Vertrau mir nicht
Roman
In einem Cottage am Cape Cod will Ellie nach ihrer Scheidung neu anfangen. Doch dann wird bei ihr eingebrochen - und das ist erst der Anfang: anonyme Briefe, Telefonterror. Irgendjemand scheint es auf Ellie abgesehen zu haben. Jemand, der Ellies Vergangenheit genau zu kennen scheint.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vertrau mir nicht “
In einem Cottage am Cape Cod will Ellie nach ihrer Scheidung neu anfangen. Doch dann wird bei ihr eingebrochen - und das ist erst der Anfang: anonyme Briefe, Telefonterror. Irgendjemand scheint es auf Ellie abgesehen zu haben. Jemand, der Ellies Vergangenheit genau zu kennen scheint.
Klappentext zu „Vertrau mir nicht “
Als ihr Mann Charlie sie betrügt, beschließt Ellie, sich endlich auf eigene Füße zu stellen. Sie lässt sich scheiden und zieht mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Tim von Boston nach Bourne auf Cape Cod. Dort, in einem wunderschönen Cottage mit Meerblick, will sie einen Neuanfang wagen.Die ersten Wochen sind vielversprechend. Mit ihrer Nachbarin Louisa, die so erfrischend unkonventionell ist, freundet sie sich schnell an. Tim findet sich nach anfänglichen Schwierigkeiten auch zurecht, und sogar in Sachen Liebe gibt es einen Silberstreif am Horizont. Aber dann wird ihr Haus bei einem Einbruch verwüstet. Gestohlen wird nichts, dennoch ist Ellie erschüttert. Doch der Einbruch ist erst der Anfang: anonyme Briefe, Drohungen am Telefon irgendjemand scheint es auf Ellie abgesehen zu haben.
Jemand, der genau weiß, was vor fünfzehn Jahren passierte, an jenem Tag, an dem Ellie eine Schuld auf sich lud, die sie bis heute verfolgt ...
Lese-Probe zu „Vertrau mir nicht “
Vertrau mir nicht von Brooke MorganEINS
4. Juni
... mehr
Die Idee war komplett verrückt, zumindest für jemanden wie sie. Andere Frauen hielten Internet-Dates vielleicht für die normalste Sache der Welt. Ohne mit der Wimper zu zucken, spazierten sie in ein Restaurant, setzten sich zu einem Unbekannten, mit dem sie gerade mal ein paar E-Mails getauscht hatten, an den Tisch und machten Smalltalk. Doch Ellie war schon den ganzen Tag schlecht gewesen vor Nervosität, und es war noch schlimmer geworden, als sie sich einfach nicht entscheiden konnte, was sie anziehen sollte. Jetzt stand sie stocksteif und vollkommen gelähmt vor der Tür des Restaurants.
Sie war einfach nicht der Typ für so was. Debby hatte sie dazu gedrängt. «Internet-Dating macht heute jeder», hatte sie vorhin am Telefon noch mal gesagt. «Stell dir einfach vor, ich wäre bei dir. Ich sitze in deiner Jackentasche und helfe dir. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, verstanden?»
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Debby hatte sie bei dem Portal angemeldet, ein hübsches Profilfoto von ihr geschossen und mit ihr die persönlichen Informationen ausgesiebt, die gut ankommen würden. Sie hatten viel dabei gelacht, und Ellie hatte das Ganze erst für einen Witz gehalten. Und eine Weile war es auch witzig gewesen, wenn auch hauptsächlich auf die peinliche Art. Obwohl es gemein war, hatten Debby und sie sich gnadenlos über die verschiedenen Männer lustig gemacht, die sich meldeten und die alle ziemlich merkwürdig waren. Bis Daniel Litman auftauchte und beide dachten: «Oha! Der hier ist anders.»
Gutaussehend, zweiundvierzig, Onkologe, noch nie verheiratet gewesen.
«Besser wird es nicht, Schätzchen», hatte Debby gesagt. «Keine Exfrauen, keine Kinder. Gesichertes Einkommen. Wenn du ihm nicht antwortest, klaue ich dein Profil und tue es selber.»
«Wehe! Der gehört mir», hatte Ellie spontan erwidert und sich damit selbst überrascht. Bis zu diesem Moment war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie schon bereit für eine neue Bekanntschaft war oder ob sie noch zu sehr unter Charlies Verrat litt, um an ein Treffen mit einem neuen Mann auch nur zu denken.
Inzwischen hatten Daniel und sie zwei Wochen lang E-Mails ausgetauscht, dann hatte er dieses Abendessen vorgeschlagen, und sie hatte eingewilligt.
Sie wünschte, sie hätten sich stattdessen zum Kaffee verabredet. Dann hätte sie - oder er - im Notfall nach fünf Minuten eine Entschuldigung erfinden und fliehen können. Doch nun trafen sie sich in einem Restaurant, das, wie sie wusste, nicht billig war. Sie konnten nicht einfach aufstehen und mitten im Hauptgang gehen.
Draußen vor dem Restaurant standen zwei Frauen um die fünfzig am Fenster und rauchten. Ellie hätte sich am liebsten dazugestellt, um nicht so verloren herumzustehen, doch mit dem Rauchen anzufangen, nur um ein paar peinliche Minuten zu überbrücken, war vermutlich übertrieben. Langsam ging sie auf die Tür zu, dann blieb sie noch einmal stehen.
Nur noch eine Minute.
Guten Tag, Daniel, nett, Sie kennenzulernen? Oder besser: Hallo, Daniel, schön, Sie zu sehen? Beides überzeugte sie nicht. Vielleicht: Hören Sie, Daniel, ich bin total nervös. Geht es Ihnen auch so?
Das Treffen war nicht so wichtig, daran sollte sie denken. Sie und Daniel hatten ein paar E-Mails ausgetauscht, und jetzt trafen sie sich eben zu einer gemeinsamen Mahlzeit, was war schon dabei? Es kam ihr nur deshalb so ungeheuer bedeutsam vor, weil sie seit siebzehn Jahren mit keinem Mann außer Charlie essen gegangen war.
Keine große Sache, hatte Debby gemailt. Du steckst den Zeh in ein Gewässer, in dem jede Menge Fische schwimmen, wenn du weißt, was ich meine. Stimmt schon, ich habe dich überredet, aber er scheint wirklich ein netter Kerl zu sein. Entspann dich einfach und mach dir einen schönen Abend, Ellie. Wenn ihr einander sympathisch seid, könnt ihr euch noch mal verabreden. Wenn nicht, dann adiós.
Debby hatte leicht reden. Erst hatte sie das Ganze angezettelt, und dann war sie - schwupps! - einfach abgehauen. «Tut mir leid, Schätzchen, aber dem California Institute of Technology kann ich unmöglich absagen. Stell dir vor: Kalifornien. Nie wieder Schnee. Jeden Tag Filmstars. So lieb ich dich habe, aber gegen Rob Lowe kommst selbst du nicht an.»
E-Mails schreiben und telefonieren waren kein Ersatz für authentische, liebevolle Begegnungen - und genau aus diesem Grund war sie heute Abend hier, das wusste Ellie. Es würde nichts bringen, ewig mit Daniel E-Mails auszutauschen.
Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm essen gehen will. Ich würde ja gern, aber ich habe Angst, hatte sie Debby im Facebook-Chat geschrieben.
Sag lieber gleich ja. Wenn du nicht mit ihm essen gehst, fängst du vielleicht so eine E-Mail-Romanze an, die in der virtuellen Welt funktioniert, im echten Leben aber eine volle Katastrophe wäre, hatte
Debby geantwortet. Keine Angst. Vielleicht verliebst du dich sogar Hals über Kopf in ihn. Und garantiert ist er nicht so eine Kanalratte wie dein verlogener, untreuer Exehemann.
Aber wenn er nun ganz anders ist, als ich gedacht habe, oder wenn ich ganz anders bin, als er denkt? Ich weiß nicht genau, ob ich jemanden auf die Art kennenlernen will. Es fühlt sich so künstlich an.
Künstlich, so ein Quatsch. So läuft das heute, Ellie. Hör auf, Ausreden zu erfinden, und sag endlich ja.
