bildeten Schneereste schmutzig weiße Pfützen. Die Bäume hatten immer noch keine Blätter, aber es waren bereits einige Boote auf dem Wasser. Sie konnte ein paar Männer mit Windjacken und Baseballkappen in einem weißen Kanu erkennen, die durch die sich im Wasser spiegelnden Berge paddelten. Das Bild war so klar, dass sie hochblickte und beinahe erwartete, dass sich auch das Kanu in den Bergen spiegelte.
Auf der anderen Seite des Sees konnte sie das Ortszentrum ausmachen: ein Souvenirladen, eine kleine Galerie. Sie erkannte eine Bank und eine Post. Das Büro des Sheriffs.
Sie verließ den See und brachte ihren ächzenden Wagen vor einer Art großen Scheune zum Stehen, in der ein Gemischtwarenladen untergebracht war. Davor saßen ein paar Männer in Flanellhemden auf wetterfesten Stühlen, von denen man eine schöne Aussicht auf den See hatte.
Sie nickten ihr zu, als sie den Motor abstellte und ausstieg. Der am weitesten rechts saß, tippte sich an den Schirm seiner blauen Baseballkappe, auf der der Name des Ladens stand: Mac's Mercantile and Grocery.
"Sieht ganz so aus, als hätten Sie Schwierigkeiten, Lady."
"Und ob. Wissen Sie, wer mir da weiterhelfen kann?"
Der Mann stemmte die Hände auf die Oberschenkel und erhob sich von seinem Stuhl. Er war kräftig gebaut, hatte braune Augen und freundliche Lachfältchen in seinem verwitterten Gesicht. Er sprach langsam und gedehnt.
"Warum öffnen wir nicht einfach die Motorhaube und sehen mal nach?"
"Das wäre nett." Nachdem sie den Hebel gedrückt hatte, klappte er die Motorhaube hoch und trat wegen des Qualms gleich einen Schritt zurück. Irgendwie fand Reece das Ganze eher peinlich als beängstigend. "Das hat vor ungefähr zehn Kilometern angefangen. Ich hab nicht genau darauf geachtet, weil ich nur Augen für die Landschaft hatte."
"Wundert mich nicht. Wollen Sie in den Nationalpark?"
"Das hatte ich ursprünglich vor. Oder so was in der Art." Aber sicher war sie sich da nicht. Im Grunde war sie sich bei nichts wirklich sicher, dachte sie. Sie versuchte sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, anstatt in Gedanken zurück- oder vorauszueilen. "Aber ich fürchte, mein Wagen hatte andere Pläne."
Sein Freund trat neben ihn, und die beiden Männer sahen unter die Motorhaube, wie das nur Männer können. Mit wissendem Blick und gerunzelter Stirn. Sie tat es ihnen gleich, auch wenn ihr klar war, wie lächerlich das wirken musste. Eine Frau, die einen Blick unter die Motorhaube wirft, ist wie ein Wesen von einem anderen Planeten.
"Der Kühlerschlauch ist kaputt", sagte er. "Den werden Sie wohl ersetzen müssen."
Das klang zum Glück recht harmlos, nach keiner teuren Reparatur.
"Gibt es hier irgendwo eine Werkstatt, die das für mich erledigen kann?"
"Lynt wird Ihnen das reparieren. Wenn Sie mögen, ruf ich schnell dort für Sie an."
"Sie sind meine Rettung." Sie schenkte ihm ein Lächeln und gab ihm die Hand - was ihr bei Fremden noch am leichtesten fiel. "Ich bin Reece, Reece Gilmore."
"Mac Drubber. Und das hier ist Carl Sampson."
"Sie stammen von der Ostküste, stimmt's?", fragte Carl. Er sah aus wie ein gut erhaltener Mittfünfziger und hatte eine Spur indianisches Blut in sich.
"Ja. Aus der Nähe von Boston. Vielen Dank für Ihre Hilfe."
"Ist doch nur ein Anruf", sagte Mac. "Sie können sich hier aufwärmen oder einen Spaziergang machen. Es kann eine Weile dauern, bis Lynt auftaucht."
"Ich würde gern einen kurzen Spaziergang machen, wenn Sie nichts dagegen haben. Vielleicht wissen Sie ja eine nette Unterkunft für mich. Nichts Besonderes."
"Weiter unten liegt das Lakeview Hotel. Das Teton House auf der anderen Seite des Sees ist gemütlicher. Mehr so was wie ein Bed & Breakfast. Und dann gibt es noch Ferienhäuser am See oder außerhalb des Orts, die man wochen- oder monatsweise mieten kann."
Sie dachte nicht mehr in Monaten. Ein Tag, das war schon Herausforderung genug. Und gemütlich klang ihr zu privat. "Vielleicht schau ich mir mal das Hotel an."
"Das ist ein ganz schönes Stück zu Fuß. Ich könnte Sie fahren."
"Ich saß schon den ganzen Tag im Auto. Ein Spaziergang wird mir gut tun. Trotzdem - vielen Dank, Mr. Drubber."
"Ganz wie Sie wollen." Er blieb noch eine Weile stehen, während sie den Bürgersteig entlanglief. "Ein hübsches Ding", bemerkte er.
"An der ist doch nichts dran." Carl schüttelte den Kopf. "Heutzutage hungern sich die Frauen alle Kurven weg."
Sie hatte sich nicht heruntergehungert, sondern versuchte im Gegenteil zuzunehmen, was sie während der letzten Jahre abgenommen hatte. Sie war einmal fit und schlank gewesen, danach einfach nur dürr. Jetzt konnte man sie immerhin als so was wie schlaksig bezeichnen. Zu viele Ecken und Kanten, zu viele Knochen. Wenn sie sich auszog, kam ihr ihr Körper jedes Mal fremd vor.
Sie selbst hielt sich nicht für ein hübsches Ding. Nicht mehr. Früher hatte sie sich durchaus für hübsch gehalten - für schick und sexy, wenn sie es darauf anlegte. Aber jetzt war ihr Gesicht viel zu hart und hohlwangig. Die schlaflosen Nächte wurden weniger, aber wenn sie zurückkehrten, hinterließen sie tiefe Augenringe und verliehen ihr einen fahlen, grauen Teint.
