Was das Herz weiß
Nick und Jane führen seit zwölf Jahren eine glückliche Ehe. Sie sind finanziell gut gestellt, haben keine Kinder, machen besondere Urlaube und lassen es sich gut gehen. Doch dann bringen zwei Ereignisse ihr scheinbar unerschütterliches...
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Produktinformationen zu „Was das Herz weiß “
Nick und Jane führen seit zwölf Jahren eine glückliche Ehe. Sie sind finanziell gut gestellt, haben keine Kinder, machen besondere Urlaube und lassen es sich gut gehen. Doch dann bringen zwei Ereignisse ihr scheinbar unerschütterliches Glück ins Wanken. Janes Mutter Vera wird zum Pflegefall und obwohl Jane unter ihren Bosheiten und Schikanen leidet, nimmt sie sie zuhause auf. Gleichzeitig zieht im Nachbarhaus die alleinerziehende und sehr attraktive Evie ein. Und plötzlich bringt eine Lawine von dramatischen Schicksalsschlägen alles, woran Jane so sehr geglaubt hat, durcheinander.
Eine bewegende Geschichte über die Kraft der Liebe und den Mut, im Leben etwas zu wagen!
Lese-Probe zu „Was das Herz weiß “
Was das Herz weiß von Kay LangdaleErstes Kapitel
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Beginnen wir mit einer Beziehung, die nicht mehr auf Wolke sieben schwebt, nicht an dem Punkt, wo alles noch auf betörende, beklommene Weise lebendig und neu ist. Beginnen wir stattdessen zu einer Zeit, als diese Beziehung solide und gefestigt ist, als Jane und Nick Rogers bereits seit zwölf Jahren verheiratet sind, eine zufriedene, glückliche, - anscheinend aus freien Stücken - kinderlose Ehe führen und mit einem Lächeln und federnden Schrittes den Weg in ihr fünftes Lebensjahrzehnt angetreten haben. Das Glück lebt immer im Moment, doch mit den Jahren werden seine Auswirkungen immer sichtbarer. Für Jane und Nick - beide mit einer beruflichen Karriere, die sie motiviert und zufrieden macht - ist ihr Leben wie etwas, das man in der Hand halten, drehen und wenden und schließlich für gut befinden kann. Unter dem Strich (und das gestehen sie sich nur unter vier Augen ein, wenn sie im Dunkel ihres Schlafzimmers beieinanderliegen) ist es wesentlich besser gelaufen, als sie es sich je erhoff t haben. Dabei hat es durchaus auch düstere Zeiten gegeben: Vor fünf Jahren sind Nicks Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und auch Janes Vater hat schon vor langer Zeit seinen letzten Schnaufer getan. Doch abgesehen von diesen Schicksalsschlägen hatten sie immer die Wahl und konnten sich aussuchen, wo und wie sie leben. Und dafür sind sie dankbar, denn sie wissen, dass es durchaus keine Selbstverständlichkeit ist.
Wie man sich denken kann, führen sie auch wirtschaftlich ein entspanntes Leben, da sie sich gegen Kinder entschieden haben. Nicks einziger Luxus ist ein Auto, nach dem sich kleine Jungs umschauen. Sie haben eine Kaffeemaschine, die Milch zu einem dicken Schaum aufschlägt. Filme schauen sie sich zu Hause auf einem 42-Zoll-Bildschirm an. Ihr Fernsehzimmer ist ziemlich klein, weshalb die Leinwand riesig wirkt. Dabei essen sie Popcorn, das sie mit den Händen aus einer großen Porzellanschüssel schaufeln. Sie hören Puccini und Mozart und Chopin und Bach, und in ihrem CD-Regal türmt sich eine ganze Sammlung von aktuellen Songwritern, die es laut Nick durchaus mit den Archiven von Radio 2 aufnehmen könnte. Wenn sie in Urlaub fahren, suchen sie bewusst - und weil sie es sich leisten können - nach Orten abseits der üblichen Trampelpfade, und Jane trägt einen Brillanten im Smaragdschliff , der so kühl glitzert wie ein Eiswürfel.