Die beiden Frauen neben Ellie warfen gleichzeitig ihre Zigaretten auf den Bürgersteig, traten sie aus und gingen ins Restaurant zurück. Ellie sah auf die Uhr: 8.05. Er hatte gesagt, er würde um acht am Tisch auf sie warten, und dass er nie zu spät kam - es sei denn, es gab einen Notfall, aber dann würde er ihr eine Nachricht schicken.
Sie zog ihr Handy heraus. Keine Nachrichten.
Er hatte das Acquitaine vorgeschlagen, weil er in Chestnut Hill wohnte. Sie war froh, dass er keins der Nobelrestaurants in der Innenstadt ausgesucht hatte. Für das lockere Ambiente eines Bistros musste man sich nicht so aufdonnern. Nachdem sie am Nachmittag wie in einer Slapstick-Komödie nacheinander alle ihre Kleider aus dem Schrank gerissen und anprobiert hatte, war die Entscheidung schließlich für das Outfit gefallen, das sie als allererstes angehabt hatte: eine schwarze Leinenhose, ein weißes ärmelloses Shirt und ein schwarzer Blazer. Dazu schwarze Riemchensandalen mit mittelhohem Absatz. Laut seinem Profil war Daniel eins achtzig groß - mit diesen Schuhen brachte sie es auf eins fünfundsechzig.
Nicht dass sie schwindelerregende Pumps in ihrem Schrank gehabt hätte. Eine von Charlies Regeln: keine Stilettos. Und kein roter Nagellack.
«Frauen, die roten Nagellack tragen, sind Huren oder Callgirls», hatte Charlie gleich am Anfang ihrer Beziehung erklärt. «Vielleicht ist es ihnen nicht bewusst, aber das sind die Signale, die sie aussenden.»
Wenn sie auf einer Party einer Frau mit rotem Nagellack begegnet waren, hatte Charlie Ellie immer einen vielsagenden Blick zugeworfen und genickt, als wollte er sagen: «Schau dir die Schlampe an», und Ellie hatte jedes Mal Angst gehabt, die Frauen könnten die Verachtung in seinen Augen bemerken.
In Charlies Welt waren Stilettos zwar nicht ganz so nuttig wie rote Nägel, doch beinahe noch mehr zu verurteilen, verwiesen sie doch auf Liederlichkeit hinter einer glamourösen Fassade.
Die Ironie traf sie wie ein Keulenschlag, als sie in der Gesellschaftsspalte des Boston Magazine die Frau sah, wegen der er sie verlassen hatte. Das Foto zeigte sie in einem Designer-Kleid, mit unglaublich hohen Absätzen und knallrotem Nagellack.
Sie ist zehn Jahre älter als ich, tut wie selbstverständlich alles, was du bei mir schrecklich fandest, und dennoch hast du dich Hals über Kopf in sie verliebt. Wie soll ich das verstehen, Charlie?
Ellie hatte das Foto viel zu lange angestarrt, mit wild klopfendem Herzen, bevor sie die Zeitschrift in den Papierkorb warf.
Heute Abend trug sie zwar keine High Heels, aber sie hatte sich die Nägel rot lackiert, eine kleine, doch bedeutungsvolle Geste der Unabhängigkeit.
Es reicht. Wenn du noch länger hier draußen rumstehst, wird Daniel dich für unhöflich halten. Ellie holte tief Luft, drückte die Tür auf und betrat das Lokal. Links am Eingang stand das Pult mit dem Reservierungskalender, und bevor sie der Versuchung nachgeben und auf dem Absatz kehrtmachen konnte, fragte eine junge dunkelhaarige Kellnerin: «Kann ich Ihnen helfen?»
«Ich bin verabredet ... Er müsste schon da sein. Daniel Litman?»
Die junge Frau sah in das große Buch, das offen auf dem Pult lag. «Ja, er ist da. Bitte folgen Sie mir.» Die Kellnerin führte sie an der gut besetzten Bar und ein paar Sitznischen im vorderen Teil des Restaurants vorbei in den Hauptraum mit den runden Tischen und den Spiegeln an den Wänden, der einem französischen Bistro nachempfunden war. Der Laden brummte, was an einem Donnerstagabend im Juni nicht verwunderte. Sie sah Studenten mit ihren Eltern, vielleicht feierten sie das bestandene Examen; Paare, die romantisch zu Abend aßen, und einen Tisch mit sechs älteren Damen, zu denen die beiden Raucherinnen von eben gehörten.
Und dann, an einem Tisch neben den Raucherinnen, mitten im Raum, entdeckte sie ihn. Er saß von ihr abgewandt. Und er betrachtete sich gerade im Spiegel, kämmte sich mit der Hand das Haar zurück - eine Geste, die sie sofort um sechzehn Jahre zurückversetzte.
Ein paar Wochen nachdem sie Charlie kennengelernt hatte, hatten sie das Spiel Was du liebst, was du hasst gespielt.
«Ich hasse Männer, die sich in der Öffentlichkeit im Spiegel ansehen», stand ganz oben auf ihrer Hass-Liste. Und auf Charlies Liste stand das Pendant dazu: «Ich hasse Frauen, die sich am Restauranttisch schminken.»
Daniel Litman fing ihren Blick im Spiegel auf und erhob sich sofort, um sie herüberzuwinken.
«Ellie», sagte er, als sie vor ihm stand. «Hallo.»
Er trat einen Schritt vor, um sie auf die Wange zu küssen, doch sie hatte ihm schon die Hand entgegengestreckt. Dann, in comedyreifer Umkehr, trat er zurück und streckte die Hand aus, während sie vortrat und ihre Hand wegzog.
«Hoppla!», sagte er. «Noch mal von vorne?»
Er hielt ihr die Hand hin, und sie schüttelte sie. Sie hatte einen schmerzhaften Händedruck erwartet und war ein wenig überrascht über seine Sanftheit. Doch es war auch kein schlaffer Händedruck, und Ellie war außerdem dankbar, dass Daniel die peinliche Anfangssituation mit seinem Kommentar aufgelockert hatte.
«Ich hoffe, Sie sind mit dem Lokal einverstanden», sagte er, als sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. «Es war egoistisch von mir, einen Laden in meiner Gegend auszuwählen, tut mir leid. Wahrscheinlich wären Sie lieber in die Innenstadt gegangen.»
«Nein, nein, es ist schön hier. Ich kenne das Lokal. Es gefällt mir gut.»
«Eigentlich hätte ich lieber einen Tisch ganz hinten an der Wand gehabt, aber die waren alle besetzt.» Er setzte sich und lächelte sie an.
«Warum ganz hinten?»
«Dann hätte ich schnell durch die Hintertür verschwinden können, wenn Sie anders ausgesehen hätten, als ich gehofft habe. Oh, nein.» Er hob die Hände. «Sehen Sie mich nicht so strafend an. Sie wissen doch sicher, dass manche Leute retuschierte Bilder von sich ins Netz stellen.»
Debby hatte ihr davon erzählt, aber die Art, wie er das Thema ansprach, erweckte den Eindruck, als hätte er jede Menge Erfahrung mit Internet-Dates. Was er in seinen E-Mails bestritten hatte.
«Oh, nein. Das klingt jetzt vielleicht so, als würde ich das öfter machen. Aber das tue ich nicht, ich schwöre es. Das hier ist erst das dritte Mal, dass ich jemanden auf diese Art kennenlerne. Ich wollte nur sagen, dass man in dieser Internet-Welt nie weiß, wer wer ist, wissen Sie, was ich meine? War vielleicht ein bisschen geschmacklos von mir.»
Daniel sah genauso aus wie auf dem Foto. Blond und athletisch, als würde er regelmäßig Sport treiben oder auf Berge steigen. Was er nicht tat, das wusste sie. Und es war auch das gleiche Jungsgesicht wie auf dem Foto, es bildete einen Kontrast zu seinem männlichen Körperbau und auch zu seinen zweiundvierzig Jahren. Unwillkürlich fragte sie sich, ob ein kantiges, zerklüftetes Gesicht seinen Patienten nicht lieber wäre. Wenn man sein Leben in die Hände eines Arztes legen musste, sehnte man sich vielleicht nach jemandem, der alt und weise aussah, eine Aura von Erfahrung war doch immer irgendwie beruhigend.