Sie wollte endlich wieder sie selbst sein.
Sie ließ sich treiben, ihre ausgelatschten Turnschuhe machten so gut wie kein Geräusch auf dem Bürgersteig. Sie hatte gelernt, langsam zu gehen, sich zur Ruhe zu mahnen und die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Sie bemühte sich, jeden Moment zu genießen.
Eine kühle Brise streifte ihr Gesicht, wehte durch ihr langes braunes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Das fühlte sich gut an und roch auch so: frisch und sauber. Ihr gefiel das harte Licht, das sich über die Tetons ergoss und auf dem Wasser glitzerte.
Durch die nackten Weiden- und Pappelzweige konnte sie einige der Ferienhäuser erkennen, die Mac erwähnt hatte. Sie duckten sich hinter den Bäumen: Holzbalken, Glas, breite Veranden und mit Sicherheit eine fantastische Aussicht.
Es wäre schön, auf einer dieser Veranden zu sitzen und den See und die Berge zu betrachten, zu sehen, welche Tiere hier in den Sümpfen lebten, aus denen das Schilf aufragte. Es wäre schön, diese Weite zu genießen, diese Stille.
Irgendwann einmal, dachte sie. Aber nicht heute.
Sie entdeckte grüne Narzissensprosse in einem halben Whiskeyfass neben der Eingangstür zu einem Restaurant. Die zitterten zwar ein wenig in der kalten Brise, kündigten aber nichtsdestotrotz den Frühling an. Frühling heißt Neubeginn. Vielleicht würde er ihr ja auch zu einem Neubeginn verhelfen.
Sie blieb stehen, um die zarten Sprosse zu bewundern. Es war tröstlich zu erleben, wie nach einem langen Winter die Natur wieder erblühte. Schon bald würde es weitere Frühlingsboten geben. In ihrem Reiseführer war von unendlich vielen Wildblumen auf den Salbeiwiesen die Rede gewesen und von weiteren entlang der Seen und Tümpel.
Sie war bereit, ebenfalls aufzublühen.
Dann fasste sie das große Panoramafenster des Restaurants ins Auge. Eher ein Diner als ein Restaurant, erkannte sie. Ein Tresen, Zweier- und Vierertische, Nischen, alles in einem verblassten Rotweiß. In der Vitrine standen Torten und Kuchen, und die Küche war einsehbar. Mehrere Kellnerinnen eilten mit Tabletts und Kaffeekannen hin und her.
Mittagsbetrieb. Sie hatte völlig vergessen, etwas zu essen. Sobald sie sich das Hotel angesehen hätte, würde sie ...
Dann sah sie den handgeschriebenen Zettel im Fenster:
Koch gesucht
Bitte im Restaurant nachfragen
Wegweiser, dachte sie erneut, obwohl sie instinktiv einen Schritt zurückgemacht hatte. Sie blieb, wo sie war, und musterte das Lokal sorgfältig durch die Scheibe. Eine offene Küche, sagte sie sich, das war wichtig. Diner-Essen - etwas, das sie im Schlaf zubereiten konnte. Zumindest früher einmal hatte sie das gekonnt.
Das Hotel suchte bestimmt Personal, jetzt, wo die Feriensaison begann. Oder vielleicht brauchte Mr. Drubber eine Aushilfe für seinen Laden.
Aber der Zettel hing direkt vor ihrer Nase, ihr Auto hatte ausgerechnet diesen Ort angesteuert, ihre Schritte hatten sie bis hierher geführt, wo die Narzissen beim ersten Hauch von Frühling aus dem Matsch sprossen.
Sie lief zum Restauranteingang zurück, holte tief Luft und öffnete die Tür.
Gebratene Zwiebeln, gegrilltes Fleisch - vermutlich Wild -, starker Kaffee, eine Jukebox mit Countrymusic, Geschnatter an den Tischen.
Saubere rote Böden, ein weiß gescheuerter Tresen. Die wenigen noch freien Tische waren fürs Mittagessen eingedeckt. Fotos, die gar nicht mal so schlecht waren, zierten die Wände. Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Sees, das klare Wasser und die Berge zu jeder Jahreszeit.
Sie rang immer noch um Fassung, nahm ihren ganzen Mut zusammen, als eine der Kellnerinnen vorbeirauschte. "Guten Tag. Wenn Sie hier zu Mittag essen wollen, dürfen Sie gern an einem der Tische oder am Tresen Platz nehmen."
"Ehrlich gesagt würde ich gern mit dem Besitzer oder der Besitzerin sprechen. Wegen des Zettels im Fenster. Koch gesucht."
Die Kellnerin blieb stehen, das Tablett immer noch in der Hand. "Sind Sie Köchin?"
Früher einmal hätte Reece auf diese Berufsbezeichnung empfindlich reagiert - selbstverständlich, ohne aus der Rolle zu fallen, aber trotzdem. "Ja."
"Das ist praktisch, weil Joanie den letzten Koch vor ein paar Tagen gefeuert hat." Die Kellnerin führte eine Hand an die Lippen und tat, als trinke sie.
"Verstehe."
"Er bekam den Job im Februar, als er bei uns im Ort nach Arbeit suchte. Angeblich hatte er zu Jesus gefunden und wollte die Frohe Botschaft verkünden." Sie legte den Kopf schräg und strahlte Reece aus ihrem hübschen Gesicht an. "Das hat er dann auch, aber er war wie ein Jünger auf Crack. Sein Gelaber war unerträglich. Und dann fand er auch noch zum Alkohol, das war's dann. Tja. Warum setzt du dich nicht direkt an den Tresen. Ich seh mal nach, ob Joanie einen Moment aus der Küche kommen kann. Wie wär's mit einem Kaffee?"
"Tee, wenn's geht."
"Kommt sofort."