Sie sind gute Menschen - gut im Sinne von anständig. Es ist die Art von Anstand, die mit Freundlichkeit und einem ausgeprägten sozialen Gewissen einhergeht. Sie trennen ihren Müll, sorgen sich um ihre CO2-Bilanz, spenden großzügig für gemeinnützige Zwecke, lassen keinen Abfall liegen, und im vergangenen Jahr haben sie jeden Sonntag von ihrem Mittagessen einen Teller zurechtgemacht und einem alten Witwer im Dorf gebracht, die ganzen sechs Monate hindurch, die er seine Frau überlebte. Sie wehren sich weder gegen Überwachungskameras noch gegen DNA-Banken oder den genetischen Fingerabdruck auf Personalausweisen, weil sie immer noch auf eine Gesellschaft hoff en, in der ein friedliches Miteinander herrscht, in der man nicht blutrünstig mit Äxten aufeinander losgeht, sondern seine Waffen wegen Nutzlosigkeit in den Schrank gesperrt hat.
Sie sind tolerant, gutmütig, entbehren jeglicher sozialen Selbstgefälligkeit und sind selbstkritisch genug, um Freunde nicht durch ein nach außen allzu perfekt organisiertes Leben abzuschrecken. Kurz gesagt führen sie eine Ehe, um die man sie leicht beneiden könnte und die so mancher wohl gerne selbst führte, so als würde man frösteln und sich bei jemandem einen Mantel ausborgen, um sich eine Weile daran zu wärmen.
Dabei würden sie selbst ihr Leben durchaus nicht als nahtlos oder makellos betrachten. Die Frage, ob sie es nicht schaff en könnten, ans Meer zu ziehen und trotzdem ihre guten Jobs zu behalten, ist ein häufiges Gesprächsthema. Auch würden sie sich gern einen Hund zulegen, weil sie an Wochenenden leidenschaftlich gern spazieren gehen, halten es aber für unfair, ein Haustier zu haben, wenn man die ganze Woche über arbeitet. Schon seit langem ist es bei ihnen ein running gag, dass Nick, wenn sie vor dem Spazierengehen ihre Mäntel nehmen und sich die Schuhe zubinden, pfeift und Komm schon, alter Junge sagt und die Tür einen Tick länger aufhält, als wäre da ein begeisterter Labrador, der mit ihnen zusammen nach draußen tapst.
Ihr Alltag ist ebenso gewöhnlich wie außergewöhnlich; kein Schlangestehen für Trinkwasser am Brunnen, keine allnächtliche Flucht in Luftschutzkeller, keine Supermarktregale, in denen gähnende Leere herrscht, kein Baby auf Janes Armen, dem eine Fliege herzlos über Mund und Augenlider krabbelt. Ihr Miteinander ist erfüllt von Lebenslust und Energie und voller Vorfreude auf all die Dinge, die sie sich vorgenommen haben (zum Beispiel auf die Party, die sie im November mit sämtlichen Freunden planen, mit einem gewaltigen, knisternden Lagerfeuer und Tomatensuppe, die in einem riesigen Kessel vor sich hin blubbert). Nick ist Mitglied der örtlichen CricketMannschaft und fährt jeden Sonntag zum Hockeytraining in die Stadt. Sie spielen Tennis, und an Sommerabenden mixen sie sich Mojitos mit frischer Minze und setzen sich in den Garten, um Erbsen zu pulen. Manchmal, wenn sie an einem Abend unter der Woche beide an ihren Computern sitzen, schaut einer auf, sieht den anderen an, wie er in seine Arbeit versunken ist, und verspürt einen winzigen Moment deutlicher Zuneigung, bevor er sich wieder seinem Bildschirm zuwendet. Im Bett fährt Nick zärtlich die Konturen von Janes Hüftknochen nach, der sich im Liegen immer noch deutlich abzeichnet. «Der gehört mir», sagt er dann, «daran würde ich dich sogar mit verbundenen Augen erkennen.»
Was ihre Beziehung in erster Linie kennzeichnet, ist, dass sie wie Freunde miteinander umgehen. Es macht Nick betroff en, wenn jemand von seinem Leben erzählt und dabei durchblicken lässt, seine Ehe sei nichts anderes als eine Art Belagerungszustand. Er fragt sich, ob es nicht gerade die Freundlichkeit ist, die in einer Beziehung als Erstes versiegt, und fi ndet, wenn man in der Liebe die
Wahl zwischen Aufregung und Freundlichkeit hätte, würden die meisten Menschen vermutlich für Letzteres plädieren: für einen dicken Klacks Freundlichkeit, den man großzügig verteilen kann wie Butter auf einer Scheibe Weizentoast. Jedenfalls lässt sich genau so die Art und Weise beschreiben, wie Jane und er miteinander umgehen. Daran haben auch die Reibereien des Alltags nichts ändern können.