«Was ich eigentlich sagen wollte: Sie sehen in natura genauso toll aus wie auf dem Foto», fuhr Daniel fort. «Möchten Sie ein Glas Wein?»
«Ja, bitte.»
«Rot oder weiß?»
«Rotwein bitte.»
«Sehr gut. Lassen Sie uns erst das Essen aussuchen, dann ist das erledigt, und wir können uns gleich ins Gespräch stürzen.» «Einverstanden.»
Er war offensichtlich gut darin, Dinge zu regeln. Sie bekamen die Speisekarten, hatten genug Zeit hineinzusehen und konnten dann schnell bestellen, ohne zwischendurch Ewigkeiten warten zu müssen. Auch Ellies Glas Wein brachte die Kellnerin rasch.
«Auf unsere erste Begegnung», sagte Daniel und hob sein Glas.
«Zum Wohl», antwortete sie.
Charlie hatte sie damals auf einer Party bei Rebecca kennengelernt, einer Kommilitonin von der Boston University, die in der Stadt, nicht auf dem Campus wohnte. Ellie war in der Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, nachdem sie zu viele Erdnüsse gegessen hatte, und Charlie kam herein, um sich eine Cola zu holen. Sie kamen ins Gespräch und saßen schließlich bis zwei Uhr früh in der Küche. Es war so leicht gewesen, so natürlich, und so ganz anders als dieses angestrengte Abendessen.
«Ich bewundere Ihren Beruf sehr, Daniel», sagte sie nach dem ersten Schluck Wein. «Onkologie ist bestimmt kein einfaches Fach.»
«Nun ja, das reine Vergnügen ist es nicht. Aber es ist eine Herausforderung.»
«Auf dem Weg hierher dachte ich daran, dass es Ihren Patienten richtig schlechtgehen muss, wenn sie zu Ihnen kommen. Der Schock, die Angst, das Grauen. Es ist das Wort Krebs, nicht wahr? Wie es in unseren Sprachgebrauch eingegangen ist - Sie wissen schon: Terrorismus ist wie ein Krebsgeschwür, das sich auf der Welt ausbreitet. Keiner würde sagen: Terrorismus ist wie ein Herzinfarkt.»
Das klang einstudiert. War es auch.
Doch er nickte, als wäre er interessiert, und sie entspannte sich ein wenig.
«Da haben Sie recht. Das Wort Krebs ist so belastet, weil die Krankheit so heimtückisch ist. Herzinfarkte breiten sich nicht aus. Krebs schon. Natürlich heißt das nicht, dass Herzinfarkte weniger tödlich sind.»
«Natürlich nicht.»
«Und Sie haben auch recht, was meinen Beruf angeht. Die Menschen, die zu mir kommen, sind nervös und haben Angst. Freiwillig kommt niemand. Zu keinem Arzt geht man freiwillig, nicht wirklich. Denken Sie nur an den Zahnarzt.» Er lächelte, und sie konnte sehen, dass er oft zum Zahnarzt ging.
Es war ein seltsames Gefühl, ein wenig über ihn zu wissen, aber dann auch wieder überhaupt nichts. Seine Antworten vor allem auf die persönlichen Fragen der Dating-Webseite hatten ihr gefallen; er hatte Sinn für Humor, da klang nichts Verschrobenes, Verzweifeltes oder Selbstherrliches durch. Und die E-Mails, die sie einander geschrieben hatten, waren kurz, aber nett. Auch wenn sie wegen des Treffens nervös gewesen war, hatte Ellie sich darauf gefreut, ihn persönlich kennenzulernen. Aber das änderte nichts daran, dass sie füreinander Fremde waren.
Andererseits, ermahnte sie sich, beim ersten Rendezvous kannte man den anderen fast nie gut.
«Ich sollte es Ihnen lieber gleich sagen.» Daniel beugte sich vor und strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn. «Ich hasse es, über Krebs zu sprechen. Ich muss den ganzen Tag damit leben. Und selbst in meiner Freizeit gibt es ständig Leute, die jemanden kennen, der Krebs hat, und die wollen, dass ich denjenigen heile. Ehrlich gesagt, hasse ich es, nach Feierabend über das Thema zu reden.»
«Das verstehe ich. Sehr gut sogar.» Ellie versuchte, sich rasch ein anderes Thema einfallen zu lassen, doch nach wenigen Sekunden wurde ihr klar, dass sein Beruf einer der Gründe war, warum sie Daniel interessant fand: Zwar wollte auch sie nicht ausführlich über Krebs reden, aber die Tatsache, dass er kranken Menschen half und Leben rettete, beeindruckte sie. In ihrer Vorstellung war er grenzenlos gütig und mitfühlend - was vielleicht stimmte -, doch sie musste zugeben, dass der erste Moment, als er sich selbst im Spiegel ansah, sie misstrauisch gemacht hatte. Aber das war echt nicht fair. Er hatte eine Chance verdient. Sie musste die Szene vergessen und sich mehr Mühe geben.
«Also ... Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn», sagte er, bevor sie sich eine andere Frage zurechtlegen konnte. «Tim. Er ist fünfzehn, oder? Wo ist er heute Abend?»
«Er trifft sich mit Freunden. Heute ist sein letzter Abend in der Stadt, dann wird er nur noch an den Wochenenden hier sein, bei seinem Vater. Wir ziehen nämlich morgen um. Es ist also ein bisschen verrückt, dass ich heute Abend mit Ihnen essen gehe, aber - das habe ich Ihnen alles schon in meinen E-Mails erzählt.»
«Ja. Aber ich habe Ihnen noch nicht erzählt, dass ich vielleicht auch umziehe. Etwas weiter weg als Sie. Vor einer Weile hatte ich mich um eine Stelle in London beworben, und jetzt sieht es so aus, als würde ich sie bekommen. Ich habe erst heute Nachmittag davon erfahren. Wenn nichts mehr dazwischenkommt, ziehe ich für zwei Jahre nach England. Am Sonntag geht es los.»
Im gleichen Moment kam die Kellnerin mit den Vorspeisen und stellte sie vor ihnen auf den Tisch.
Daniels Ankündigung war ziemlich verwirrend. Nicht dass sie etwa schon geübt hätte, mit Ellie Litman zu unterschreiben, aber es war ein riesengroßer Schritt für sie gewesen, sich überhaupt für einen Mann zu interessieren. Sie hatte sich eigentlich nur auf Debbys Drängen hin beim Online-Dating angemeldet, ohne zu erwarten, dass sie jemanden würde kennenlernen wollen. Und so war sie, als Daniel im Cyberspace auftauchte, positiv überrascht gewesen. Selbst der Stress vor dem Kleiderschrank hatte Spaß gemacht und sie an früher erinnert, als sie noch Erwartungen gehabt hatte. Und jetzt verließ er das Land, bevor sie die Chance hatte, ihn besser kennenzulernen.
«Es ist noch nicht hundertprozentig sicher, ob es klappt», sagte Daniel. «Da ist immer viel Politik im Spiel. Außenstehende ahnen nicht, wie viel Politik in der Medizin steckt. Ich darf gar nicht davon anfangen ...»
Und dann setzte er zu einer ausführlichen Beschreibung sämtlicher Einzelheiten an. Sie musste sich anstrengen, die Namen aller Ärzte und Administratoren auseinanderzuhalten, die er erwähnte, und sie musste sich noch mehr anstrengen, vor dem stetig ansteigenden Lärmpegel im Hintergrund überhaupt etwas zu verstehen. Inzwischen wurden die Frauen am Nebentisch immer ausgelassener, und Ellie ertappte sich dabei, wie sie deren Gegacker lieber lauschte als den weitschweifigen Ausführungen ihres Gegenübers. Offensichtlich war er mit Leidenschaft bei der Sache, und das bewunderte sie, aber sie kannte die Beteiligten nicht, und die politische Dimension der medizinischen Welt war und blieb ihr ein Rätsel. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab - zum Nachbartisch, zu ihrem Sohn Tim, zum Umzug am nächsten Tag -, und dann musste sie sich zusammenreißen und versuchen, den Faden wiederzufinden. In seinen E-Mails hatte er sich kurz gefasst. Doch jetzt kam er vom Hundertsten ins Tausendste, und sie hatte Schwierigkeiten, einen roten Faden in dem Gesagten zu finden.