Sie musste den Job ja nicht nehmen, beruhigte sich Reece, während sie auf den verchromten, mit Leder bezogenen Hocker glitt und sich die feuchten Hände an ihrer Jeans abtrocknete. Selbst wenn sie das Angebot bekam, konnte sie immer noch Nein sagen. Sie konnte weiterhin als Zimmermädchen in Hotels arbeiten oder sich nach einer Ferienranch umsehen.
Die Jukebox wechselte die Platte, und Shania Twain verkündete begeistert: "I Feel Like a Woman!"
Die Kellnerin klopfte einer kleinen, robusten Frau am Grill auf die Schulter und beugte sich zu ihr. Kurz darauf drehte sich die Frau um, fing Reeces Blick auf und nickte ihr zu. Die Kellnerin kehrte mit einer weißen, mit heißem Wasser gefüllten Tasse zum Tresen zurück, auf deren Untertasse ein Lipton-Teebeutel lag.
"Joanie kommt gleich. Möchtest du was zu Mittag essen? Heute gibt's Hackbraten. Mit Kartoffelbrei, grünen Bohnen und Brot."
"Nein, danke, der Tee reicht mir." Mehr würde sie sowieso nicht hinunterbekommen, weil ihr vor lauter Nervosität ganz schlecht war. Panik drohte erneut von ihr Besitz zu ergreifen, sie spürte schon dieses beklemmende Gefühl in der Brust.
Ich sollte einfach gehen, dachte Reece. Jetzt sofort, zurück zum Wagen und schauen, dass der Kühlerschlauch ausgetauscht wird. Zum Teufel mit den Wegweisern!
Joanie hatte ihr blondes Haar nachlässig hochgesteckt und sich eine weiße, fettbespritzte Metzgerschürze um die Taille gebunden. Dazu trug sie knöchelhohe rote Converse. Während sie aus der Küche kam, wischte sie sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie musterte Reece mit einem stählernen Blick, ihre Augen waren eher grau als blau.
"Kannst du kochen?" Ein Raucherhusten ließ die barsche Frage merkwürdig sinnlich klingen.
"Ja."
"Hauptberuflich oder einfach nur, um was in den Magen zu kriegen?"
"Dasselbe habe ich daheim in Boston gemacht - hauptberuflich." Nervös riss Reece die Teebeutelverpackung auf. Joanie hatte volle Lippen, fast schon einen Amorbogen, die mit ihrem kühlen Blick kontrastierten. Außerdem bemerkte Reece eine alte, verblasste Narbe, die von ihrem linken Ohr den Kiefer entlang bis zum Kinn führte.
"Boston." Wie abwesend stopfte Joanie das Geschirrtuch unter das Schürzenband. "Nicht gerade der nächste Weg."
"Nein."
"Weiß nicht, ob ich eine Köchin von der Ostküste will, die keine fünf Minuten stillhalten kann."
Reece war erst einmal sprachlos. Dann sagte sie mit einem ironischen Lächeln: "Ich weiß, dass ich schrecklich nervös sein kann."
"Was willst du hier?"
"Ich bin unterwegs. Mein Auto ist kaputt gegangen. Ich brauche einen Job."
"Irgendwelche Referenzen?"
Ihr Herz zog sich zusammen, ballte sich schmerzhaft zu einem klebrigen Klumpen. "Ich kann welche besorgen."
Joanie rümpfte die Nase und deutete missbilligend in Richtung Küche. "Ab mit dir in die Schürze. Die nächste Bestellung ist ein Steaksandwich, medium, mit gebratenen Zwiebeln, Pilzen, Pommes und Krautsalat. Wenn Dick nicht tot umfällt, nachdem er dein Essen intus hat, hast du den Job."
"In Ordnung." Reece erhob sich von ihrem Barhocker, bemühte sich, langsam und gleichmäßig weiterzuatmen, und ging durch die Schwingtüren am Ende des Tresens.
Im Gegensatz zu Joanie hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie die Teebeutelverpackung in lauter kleine Fetzen zerrissen hatte.
Die Ausstattung war schlicht, aber effizient. Ein großer Grill, ein Profiherd, Kühlschrank, Gefriertruhe. Stauraum, Spülen, Arbeitsflächen, eine Doppelfritteuse, Dampfabzug. Während sie sich eine Schürze umband, stellte ihr Joanie die benötigten Zutaten hin.
"Danke." Reece schrubbte sich die Hände und ging an die Arbeit. Bloß nicht nachdenken, ermahnte sie sich. Locker bleiben. Sie brutzelte das Steak auf dem Grill, während sie Zwiebeln und Pilze klein hackte. Sie gab die vorgeschnittenen Kartoffeln in den Korb der Fritteuse und stellte die Uhr.
Ihre Hände zitterten nicht, und obwohl sie einen Druck in der Brust spürte, sah sie sich nicht um, ob die Wände bereits näher gerückt waren.
Sie lauschte auf die Musik der Jukebox, des Grills, der Fritteuse.
Joanie knallte ihr die nächste Bestellung hin. "Einmal Bohnensuppe - die ist in dem Topf hier -, dazu gehören Cracker."
Reece nickte nur, warf die Pilze und Zwiebeln auf den Grill und machte währenddessen die zweite Bestellung zurecht.
"Nächste Bestellung!", rief Joanie und warf ihr einen neuen Zettel hin.
"Ein Reuben-Sandwich, ein Club-Sandwich, zwei Beilagensalate."
Reece arbeitete eine Bestellung nach der anderen ab, ließ einfach alles auf sich zukommen. Die Atmosphäre, die Gerichte mochten anders sein, aber der Rhythmus war derselbe. Immer schön weitermachen, immer in Bewegung bleiben.
Sie richtete die erste Bestellung an und drehte sich um, damit Joanie sie begutachten konnte.
"Ab damit", befahl die. "Los, die nächste Bestellung. Wenn wir in der nächsten halben Stunde nicht den Arzt rufen müssen, bist du eingestellt. Über deinen Verdienst und die Schichten reden wir später."
"Ich muss ..."
"Mach die nächste Bestellung", schnitt ihr Joanie das Wort ab. "Ich geh eine rauchen."