Nick erinnert sich, wie ein Freund ihm einmal sagte, man müsse sich den Weg in das Herz eines anderen erschließen wie auf einer Landkarte. Damals wurde ihm bewusst, dass es bei Jane anders war. Sie landete direkt mitten in seinem Herzen, ohne dass sie einen Wegweiser gebraucht hätte, in exakt dem Moment, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Schon von Beginn an hatte zwischen ihnen eine Klarheit geherrscht, die es ihnen leicht machte, eine ernsthafte Bindung einzugehen.
Am Sonntagmorgen bleibt Jane oft im Bett liegen, während Nick aufsteht, um Cappuccino und Pfannkuchen mit knusprigen Speckstreifen zum Frühstück zuzubereiten. Während er in der Küche zugange ist, singt er vor sich hin, und die Stimme, die die Treppe hochkommt, klingt melodisch und angenehm. Jane hat schon immer geglaubt, man könne nicht singen, wenn man unglücklich sei, als wäre man von einer Melancholie umhüllt, die die Töne davon abhält herauszukommen. Deshalb streckt sie im Bett genüsslich die Beine aus und wackelt mit den Zehen, während ihr Mann da unten Frühstück macht und singt, weil sich die Liebe in ihrer Ehe immer noch so anfühlt, als hätten sie unglaubliches Glück gehabt.
Als er damals um ihre Hand anhielt, waren sie gerade beim Skifahren in Kanada. Nick war schon oft Ski gefahren und bewegte sich schnell und waghalsig über die Piste. Immer wenn er unten ankam, hob er die Arme mit den Stecken hoch in die Luft, wie ein Sprinter, der im Ziel ein unsichtbares Band durchläuft. Es war eine Geste, die in Janes Augen pure Lebensfreude ausdrückte, ein Urvertrauen in das Gute im Menschen und in Entscheidungen, die man voller Zuversicht triff t. Rückblickend, so meint sie, hat genau dies ihr damals die Sicherheit gegeben, ihm zu folgen, wohin auch immer sein Weg ihn führen mochte.
Damals waren sie gemeinsam einen Abhang hinuntergefahren, vorbei an schneebedeckten Nadelbäumen, alle Geräusche um sie herum waren wie gedämpft, und hatten schließlich bei zwei Bäumen angehalten, in denen eine ganze Schar Meisenhäher hockte und sich an den leuchtend roten Beeren gütlich tat. Beim Klang von Nicks Stimme waren die Vögel aufgeflogen wie eine schwarze, wild flatternde Wolke in der weichen grauen Luft. Manchmal, wenn Jane Jahre später im schieferfarbenen Herbstlicht von der Arbeit nach Hause fährt und Vögel sieht, die von ihren Rastplätzen aufflattern und ein dichtes Fadenmuster an den Himmel malen, fühlt sie sich in jenen Moment zurückversetzt und empfindet ihn als ein Geschenk, das ihr ganz allein gehört.
Es ist ihnen beiden weitestgehend gelungen, beruflich erfolgreich zu sein, ohne die Karriere des anderen zu beeinträchtigen, bis auf die Zeit, als Nick für zwei Jahre nach Prag versetzt wurde. Jane machte sich damals selbständig und arbeitete von zu Hause aus, und sie bezogen eine kleine Wohnung an einem Platz, dessen Kopfsteinpflaster blau schimmerte, wenn es regnete. Jane schmückte das Wohnzimmer mit dicken Teppichen und Kerzen, gewöhnte sich das Whiskytrinken an, buk Obstkuchen, las alle Romane, die sie immer schon mal hatte lesen wollen, versuchte (mit geringem Erfolg) Tschechisch zu lernen und entwickelte ein besonderes Geschick darin, ihre Zehennägel rot zu lackieren. Als sie nach England zurückkehrten, brauchte sie eine Weile, um wieder Fuß zu fassen, doch das war ein durchaus akzeptables Zugeständnis. Auf jene Zeit blickt sie stets mit dem Gefühl zurück, sie sei praktisch ungetrübt gewesen.