Sie waren fertig mit dem Hauptgericht, und er redete immer noch, was sie gleichzeitig rührend und ärgerlich fand.
Mochte sie ihn?, fragte sie sich, als er mit einer weiteren Anekdote über einen skrupellosen, ehrgeizigen Kollegen begann.
Ja.
Irgendwie.
Er war intelligent, manchmal lustig. Und seine blaugrünen Augen waren anziehend.
Aber da war nichts, was ihr Herz höher schlagen ließ, und ihre anfängliche Enttäuschung darüber, dass er wahrscheinlich nach England zog, legte sich. Sie fühlte sich weit entfernt von ihm, fast als würde sie ihn im Fernsehen sehen, nicht hier direkt vor sich, am selben Tisch.
So unpassend es war, unwillkürlich verglich sie dieses Treffen mit ihrer ersten Begegnung mit ihrem Exmann Charlie. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber fast. Liebe aufs erste Gespräch sozusagen. Denn als sie morgens um zwei Rebeccas Küche verließen und Charlie sie zurück zu ihrem Wohnheim brachte, war sie hoffnungslos in ihn verknallt. Hals über Kopf, mitsamt den Flugzeugen im Bauch. Noch wochenlang schlug ihr Magen Kapriolen, jedes Mal, wenn sie ihn sah.
«Was ist denn mit dir los, Ellie? Du bist plötzlich so launisch», hatte ihre Mutter gefragt, als sie, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, die Feiertage daheim in New York verbrachte. Ellie hatte getan, als wäre nichts, doch beim Abendessen hatte ihre Mutter sie durchdringend angesehen und festgestellt: «Du bist launisch, und du isst nichts. Wie heißt er?»
«Happy birthday to you ...»
Erschrocken fuhr Ellie herum und sah, wie die Kellnerin und zwei Kellner eine Geburtstagstorte zum Nachbartisch brachten. Dann sah sie Daniel an, der schief lächelte und die Augen verdrehte, bevor er sich dem Rest des Restaurants beim Happy Birthday anschloss. Ellie fiel auch mit ein, obwohl sie wusste, dass sie keine gute Singstimme hatte. Fünf der Damen erhoben sich, die sechste blieb sitzen, um den Kuchen in Empfang zu nehmen. Ihre Freundinnen jubelten und applaudierten, als sie die Kerzen ausblies.
«Jetzt wünschte ich doch, wir hätten einen Tisch ganz hinten - nicht wegen der Hintertür, sondern um dem hier zu entkommen. Hoppla, schon wieder.»
«Hoppla» war ein Wort, das so wenig zum Bild eines erfolgreichen zweiundvierzigjährigen Onkologen passte, dass sie sich unwillkürlich fragte, was Daniels Patienten denken mochten, wenn ihm der Ausdruck in der Sprechstunde herausrutschte.
«Jetzt habe ich die ganze Zeit über Krankenhauspolitik geredet, und über Sie haben wir noch gar nicht gesprochen. Ihre E-Mails haben mir sehr gefallen.»
«Danke. Ich habe Ihre auch gern gelesen. Aber diese ganze Internet-Geschichte ist mir irgendwie fremd.»
«Ich weiß genau, was Sie meinen. Mir ist schleierhaft, warum ich überhaupt mitgemacht habe. Eine Freundin hat mich dazu überredet. Ja, ich weiß, das sagt jeder, aber es ist wirklich wahr. Angeblich arbeite ich viel zu viel, und angeblich ist es ungesund, zweiundvierzig Jahre alt und unverheiratet zu sein und sich nicht hin und wieder mit einer Frau zu treffen. Sie hat gesagt, Online-Dating wäre die einfachste Lösung.»
«Bei mir war es genauso.» Ellie lächelte. «Ich meine, mich hat auch eine Freundin überredet.»
«Aber es ist trotzdem eine merkwürdige Art sich kennenzulernen, finden Sie nicht?» Er beugte sich vor. Mit dem Unbehagen, das sie teilten, hatten sie endlich einen gemeinsamen Nenner.
«Total verrückt.»
«Ich habe Sie gegoogelt, müssen Sie wissen. Es klingt so übergriffig, aber heutzutage macht man das beinahe automatisch.» Die blonde Locke hing ihm wieder in die Stirn, und er strich sie zurück. Unwillkürlich stellte sie sich ihn mit einer Haarspange vor und musste ein Lächeln unterdrücken. «Aber ich habe Sie nicht gefunden. Es gab mehrere Ellie Walters, aber keine, die Sie zu sein schien. Haben Sie mich auch gegoogelt? »
«Ja.» Sie wurde rot. «Meine Freundin Debby - die mich zu der ganzen Sache überredet hat - meinte, ich sollte sichergehen, dass Sie auch sind, wer Sie zu sein vorgeben.»
«Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Das macht doch jeder. Manchmal kommt es mir vor, als würde uns das Internet, anstatt uns näher zusammenzubringen, voneinander entfernen und misstrauisch machen. Wir sitzen allein vor dem Computer, schicken Nachrichten in den Cyberspace und sammeln Informationen über Leute, anstatt uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber so was dürfte ich gar nicht sagen. Ich bin Wissenschaftler. Ich darf den technologischen Fortschritt nicht kritisieren.»
«Ich frage mich manchmal, wie E-Mails das Schreiben verändert haben; ob wir anders geschrieben haben, als wir noch Papier und Stift dazu benutzt haben. Ehrlicher oder so.»
«Wahrscheinlich schon. Aber erzählen Sie mal, Ellie. Waren Sie je in Europa? Reisen Sie gern?»
Schlagartig fühlte sie sich missverstanden. Er hatte einfach das Thema gewechselt und ihr eine typische Kennenlernfrage gestellt, als sie gerade das Gefühl hatte, sie kämen sich näher.
«Ich war einmal in Paris», antwortete sie, ohne zu erwähnen, dass es ihre Flitterwochen gewesen waren. «Aber ich wollte schon längst mal wieder hin. Sie freuen sich sicher darauf, nach London zu ziehen.»
«Sehr. Ich war natürlich schon da, beruflich, aber fest für den National Health Service zu arbeiten, ist eine faszinierende Aussicht.»
Und dann fing er wieder an und umriss mit der gleichen Leidenschaft, mit der er vorher über Krankenhauspolitik gesprochen hatte, die Vor- und Nachteile eines staatlichen Gesundheitswesens. Kurz hatte sie geglaubt, sie könnten sich über das Mailen und Briefeschreiben unterhalten, darüber, wie die Menschen miteinander kommunizierten, doch es klappte einfach nicht. Und sie hatte wirklich keine Lust auf weitere Fragen im Stil von «Reisen Sie gern?» und «Was sind Ihre Hobbys?». Das hatten sie schon in ihren Online-Profilen abgehakt.
Trotzdem verging der Rest des Abends rasch. Daniel schwadronierte über Leben und Arbeit in London, doch irgendwann bremste er sich und entschuldigte sich wieder dafür, dass er das Gespräch dominierte.
«Was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte ... Warum Bourne? Von allen Orten auf der Welt, warum ausgerechnet dieser?»
Kurz vorher hatte Daniel der Kellnerin ein Zeichen gegeben, und bevor Ellie antworten konnte, war sie da. Ellie griff nach ihrer Handtasche, um ihre Hälfte zu begleichen, doch er hatte schon ein Bündel Geldscheine in der Hand, das er der Kellnerin reichte. «Das geht auf mich, Ellie. Sie sind in meine Ecke der Stadt gekommen, lassen Sie mich wenigstens bezahlen.»
«Das ist wirklich nett von Ihnen.»
«Nicht der Rede wert. Aber Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie nach Bourne zieht?»
«Meine Tante hatte vor langer Zeit einmal ein Haus auf Mashnee Island in Boume gemietet. Ich war vierzehn und habe zwei Ferienwochen bei ihr verbracht. Es war eine wunderschöne Zeit, und als ich beschloss, aus Boston wegzuziehen, war Bourne der erste Ort, der mir einfiel.»
«Es ist gleich am Anfang von Cape Cod, oder?»