Reece arbeitete weitere anderthalb Stunden, bis es etwas ruhiger wurde, sie dem heißen Herd den Rücken zukehren und eine Flasche Wasser in sich hineinkippen konnte. Als sie sich wieder umdrehte, saß Joanie am Tresen und trank Kaffee.
"Keiner ist tot umgefallen", sagte sie.
"Puh. Geht es hier immer so zu?"
"Ein typischer Samstagmittag. Der Laden läuft gut. Für den Anfang bekommst du acht Dollar die Stunde. Wenn du mir die nächsten zwei Wochen keine Schande machst, leg ich noch einen obendrauf. Außer uns arbeitet noch eine Halbtagskraft am Grill, sieben Tage die Woche. Du bekommst mehr oder weniger zwei freie Tage. Den Schichtplan mach ich eine Woche im Voraus. Geöffnet wird um halb sieben, das heißt, deine erste Schicht beginnt um sechs. Es gibt den ganzen Tag Frühstück, Mittagessen von elf bis ultimo, Abendessen von fünf bis zehn.
Wenn du eine Vierzigstundenwoche willst, lässt sich das einrichten. Ich bezahle keine Überstunden. Falls du am Grill festsitzt und länger bleiben musst, ziehen wir das von deinen Stunden in der nächsten Woche ab. Irgendwelche Einwände?"
"Nein."
"Wenn du während der Arbeit trinkst, fliegst du auf der Stelle raus."
"Verstehe."
"Du kannst so viel Kaffee, Wasser oder Tee trinken, wie du willst. Alkoholfreie Getränke musst du zahlen. Dasselbe gilt fürs Essen. Hier gibt's keine Gratismahlzeiten. So wie's aussieht, wirst du mir ohnehin nicht die Haare vom Kopf fressen, sobald ich mich umdrehe. Dürr, wie du bist."
"Stimmt."
"Wer die letzte Schicht hat, macht Grill und Herd sauber und schließt den Laden ab."
"Das kann ich auf keinen Fall machen", unterbrach sie Reece. "Den Laden kann ich nicht für Sie zumachen. Ich kann morgens aufmachen, und ich übernehme jede Schicht. Ich arbeite sogar Doppelschichten, wenn's sein muss, oder halbe Schichten. Ich bin flexibel und habe auch nichts dagegen, mehr als vierzig Stunden die Woche zu arbeiten. Aber den Laden kann ich nicht für Sie schließen, tut mir leid."
Joanie hob die Brauen und trank ihren Kaffee aus. "Angst vor der Dunkelheit?"
"Stimmt genau. Wenn das Schließen des Lokals zum Job gehört, muss ich mir was anderes suchen."
"Das kriegen wir schon hin. Wir müssen noch ein paar amtliche Formulare ausfüllen, aber das kann warten. Dein Auto ist bereits repariert und steht vor Macs Laden." Joanie lächelte. "Hier spricht sich alles rum, und ich hab mein Ohr direkt an der Quelle. Wenn du was zu Wohnen brauchst: Ich hab ein Apartment über dem Diner, das ich dir vermieten kann. Nichts Großartiges, aber es hat eine schöne Aussicht und ist sauber."
"Danke, aber fürs Erste geh ich ins Hotel. Wir sollten es erst mal ein paar Wochen miteinander probieren und sehen, wie's läuft."
"Fernweh."
"So was Ähnliches."
"Ganz wie du willst." Joanie stand schulterzuckend auf und ging mit ihrer Kaffeetasse auf die Schwingtüren zu. "Geh los und hol dein Auto, such dir eine Unterkunft. Um vier bist du zurück."
Leicht benommen ging Reece hinaus. Sie hatte wieder in einer Küche gearbeitet, und zwar ohne Probleme. Sie hatte sich wohl gefühlt. Nachdem sie das geschafft hatte, war ihr ein wenig schwindlig, aber das war schließlich ganz normal - oder etwa nicht? Immerhin hatte sie einfach so aus dem Stand einen Job gefunden, einen Job, den sie noch dazu gelernt hatte. Einen Job, den sie seit gut zwei Jahren nicht mehr hatte ausüben können.
Mit dem Rückweg zum Auto ließ sie sich bewusst Zeit, um das Ganze erst einmal zu verdauen.
Als sie den Gemischtwarenladen betrat, befestigte Mac gerade ein Werbeplakat mit Sonderangeboten an der Ladentheke, direkt gegenüber der Tür. Alles war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Hier gab es ein bisschen was von allem - Kühlboxen für Fleisch und Gemüse, Regale mit Lebensmitteln, eine Abteilung mit Werkzeug, Haushaltsgeräten, Angelbedarf, Munition.
Ein paar Liter Milch und eine Schachtel Kugeln gefällig? In diesem Fall war man hier goldrichtig.
Als Mac fertig war, näherte sie sich der Ladentheke.
"Jetzt dürfte Ihr Auto wieder funktionieren", meinte Mac."Hab schon gehört, danke noch mal. Wie zahle ich?"
Diese Lebensweise gab ihr ein Gefühl von Freiheit und führte dazu, dass die Angst, die zu ihrem ständigen Begleiter geworden war, ein wenig nachließ, was deutlich häufiger der Fall war. Die letzten Monate, in denen sie ganz auf sich selbst gestellt war, hatten ihr mehr geholfen als ein geschlagenes Jahr Therapie.
Doch wenn sie ehrlich war, hatte ihr die Therapie überhaupt erst dazu verholfen, wieder mit sich klarzukommen. Und zwar Tag für Tag aufs Neue, Nacht für Nacht. Und die vielen Stunden, die dazwischenlagen.
Und hier, in der geballten Faust von Angel's Fist, wartete ein weiterer Neuanfang auf sie.
Zumindest konnte sie hier ein paar Tage den See und die Berge genießen und genügend Geld verdienen, um ihre Weiterfahrt zu sichern. Ein Ort wie dieser, der laut Ortsschild sechshundertzweiunddreißig Einwohner hatte, lebte sicherlich hauptsächlich vom Tourismus, von der schönen Landschaft und dem nahegelegenen Nationalpark.