Nick arbeitet im Marketing der Firma Unilever und genießt alle Privilegien eines Mannes, der es weit gebracht hat: ein Eckbüro mit Doppelfenstern und eine immer größer werdende Anzahl Menschen, die für ihn arbeiten. Meist beschäftigt er sich mit Waschmitteln, mit all den Tabletten und Kapseln und Flüssigkeiten und Gels, die die Wäsche noch sauberer und reiner machen. Er nahm aufmerksam an Diskussionsgruppen teil, in denen sich Frauen über die Tyrannei des Wäschekorbs beklagten, der immer nur überläuft und überläuft, als hätte er ein Eigenleben. Einmal hat er zu Jane gesagt, er frage sich, ob seine Karriere nicht gänzlich eines moralischen Wertes entbehre, wenn man einmal von der wirtschaftlichen Genugtuung absieht, dass durch ihre Produkte ganze Fabriken, Verpackungsanlagen, Werbeagenturen und Supermärkte am Leben gehalten und Arbeitsplätze geschaffen werden. Monate später las Jane ihm vor dem Schlafengehen eine Zeile aus einem Roman vor: Liebe lässt sich daran messen, was wir für die Wäschestücke des anderen empfinden. An dieser Zeile hat er sich festgehalten und ist dankbar dafür, denn er hat das Gefühl, dass sie seine Waschmittel mit einer emotionalen Bedeutung auflädt, die weit über die längst überholten Ansichten von fleißigen Hausfrauen und wohlbehüteten Kindern in sauberen weißen Hemdchen hinausgeht. Insgeheim gefällt es ihm, seine Produkte auf einer Art Achse der Liebe auszurichten.
Jane arbeitet für das Planungsbüro einer unabhängigen Schule und misst ihren Erfolg an den Mitteln, die für die Errichtung neuer Schulgebäude und Möbel und für die finanzielle Unterstützung begabter Schüler aus armen Verhältnissen aufgebracht werden. Sie ist verantwortlich für die Hochglanzbroschüren, die erklären, warum das Geld unbedingt gebraucht wird, organisiert Veranstaltungen mit potenziellen Spendern und Sommerbälle. Auf ihrem Schreibtisch steht ein kleines Gerät, das den Unterschied zwischen benötigtem und erreichtem Spendenaufkommen anzeigt, und wenn sie nachdenkt, rollt sie eine kleine Kugel zwischen beiden Fingern hin und her und hofft, die flinke Geschwindigkeit, mit der sich das Bällchen vorwärtsbewegt, schlägt sich auch in dem nieder, was sie noch erreichen wird.
Sie leben in einer Zeit, in der Zielstrebigkeit und Ausgeglichenheit zu Mantras geworden sind, und man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass sie beides erreicht haben. Sie führen ein Leben, das seinen festen Platz im menschlichen Miteinander hat, und finden dennoch immer Zeit zum Durchatmen. Natürlich gibt es Eigenheiten, die ihr Alter und ihr sozialer Status mit sich bringen. Jane hat im Winter kalte Füße im Bett, weshalb sie ihre Beine gerne an Nick kuschelt und Kaschmirsocken trägt. Nick legt bei Honig und Fleisch besonderen Wert auf Qualität, und manchmal fahren sie sonntags mit dem Fahrrad zu einem Bauern und kaufen Bio-Rollbraten - marmoriertes und rubinrotes Fleisch - und ein Glas Lavendelhonig. Jane braucht seit neuestem eine Brille für Kleingedrucktes, wenn das Licht schlecht ist, und weil sie keine Lust hat, sie ständig zu suchen, hat sie sich ein halbes Dutzend billige Exemplare gekauft und überall im Haus verteilt. Für Nick war das Maß voll, als sie einmal eine Brille in der Gabelung des Kirschbaums deponiert hatte, unter dem sie am Wochenende Zeitung liest. Nick wiederum hat sich zum leidenschaftlichen Experten entwickelt, wenn es um die bequemsten Wanderschuhe geht, um Schwimmbrillen, die kein Wasser hereinlassen, oder um Nachttischlampen, die klein, aber hell genug sind, um ihm das Lesen zu ermöglichen, ohne dabei Jane aufzuwecken.
