Was uns bleibt
Für Ginny und Sharla brach eine Welt zusammen, als ihre Mutter ohne eine Erklärung die Familie verließ und eigene Wege ging. Fünfunddreißig Jahre lang sahen sie sich nicht wieder. Nun ist Sharla todkrank und wünscht sich,...
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Produktinformationen zu „Was uns bleibt “
Für Ginny und Sharla brach eine Welt zusammen, als ihre Mutter ohne eine Erklärung die Familie verließ und eigene Wege ging. Fünfunddreißig Jahre lang sahen sie sich nicht wieder. Nun ist Sharla todkrank und wünscht sich, dass es zu einer Wiederbegegnung kommt. Auf dem Flug nach Kalifornien kehrt für Ginny die schmerzhafte Erinnerung an das dramatische Ereignis in ihrer Kindheit zurück. Doch erst als die Frauen sich wiedersehen und die Mutter endlich ihre Version der Geschichte erzählen kann, beginnen die Töchter zu begreifen.
Dieser bewegende Roman über die Liebe zwischen Müttern und Töchtern, über Hoffnung, Enttäuschung, Einsamkeit und Versöhnung stand monatelang auf den amerikanischen Bestsellerlisten.
Lese-Probe zu „Was uns bleibt “
Was uns bleibt von Elizabeth Berg Aus dem Amerikanischen von Erna Tom
Wie ein riesiger Teppich breiten sich die flauschigen Wolken vor dem Fenster des Flugzeugs aus. Die frühmorgendliche Sonne taucht sie in pfirsichfarbenes Licht und umrandet sie mit leuchtendem Gold. Auf der anderen Seite des Gangs zückt ein Mann den Fotoapparat. Nicht einmal der Pilot kann sich zurückhalten. »Meine Damen und Herren«, erklingt es aus dem Lautsprecher, »wir haben heute einen atemberaubenden Sonnenaufgang. Es lohnt sich, aus dem Fenster zu schauen.« Ich freue mich, wenn Piloten solche Bemerkungen machen. Dann weiß ich wenigstens, dass sie wach sind.
Immer wenn ich so etwas Herrliches wie diese Wolken sehe, kommt mir der Gedanke, dass wir uns möglicherweise alle irren; vielleicht kann man doch auf Wolken gehen. Man sollte es einfach versuchen. Vielleicht hat sich die Welt geändert, ohne dass wir es gemerkt haben. Ich meine natürlich die Gesetze der Physik. Warum nicht? Ich würde gern glauben, dass es solche Wunder gibt. Ich würde gerne das Flugzeug anhalten, die Bremsklötze unterlegen, damit alle hinausmarschieren und der Enge des Flugzeugs entfliehen können. Ich möchte, dass wir so hoch oben gut atmen und auf Wolken gehen können, als wären wir Engel, und auf unsere Häuser deuten, die weit, weit unter uns liegen, da und da und da. Wie stolz wären wir plötzlich auf unser Zuhause, wie sehr würden wir schätzen, was uns gehört, unsere Kinder, die ihren Beschäftigungen nachgehen und die Socken tragen, die wir für sie gekauft haben, unsere Post, die auf dem Schreibtisch liegt, unsere Gärten, die darauf warten, angepflanzt zu werden. Ich bin sicher, diese große Wertschätzung wäre die Folge der veränderten Perspektive.
... mehr
Ich lege meine Stirn an die Fensterscheibe und seufze. Ich bin siebenundvierzig, und diese Sehnsucht überkommt mich immer noch mit der gleichen Intensität und Häufigkeit wie in meiner Kindheit.
»Langer Flug, nicht wahr?«, sagt die Frau neben mir.
»Oh«, antworte ich. »Ja. Obwohl ... Tja, ich habe geseufzt, weil ich mir wünschte, ich könnte hier raus. Wär das nicht schön? Raus und da draußen herumspazieren. «
Sie blickt an mir vorbei, schaut aus dem Fenster. »Hübsch«, sagt sie. Und dann: »Sie würden natürlich sterben.«
»Na ja. Was ist heutzutage nicht gefährlich?«
»Gute Frage«, erwidert die Frau. »Essen ist gefährlich, genauso wie Wasser, Luft und Sex. Man kann so gut wie gar nichts mehr machen. Außer vielleicht Biosphäre abonnieren. « Wir lächeln, mit Bedauern. Sie ist hübsch, eine junge blonde Geschäftsfrau in adrettem marineblauen Kostüm, dazu Goldschmuck und Pumps aus weichem Leder, die sie jetzt abgestreift hat. Zu Anfang war sie in ihre Lektüre vertieft. Jetzt langweilt sie sich und möchte sich unterhalten. Gut so. Mir ist ebenfalls langweilig.
»Haben Sie manchmal auch das Gefühl, als wäre dies das Ende der Welt?«, frage ich. »Verstehen Sie mich nicht falsch ...«
»Oh, ich weiß, was Sie meinen«, sagt sie. »Ich denke jedenfalls darüber nach. Sterbende Planeten, dass wir wirklich ... nichts Besonderes sind. Nur einfach das letzte Glied in der Kette, die mit den Pantoffeltierchen angefangen hat.«
Die Stewardess bringt ihren Wagen neben uns zum Stehen, fragt, ob wir etwas zu trinken möchten. Die Frage scheint nichtig im Vergleich zum Inhalt unseres Gespräches. Trotzdem bitte ich um Orangensaft; die Frau neben mir verlangt einen Scotch.
»Ach bitte«, entschuldige ich mich bei der Flugbegleiterin, »ich hätte doch lieber auch einen Scotch.« Ich habe mich immer gefragt, wer um alles in der Welt am Vormittag im Flugzeug einen Cocktail trinken will. Jetzt weiß ich es: alle, die sich mit lästigen Gedanken herumquälen, die sie gern verscheuchen möchten.
Nachdem meine Nachbarin und ich unsere Tabletts heruntergeklappt und unsere Bars eröffnet haben, sage ich: »Dabei mag ich Scotch gar nicht.«
»Ich auch nicht.« Sie zuckt mit den Schultern, nimmt ein Schlückchen, verzieht das Gesicht. »Aber ich hasse Fliegen. Manchmal hilft das.«
Ich lächle, strecke die Hand aus. »Ich bin Ginny Young.«
»Martha Hamilton.«
»Wohnen Sie in Kalifornien?«
»Ja. San Francisco. Und Sie?«
»In Boston. Im Moment bin ich auf dem Weg zu meiner Mutter in Mill Valley.«
»Wie schön. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen? «
Ich rechne nach, dann antworte ich: »Vor fünfunddreißig Jahren.«
Martha dreht sich zu mir um, starrt mich an. Ich weiß, vor lauter Schreck kann sie ihren Scotch nicht hinunterschlucken.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich mag meine Mutter nicht. Und ich schäme mich deswegen auch nicht. Sie ist kein guter Mensch. Sie hat Dinge getan ... Na ja, sie ist einfach kein guter Mensch.« Immer wenn andere die Horrorgeschichten von ihren Müttern erzählen, hebe ich mir meine für zuletzt auf. Sie ist die beste, weil sie die schlimmste ist.