«Ja, direkt hinter der Brücke.»
Eine peinliche Pause entstand, und sie überlegte krampfhaft, wie sie sie überbrücken sollte, doch dann sagte er: «Hören Sie, wahrscheinlich haben Sie inzwischen gemerkt, dass ich nicht gut in Smalltalk bin. Entweder ich kaue Ihnen das Ohr ab, oder ich versuche Witze zu reißen. Das haben Sie zu Ihrem Glück noch nicht erlebt. Ich schätze, das ist einer der Gründe, warum ich nie geheiratet habe.» Er zog eine Grimasse. «Ich bin sehr gut in meinem Beruf, aber ich bin nicht gut - und nicht entspannt -, wenn es um Dates geht.»
...
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Die Idee war komplett verrückt, zumindest für jemanden wie sie. Andere Frauen hielten Internet-Dates vielleicht für die normalste Sache der Welt. Ohne mit der Wimper zu zucken, spazierten sie in ein Restaurant, setzten sich zu einem Unbekannten, mit dem sie gerade mal ein paar E-Mails getauscht hatten, an den Tisch und machten Smalltalk. Doch Ellie war schon den ganzen Tag schlecht gewesen vor Nervosität, und es war noch schlimmer geworden, als sie sich einfach nicht entscheiden konnte, was sie anziehen sollte. Jetzt stand sie stocksteif und vollkommen gelähmt vor der Tür des Restaurants.
Sie war einfach nicht der Typ für so was. Debby hatte sie dazu gedrängt. «Internet-Dating macht heute jeder», hatte sie vorhin am Telefon noch mal gesagt. «Stell dir einfach vor, ich wäre bei dir. Ich sitze in deiner Jackentasche und helfe dir. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, verstanden?»
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Debby hatte sie bei dem Portal angemeldet, ein hübsches Profilfoto von ihr geschossen und mit ihr die persönlichen Informationen ausgesiebt, die gut ankommen würden. Sie hatten viel dabei gelacht, und Ellie hatte das Ganze erst für einen Witz gehalten. Und eine Weile war es auch witzig gewesen, wenn auch hauptsächlich auf die peinliche Art. Obwohl es gemein war, hatten Debby und sie sich gnadenlos über die verschiedenen Männer lustig gemacht, die sich meldeten und die alle ziemlich merkwürdig waren. Bis Daniel Litman auftauchte und beide dachten: «Oha! Der hier ist anders.»
Gutaussehend, zweiundvierzig, Onkologe, noch nie verheiratet gewesen.
«Besser wird es nicht, Schätzchen», hatte Debby gesagt. «Keine Exfrauen, keine Kinder. Gesichertes Einkommen. Wenn du ihm nicht antwortest, klaue ich dein Profil und tue es selber.»
«Wehe! Der gehört mir», hatte Ellie spontan erwidert und sich damit selbst überrascht. Bis zu diesem Moment war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie schon bereit für eine neue Bekanntschaft war oder ob sie noch zu sehr unter Charlies Verrat litt, um an ein Treffen mit einem neuen Mann auch nur zu denken.
Inzwischen hatten Daniel und sie zwei Wochen lang E-Mails ausgetauscht, dann hatte er dieses Abendessen vorgeschlagen, und sie hatte eingewilligt.
Sie wünschte, sie hätten sich stattdessen zum Kaffee verabredet. Dann hätte sie - oder er - im Notfall nach fünf Minuten eine Entschuldigung erfinden und fliehen können. Doch nun trafen sie sich in einem Restaurant, das, wie sie wusste, nicht billig war. Sie konnten nicht einfach aufstehen und mitten im Hauptgang gehen.
Draußen vor dem Restaurant standen zwei Frauen um die fünfzig am Fenster und rauchten. Ellie hätte sich am liebsten dazugestellt, um nicht so verloren herumzustehen, doch mit dem Rauchen anzufangen, nur um ein paar peinliche Minuten zu überbrücken, war vermutlich übertrieben. Langsam ging sie auf die Tür zu, dann blieb sie noch einmal stehen.
Nur noch eine Minute.
Guten Tag, Daniel, nett, Sie kennenzulernen? Oder besser: Hallo, Daniel, schön, Sie zu sehen? Beides überzeugte sie nicht. Vielleicht: Hören Sie, Daniel, ich bin total nervös. Geht es Ihnen auch so?
Das Treffen war nicht so wichtig, daran sollte sie denken. Sie und Daniel hatten ein paar E-Mails ausgetauscht, und jetzt trafen sie sich eben zu einer gemeinsamen Mahlzeit, was war schon dabei? Es kam ihr nur deshalb so ungeheuer bedeutsam vor, weil sie seit siebzehn Jahren mit keinem Mann außer Charlie essen gegangen war.
Keine große Sache, hatte Debby gemailt. Du steckst den Zeh in ein Gewässer, in dem jede Menge Fische schwimmen, wenn du weißt, was ich meine. Stimmt schon, ich habe dich überredet, aber er scheint wirklich ein netter Kerl zu sein. Entspann dich einfach und mach dir einen schönen Abend, Ellie. Wenn ihr einander sympathisch seid, könnt ihr euch noch mal verabreden. Wenn nicht, dann adiós.
Debby hatte leicht reden. Erst hatte sie das Ganze angezettelt, und dann war sie - schwupps! - einfach abgehauen. «Tut mir leid, Schätzchen, aber dem California Institute of Technology kann ich unmöglich absagen. Stell dir vor: Kalifornien. Nie wieder Schnee. Jeden Tag Filmstars. So lieb ich dich habe, aber gegen Rob Lowe kommst selbst du nicht an.»
E-Mails schreiben und telefonieren waren kein Ersatz für authentische, liebevolle Begegnungen - und genau aus diesem Grund war sie heute Abend hier, das wusste Ellie. Es würde nichts bringen, ewig mit Daniel E-Mails auszutauschen.
Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm essen gehen will. Ich würde ja gern, aber ich habe Angst, hatte sie Debby im Facebook-Chat geschrieben.
Sag lieber gleich ja. Wenn du nicht mit ihm essen gehst, fängst du vielleicht so eine E-Mail-Romanze an, die in der virtuellen Welt funktioniert, im echten Leben aber eine volle Katastrophe wäre, hatte
Debby geantwortet. Keine Angst. Vielleicht verliebst du dich sogar Hals über Kopf in ihn. Und garantiert ist er nicht so eine Kanalratte wie dein verlogener, untreuer Exehemann.
Aber wenn er nun ganz anders ist, als ich gedacht habe, oder wenn ich ganz anders bin, als er denkt? Ich weiß nicht genau, ob ich jemanden auf die Art kennenlernen will. Es fühlt sich so künstlich an.
Künstlich, so ein Quatsch. So läuft das heute, Ellie. Hör auf, Ausreden zu erfinden, und sag endlich ja.
Die beiden Frauen neben Ellie warfen gleichzeitig ihre Zigaretten auf den Bürgersteig, traten sie aus und gingen ins Restaurant zurück. Ellie sah auf die Uhr: 8.05. Er hatte gesagt, er würde um acht am Tisch auf sie warten, und dass er nie zu spät kam - es sei denn, es gab einen Notfall, aber dann würde er ihr eine Nachricht schicken.
Sie zog ihr Handy heraus. Keine Nachrichten.
Er hatte das Acquitaine vorgeschlagen, weil er in Chestnut Hill wohnte. Sie war froh, dass er keins der Nobelrestaurants in der Innenstadt ausgesucht hatte. Für das lockere Ambiente eines Bistros musste man sich nicht so aufdonnern. Nachdem sie am Nachmittag wie in einer Slapstick-Komödie nacheinander alle ihre Kleider aus dem Schrank gerissen und anprobiert hatte, war die Entscheidung schließlich für das Outfit gefallen, das sie als allererstes angehabt hatte: eine schwarze Leinenhose, ein weißes ärmelloses Shirt und ein schwarzer Blazer. Dazu schwarze Riemchensandalen mit mittelhohem Absatz. Laut seinem Profil war Daniel eins achtzig groß - mit diesen Schuhen brachte sie es auf eins fünfundsechzig.