Copyright der Originalausgabe © by Kay Langdale
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Übersetzung: »Judith Schaab«
Beginnen wir mit einer Beziehung, die nicht mehr auf Wolke sieben schwebt, nicht an dem Punkt, wo alles noch auf betörende, beklommene Weise lebendig und neu ist. Beginnen wir stattdessen zu einer Zeit, als diese Beziehung solide und gefestigt ist, als Jane und Nick Rogers bereits seit zwölf Jahren verheiratet sind, eine zufriedene, glückliche, - anscheinend aus freien Stücken - kinderlose Ehe führen und mit einem Lächeln und federnden Schrittes den Weg in ihr fünftes Lebensjahrzehnt angetreten haben. Das Glück lebt immer im Moment, doch mit den Jahren werden seine Auswirkungen immer sichtbarer. Für Jane und Nick - beide mit einer beruflichen Karriere, die sie motiviert und zufrieden macht - ist ihr Leben wie etwas, das man in der Hand halten, drehen und wenden und schließlich für gut befinden kann. Unter dem Strich (und das gestehen sie sich nur unter vier Augen ein, wenn sie im Dunkel ihres Schlafzimmers beieinanderliegen) ist es wesentlich besser gelaufen, als sie es sich je erhoff t haben. Dabei hat es durchaus auch düstere Zeiten gegeben: Vor fünf Jahren sind Nicks Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und auch Janes Vater hat schon vor langer Zeit seinen letzten Schnaufer getan. Doch abgesehen von diesen Schicksalsschlägen hatten sie immer die Wahl und konnten sich aussuchen, wo und wie sie leben. Und dafür sind sie dankbar, denn sie wissen, dass es durchaus keine Selbstverständlichkeit ist.
Wie man sich denken kann, führen sie auch wirtschaftlich ein entspanntes Leben, da sie sich gegen Kinder entschieden haben. Nicks einziger Luxus ist ein Auto, nach dem sich kleine Jungs umschauen. Sie haben eine Kaffeemaschine, die Milch zu einem dicken Schaum aufschlägt. Filme schauen sie sich zu Hause auf einem 42-Zoll-Bildschirm an. Ihr Fernsehzimmer ist ziemlich klein, weshalb die Leinwand riesig wirkt. Dabei essen sie Popcorn, das sie mit den Händen aus einer großen Porzellanschüssel schaufeln. Sie hören Puccini und Mozart und Chopin und Bach, und in ihrem CD-Regal türmt sich eine ganze Sammlung von aktuellen Songwritern, die es laut Nick durchaus mit den Archiven von Radio 2 aufnehmen könnte. Wenn sie in Urlaub fahren, suchen sie bewusst - und weil sie es sich leisten können - nach Orten abseits der üblichen Trampelpfade, und Jane trägt einen Brillanten im Smaragdschliff , der so kühl glitzert wie ein Eiswürfel.
Sie sind gute Menschen - gut im Sinne von anständig. Es ist die Art von Anstand, die mit Freundlichkeit und einem ausgeprägten sozialen Gewissen einhergeht. Sie trennen ihren Müll, sorgen sich um ihre CO2-Bilanz, spenden großzügig für gemeinnützige Zwecke, lassen keinen Abfall liegen, und im vergangenen Jahr haben sie jeden Sonntag von ihrem Mittagessen einen Teller zurechtgemacht und einem alten Witwer im Dorf gebracht, die ganzen sechs Monate hindurch, die er seine Frau überlebte. Sie wehren sich weder gegen Überwachungskameras noch gegen DNA-Banken oder den genetischen Fingerabdruck auf Personalausweisen, weil sie immer noch auf eine Gesellschaft hoff en, in der ein friedliches Miteinander herrscht, in der man nicht blutrünstig mit Äxten aufeinander losgeht, sondern seine Waffen wegen Nutzlosigkeit in den Schrank gesperrt hat.
Sie sind tolerant, gutmütig, entbehren jeglicher sozialen Selbstgefälligkeit und sind selbstkritisch genug, um Freunde nicht durch ein nach außen allzu perfekt organisiertes Leben abzuschrecken. Kurz gesagt führen sie eine Ehe, um die man sie leicht beneiden könnte und die so mancher wohl gerne selbst führte, so als würde man frösteln und sich bei jemandem einen Mantel ausborgen, um sich eine Weile daran zu wärmen.