Ein Hotel gab es hier bestimmt, wahrscheinlich noch ein paar Bed & Breakfasts und unter Umständen eine Ferienranch im näheren Umkreis. Es könnte Spaß machen, auf einer Ferienranch zu arbeiten. Dort wurde immer jemand für Botengänge, Aufräum- und Putzarbeiten gebraucht - vor allem jetzt, wo das Frühlingstauwetter den Winter endlich zu vertreiben schien.
Doch da ihr Wagen mittlerweile noch heftigere, verzweifelte Rauchsignale von sich gab, brauchte sie zuallererst einmal einen Automechaniker.
Sie tuckerte die Straße entlang, die sich wie ein Band um den lang gestreckten, breiten See wand. Im Schatten bildeten Schneereste schmutzig weiße Pfützen. Die Bäume hatten immer noch keine Blätter, aber es waren bereits einige Boote auf dem Wasser. Sie konnte ein paar Männer mit Windjacken und Baseballkappen in einem weißen Kanu erkennen, die durch die sich im Wasser spiegelnden Berge paddelten. Das Bild war so klar, dass sie hochblickte und beinahe erwartete, dass sich auch das Kanu in den Bergen spiegelte.
Auf der anderen Seite des Sees konnte sie das Ortszentrum ausmachen: ein Souvenirladen, eine kleine Galerie. Sie erkannte eine Bank und eine Post. Das Büro des Sheriffs.
Sie verließ den See und brachte ihren ächzenden Wagen vor einer Art großen Scheune zum Stehen, in der ein Gemischtwarenladen untergebracht war. Davor saßen ein paar Männer in Flanellhemden auf wetterfesten Stühlen, von denen man eine schöne Aussicht auf den See hatte.
Sie nickten ihr zu, als sie den Motor abstellte und ausstieg. Der am weitesten rechts saß, tippte sich an den Schirm seiner blauen Baseballkappe, auf der der Name des Ladens stand: Mac's Mercantile and Grocery.
"Sieht ganz so aus, als hätten Sie Schwierigkeiten, Lady."
"Und ob. Wissen Sie, wer mir da weiterhelfen kann?"
Der Mann stemmte die Hände auf die Oberschenkel und erhob sich von seinem Stuhl. Er war kräftig gebaut, hatte braune Augen und freundliche Lachfältchen in seinem verwitterten Gesicht. Er sprach langsam und gedehnt.
"Warum öffnen wir nicht einfach die Motorhaube und sehen mal nach?"
"Das wäre nett." Nachdem sie den Hebel gedrückt hatte, klappte er die Motorhaube hoch und trat wegen des Qualms gleich einen Schritt zurück. Irgendwie fand Reece das Ganze eher peinlich als beängstigend. "Das hat vor ungefähr zehn Kilometern angefangen. Ich hab nicht genau darauf geachtet, weil ich nur Augen für die Landschaft hatte."
"Wundert mich nicht. Wollen Sie in den Nationalpark?"
"Das hatte ich ursprünglich vor. Oder so was in der Art." Aber sicher war sie sich da nicht. Im Grunde war sie sich bei nichts wirklich sicher, dachte sie. Sie versuchte sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, anstatt in Gedanken zurück- oder vorauszueilen. "Aber ich fürchte, mein Wagen hatte andere Pläne."
Sein Freund trat neben ihn, und die beiden Männer sahen unter die Motorhaube, wie das nur Männer können. Mit wissendem Blick und gerunzelter Stirn. Sie tat es ihnen gleich, auch wenn ihr klar war, wie lächerlich das wirken musste. Eine Frau, die einen Blick unter die Motorhaube wirft, ist wie ein Wesen von einem anderen Planeten.
"Der Kühlerschlauch ist kaputt", sagte er. "Den werden Sie wohl ersetzen müssen."
Das klang zum Glück recht harmlos, nach keiner teuren Reparatur.
"Gibt es hier irgendwo eine Werkstatt, die das für mich erledigen kann?"
"Lynt wird Ihnen das reparieren. Wenn Sie mögen, ruf ich schnell dort für Sie an."
"Sie sind meine Rettung." Sie schenkte ihm ein Lächeln und gab ihm die Hand - was ihr bei Fremden noch am leichtesten fiel. "Ich bin Reece, Reece Gilmore."
"Mac Drubber. Und das hier ist Carl Sampson."
"Sie stammen von der Ostküste, stimmt's?", fragte Carl. Er sah aus wie ein gut erhaltener Mittfünfziger und hatte eine Spur indianisches Blut in sich.
"Ja. Aus der Nähe von Boston. Vielen Dank für Ihre Hilfe."
"Ist doch nur ein Anruf", sagte Mac. "Sie können sich hier aufwärmen oder einen Spaziergang machen. Es kann eine Weile dauern, bis Lynt auftaucht."
"Ich würde gern einen kurzen Spaziergang machen, wenn Sie nichts dagegen haben. Vielleicht wissen Sie ja eine nette Unterkunft für mich. Nichts Besonderes."
"Weiter unten liegt das Lakeview Hotel. Das Teton House auf der anderen Seite des Sees ist gemütlicher. Mehr so was wie ein Bed & Breakfast. Und dann gibt es noch Ferienhäuser am See oder außerhalb des Orts, die man wochen- oder monatsweise mieten kann."
Sie dachte nicht mehr in Monaten. Ein Tag, das war schon Herausforderung genug. Und gemütlich klang ihr zu privat. "Vielleicht schau ich mir mal das Hotel an."
"Das ist ein ganz schönes Stück zu Fuß. Ich könnte Sie fahren."
"Ich saß schon den ganzen Tag im Auto. Ein Spaziergang wird mir gut tun. Trotzdem - vielen Dank, Mr. Drubber."
"Ganz wie Sie wollen." Er blieb noch eine Weile stehen, während sie den Bürgersteig entlanglief. "Ein hübsches Ding", bemerkte er.