Nicht dass sie schwindelerregende Pumps in ihrem Schrank gehabt hätte. Eine von Charlies Regeln: keine Stilettos. Und kein roter Nagellack.
«Frauen, die roten Nagellack tragen, sind Huren oder Callgirls», hatte Charlie gleich am Anfang ihrer Beziehung erklärt. «Vielleicht ist es ihnen nicht bewusst, aber das sind die Signale, die sie aussenden.»
Wenn sie auf einer Party einer Frau mit rotem Nagellack begegnet waren, hatte Charlie Ellie immer einen vielsagenden Blick zugeworfen und genickt, als wollte er sagen: «Schau dir die Schlampe an», und Ellie hatte jedes Mal Angst gehabt, die Frauen könnten die Verachtung in seinen Augen bemerken.
In Charlies Welt waren Stilettos zwar nicht ganz so nuttig wie rote Nägel, doch beinahe noch mehr zu verurteilen, verwiesen sie doch auf Liederlichkeit hinter einer glamourösen Fassade.
Die Ironie traf sie wie ein Keulenschlag, als sie in der Gesellschaftsspalte des Boston Magazine die Frau sah, wegen der er sie verlassen hatte. Das Foto zeigte sie in einem Designer-Kleid, mit unglaublich hohen Absätzen und knallrotem Nagellack.
Sie ist zehn Jahre älter als ich, tut wie selbstverständlich alles, was du bei mir schrecklich fandest, und dennoch hast du dich Hals über Kopf in sie verliebt. Wie soll ich das verstehen, Charlie?
Ellie hatte das Foto viel zu lange angestarrt, mit wild klopfendem Herzen, bevor sie die Zeitschrift in den Papierkorb warf.
Heute Abend trug sie zwar keine High Heels, aber sie hatte sich die Nägel rot lackiert, eine kleine, doch bedeutungsvolle Geste der Unabhängigkeit.
Es reicht. Wenn du noch länger hier draußen rumstehst, wird Daniel dich für unhöflich halten. Ellie holte tief Luft, drückte die Tür auf und betrat das Lokal. Links am Eingang stand das Pult mit dem Reservierungskalender, und bevor sie der Versuchung nachgeben und auf dem Absatz kehrtmachen konnte, fragte eine junge dunkelhaarige Kellnerin: «Kann ich Ihnen helfen?»
«Ich bin verabredet ... Er müsste schon da sein. Daniel Litman?»
Die junge Frau sah in das große Buch, das offen auf dem Pult lag. «Ja, er ist da. Bitte folgen Sie mir.» Die Kellnerin führte sie an der gut besetzten Bar und ein paar Sitznischen im vorderen Teil des Restaurants vorbei in den Hauptraum mit den runden Tischen und den Spiegeln an den Wänden, der einem französischen Bistro nachempfunden war. Der Laden brummte, was an einem Donnerstagabend im Juni nicht verwunderte. Sie sah Studenten mit ihren Eltern, vielleicht feierten sie das bestandene Examen; Paare, die romantisch zu Abend aßen, und einen Tisch mit sechs älteren Damen, zu denen die beiden Raucherinnen von eben gehörten.
Und dann, an einem Tisch neben den Raucherinnen, mitten im Raum, entdeckte sie ihn. Er saß von ihr abgewandt. Und er betrachtete sich gerade im Spiegel, kämmte sich mit der Hand das Haar zurück - eine Geste, die sie sofort um sechzehn Jahre zurückversetzte.
Ein paar Wochen nachdem sie Charlie kennengelernt hatte, hatten sie das Spiel Was du liebst, was du hasst gespielt.
«Ich hasse Männer, die sich in der Öffentlichkeit im Spiegel ansehen», stand ganz oben auf ihrer Hass-Liste. Und auf Charlies Liste stand das Pendant dazu: «Ich hasse Frauen, die sich am Restauranttisch schminken.»
Daniel Litman fing ihren Blick im Spiegel auf und erhob sich sofort, um sie herüberzuwinken.
«Ellie», sagte er, als sie vor ihm stand. «Hallo.»
Er trat einen Schritt vor, um sie auf die Wange zu küssen, doch sie hatte ihm schon die Hand entgegengestreckt. Dann, in comedyreifer Umkehr, trat er zurück und streckte die Hand aus, während sie vortrat und ihre Hand wegzog.
«Hoppla!», sagte er. «Noch mal von vorne?»
Er hielt ihr die Hand hin, und sie schüttelte sie. Sie hatte einen schmerzhaften Händedruck erwartet und war ein wenig überrascht über seine Sanftheit. Doch es war auch kein schlaffer Händedruck, und Ellie war außerdem dankbar, dass Daniel die peinliche Anfangssituation mit seinem Kommentar aufgelockert hatte.
«Ich hoffe, Sie sind mit dem Lokal einverstanden», sagte er, als sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. «Es war egoistisch von mir, einen Laden in meiner Gegend auszuwählen, tut mir leid. Wahrscheinlich wären Sie lieber in die Innenstadt gegangen.»
«Nein, nein, es ist schön hier. Ich kenne das Lokal. Es gefällt mir gut.»
«Eigentlich hätte ich lieber einen Tisch ganz hinten an der Wand gehabt, aber die waren alle besetzt.» Er setzte sich und lächelte sie an.
«Warum ganz hinten?»
«Dann hätte ich schnell durch die Hintertür verschwinden können, wenn Sie anders ausgesehen hätten, als ich gehofft habe. Oh, nein.» Er hob die Hände. «Sehen Sie mich nicht so strafend an. Sie wissen doch sicher, dass manche Leute retuschierte Bilder von sich ins Netz stellen.»
Debby hatte ihr davon erzählt, aber die Art, wie er das Thema ansprach, erweckte den Eindruck, als hätte er jede Menge Erfahrung mit Internet-Dates. Was er in seinen E-Mails bestritten hatte.
«Oh, nein. Das klingt jetzt vielleicht so, als würde ich das öfter machen. Aber das tue ich nicht, ich schwöre es. Das hier ist erst das dritte Mal, dass ich jemanden auf diese Art kennenlerne. Ich wollte nur sagen, dass man in dieser Internet-Welt nie weiß, wer wer ist, wissen Sie, was ich meine? War vielleicht ein bisschen geschmacklos von mir.»
Daniel sah genauso aus wie auf dem Foto. Blond und athletisch, als würde er regelmäßig Sport treiben oder auf Berge steigen. Was er nicht tat, das wusste sie. Und es war auch das gleiche Jungsgesicht wie auf dem Foto, es bildete einen Kontrast zu seinem männlichen Körperbau und auch zu seinen zweiundvierzig Jahren. Unwillkürlich fragte sie sich, ob ein kantiges, zerklüftetes Gesicht seinen Patienten nicht lieber wäre. Wenn man sein Leben in die Hände eines Arztes legen musste, sehnte man sich vielleicht nach jemandem, der alt und weise aussah, eine Aura von Erfahrung war doch immer irgendwie beruhigend.
«Was ich eigentlich sagen wollte: Sie sehen in natura genauso toll aus wie auf dem Foto», fuhr Daniel fort. «Möchten Sie ein Glas Wein?»
«Ja, bitte.»
«Rot oder weiß?»
«Rotwein bitte.»
«Sehr gut. Lassen Sie uns erst das Essen aussuchen, dann ist das erledigt, und wir können uns gleich ins Gespräch stürzen.» «Einverstanden.»
Er war offensichtlich gut darin, Dinge zu regeln. Sie bekamen die Speisekarten, hatten genug Zeit hineinzusehen und konnten dann schnell bestellen, ohne zwischendurch Ewigkeiten warten zu müssen. Auch Ellies Glas Wein brachte die Kellnerin rasch.
«Auf unsere erste Begegnung», sagte Daniel und hob sein Glas.
«Zum Wohl», antwortete sie.
Charlie hatte sie damals auf einer Party bei Rebecca kennengelernt, einer Kommilitonin von der Boston University, die in der Stadt, nicht auf dem Campus wohnte. Ellie war in der Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, nachdem sie zu viele Erdnüsse gegessen hatte, und Charlie kam herein, um sich eine Cola zu holen. Sie kamen ins Gespräch und saßen schließlich bis zwei Uhr früh in der Küche. Es war so leicht gewesen, so natürlich, und so ganz anders als dieses angestrengte Abendessen.