»Aber ... warum besuchen Sie sie dann jetzt?«
»Wegen meiner Schwester. Sie glaubt, sie sei krank. Nicht meine Mutter - meine Schwester.«
»Und ist die krank?«
»Keine Ahnung. Sie wartete noch auf die Untersuchungsergebnisse. Aber sie wollte unsere Mutter besuchen. Nur ... für alle Fälle. Unerledigtes, das sie gerne noch bereinigen möchte.«
Martha atmet deutlich hörbar aus. »Du lieber Himmel. Das tut mir leid.«
»Tja, so ist das nun mal.«
Sie legt die Hand auf meinen Arm. »Geht's Ihnen gut?«
»Mir? Ja! Es ist ... ach, das ist eine alte Geschichte. Uralt, um genau zu sein. Ich hatte nicht die Absicht, meine Mutter noch einmal wiederzusehen, und damit konnte ich gut leben. Dieser Besuch ist mit Sicherheit auch der letzte, das weiß ich bestimmt. Ich tu es nur für meine Schwester. Obwohl ich nicht glaube, dass sie wirklich krank ist. Das kann einfach nicht sein.«
Martha nickt, beißt auf einen Eiswürfel, dann schaut sie mich mit hochgezogener Augenbraue an.
»Ja«, sage ich, »ich weiß.«
»Ich sag Ihnen was«, meint Martha. »Ich war letzte Woche auf einem Friedhof spazieren, mit meinem Hund. Eigentlich ist das nicht erlaubt, und deshalb hab' ich mich schnell hinter dieser großen Gedenktafel versteckt, als ich jemanden kommen hörte. Ich hab' gesehen, wie eine Frau vor einem Grab stehen blieb. Sie kniete nieder und fing an, laut zu reden. Sie erzählte offenbar von einem ihrer Kinder, einer Tochter, die ihr sehr viel Kummer bereitete, und irgendwann sagte sie: ›So etwas hab' ich dir doch nie angetan, Mama, oder?‹ Dann hat sie sich auf die Erde gelegt und geweint. Bitterlich geweint hat sie! Und wissen Sie, manchmal ist der Kummer so groß, dass man einfach nicht anders kann und mitweinen muss. Aber als ich anfing zu weinen, fing mein Hund an zu bellen. Die Frau hob den Blick und sah mich, natürlich. Die Situation war ihr furchtbar peinlich. Sie sprang auf, wischte sich das Gesicht ab, strich ihre Kleider zurecht und fing an, in ihrer Tasche zu kramen. Ich fühlte mich schrecklich. Es war verboten, einen Hund mit in den Friedhof zu nehmen, und das zu Recht. Ich entschuldigte mich, aber geholfen hat es nicht viel.
Auf dem Weg nach Hause habe ich die ganze Zeit gerätselt, warum die Frau geweint und woran sie wohl gedacht hat. Ich habe mich gefragt, ob andere Töchter auch mit ihren Müttern reden, wenn sie ihre Gräber besuchen, und ob ich, wenn meine Mutter stirbt, es auch tun werde. Klingt doch wie 'ne gute Frage für eine Party, meinen Sie nicht auch? Was würden Sie am Grab Ihrer Mutter sagen? Na ja; vielleicht nicht gerade eine Frage für eine Party. Aber eine interessante allemal. Wenigstens hat man so die Chance, mit ihr unter vier Augen zu reden.«
»Richtig«, sage ich, obwohl ich im Stillen denke, dass ich meiner Mutter überhaupt nichts zu sagen habe. Ich tue es nur für Sharla. Ich liebe meine Schwester. Mit meiner Mutter habe ich abgeschlossen, und das schon vor langer Zeit. Nicht umsonst habe ich unzählige Stunden bei Therapeuten verbracht und Berge von Papiertaschentüchern verbraucht.
»Wo wohnt Ihre Schwester?«, fragt Martha.
»In Texas. San Antonio. Sie wartet am Flughafen auf mich, ihr Flug kommt zwanzig Minuten vor meinem an.«
»Hat sie Ihre Mutter in all den Jahren gesehen?«
»Nein.«
»Huh. Das wird ein schönes Wiedersehen werden.«
»Ich weiß«, sage ich und schütte den Rest von meinem Scotch hinunter. Dann drücke ich das Plastikglas zusammen, um herauszufinden, wie weit ich es verbiegen kann. Nicht weit, es zerbricht in meiner Hand. Ich stopfe es in die Spucktüte, verschließe sie und lege sie fein säuberlich auf mein Tablett. Mir ist nicht mehr nach Reden zumute. Ich lehne mich zurück, schaue aus dem Fenster. Ich habe meine Gründe, sage ich mir - und Martha auch, für den Fall, dass sie meine Gedanken errät, schließlich ist sie aus Kalifornien; dort können sie so etwas. Aber ich habe meine Gründe. Ganz bestimmt sogar.
»Miss?«, fragt die Flugbegleiterin. »Möchten Sie Frühstück? « Ich zucke zusammen, lächle und nicke zustimmend, als sie mir ein paar dicke Scheiben Toast anbietet. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, dem das Essen im Flugzeug schmeckt. Ich freue mich über die ausgefallenen Garnierungen, die eigens für jeden Passagier zusammengestellten Portionen. Ich mag die Salatsoße. Wenn der erste Gang beispielsweise aus Pizza besteht, finde ich das einfach herrlich. Natürlich würde ich das niemals zugeben.
Martha hat sich für das Käseomelett entschieden, und als ich sehe, wie sie es in mundgerechte Stücke schneidet, wünschte ich, ich hätte das Gleiche gewählt. Aber nach dem ersten Bissen schüttelt sie sich, genauso gut hätte sie »igitt» sagen können. Ich lächle, schüttle mich ebenfalls, tränke meinen Toast mit zähflüssigem künstlichen Ahornsirup. Die Kreation sieht köstlich aus.