"An der ist doch nichts dran." Carl schüttelte den Kopf. "Heutzutage hungern sich die Frauen alle Kurven weg."
Sie hatte sich nicht heruntergehungert, sondern versuchte im Gegenteil zuzunehmen, was sie während der letzten Jahre abgenommen hatte. Sie war einmal fit und schlank gewesen, danach einfach nur dürr. Jetzt konnte man sie immerhin als so was wie schlaksig bezeichnen. Zu viele Ecken und Kanten, zu viele Knochen. Wenn sie sich auszog, kam ihr ihr Körper jedes Mal fremd vor.
Sie selbst hielt sich nicht für ein hübsches Ding. Nicht mehr. Früher hatte sie sich durchaus für hübsch gehalten - für schick und sexy, wenn sie es darauf anlegte. Aber jetzt war ihr Gesicht viel zu hart und hohlwangig. Die schlaflosen Nächte wurden weniger, aber wenn sie zurückkehrten, hinterließen sie tiefe Augenringe und verliehen ihr einen fahlen, grauen Teint.
Sie wollte endlich wieder sie selbst sein.
Sie ließ sich treiben, ihre ausgelatschten Turnschuhe machten so gut wie kein Geräusch auf dem Bürgersteig. Sie hatte gelernt, langsam zu gehen, sich zur Ruhe zu mahnen und die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Sie bemühte sich, jeden Moment zu genießen.
Eine kühle Brise streifte ihr Gesicht, wehte durch ihr langes braunes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Das fühlte sich gut an und roch auch so: frisch und sauber. Ihr gefiel das harte Licht, das sich über die Tetons ergoss und auf dem Wasser glitzerte.
Durch die nackten Weiden- und Pappelzweige konnte sie einige der Ferienhäuser erkennen, die Mac erwähnt hatte. Sie duckten sich hinter den Bäumen: Holzbalken, Glas, breite Veranden und mit Sicherheit eine fantastische Aussicht.
Es wäre schön, auf einer dieser Veranden zu sitzen und den See und die Berge zu betrachten, zu sehen, welche Tiere hier in den Sümpfen lebten, aus denen das Schilf aufragte. Es wäre schön, diese Weite zu genießen, diese Stille.
Irgendwann einmal, dachte sie. Aber nicht heute.
Sie entdeckte grüne Narzissensprosse in einem halben Whiskeyfass neben der Eingangstür zu einem Restaurant. Die zitterten zwar ein wenig in der kalten Brise, kündigten aber nichtsdestotrotz den Frühling an. Frühling heißt Neubeginn. Vielleicht würde er ihr ja auch zu einem Neubeginn verhelfen.
Sie blieb stehen, um die zarten Sprosse zu bewundern. Es war tröstlich zu erleben, wie nach einem langen Winter die Natur wieder erblühte. Schon bald würde es weitere Frühlingsboten geben. In ihrem Reiseführer war von unendlich vielen Wildblumen auf den Salbeiwiesen die Rede gewesen und von weiteren entlang der Seen und Tümpel.
Sie war bereit, ebenfalls aufzublühen.
Dann fasste sie das große Panoramafenster des Restaurants ins Auge. Eher ein Diner als ein Restaurant, erkannte sie. Ein Tresen, Zweier- und Vierertische, Nischen, alles in einem verblassten Rotweiß. In der Vitrine standen Torten und Kuchen, und die Küche war einsehbar. Mehrere Kellnerinnen eilten mit Tabletts und Kaffeekannen hin und her.
Mittagsbetrieb. Sie hatte völlig vergessen, etwas zu essen. Sobald sie sich das Hotel angesehen hätte, würde sie ...
Dann sah sie den handgeschriebenen Zettel im Fenster:
Koch gesucht
Bitte im Restaurant nachfragen
Wegweiser, dachte sie erneut, obwohl sie instinktiv einen Schritt zurückgemacht hatte. Sie blieb, wo sie war, und musterte das Lokal sorgfältig durch die Scheibe. Eine offene Küche, sagte sie sich, das war wichtig. Diner-Essen - etwas, das sie im Schlaf zubereiten konnte. Zumindest früher einmal hatte sie das gekonnt.
Das Hotel suchte bestimmt Personal, jetzt, wo die Feriensaison begann. Oder vielleicht brauchte Mr. Drubber eine Aushilfe für seinen Laden.
Aber der Zettel hing direkt vor ihrer Nase, ihr Auto hatte ausgerechnet diesen Ort angesteuert, ihre Schritte hatten sie bis hierher geführt, wo die Narzissen beim ersten Hauch von Frühling aus dem Matsch sprossen.
Sie lief zum Restauranteingang zurück, holte tief Luft und öffnete die Tür.
Gebratene Zwiebeln, gegrilltes Fleisch - vermutlich Wild -, starker Kaffee, eine Jukebox mit Countrymusic, Geschnatter an den Tischen.
Saubere rote Böden, ein weiß gescheuerter Tresen. Die wenigen noch freien Tische waren fürs Mittagessen eingedeckt. Fotos, die gar nicht mal so schlecht waren, zierten die Wände. Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Sees, das klare Wasser und die Berge zu jeder Jahreszeit.
Sie rang immer noch um Fassung, nahm ihren ganzen Mut zusammen, als eine der Kellnerinnen vorbeirauschte. "Guten Tag. Wenn Sie hier zu Mittag essen wollen, dürfen Sie gern an einem der Tische oder am Tresen Platz nehmen."
"Ehrlich gesagt würde ich gern mit dem Besitzer oder der Besitzerin sprechen. Wegen des Zettels im Fenster. Koch gesucht."
Die Kellnerin blieb stehen, das Tablett immer noch in der Hand. "Sind Sie Köchin?"
Früher einmal hätte Reece auf diese Berufsbezeichnung empfindlich reagiert - selbstverständlich, ohne aus der Rolle zu fallen, aber trotzdem. "Ja."
"Das ist praktisch, weil Joanie den letzten Koch vor ein paar Tagen gefeuert hat." Die Kellnerin führte eine Hand an die Lippen und tat, als trinke sie.
"Verstehe."