«Ich bewundere Ihren Beruf sehr, Daniel», sagte sie nach dem ersten Schluck Wein. «Onkologie ist bestimmt kein einfaches Fach.»
«Nun ja, das reine Vergnügen ist es nicht. Aber es ist eine Herausforderung.»
«Auf dem Weg hierher dachte ich daran, dass es Ihren Patienten richtig schlechtgehen muss, wenn sie zu Ihnen kommen. Der Schock, die Angst, das Grauen. Es ist das Wort Krebs, nicht wahr? Wie es in unseren Sprachgebrauch eingegangen ist - Sie wissen schon: Terrorismus ist wie ein Krebsgeschwür, das sich auf der Welt ausbreitet. Keiner würde sagen: Terrorismus ist wie ein Herzinfarkt.»
Das klang einstudiert. War es auch.
Doch er nickte, als wäre er interessiert, und sie entspannte sich ein wenig.
«Da haben Sie recht. Das Wort Krebs ist so belastet, weil die Krankheit so heimtückisch ist. Herzinfarkte breiten sich nicht aus. Krebs schon. Natürlich heißt das nicht, dass Herzinfarkte weniger tödlich sind.»
«Natürlich nicht.»
«Und Sie haben auch recht, was meinen Beruf angeht. Die Menschen, die zu mir kommen, sind nervös und haben Angst. Freiwillig kommt niemand. Zu keinem Arzt geht man freiwillig, nicht wirklich. Denken Sie nur an den Zahnarzt.» Er lächelte, und sie konnte sehen, dass er oft zum Zahnarzt ging.
Es war ein seltsames Gefühl, ein wenig über ihn zu wissen, aber dann auch wieder überhaupt nichts. Seine Antworten vor allem auf die persönlichen Fragen der Dating-Webseite hatten ihr gefallen; er hatte Sinn für Humor, da klang nichts Verschrobenes, Verzweifeltes oder Selbstherrliches durch. Und die E-Mails, die sie einander geschrieben hatten, waren kurz, aber nett. Auch wenn sie wegen des Treffens nervös gewesen war, hatte Ellie sich darauf gefreut, ihn persönlich kennenzulernen. Aber das änderte nichts daran, dass sie füreinander Fremde waren.
Andererseits, ermahnte sie sich, beim ersten Rendezvous kannte man den anderen fast nie gut.
«Ich sollte es Ihnen lieber gleich sagen.» Daniel beugte sich vor und strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn. «Ich hasse es, über Krebs zu sprechen. Ich muss den ganzen Tag damit leben. Und selbst in meiner Freizeit gibt es ständig Leute, die jemanden kennen, der Krebs hat, und die wollen, dass ich denjenigen heile. Ehrlich gesagt, hasse ich es, nach Feierabend über das Thema zu reden.»
«Das verstehe ich. Sehr gut sogar.» Ellie versuchte, sich rasch ein anderes Thema einfallen zu lassen, doch nach wenigen Sekunden wurde ihr klar, dass sein Beruf einer der Gründe war, warum sie Daniel interessant fand: Zwar wollte auch sie nicht ausführlich über Krebs reden, aber die Tatsache, dass er kranken Menschen half und Leben rettete, beeindruckte sie. In ihrer Vorstellung war er grenzenlos gütig und mitfühlend - was vielleicht stimmte -, doch sie musste zugeben, dass der erste Moment, als er sich selbst im Spiegel ansah, sie misstrauisch gemacht hatte. Aber das war echt nicht fair. Er hatte eine Chance verdient. Sie musste die Szene vergessen und sich mehr Mühe geben.
«Also ... Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn», sagte er, bevor sie sich eine andere Frage zurechtlegen konnte. «Tim. Er ist fünfzehn, oder? Wo ist er heute Abend?»
«Er trifft sich mit Freunden. Heute ist sein letzter Abend in der Stadt, dann wird er nur noch an den Wochenenden hier sein, bei seinem Vater. Wir ziehen nämlich morgen um. Es ist also ein bisschen verrückt, dass ich heute Abend mit Ihnen essen gehe, aber - das habe ich Ihnen alles schon in meinen E-Mails erzählt.»
«Ja. Aber ich habe Ihnen noch nicht erzählt, dass ich vielleicht auch umziehe. Etwas weiter weg als Sie. Vor einer Weile hatte ich mich um eine Stelle in London beworben, und jetzt sieht es so aus, als würde ich sie bekommen. Ich habe erst heute Nachmittag davon erfahren. Wenn nichts mehr dazwischenkommt, ziehe ich für zwei Jahre nach England. Am Sonntag geht es los.»
Im gleichen Moment kam die Kellnerin mit den Vorspeisen und stellte sie vor ihnen auf den Tisch.
Daniels Ankündigung war ziemlich verwirrend. Nicht dass sie etwa schon geübt hätte, mit Ellie Litman zu unterschreiben, aber es war ein riesengroßer Schritt für sie gewesen, sich überhaupt für einen Mann zu interessieren. Sie hatte sich eigentlich nur auf Debbys Drängen hin beim Online-Dating angemeldet, ohne zu erwarten, dass sie jemanden würde kennenlernen wollen. Und so war sie, als Daniel im Cyberspace auftauchte, positiv überrascht gewesen. Selbst der Stress vor dem Kleiderschrank hatte Spaß gemacht und sie an früher erinnert, als sie noch Erwartungen gehabt hatte. Und jetzt verließ er das Land, bevor sie die Chance hatte, ihn besser kennenzulernen.
«Es ist noch nicht hundertprozentig sicher, ob es klappt», sagte Daniel. «Da ist immer viel Politik im Spiel. Außenstehende ahnen nicht, wie viel Politik in der Medizin steckt. Ich darf gar nicht davon anfangen ...»
Und dann setzte er zu einer ausführlichen Beschreibung sämtlicher Einzelheiten an. Sie musste sich anstrengen, die Namen aller Ärzte und Administratoren auseinanderzuhalten, die er erwähnte, und sie musste sich noch mehr anstrengen, vor dem stetig ansteigenden Lärmpegel im Hintergrund überhaupt etwas zu verstehen. Inzwischen wurden die Frauen am Nebentisch immer ausgelassener, und Ellie ertappte sich dabei, wie sie deren Gegacker lieber lauschte als den weitschweifigen Ausführungen ihres Gegenübers. Offensichtlich war er mit Leidenschaft bei der Sache, und das bewunderte sie, aber sie kannte die Beteiligten nicht, und die politische Dimension der medizinischen Welt war und blieb ihr ein Rätsel. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab - zum Nachbartisch, zu ihrem Sohn Tim, zum Umzug am nächsten Tag -, und dann musste sie sich zusammenreißen und versuchen, den Faden wiederzufinden. In seinen E-Mails hatte er sich kurz gefasst. Doch jetzt kam er vom Hundertsten ins Tausendste, und sie hatte Schwierigkeiten, einen roten Faden in dem Gesagten zu finden.
Sie waren fertig mit dem Hauptgericht, und er redete immer noch, was sie gleichzeitig rührend und ärgerlich fand.
Mochte sie ihn?, fragte sie sich, als er mit einer weiteren Anekdote über einen skrupellosen, ehrgeizigen Kollegen begann.
Ja.
Irgendwie.
Er war intelligent, manchmal lustig. Und seine blaugrünen Augen waren anziehend.
Aber da war nichts, was ihr Herz höher schlagen ließ, und ihre anfängliche Enttäuschung darüber, dass er wahrscheinlich nach England zog, legte sich. Sie fühlte sich weit entfernt von ihm, fast als würde sie ihn im Fernsehen sehen, nicht hier direkt vor sich, am selben Tisch.
So unpassend es war, unwillkürlich verglich sie dieses Treffen mit ihrer ersten Begegnung mit ihrem Exmann Charlie. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber fast. Liebe aufs erste Gespräch sozusagen. Denn als sie morgens um zwei Rebeccas Küche verließen und Charlie sie zurück zu ihrem Wohnheim brachte, war sie hoffnungslos in ihn verknallt. Hals über Kopf, mitsamt den Flugzeugen im Bauch. Noch wochenlang schlug ihr Magen Kapriolen, jedes Mal, wenn sie ihn sah.