»Da hinten ist eine Reihe leer«, sagt Martha, nachdem sie den größten Teil ihres Frühstücks verzehrt hat. »Ich glaube, ich lege mich da ein Weilchen aufs Ohr.«
»Okay.«
»Außer Sie möchten sich auch hinlegen. In dem Fall könnten wir losen.«
»Nein, schon in Ordnung«, erwidere ich. »Wenn Sie nach hinten gehen, habe ich hier auch mehr Platz. Außerdem ist mir nicht nach Schlafen.«
»Wirklich nicht? Immer wenn ich länger als eine Stunde fliege, muss ich schlafen. Sonst werde ich verrückt. Einmal habe ich mir Briefe zum Lesen mitgenommen. Sie wissen schon, solche, die man aufhebt, weil man meint, man würde sie eines Tages noch mal lesen, auch wenn man's dann nie tut. Ich habe also diesen dicken Packen Briefe von Verflossenen mitgenommen. Ich habe sie ausgepackt und angefangen zu lesen. Und tatsächlich ging so die Zeit schneller vorüber, aber leider musste ich, als ich sie las, ganz schrecklich weinen. Mein Gott, war mir das peinlich. Das mach' ich nie wieder! Da ist es noch besser, man schläft.« Sie steht auf, öffnet das Fach über unseren Köpfen, zieht ein Kissen und eine Decke heraus und marschiert den Gang hinunter.
Ich weiß, was Martha meint, wenn sie von alten Briefen spricht. Es war an einem dieser regnerischen Nachmittage - meine Tochter war in der Schule -, als ich in den Keller ging und eine arg mitgenommene Schachtel mit alten Liebesbriefen hervorholte. Ich trug sie hinauf ins Schlafzimmer und leerte den Inhalt aufs Bett. Ich erinnere mich, dass ich diese alte rote Strickweste anzog, die am Ellbogen schon ganz durchgewetzt war - es war kühl -, mich hinsetzte und die Briefe las. Jeden einzelnen: zärtliche Notizen voller Fehler, die mir Tom Winchell am Morgen danach an den Badezimmerspiegel geklebt hatte; mit Tinte geschriebene Briefe von Tim Stanley, der später Theologie studierte, und ich weiß, warum: damit er auf der Kanzel stehen und reden, reden, reden konnte. Ich habe Dinge gelesen, die mich noch einmal im tiefsten Innersten berührten, die mich gedankenverloren aus dem Fenster starren und laut seufzen ließen. Ich verlor mich in meinen Tagträumen; noch Stunden nachdem ich die Briefe gelesen hatte, war ich nicht von dieser Welt. Beinahe hätte ich einen meiner alten Freunde angerufen, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie das Gespräch verlaufen wäre. Ich hätte meinen Gefühlen freien Lauf gelassen: »Weißt du, das hat eigentlich nichts zu bedeuten, aber erinnerst du dich, erinnerst du dich, wie sehr wir uns geliebt haben, erinnerst du dich, wie wir die ganze Nacht aufgeblieben sind, um ja nicht den Sonnenaufgang über dem Fluss zu verpassen, und wie du mir deine Jacke über die Schultern gelegt hast und ich eine aufgesprungene Lippe hatte und du mich so zärtlich geküsst hast, dass ich dachte, ich könnte dich nie, nie verlassen?« Ungefähr so hätte ich geredet, und Larry Drever, dessen Haar inzwischen schütter geworden ist und der seit langem Lebensversicherungen verkauft, hätte gesagt: »Wer spricht dort?«
Ich weiß also, dass es gefährlich ist, in die Vergangenheit einzutauchen. Vor allem, wenn einem Dinge so klar vor Augen stehen wie mir. Ich kann mich mühelos an alles erinnern, eine Gabe, die ich schon als kleines Kind hatte. Ich brauche lediglich ein anschauliches Detail, und schon setze ich eine komplette Szene zusammen. Sagt jemand beispielsweise »Eisdiele«, erinnere ich mich an eine Nacht, als ich mit mehreren Freunden in der Highschool war und Joe Antillos Kopf von einem Schwarm Mücken umkreist wurde und er den Arm hob, um sie zu verscheuchen und dabei sein Malzbier über sich und Trudy Jameson vergoss, die eine blaue Bluse mit Schleife trug und dazu Jeans, an der eine Gesäßtasche fehlte, und ein silbernes Armband und nach »Intimate« duftete. Sie hatte an jenem Abend eine leichte Erkältung. Ein paar Tage vorher war ihr achtjähriger Bruder Kevin vom Fahrrad gestürzt und hatte sich dabei so stark am Knie verletzt, dass es mit sieben Stichen genäht werden musste, von denen er später die Hälfte mit der Nagelschere seiner Schwester entfernte. »Ich wollte nur sehen, was passiert«, erklärte er seinen entsetzten Eltern, als sie ihn ins Krankenhaus zurückfuhren. »Wie kannst du dich bloß an all diese Einzelheiten erinnern?«, werde ich immer wieder gefragt. Wie, weiß ich auch nicht. Ich erinnere mich einfach. Ein Bild führt zum anderen, und das wiederum zum nächsten, als wären sie alle an einem Faden aufgereiht. Und in der Person, die ich damals war - ich fühle das Wetter, ich fühle alles. Die Person, die ich jetzt bin, verliert sich ganz in dem anderen, jüngeren Selbst.
Sie kann schmerzlich sein, die Erinnerung - der Schock des Wiedereintauchens, die leichte Verwirrung, die Traurigkeit, die jedes Bild der Vergangenheit begleitet. Aber trotzdem will ich jetzt, während ich aus dem Fenster auf das weit unter mir liegende Land schaue und mir bewusst werde, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wo ich mich befinde, nichts anderes tun als genau das. Ich will zu dem Punkt zurückkehren, an dem ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, meine Mutter zu verlieren, und nach Hinweisen suchen, die mir das Wie und das Warum erklären. Wahrscheinlich ist die Zeit dafür reif. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und beginne.
Angefangen hat alles im Jahr 1958 in dem kleinen Städtchen Clear Falls, Wisconsin, wo ich aufgewachsen bin. Es war der Sommer, in dem ich zwölf wurde, das Jahr, in dem meine dreizehnjährige Schwester Sharla und ich uns zum ersten Mal nachts aus dem Haus schlichen, um draußen im Garten zu schlafen. Es war ein schrecklich heißer und schwüler Sommer; die Hitze raubte uns beinahe den Atem. Die Bettlaken fühlten sich auf der nackten Haut so kratzig an wie Armeedecken, und der alte Ventilator in unserem Zimmer machte alles nur noch schlimmer; er blies uns abgestandene, warme Luft ins Gesicht, die sich, wie meine Schwester meinte, genauso anfühlte wie der Atem von Onkel Roy, wenn er versuchte, uns zu küssen. Das probierte der furchtbar übergewichtige Bruder meiner Mutter ohne Unterlass, wenn er an Thanksgiving aus Raleigh zu Besuch kam, zum Glück jedoch nur in Gegenwart anderer, sodass wir eher wütend waren als verängstigt. »Ihr seid doch meine Freundinnen, oder nicht?«, sagte er für gewöhnlich mit lauter Stimme, und wir antworteten immer: »Nein, sind wir nicht.« »Klar, seid ihr!«, gab er dann zurück, und wir rollten die Augen und waren so unfreundlich wie wir in Gegenwart unserer Eltern nur irgend sein konnten.