Dabei würden sie selbst ihr Leben durchaus nicht als nahtlos oder makellos betrachten. Die Frage, ob sie es nicht schaff en könnten, ans Meer zu ziehen und trotzdem ihre guten Jobs zu behalten, ist ein häufiges Gesprächsthema. Auch würden sie sich gern einen Hund zulegen, weil sie an Wochenenden leidenschaftlich gern spazieren gehen, halten es aber für unfair, ein Haustier zu haben, wenn man die ganze Woche über arbeitet. Schon seit langem ist es bei ihnen ein running gag, dass Nick, wenn sie vor dem Spazierengehen ihre Mäntel nehmen und sich die Schuhe zubinden, pfeift und Komm schon, alter Junge sagt und die Tür einen Tick länger aufhält, als wäre da ein begeisterter Labrador, der mit ihnen zusammen nach draußen tapst.
Ihr Alltag ist ebenso gewöhnlich wie außergewöhnlich; kein Schlangestehen für Trinkwasser am Brunnen, keine allnächtliche Flucht in Luftschutzkeller, keine Supermarktregale, in denen gähnende Leere herrscht, kein Baby auf Janes Armen, dem eine Fliege herzlos über Mund und Augenlider krabbelt. Ihr Miteinander ist erfüllt von Lebenslust und Energie und voller Vorfreude auf all die Dinge, die sie sich vorgenommen haben (zum Beispiel auf die Party, die sie im November mit sämtlichen Freunden planen, mit einem gewaltigen, knisternden Lagerfeuer und Tomatensuppe, die in einem riesigen Kessel vor sich hin blubbert). Nick ist Mitglied der örtlichen CricketMannschaft und fährt jeden Sonntag zum Hockeytraining in die Stadt. Sie spielen Tennis, und an Sommerabenden mixen sie sich Mojitos mit frischer Minze und setzen sich in den Garten, um Erbsen zu pulen. Manchmal, wenn sie an einem Abend unter der Woche beide an ihren Computern sitzen, schaut einer auf, sieht den anderen an, wie er in seine Arbeit versunken ist, und verspürt einen winzigen Moment deutlicher Zuneigung, bevor er sich wieder seinem Bildschirm zuwendet. Im Bett fährt Nick zärtlich die Konturen von Janes Hüftknochen nach, der sich im Liegen immer noch deutlich abzeichnet. «Der gehört mir», sagt er dann, «daran würde ich dich sogar mit verbundenen Augen erkennen.»
Was ihre Beziehung in erster Linie kennzeichnet, ist, dass sie wie Freunde miteinander umgehen. Es macht Nick betroff en, wenn jemand von seinem Leben erzählt und dabei durchblicken lässt, seine Ehe sei nichts anderes als eine Art Belagerungszustand. Er fragt sich, ob es nicht gerade die Freundlichkeit ist, die in einer Beziehung als Erstes versiegt, und fi ndet, wenn man in der Liebe die
Wahl zwischen Aufregung und Freundlichkeit hätte, würden die meisten Menschen vermutlich für Letzteres plädieren: für einen dicken Klacks Freundlichkeit, den man großzügig verteilen kann wie Butter auf einer Scheibe Weizentoast. Jedenfalls lässt sich genau so die Art und Weise beschreiben, wie Jane und er miteinander umgehen. Daran haben auch die Reibereien des Alltags nichts ändern können.
Nick erinnert sich, wie ein Freund ihm einmal sagte, man müsse sich den Weg in das Herz eines anderen erschließen wie auf einer Landkarte. Damals wurde ihm bewusst, dass es bei Jane anders war. Sie landete direkt mitten in seinem Herzen, ohne dass sie einen Wegweiser gebraucht hätte, in exakt dem Moment, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Schon von Beginn an hatte zwischen ihnen eine Klarheit geherrscht, die es ihnen leicht machte, eine ernsthafte Bindung einzugehen.