"Er bekam den Job im Februar, als er bei uns im Ort nach Arbeit suchte. Angeblich hatte er zu Jesus gefunden und wollte die Frohe Botschaft verkünden." Sie legte den Kopf schräg und strahlte Reece aus ihrem hübschen Gesicht an. "Das hat er dann auch, aber er war wie ein Jünger auf Crack. Sein Gelaber war unerträglich. Und dann fand er auch noch zum Alkohol, das war's dann. Tja. Warum setzt du dich nicht direkt an den Tresen. Ich seh mal nach, ob Joanie einen Moment aus der Küche kommen kann. Wie wär's mit einem Kaffee?"
"Tee, wenn's geht."
"Kommt sofort."
Sie musste den Job ja nicht nehmen, beruhigte sich Reece, während sie auf den verchromten, mit Leder bezogenen Hocker glitt und sich die feuchten Hände an ihrer Jeans abtrocknete. Selbst wenn sie das Angebot bekam, konnte sie immer noch Nein sagen. Sie konnte weiterhin als Zimmermädchen in Hotels arbeiten oder sich nach einer Ferienranch umsehen.
Die Jukebox wechselte die Platte, und Shania Twain verkündete begeistert: "I Feel Like a Woman!"
Die Kellnerin klopfte einer kleinen, robusten Frau am Grill auf die Schulter und beugte sich zu ihr. Kurz darauf drehte sich die Frau um, fing Reeces Blick auf und nickte ihr zu. Die Kellnerin kehrte mit einer weißen, mit heißem Wasser gefüllten Tasse zum Tresen zurück, auf deren Untertasse ein Lipton-Teebeutel lag.
"Joanie kommt gleich. Möchtest du was zu Mittag essen? Heute gibt's Hackbraten. Mit Kartoffelbrei, grünen Bohnen und Brot."
"Nein, danke, der Tee reicht mir." Mehr würde sie sowieso nicht hinunterbekommen, weil ihr vor lauter Nervosität ganz schlecht war. Panik drohte erneut von ihr Besitz zu ergreifen, sie spürte schon dieses beklemmende Gefühl in der Brust.
Ich sollte einfach gehen, dachte Reece. Jetzt sofort, zurück zum Wagen und schauen, dass der Kühlerschlauch ausgetauscht wird. Zum Teufel mit den Wegweisern!
Joanie hatte ihr blondes Haar nachlässig hochgesteckt und sich eine weiße, fettbespritzte Metzgerschürze um die Taille gebunden. Dazu trug sie knöchelhohe rote Converse. Während sie aus der Küche kam, wischte sie sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie musterte Reece mit einem stählernen Blick, ihre Augen waren eher grau als blau.
"Kannst du kochen?" Ein Raucherhusten ließ die barsche Frage merkwürdig sinnlich klingen.
"Ja."
"Hauptberuflich oder einfach nur, um was in den Magen zu kriegen?"
"Dasselbe habe ich daheim in Boston gemacht - hauptberuflich." Nervös riss Reece die Teebeutelverpackung auf. Joanie hatte volle Lippen, fast schon einen Amorbogen, die mit ihrem kühlen Blick kontrastierten. Außerdem bemerkte Reece eine alte, verblasste Narbe, die von ihrem linken Ohr den Kiefer entlang bis zum Kinn führte.
"Boston." Wie abwesend stopfte Joanie das Geschirrtuch unter das Schürzenband. "Nicht gerade der nächste Weg."
"Nein."
"Weiß nicht, ob ich eine Köchin von der Ostküste will, die keine fünf Minuten stillhalten kann."
Reece war erst einmal sprachlos. Dann sagte sie mit einem ironischen Lächeln: "Ich weiß, dass ich schrecklich nervös sein kann."
"Was willst du hier?"
"Ich bin unterwegs. Mein Auto ist kaputt gegangen. Ich brauche einen Job."
"Irgendwelche Referenzen?"
Ihr Herz zog sich zusammen, ballte sich schmerzhaft zu einem klebrigen Klumpen. "Ich kann welche besorgen."
Joanie rümpfte die Nase und deutete missbilligend in Richtung Küche. "Ab mit dir in die Schürze. Die nächste Bestellung ist ein Steaksandwich, medium, mit gebratenen Zwiebeln, Pilzen, Pommes und Krautsalat. Wenn Dick nicht tot umfällt, nachdem er dein Essen intus hat, hast du den Job."
"In Ordnung." Reece erhob sich von ihrem Barhocker, bemühte sich, langsam und gleichmäßig weiterzuatmen, und ging durch die Schwingtüren am Ende des Tresens.
Im Gegensatz zu Joanie hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie die Teebeutelverpackung in lauter kleine Fetzen zerrissen hatte.
Die Ausstattung war schlicht, aber effizient. Ein großer Grill, ein Profiherd, Kühlschrank, Gefriertruhe. Stauraum, Spülen, Arbeitsflächen, eine Doppelfritteuse, Dampfabzug. Während sie sich eine Schürze umband, stellte ihr Joanie die benötigten Zutaten hin.
"Danke." Reece schrubbte sich die Hände und ging an die Arbeit. Bloß nicht nachdenken, ermahnte sie sich. Locker bleiben. Sie brutzelte das Steak auf dem Grill, während sie Zwiebeln und Pilze klein hackte. Sie gab die vorgeschnittenen Kartoffeln in den Korb der Fritteuse und stellte die Uhr.
Ihre Hände zitterten nicht, und obwohl sie einen Druck in der Brust spürte, sah sie sich nicht um, ob die Wände bereits näher gerückt waren.
Sie lauschte auf die Musik der Jukebox, des Grills, der Fritteuse.
Joanie knallte ihr die nächste Bestellung hin. "Einmal Bohnensuppe - die ist in dem Topf hier -, dazu gehören Cracker."
Reece nickte nur, warf die Pilze und Zwiebeln auf den Grill und machte währenddessen die zweite Bestellung zurecht.
"Nächste Bestellung!", rief Joanie und warf ihr einen neuen Zettel hin.