Weil wir sicher waren, unsere Eltern würden es nicht gutheißen, dass wir im Freien schliefen, fragten wir sie erst gar nicht um Erlaubnis. Stattdessen warteten wir, bis die Standuhr im Erdgeschoss laut und vernehmlich Mitternacht schlug, um auf Zehenspitzen hinauszuschleichen - so mucksmäuschenstill wie ein Indianer nur sein konnte. Indianer waren für uns das Größte. Mit Kaffee färbten wir Bettlaken und machten daraus Kleider mit fransigen Säumen, die wir mit einer Perlenschnur in der Taille zusammenbanden. Wir steckten uns die Federn ins Haar, die unser Wellensittich Lucky verloren hatte, und schlüpften in die Mokassins, die wir nach langem Bitten und Betteln zu Weihnachten bekommen hatten, auch wenn sie unindianisch pinkfarben waren. Wir trugen Steine zusammen und schichteten sie im Kreis für ein Lagerfeuer auf, jagten nach Eichund Backenhörnchen, um uns mit den Tiergeistern zu verständigen, und wickelten farbige Beeren in Blätter, eine Kreation, die wir zum Abendessen servierten.
Aber in erster Linie übten wir uns darin, lautlos durch den Wald hinter dem Haus zu schleichen. Es war nicht ganz einfach. Mir kam die Idee, dass es am besten zu bewerkstelligen wäre, wenn man sich vorstellte, federleicht zu sein, und erahnte, wo die Zweige lagen - denn wenn man nach ihnen Ausschau hielt, musste man unweigerlich stolpern.
Unsere Eltern gingen früh zu Bett, so wie alle anderen in der Nachbarschaft auch. Zweifellos hätten wir uns schon um zehn aus dem Haus schleichen können, aber Mitternacht war nicht nur romantischer, sondern auch aufregender. Außerdem wandelten wir gern wie Geister zwischen den Zeiten, wenn ein Tag nahtlos in den anderen überging. Wenn es eine Zeit für das Außergewöhnliche gab, dann musste es unserer Meinung nach Mitternacht sein. Und wir sehnten uns nach dem Außergewöhnlichen. Vielen Menschen, die auf der sicheren Seite des Lebens stehen, geht es ebenso.
Die eine Seite des Hauses wurde von ausladenden Fliederbüschen gesäumt, und darin versteckten wir unsere Bettdecken, einen alten Quilt, der früher für Picknicks benutzt wurde, nachdem er jahrelang auf Betten gelegen hatte. Die Farben - verschiedene Rots, Gelbs, Grüns - waren fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst; sie erinnerten an die verlaufenden Ränder von Wasserfarben, und der Stoff war so dünn, dass man das Gefühl hatte, ins Leere zu greifen. Bestickt war der Quilt mit einem Motiv, das einen Korb voller Blumen zeigte, und die Person, die es angefertigt hatte, hatte über eine der Rosen eine surrende Biene gestickt. Der Gedanke machte mich froh, dass vor einhundert Jahren jemand so entzückt vom Anblick einer Biene und einer Blume gewesen war, dass er ihn auf diese stille Weise verewigt hatte. Auch ich liebte die Natur. Und die Naturwissenschaften - alles, was ich darüber las, faszinierte mich, obwohl ich von dem Gelesenen meist nichts begriff. Mir waren die Schulfächer am liebsten, mit denen ich die größten Schwierigkeiten hatte. Für gewöhnlich starrte ich auf die Formeln und bewunderte ihre schlichte Schönheit, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, was sie bedeuteten. Die Tatsache, dass sie jemandem ein höheres Gesetz erklärten, genügte mir. Es beruhigte mich.
Sharla und ich breiteten die Quiltdecke im Garten hinter dem Haus aus, um uns dann wohlig darauf zu räkeln. Meist unterhielten wir uns eine Weile über die Sternenkonstellationen und zählten abwechselnd die Namen der Sterne auf, die wir schon kannten. Unserer Meinung nach war das etwas typisch Indianisches. Außerdem mussten wir uns dabei auf den dunklen Himmel konzentrieren. Im schwachen Licht des Mondes hatte das Gras eine dunkelblaue Färbung angenommen und roch angenehm würzig. Gelegentlich hörten wir das Surren einer Schnake, das schon allein deswegen aufregend war, weil wir das Insekt nicht sahen und es in unserer Vorstellung deshalb mindestens so groß war wie ein kleines Flugzeug. Wir trugen ärmellose TShirts und taillenhohe Unterhosen, die weiße Baumwolluniform der Flachbrüstigen.
Wenn sich kurz vor Sonnenaufgang am Horizont der hoffnungsvolle graurosa Streifen abzuzeichnen begann, schlichen wir zurück ins Haus. Jetzt freuten wir uns auf unsere Betten, wir zogen die Rollos herunter und schliefen meist bis zehn. Nach dem Aufstehen taumelten wir mit zerzausten Haaren und blinzelnd in die Küche, wo uns stets ein Frühstück, bestehend aus Erdnussbuttertoast und Orangensaft, erwartete. Ausgenommen die wenigen Male, wenn unsere Mutter nicht zu Hause war - wenn sie die Handschuhe übergestreift, den Hut aufgesetzt und mit dem Bus, sagen wir, zum Zahnarzt gefahren war. An solchen Tagen verköstigten wir uns mit Vanilleeis in Cola, das wir aus dünnstieligen, zarten Champagnerflöten tranken, die unsere Eltern im Küchenschrank über dem Kühlschrank aufbewahrten.
In diesem Sommer dachten wir zum ersten Mal über das Leben nach: Es war ein angenehmes, träg dahinplätscherndes Etwas und so bequem wie ausgelatschte Pantoffeln. Es war wohltuend berechenbar und überaus sicher. Obwohl wir nicht genau wussten, was die Zukunft für uns bereithielt, glaubten wir zu wissen, wie man darauf zumarschierte. Richtig war richtig. Falsch war falsch. Den Unterschied zu erkennen, bedurfte es keiner großen Anstrengung.
Und dann zog Jasmine Johnson im Haus nebenan ein und löste eine Unruhe in unseren Köpfen und Herzen aus, die uns nachhaltiger beeinflussen sollte als alles, was davor und danach geschah.