Am Sonntagmorgen bleibt Jane oft im Bett liegen, während Nick aufsteht, um Cappuccino und Pfannkuchen mit knusprigen Speckstreifen zum Frühstück zuzubereiten. Während er in der Küche zugange ist, singt er vor sich hin, und die Stimme, die die Treppe hochkommt, klingt melodisch und angenehm. Jane hat schon immer geglaubt, man könne nicht singen, wenn man unglücklich sei, als wäre man von einer Melancholie umhüllt, die die Töne davon abhält herauszukommen. Deshalb streckt sie im Bett genüsslich die Beine aus und wackelt mit den Zehen, während ihr Mann da unten Frühstück macht und singt, weil sich die Liebe in ihrer Ehe immer noch so anfühlt, als hätten sie unglaubliches Glück gehabt.
Als er damals um ihre Hand anhielt, waren sie gerade beim Skifahren in Kanada. Nick war schon oft Ski gefahren und bewegte sich schnell und waghalsig über die Piste. Immer wenn er unten ankam, hob er die Arme mit den Stecken hoch in die Luft, wie ein Sprinter, der im Ziel ein unsichtbares Band durchläuft. Es war eine Geste, die in Janes Augen pure Lebensfreude ausdrückte, ein Urvertrauen in das Gute im Menschen und in Entscheidungen, die man voller Zuversicht triff t. Rückblickend, so meint sie, hat genau dies ihr damals die Sicherheit gegeben, ihm zu folgen, wohin auch immer sein Weg ihn führen mochte.
Damals waren sie gemeinsam einen Abhang hinuntergefahren, vorbei an schneebedeckten Nadelbäumen, alle Geräusche um sie herum waren wie gedämpft, und hatten schließlich bei zwei Bäumen angehalten, in denen eine ganze Schar Meisenhäher hockte und sich an den leuchtend roten Beeren gütlich tat. Beim Klang von Nicks Stimme waren die Vögel aufgeflogen wie eine schwarze, wild flatternde Wolke in der weichen grauen Luft. Manchmal, wenn Jane Jahre später im schieferfarbenen Herbstlicht von der Arbeit nach Hause fährt und Vögel sieht, die von ihren Rastplätzen aufflattern und ein dichtes Fadenmuster an den Himmel malen, fühlt sie sich in jenen Moment zurückversetzt und empfindet ihn als ein Geschenk, das ihr ganz allein gehört.
Es ist ihnen beiden weitestgehend gelungen, beruflich erfolgreich zu sein, ohne die Karriere des anderen zu beeinträchtigen, bis auf die Zeit, als Nick für zwei Jahre nach Prag versetzt wurde. Jane machte sich damals selbständig und arbeitete von zu Hause aus, und sie bezogen eine kleine Wohnung an einem Platz, dessen Kopfsteinpflaster blau schimmerte, wenn es regnete. Jane schmückte das Wohnzimmer mit dicken Teppichen und Kerzen, gewöhnte sich das Whiskytrinken an, buk Obstkuchen, las alle Romane, die sie immer schon mal hatte lesen wollen, versuchte (mit geringem Erfolg) Tschechisch zu lernen und entwickelte ein besonderes Geschick darin, ihre Zehennägel rot zu lackieren. Als sie nach England zurückkehrten, brauchte sie eine Weile, um wieder Fuß zu fassen, doch das war ein durchaus akzeptables Zugeständnis. Auf jene Zeit blickt sie stets mit dem Gefühl zurück, sie sei praktisch ungetrübt gewesen.
Nick arbeitet im Marketing der Firma Unilever und genießt alle Privilegien eines Mannes, der es weit gebracht hat: ein Eckbüro mit Doppelfenstern und eine immer größer werdende Anzahl Menschen, die für ihn arbeiten. Meist beschäftigt er sich mit Waschmitteln, mit all den Tabletten und Kapseln und Flüssigkeiten und Gels, die die Wäsche noch sauberer und reiner machen. Er nahm aufmerksam an Diskussionsgruppen teil, in denen sich Frauen über die Tyrannei des Wäschekorbs beklagten, der immer nur überläuft und überläuft, als hätte er ein Eigenleben. Einmal hat er zu Jane gesagt, er frage sich, ob seine Karriere nicht gänzlich eines moralischen Wertes entbehre, wenn man einmal von der wirtschaftlichen Genugtuung absieht, dass durch ihre Produkte ganze Fabriken, Verpackungsanlagen, Werbeagenturen und Supermärkte am Leben gehalten und Arbeitsplätze geschaffen werden. Monate später las Jane ihm vor dem Schlafengehen eine Zeile aus einem Roman vor: Liebe lässt sich daran messen, was wir für die Wäschestücke des anderen empfinden. An dieser Zeile hat er sich festgehalten und ist dankbar dafür, denn er hat das Gefühl, dass sie seine Waschmittel mit einer emotionalen Bedeutung auflädt, die weit über die längst überholten Ansichten von fleißigen Hausfrauen und wohlbehüteten Kindern in sauberen weißen Hemdchen hinausgeht. Insgeheim gefällt es ihm, seine Produkte auf einer Art Achse der Liebe auszurichten.