"Ein Reuben-Sandwich, ein Club-Sandwich, zwei Beilagensalate."
Reece arbeitete eine Bestellung nach der anderen ab, ließ einfach alles auf sich zukommen. Die Atmosphäre, die Gerichte mochten anders sein, aber der Rhythmus war derselbe. Immer schön weitermachen, immer in Bewegung bleiben.
Sie richtete die erste Bestellung an und drehte sich um, damit Joanie sie begutachten konnte.
"Ab damit", befahl die. "Los, die nächste Bestellung. Wenn wir in der nächsten halben Stunde nicht den Arzt rufen müssen, bist du eingestellt. Über deinen Verdienst und die Schichten reden wir später."
"Ich muss ..."
"Mach die nächste Bestellung", schnitt ihr Joanie das Wort ab. "Ich geh eine rauchen."
Reece arbeitete weitere anderthalb Stunden, bis es etwas ruhiger wurde, sie dem heißen Herd den Rücken zukehren und eine Flasche Wasser in sich hineinkippen konnte. Als sie sich wieder umdrehte, saß Joanie am Tresen und trank Kaffee.
"Keiner ist tot umgefallen", sagte sie.
"Puh. Geht es hier immer so zu?"
"Ein typischer Samstagmittag. Der Laden läuft gut. Für den Anfang bekommst du acht Dollar die Stunde. Wenn du mir die nächsten zwei Wochen keine Schande machst, leg ich noch einen obendrauf. Außer uns arbeitet noch eine Halbtagskraft am Grill, sieben Tage die Woche. Du bekommst mehr oder weniger zwei freie Tage. Den Schichtplan mach ich eine Woche im Voraus. Geöffnet wird um halb sieben, das heißt, deine erste Schicht beginnt um sechs. Es gibt den ganzen Tag Frühstück, Mittagessen von elf bis ultimo, Abendessen von fünf bis zehn.
Wenn du eine Vierzigstundenwoche willst, lässt sich das einrichten. Ich bezahle keine Überstunden. Falls du am Grill festsitzt und länger bleiben musst, ziehen wir das von deinen Stunden in der nächsten Woche ab. Irgendwelche Einwände?"
"Nein."
"Wenn du während der Arbeit trinkst, fliegst du auf der Stelle raus."
"Verstehe."
"Du kannst so viel Kaffee, Wasser oder Tee trinken, wie du willst. Alkoholfreie Getränke musst du zahlen. Dasselbe gilt fürs Essen. Hier gibt's keine Gratismahlzeiten. So wie's aussieht, wirst du mir ohnehin nicht die Haare vom Kopf fressen, sobald ich mich umdrehe. Dürr, wie du bist."
"Stimmt."
"Wer die letzte Schicht hat, macht Grill und Herd sauber und schließt den Laden ab."
"Das kann ich auf keinen Fall machen", unterbrach sie Reece. "Den Laden kann ich nicht für Sie zumachen. Ich kann morgens aufmachen, und ich übernehme jede Schicht. Ich arbeite sogar Doppelschichten, wenn's sein muss, oder halbe Schichten. Ich bin flexibel und habe auch nichts dagegen, mehr als vierzig Stunden die Woche zu arbeiten. Aber den Laden kann ich nicht für Sie schließen, tut mir leid."
Joanie hob die Brauen und trank ihren Kaffee aus. "Angst vor der Dunkelheit?"
"Stimmt genau. Wenn das Schließen des Lokals zum Job gehört, muss ich mir was anderes suchen."
"Das kriegen wir schon hin. Wir müssen noch ein paar amtliche Formulare ausfüllen, aber das kann warten. Dein Auto ist bereits repariert und steht vor Macs Laden." Joanie lächelte. "Hier spricht sich alles rum, und ich hab mein Ohr direkt an der Quelle. Wenn du was zu Wohnen brauchst: Ich hab ein Apartment über dem Diner, das ich dir vermieten kann. Nichts Großartiges, aber es hat eine schöne Aussicht und ist sauber."
"Danke, aber fürs Erste geh ich ins Hotel. Wir sollten es erst mal ein paar Wochen miteinander probieren und sehen, wie's läuft."
"Fernweh."
"So was Ähnliches."
"Ganz wie du willst." Joanie stand schulterzuckend auf und ging mit ihrer Kaffeetasse auf die Schwingtüren zu. "Geh los und hol dein Auto, such dir eine Unterkunft. Um vier bist du zurück."
Leicht benommen ging Reece hinaus. Sie hatte wieder in einer Küche gearbeitet, und zwar ohne Probleme. Sie hatte sich wohl gefühlt. Nachdem sie das geschafft hatte, war ihr ein wenig schwindlig, aber das war schließlich ganz normal - oder etwa nicht? Immerhin hatte sie einfach so aus dem Stand einen Job gefunden, einen Job, den sie noch dazu gelernt hatte. Einen Job, den sie seit gut zwei Jahren nicht mehr hatte ausüben können.
Mit dem Rückweg zum Auto ließ sie sich bewusst Zeit, um das Ganze erst einmal zu verdauen.
Als sie den Gemischtwarenladen betrat, befestigte Mac gerade ein Werbeplakat mit Sonderangeboten an der Ladentheke, direkt gegenüber der Tür. Alles war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Hier gab es ein bisschen was von allem - Kühlboxen für Fleisch und Gemüse, Regale mit Lebensmitteln, eine Abteilung mit Werkzeug, Haushaltsgeräten, Angelbedarf, Munition.
Ein paar Liter Milch und eine Schachtel Kugeln gefällig? In diesem Fall war man hier goldrichtig.
Als Mac fertig war, näherte sie sich der Ladentheke.
"Jetzt dürfte Ihr Auto wieder funktionieren", meinte Mac."Hab schon gehört, danke noch mal. Wie zahle ich?"
... weniger
Autoren-Porträt von Nora Roberts
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2014, Überarbeitete Neuausgabe, 624 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christiane Burkhardt
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453357957
- ISBN-13: 9783453357952
- Erscheinungsdatum: 09.07.2014
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