Ich sah den Umzugswagen als Erste. Eines Dienstagmorgens ging ich früh nach unten, um ein »Taunest« zu suchen. Meine Schwester behauptete, dort hause frühmorgens die heilige ägyptische Juwelenspinne, ein zartes Geschöpf mit vielfarbigem Muster auf dem Rücken und tausendmal schöner als eine gewöhnliche Spinne. Außerdem konnte sie Wünsche wahr werden lassen. Gehörte man zu den Glücklichen, die eine Juwelenspinne morgens im Nest fanden, musste man die Hand darüberlegen, sich etwas wünschen, seine Fingerspitzen küssen, und - Abrakadabra - am Ende des Tages würde der Wunsch erfüllt sein. Ganz egal, was es war. Irgendwie ahnte ich, dass die Geschichte nur eine der fantasievollen Schwindeleien meiner Schwester war - sie glaubte an milde Formen der Folter -, trotzdem stand ich früh auf, um mich zu vergewissern. Meine Mutter stand in der Küche und machte Frühstück, das Radio spielte leise, um ihr »Gesellschaft zu leisten«. Perry Como sang eines seiner schmalzigen Lieder, und meine Mutter summte schüchtern mit. Sie schwärmte für Perry Como. Sagte sie. Das war in Ordnung; mein Vater schwärmte für Dinah Shore.
Meine Mutter trug ihren wunderschönen gelben Hausmantel, dessen exakt gebundene Schleife sich genau in der Mitte ihrer Taille befand. Dafür stand ihr kastanienbraunes Haar am Hinterkopf ab, und das nicht zum ersten Mal. Wie immer hasste ich den Anblick, da er in meinen Augen ein Ausdruck von Unvollkommenheit war. Es handelte sich um eine widerspenstige Haarlocke, die kaum zu bändigen war - das wusste ich, weil ich genau die gleiche widerspenstige Haarlocke besaß, doch dass meine Mutter eine solche hatte, war unverzeihlich. Sie passte nicht zu ihrem Äußeren: zu ihren dunkelblauen Augen, ihrer schmalen, schön geschwungenen Nase, ihren hohen Wangenknochen, ihrer weißen, zarten Haut - alles Anzeichen dafür, dessen war ich mir sicher, dass blaues Blut in ihren Adern floss. Sie weigerte sich, meiner Ahnung nachzugehen; ich nahm mir vor, dass ich es später für sie tun würde. »Da!«, würde ich eines Tages sagen, wenn ich ihr die Papiere mit dem goldenen Siegel unter die Nase hielt. »Du meine Güte!«, würde sie dann hauchen, während sie die Papiere mit einer Mischung aus wilder Freude und großer Zartheit durchblätterte. »Ich danke dir, Ginny! Es tut mir so leid, dass ich dir damals nicht geglaubt habe. Ich danke dir!«
»Schon gut«, würde ich sagen und ihr die Tränen vom runzligen Gesicht wischen. »Wenigstens hast du jetzt Gewissheit. «
Inzwischen sah meine Mutter von der elektrischen Bratpfanne auf und fragte: »Wo willst du denn hin?«
»Deine Haare stehen zu Berge«, antwortete ich.
»Ich weiß«, gab sie zurück, obwohl sie es nicht gewusst hatte. Hätte sie es nämlich gewusst, hätte sie die Locke irgendwie gebändigt. Sie legte die Hand an den Kopf, drückte die Locke nach unten. An der Röte, die ihr ins Gesicht stieg, merkte ich, dass es ihr peinlich war. Das berührte mich, und ich überlegte, ob ich nicht auf sie zugehen und die Arme um ihre Taille schlingen sollte. Dabei hätte ich ihren locker am Finger sitzenden Ehering auf meinem Hinterkopf gespürt, aber nein, schließlich war ich kein Kind mehr. Und außerdem hatte ich zu tun. Ich musste die Spinne in ihrem Nest finden, wenn der Zauber wirken sollte.
»Ich muss draußen was suchen«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder da.«
»Willst du Eier?«, rief meine Mutter mir nach. »Und Speck?«
»Nein«, rief ich, »ich gehe wieder ins Bett.« Doch als ich ins Freie hinaustrat, war ich kein bisschen mehr müde. Die frühmorgendliche Luft belebte mich auch heute; es war ihre klare und erwartungsvolle Frische.
Hinter mir schlug die Fliegengittertür zu. Ich reckte mich, suchte den hinteren Garten ab, fand nichts. Als Nächstes machte ich mich auf den Weg in den Vorgarten, obwohl ich bezweifelte, dass die Spinne einen so leicht zugänglichen Ort für ihr Nest wählen würde, und da sah ich ihn, den riesigen orangefarbenen Umzugswagen, dessen Hinterräder auf dem Rasen vor der Haustür des Nachbarhauses standen.
Neben uns wohnte Mrs. O'Donnell, und soviel ich wusste, würde sich daran auch nichts ändern. Sie war eine Witwe unbestimmten Alters und wackelig auf den Beinen, aber sie ging nicht am Stock; sie war einfach, aber nicht großmütterlich gekleidet; ihre Stimme war zart, aber nicht zittrig. Sie trug eine dicke bifokale Brille mit blassblauer Fassung, ein Bügel war - offensichtlich dauerhaft - mit einer winzigen goldenen Sicherheitsnadel repariert. Im Frühjahr machte sie sich immer selbst eine Dauerwelle - eine unfreiwillige Werbung gegen Dauerwellen: Ihr stahlgraues Haar erinnerte mich an Scheuerwolle, der das Aufregende des darin versteckten Schaums fehlte. Sie trug einen dunklen Lippenstift, der von der Mitte ihres Mundes nach außen verlief und sich dort verklebte, und eine Unmenge von Rouge, das meine Mutter an jeder anderen Frau unanständig gefunden hätte. Mit Ausnahme des alljährlichen Austauschs von Weihnachtsplätzchen und des halbherzigen Rituals des Sichzuwinkens, wenn man einander kommen und gehen sah, lebte sie mehr oder weniger für sich. Nie habe ich jemanden zu Besuch kommen sehen, außer ihren Neffen Leroy, der von Beruf Polizist war. In unregelmäßigen Abständen fuhr er in seinem protzigen Dienstwagen vor und stellte das Auto in einer Weise vor dem Haus ab, die stets äußerste Dringlichkeit signalisierte. Das Aussteigen bereitete ihm Mühe, sein Bauch war ihm im Weg. Hin und wieder kam er mit einer sorgfältig verschlossenen braunen Einkaufstüte wieder heraus. Ich hatte keine Ahnung, was sie enthielt, aber ich stellte mir gern vor, sie enthielte in Alufolie eingewickeltes gebratenes Hähnchen. Eine Keule und eine Brust, die er verspeiste, wenn er in seinem Wagen saß, auf Raser wartete und sich einen Salzstreuer wünschte.