«Was ist denn mit dir los, Ellie? Du bist plötzlich so launisch», hatte ihre Mutter gefragt, als sie, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, die Feiertage daheim in New York verbrachte. Ellie hatte getan, als wäre nichts, doch beim Abendessen hatte ihre Mutter sie durchdringend angesehen und festgestellt: «Du bist launisch, und du isst nichts. Wie heißt er?»
«Happy birthday to you ...»
Erschrocken fuhr Ellie herum und sah, wie die Kellnerin und zwei Kellner eine Geburtstagstorte zum Nachbartisch brachten. Dann sah sie Daniel an, der schief lächelte und die Augen verdrehte, bevor er sich dem Rest des Restaurants beim Happy Birthday anschloss. Ellie fiel auch mit ein, obwohl sie wusste, dass sie keine gute Singstimme hatte. Fünf der Damen erhoben sich, die sechste blieb sitzen, um den Kuchen in Empfang zu nehmen. Ihre Freundinnen jubelten und applaudierten, als sie die Kerzen ausblies.
«Jetzt wünschte ich doch, wir hätten einen Tisch ganz hinten - nicht wegen der Hintertür, sondern um dem hier zu entkommen. Hoppla, schon wieder.»
«Hoppla» war ein Wort, das so wenig zum Bild eines erfolgreichen zweiundvierzigjährigen Onkologen passte, dass sie sich unwillkürlich fragte, was Daniels Patienten denken mochten, wenn ihm der Ausdruck in der Sprechstunde herausrutschte.
«Jetzt habe ich die ganze Zeit über Krankenhauspolitik geredet, und über Sie haben wir noch gar nicht gesprochen. Ihre E-Mails haben mir sehr gefallen.»
«Danke. Ich habe Ihre auch gern gelesen. Aber diese ganze Internet-Geschichte ist mir irgendwie fremd.»
«Ich weiß genau, was Sie meinen. Mir ist schleierhaft, warum ich überhaupt mitgemacht habe. Eine Freundin hat mich dazu überredet. Ja, ich weiß, das sagt jeder, aber es ist wirklich wahr. Angeblich arbeite ich viel zu viel, und angeblich ist es ungesund, zweiundvierzig Jahre alt und unverheiratet zu sein und sich nicht hin und wieder mit einer Frau zu treffen. Sie hat gesagt, Online-Dating wäre die einfachste Lösung.»
«Bei mir war es genauso.» Ellie lächelte. «Ich meine, mich hat auch eine Freundin überredet.»
«Aber es ist trotzdem eine merkwürdige Art sich kennenzulernen, finden Sie nicht?» Er beugte sich vor. Mit dem Unbehagen, das sie teilten, hatten sie endlich einen gemeinsamen Nenner.
«Total verrückt.»
«Ich habe Sie gegoogelt, müssen Sie wissen. Es klingt so übergriffig, aber heutzutage macht man das beinahe automatisch.» Die blonde Locke hing ihm wieder in die Stirn, und er strich sie zurück. Unwillkürlich stellte sie sich ihn mit einer Haarspange vor und musste ein Lächeln unterdrücken. «Aber ich habe Sie nicht gefunden. Es gab mehrere Ellie Walters, aber keine, die Sie zu sein schien. Haben Sie mich auch gegoogelt? »
«Ja.» Sie wurde rot. «Meine Freundin Debby - die mich zu der ganzen Sache überredet hat - meinte, ich sollte sichergehen, dass Sie auch sind, wer Sie zu sein vorgeben.»
«Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Das macht doch jeder. Manchmal kommt es mir vor, als würde uns das Internet, anstatt uns näher zusammenzubringen, voneinander entfernen und misstrauisch machen. Wir sitzen allein vor dem Computer, schicken Nachrichten in den Cyberspace und sammeln Informationen über Leute, anstatt uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber so was dürfte ich gar nicht sagen. Ich bin Wissenschaftler. Ich darf den technologischen Fortschritt nicht kritisieren.»
«Ich frage mich manchmal, wie E-Mails das Schreiben verändert haben; ob wir anders geschrieben haben, als wir noch Papier und Stift dazu benutzt haben. Ehrlicher oder so.»
«Wahrscheinlich schon. Aber erzählen Sie mal, Ellie. Waren Sie je in Europa? Reisen Sie gern?»
Schlagartig fühlte sie sich missverstanden. Er hatte einfach das Thema gewechselt und ihr eine typische Kennenlernfrage gestellt, als sie gerade das Gefühl hatte, sie kämen sich näher.
«Ich war einmal in Paris», antwortete sie, ohne zu erwähnen, dass es ihre Flitterwochen gewesen waren. «Aber ich wollte schon längst mal wieder hin. Sie freuen sich sicher darauf, nach London zu ziehen.»
«Sehr. Ich war natürlich schon da, beruflich, aber fest für den National Health Service zu arbeiten, ist eine faszinierende Aussicht.»
Und dann fing er wieder an und umriss mit der gleichen Leidenschaft, mit der er vorher über Krankenhauspolitik gesprochen hatte, die Vor- und Nachteile eines staatlichen Gesundheitswesens. Kurz hatte sie geglaubt, sie könnten sich über das Mailen und Briefeschreiben unterhalten, darüber, wie die Menschen miteinander kommunizierten, doch es klappte einfach nicht. Und sie hatte wirklich keine Lust auf weitere Fragen im Stil von «Reisen Sie gern?» und «Was sind Ihre Hobbys?». Das hatten sie schon in ihren Online-Profilen abgehakt.
Trotzdem verging der Rest des Abends rasch. Daniel schwadronierte über Leben und Arbeit in London, doch irgendwann bremste er sich und entschuldigte sich wieder dafür, dass er das Gespräch dominierte.
«Was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte ... Warum Bourne? Von allen Orten auf der Welt, warum ausgerechnet dieser?»
Kurz vorher hatte Daniel der Kellnerin ein Zeichen gegeben, und bevor Ellie antworten konnte, war sie da. Ellie griff nach ihrer Handtasche, um ihre Hälfte zu begleichen, doch er hatte schon ein Bündel Geldscheine in der Hand, das er der Kellnerin reichte. «Das geht auf mich, Ellie. Sie sind in meine Ecke der Stadt gekommen, lassen Sie mich wenigstens bezahlen.»
«Das ist wirklich nett von Ihnen.»
«Nicht der Rede wert. Aber Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie nach Bourne zieht?»
«Meine Tante hatte vor langer Zeit einmal ein Haus auf Mashnee Island in Boume gemietet. Ich war vierzehn und habe zwei Ferienwochen bei ihr verbracht. Es war eine wunderschöne Zeit, und als ich beschloss, aus Boston wegzuziehen, war Bourne der erste Ort, der mir einfiel.»
«Es ist gleich am Anfang von Cape Cod, oder?»
«Ja, direkt hinter der Brücke.»
Eine peinliche Pause entstand, und sie überlegte krampfhaft, wie sie sie überbrücken sollte, doch dann sagte er: «Hören Sie, wahrscheinlich haben Sie inzwischen gemerkt, dass ich nicht gut in Smalltalk bin. Entweder ich kaue Ihnen das Ohr ab, oder ich versuche Witze zu reißen. Das haben Sie zu Ihrem Glück noch nicht erlebt. Ich schätze, das ist einer der Gründe, warum ich nie geheiratet habe.» Er zog eine Grimasse. «Ich bin sehr gut in meinem Beruf, aber ich bin nicht gut - und nicht entspannt -, wenn es um Dates geht.»
...
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Autoren-Porträt von Brooke Morgan
Brooke Morgan wurde in den USA geboren und lebt heute mit ihrem Mann und fünf Kindern in London.Sophie Zeitz, geb. 1972 in Frankfurt am Main, hat Amerikanistik, Spanisch, Philosophie und Literaturübersetzung studiert. Heute lebt und arbeitet sie als Verlagslektorin und Literaturübersetzerin in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Brooke Morgan
- 2012, 377 Seiten, Maße: 14,2 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Engl. v. Zeitz, Sophie
- Übersetzer: Sophie Zeitz
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250320
- ISBN-13: 9783805250320
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