Jane arbeitet für das Planungsbüro einer unabhängigen Schule und misst ihren Erfolg an den Mitteln, die für die Errichtung neuer Schulgebäude und Möbel und für die finanzielle Unterstützung begabter Schüler aus armen Verhältnissen aufgebracht werden. Sie ist verantwortlich für die Hochglanzbroschüren, die erklären, warum das Geld unbedingt gebraucht wird, organisiert Veranstaltungen mit potenziellen Spendern und Sommerbälle. Auf ihrem Schreibtisch steht ein kleines Gerät, das den Unterschied zwischen benötigtem und erreichtem Spendenaufkommen anzeigt, und wenn sie nachdenkt, rollt sie eine kleine Kugel zwischen beiden Fingern hin und her und hofft, die flinke Geschwindigkeit, mit der sich das Bällchen vorwärtsbewegt, schlägt sich auch in dem nieder, was sie noch erreichen wird.
Sie leben in einer Zeit, in der Zielstrebigkeit und Ausgeglichenheit zu Mantras geworden sind, und man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass sie beides erreicht haben. Sie führen ein Leben, das seinen festen Platz im menschlichen Miteinander hat, und finden dennoch immer Zeit zum Durchatmen. Natürlich gibt es Eigenheiten, die ihr Alter und ihr sozialer Status mit sich bringen. Jane hat im Winter kalte Füße im Bett, weshalb sie ihre Beine gerne an Nick kuschelt und Kaschmirsocken trägt. Nick legt bei Honig und Fleisch besonderen Wert auf Qualität, und manchmal fahren sie sonntags mit dem Fahrrad zu einem Bauern und kaufen Bio-Rollbraten - marmoriertes und rubinrotes Fleisch - und ein Glas Lavendelhonig. Jane braucht seit neuestem eine Brille für Kleingedrucktes, wenn das Licht schlecht ist, und weil sie keine Lust hat, sie ständig zu suchen, hat sie sich ein halbes Dutzend billige Exemplare gekauft und überall im Haus verteilt. Für Nick war das Maß voll, als sie einmal eine Brille in der Gabelung des Kirschbaums deponiert hatte, unter dem sie am Wochenende Zeitung liest. Nick wiederum hat sich zum leidenschaftlichen Experten entwickelt, wenn es um die bequemsten Wanderschuhe geht, um Schwimmbrillen, die kein Wasser hereinlassen, oder um Nachttischlampen, die klein, aber hell genug sind, um ihm das Lesen zu ermöglichen, ohne dabei Jane aufzuwecken.
Copyright der Originalausgabe © by Kay Langdale
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Übersetzung: »Judith Schaab«
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Autoren-Porträt von Kay Langdale
Kay Langdale wurde 1963 in Coventry/England geboren. Sie studierte Englische Literatur an der London University und unterrichtete Literatur des 20. Jahrhunderts in Oxford. Seit 2003 arbeitet sie als freie Schriftstellerin. Heute lebt Kay Langdale mit Familie, Hunden und Hühnern im ländlichen Oxfordshire. Wenn sie nicht gerade mit ihren vier Kindern oder dem Schreiben beschäftigt ist, widmet sie sich ihren Hobbys: lesen, laufen und Yoga.Judith Schwaab, geb. 1960 in Grünstadt, Studium der Italienischen Philologie, Lektorin und Übersetzerin von u.a. Fernanda Eberstadt, Anthony Doerr.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kay Langdale
- 281 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003797
- ISBN-13: 9783868003796
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