Im letzten Sommer war ich ein paar aufregende Wochen lang im Topflappengeschäft tätig, das heißt, ich stellte sie her und verkaufte sie. Mrs. O'Donnell war meine erste Kundin. Sie kaufte ein paar der rosagrünen - sie gefielen auch mir am besten - und lud mich dann zu Reiscrispies ein. Nachdem sie mich zu meiner Überraschung durchs ganze Haus geführt hatte, setzten wir uns an den Küchentisch. Schon nach kurzer Zeit war uns beiden klar, dass wir keinen gemeinsamen Gesprächsstoff hatten. Ich bemerkte blassbraune Flecken auf ihrem Tischtuch, direkt neben dem gestickten Bild von drei Kätzchen in einem Korb, die mich aus ihren blauen Augen traurig anblickten.
»Na, ja«, sagte Mrs. O'Donnell schließlich leise und hob den Blick. Ich sah, dass ihre Augen feucht waren, und das eine Auge schien etwas entzündet zu sein.
Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Reiscrispies. Im letzten Frühjahr waren auf unerklärliche Weise fast alle in meiner Schule an Bindehautentzündung erkrankt. Ich war eine der wenigen gewesen, die verschont geblieben waren, und ich wollte mein Glück nicht noch einmal herausfordern. Ich sah mich um und hoffte, dass sie mein Unwohlsein nicht bemerkte. Schließlich sagte ich etwas über die Uhr, die an der Küchenwand hing. Es handelte sich um einen schwarzen Hahn mit schlapp herabhängenden Schwanzfedern und zu einem staubigen Rosa verblassten Kamm und Kehllappen. In seinem Innern war für immer das runde Gehäuse einer Uhr gefangen - er würde nie Hühner verführen oder lauthals den neuen Morgen mit seinem Kikeriki begrüßen. Obwohl ich genau wusste, dass er aus Plastik war und ohnehin nie in die Verlegenheit kommen konnte, dergleichen zu tun, bedauerte ich ihn. Die Uhr zeigte ein Uhr siebenundvierzig, in Wirklichkeit war es jedoch ungefähr zehn Uhr dreißig.
»Die ist wirklich hübsch«, sagte ich, lächelnd und mit einem Nicken in Richtung des Hahns.
»Was ist hübsch?«
Ich deutete hinter sie, und als sie sich umdrehte, stopfte ich die Reiscrispies in die Tasche meiner Bluse.
»Möchtest du die Uhr denn haben?«, fragte Mrs. O'Donnell.
»Oh!«, sagte ich. »O nein, vielen Dank. Sie gehört doch Ihnen. Die könnte ich nie annehmen.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich die Uhr ganz vergessen. Du kannst sie wirklich gerne haben.«
»Oh«, sagte ich. Dann, nach einer Pause: »Huh«, und endlich: »Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber wirklich ...« Eigentlich wollte ich die Uhr überhaupt nicht. Ich wusste, dass sie mit einem Fettfilm überzogen war, dass ich nichts mit ihr anfangen, sie nicht einmal auseinandernehmen konnte, um ihr Innenleben zu studieren. In diesem Sommer gab es nichts Schöneres für mich, als Dinge auseinanderzunehmen. Ich zerschlug Steine mit dem Hammer meines Vaters, trocknete vorsichtig das feuchte Innere von Schalen und Hülsen, die ich von Bäumen pflückte, zupfte Blätter von Knospen, um die jungfräuliche Blüte im Innern zu betrachten. Mit einem Steakmesser, das einen perlmuttbesetzten Griff besaß, zersägte ich die Pfennigabsätze von Schuhen, die meine Mutter ausrangiert hatte, und eines Tages, als niemand zu Hause war, wagte ich sogar einen Blick ins Innere des Küchenradios. Mehrere Minuten lang starrte ich staunend und bewundernd auf die Röhren und Kupferdrähte, bevor ich das Radio abwechselnd laut und leise stellte, um herauszufinden, wodurch dies bewirkt wurde.
Inzwischen blickte ich noch immer auf die Hahnuhr und versuchte mir vorzustellen, ob es irgendetwas in ihrem Innern gab, was für mich von Wert und Interesse sein konnte. Ich hatte gehört, dass sich im Innern von Uhren Juwelen befinden konnten, aber bei dieser Uhr schien mir das ziemlich unwahrscheinlich; ich wusste, wenn ich sie aufmachte, bekäme ich nichts zu sehen außer aufgewirbeltem, feinem Staub. Wie gern hätte ich Mrs. O'Donnell gesagt, dass ich die Uhr nicht wollte, aber ihre Gefühle verletzen, das wollte ich auch nicht. Ich blieb stumm, während die Sekunden langsam dahinschlichen. Mein Magen verkrampfte sich; ich krümmte meine Zehen in meinen neuen Pantoletten und streckte sie wieder, krümmte und streckte sie. Irgendwann verzog sich Mrs. O'Donnells geschlossener Mund zu einem traurigen Lächeln. Ich lächelte zurück. Sie nickte; ich wartete, dann nickte ich ebenfalls. Schließlich sagte sie: »Weißt du, du kannst so viele Reiscrispies nehmen, wie du willst, aber lass sie mich einpacken. Wenn du sie so in deine Tasche stopfst, machen sie nur Flecken.«
Außer bei diesem einen Besuch habe ich eigentlich nie mit Mrs. O'Donnell geredet. Ihr Umzug ging mir nicht wirklich nahe. Ich begriff, dass dadurch alles möglich war; so konnte nebenan beispielsweise ein Mädchen in meinem Alter einziehen. Vielleicht ein Einzelkind, dessen beste Freundin ich werden könnte. Sollten seine Eltern es verwöhnen, würde vielleicht auch etwas für mich herausspringen. Dass wir Kinder in der Straße brauchten, war sonnenklar; Sharla und ich waren die einzigen unter sechzehn. Ich schaute gern zu, wenn sich die Teenager am Abend mit einem Kuss verabschiedeten, entweder im Auto vor dem Haus oder etwas züchtiger unter den gelben Verandalichtern; ich fand es aufregend, wenn die Jungs in der Nachbarschaft die Motoren aufheulen ließen, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren; ich bewunderte und beneidete die Mädchen um ihre Klamotten, wenn sie Arm in Arm auf dem Gehsteig schlenderten: um die hübschen Schlitze in ihren Dreiviertelhosen, um ihre Blusen mit den hochgestellten Kragen, ihre weißen, über der Schulter getragenen Lederhandtaschen, die Hasenpfoten, die an einer Kette baumelten. Diese Mädchen malten sich dicke schwarze Balken auf die Augenlider und trugen perlmuttschimmernden Lippenstift.
Ich beobachtete die Teenager auch gerne, wenn sie mit einer Tüte voller Schallplatten aus dem Plattenladen in der Stadt zurückkamen; ich stellte mir vor, dass sie wahrscheinlich im Drugstore gewesen waren, Vanillecola getrunken und Pommes gegessen und anschließend hinter dem Laden heimlich eine geraucht hatten. Aber all das hätte ich liebend gern eingetauscht für ein paar Kinder in unserem Alter. Wenn Sharla und ich den Mut gehabt hätten, ehrlich zu sein, hätten wir uns vielleicht eingestanden, dass wir einsam waren.
Sowie ich den Umzugswagen erspäht hatte, rannte ich ins Haus zurück und erzählte meiner Mutter, dass Mrs. O'Donnell auszog. »Ist es heute?«, fragte meine Mutter. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus.
»Tatsächlich. Armes Ding.« Sie kehrte an den Herd zurück, wendete den Speck, goss etwas Fett in einen leeren Milchkarton ab.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte ich. »Warum hast du's mir nicht erzählt?«
»Das hab' ich doch, da bin ich ganz sicher.«
»Nahah «, gab ich zurück. Dieses Wort war mein Lieblingsausdruck. Ein tolles Wort, wie ich fand. Mir fiel plötzlich ein, dass meine Mutter tatsächlich davon gesprochen hatte. Aber weil es an dem Tag geregnet hatte, hatte ich gelesen, und war fast am Ende eines Kapitels in einem NancyDrewBuch gewesen. Kein Mensch konnte ernsthaft erwarten, dass ich irgendetwas hörte, wenn sich ein Kissen auf Nancys Gesicht senkte.
»Warum hast du ›armes Ding‹ gesagt?«, wollte ich wissen.
»Ach, weißt du ...« Meine Mutter legte den Speck feinsäuberlich nebeneinander auf ein Haushaltstuch.
»Kann ich ein Stück haben, nur eins?« Jetzt bedauerte ich, dass ich das Frühstück ausgeschlagen hatte; der gebratene Speck roch mindestens so köstlich wie das Parfüm meiner Mutter.
»Ja, ich hab' welchen für dich mitgebraten.«
Ah, gerettet.
Ich nahm ein Stück Speck und setzte mich an den Küchentisch, um es genüsslich zu verspeisen, wobei ich die Beine übereinanderschlug und mit dem Fuß wippte und so den Genuss noch steigerte. »Warum hast du ›armes Ding‹ gesagt?«
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Ich lege meine Stirn an die Fensterscheibe und seufze. Ich bin siebenundvierzig, und diese Sehnsucht überkommt mich immer noch mit der gleichen Intensität und Häufigkeit wie in meiner Kindheit.
»Langer Flug, nicht wahr?«, sagt die Frau neben mir.
»Oh«, antworte ich. »Ja. Obwohl ... Tja, ich habe geseufzt, weil ich mir wünschte, ich könnte hier raus. Wär das nicht schön? Raus und da draußen herumspazieren. «
Sie blickt an mir vorbei, schaut aus dem Fenster. »Hübsch«, sagt sie. Und dann: »Sie würden natürlich sterben.«
»Na ja. Was ist heutzutage nicht gefährlich?«
»Gute Frage«, erwidert die Frau. »Essen ist gefährlich, genauso wie Wasser, Luft und Sex. Man kann so gut wie gar nichts mehr machen. Außer vielleicht Biosphäre abonnieren. « Wir lächeln, mit Bedauern. Sie ist hübsch, eine junge blonde Geschäftsfrau in adrettem marineblauen Kostüm, dazu Goldschmuck und Pumps aus weichem Leder, die sie jetzt abgestreift hat. Zu Anfang war sie in ihre Lektüre vertieft. Jetzt langweilt sie sich und möchte sich unterhalten. Gut so. Mir ist ebenfalls langweilig.
»Haben Sie manchmal auch das Gefühl, als wäre dies das Ende der Welt?«, frage ich. »Verstehen Sie mich nicht falsch ...«
»Oh, ich weiß, was Sie meinen«, sagt sie. »Ich denke jedenfalls darüber nach. Sterbende Planeten, dass wir wirklich ... nichts Besonderes sind. Nur einfach das letzte Glied in der Kette, die mit den Pantoffeltierchen angefangen hat.«
Die Stewardess bringt ihren Wagen neben uns zum Stehen, fragt, ob wir etwas zu trinken möchten. Die Frage scheint nichtig im Vergleich zum Inhalt unseres Gespräches. Trotzdem bitte ich um Orangensaft; die Frau neben mir verlangt einen Scotch.
»Ach bitte«, entschuldige ich mich bei der Flugbegleiterin, »ich hätte doch lieber auch einen Scotch.« Ich habe mich immer gefragt, wer um alles in der Welt am Vormittag im Flugzeug einen Cocktail trinken will. Jetzt weiß ich es: alle, die sich mit lästigen Gedanken herumquälen, die sie gern verscheuchen möchten.
Nachdem meine Nachbarin und ich unsere Tabletts heruntergeklappt und unsere Bars eröffnet haben, sage ich: »Dabei mag ich Scotch gar nicht.«
»Ich auch nicht.« Sie zuckt mit den Schultern, nimmt ein Schlückchen, verzieht das Gesicht. »Aber ich hasse Fliegen. Manchmal hilft das.«
Ich lächle, strecke die Hand aus. »Ich bin Ginny Young.«
»Martha Hamilton.«
»Wohnen Sie in Kalifornien?«
»Ja. San Francisco. Und Sie?«
»In Boston. Im Moment bin ich auf dem Weg zu meiner Mutter in Mill Valley.«
»Wie schön. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen? «
Ich rechne nach, dann antworte ich: »Vor fünfunddreißig Jahren.«
Martha dreht sich zu mir um, starrt mich an. Ich weiß, vor lauter Schreck kann sie ihren Scotch nicht hinunterschlucken.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich mag meine Mutter nicht. Und ich schäme mich deswegen auch nicht. Sie ist kein guter Mensch. Sie hat Dinge getan ... Na ja, sie ist einfach kein guter Mensch.« Immer wenn andere die Horrorgeschichten von ihren Müttern erzählen, hebe ich mir meine für zuletzt auf. Sie ist die beste, weil sie die schlimmste ist.
»Aber ... warum besuchen Sie sie dann jetzt?«
»Wegen meiner Schwester. Sie glaubt, sie sei krank. Nicht meine Mutter - meine Schwester.«
»Und ist die krank?«
»Keine Ahnung. Sie wartete noch auf die Untersuchungsergebnisse. Aber sie wollte unsere Mutter besuchen. Nur ... für alle Fälle. Unerledigtes, das sie gerne noch bereinigen möchte.«
Martha atmet deutlich hörbar aus. »Du lieber Himmel. Das tut mir leid.«
»Tja, so ist das nun mal.«
Sie legt die Hand auf meinen Arm. »Geht's Ihnen gut?«
»Mir? Ja! Es ist ... ach, das ist eine alte Geschichte. Uralt, um genau zu sein. Ich hatte nicht die Absicht, meine Mutter noch einmal wiederzusehen, und damit konnte ich gut leben. Dieser Besuch ist mit Sicherheit auch der letzte, das weiß ich bestimmt. Ich tu es nur für meine Schwester. Obwohl ich nicht glaube, dass sie wirklich krank ist. Das kann einfach nicht sein.«
Martha nickt, beißt auf einen Eiswürfel, dann schaut sie mich mit hochgezogener Augenbraue an.
»Ja«, sage ich, »ich weiß.«
»Ich sag Ihnen was«, meint Martha. »Ich war letzte Woche auf einem Friedhof spazieren, mit meinem Hund. Eigentlich ist das nicht erlaubt, und deshalb hab' ich mich schnell hinter dieser großen Gedenktafel versteckt, als ich jemanden kommen hörte. Ich hab' gesehen, wie eine Frau vor einem Grab stehen blieb. Sie kniete nieder und fing an, laut zu reden. Sie erzählte offenbar von einem ihrer Kinder, einer Tochter, die ihr sehr viel Kummer bereitete, und irgendwann sagte sie: ›So etwas hab' ich dir doch nie angetan, Mama, oder?‹ Dann hat sie sich auf die Erde gelegt und geweint. Bitterlich geweint hat sie! Und wissen Sie, manchmal ist der Kummer so groß, dass man einfach nicht anders kann und mitweinen muss. Aber als ich anfing zu weinen, fing mein Hund an zu bellen. Die Frau hob den Blick und sah mich, natürlich. Die Situation war ihr furchtbar peinlich. Sie sprang auf, wischte sich das Gesicht ab, strich ihre Kleider zurecht und fing an, in ihrer Tasche zu kramen. Ich fühlte mich schrecklich. Es war verboten, einen Hund mit in den Friedhof zu nehmen, und das zu Recht. Ich entschuldigte mich, aber geholfen hat es nicht viel.
Auf dem Weg nach Hause habe ich die ganze Zeit gerätselt, warum die Frau geweint und woran sie wohl gedacht hat. Ich habe mich gefragt, ob andere Töchter auch mit ihren Müttern reden, wenn sie ihre Gräber besuchen, und ob ich, wenn meine Mutter stirbt, es auch tun werde. Klingt doch wie 'ne gute Frage für eine Party, meinen Sie nicht auch? Was würden Sie am Grab Ihrer Mutter sagen? Na ja; vielleicht nicht gerade eine Frage für eine Party. Aber eine interessante allemal. Wenigstens hat man so die Chance, mit ihr unter vier Augen zu reden.«
»Richtig«, sage ich, obwohl ich im Stillen denke, dass ich meiner Mutter überhaupt nichts zu sagen habe. Ich tue es nur für Sharla. Ich liebe meine Schwester. Mit meiner Mutter habe ich abgeschlossen, und das schon vor langer Zeit. Nicht umsonst habe ich unzählige Stunden bei Therapeuten verbracht und Berge von Papiertaschentüchern verbraucht.
»Wo wohnt Ihre Schwester?«, fragt Martha.
»In Texas. San Antonio. Sie wartet am Flughafen auf mich, ihr Flug kommt zwanzig Minuten vor meinem an.«
»Hat sie Ihre Mutter in all den Jahren gesehen?«
»Nein.«
»Huh. Das wird ein schönes Wiedersehen werden.«
»Ich weiß«, sage ich und schütte den Rest von meinem Scotch hinunter. Dann drücke ich das Plastikglas zusammen, um herauszufinden, wie weit ich es verbiegen kann. Nicht weit, es zerbricht in meiner Hand. Ich stopfe es in die Spucktüte, verschließe sie und lege sie fein säuberlich auf mein Tablett. Mir ist nicht mehr nach Reden zumute. Ich lehne mich zurück, schaue aus dem Fenster. Ich habe meine Gründe, sage ich mir - und Martha auch, für den Fall, dass sie meine Gedanken errät, schließlich ist sie aus Kalifornien; dort können sie so etwas. Aber ich habe meine Gründe. Ganz bestimmt sogar.
»Miss?«, fragt die Flugbegleiterin. »Möchten Sie Frühstück? « Ich zucke zusammen, lächle und nicke zustimmend, als sie mir ein paar dicke Scheiben Toast anbietet. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, dem das Essen im Flugzeug schmeckt. Ich freue mich über die ausgefallenen Garnierungen, die eigens für jeden Passagier zusammengestellten Portionen. Ich mag die Salatsoße. Wenn der erste Gang beispielsweise aus Pizza besteht, finde ich das einfach herrlich. Natürlich würde ich das niemals zugeben.
Martha hat sich für das Käseomelett entschieden, und als ich sehe, wie sie es in mundgerechte Stücke schneidet, wünschte ich, ich hätte das Gleiche gewählt. Aber nach dem ersten Bissen schüttelt sie sich, genauso gut hätte sie »igitt» sagen können. Ich lächle, schüttle mich ebenfalls, tränke meinen Toast mit zähflüssigem künstlichen Ahornsirup. Die Kreation sieht köstlich aus.
»Da hinten ist eine Reihe leer«, sagt Martha, nachdem sie den größten Teil ihres Frühstücks verzehrt hat. »Ich glaube, ich lege mich da ein Weilchen aufs Ohr.«
»Okay.«
»Außer Sie möchten sich auch hinlegen. In dem Fall könnten wir losen.«
»Nein, schon in Ordnung«, erwidere ich. »Wenn Sie nach hinten gehen, habe ich hier auch mehr Platz. Außerdem ist mir nicht nach Schlafen.«
»Wirklich nicht? Immer wenn ich länger als eine Stunde fliege, muss ich schlafen. Sonst werde ich verrückt. Einmal habe ich mir Briefe zum Lesen mitgenommen. Sie wissen schon, solche, die man aufhebt, weil man meint, man würde sie eines Tages noch mal lesen, auch wenn man's dann nie tut. Ich habe also diesen dicken Packen Briefe von Verflossenen mitgenommen. Ich habe sie ausgepackt und angefangen zu lesen. Und tatsächlich ging so die Zeit schneller vorüber, aber leider musste ich, als ich sie las, ganz schrecklich weinen. Mein Gott, war mir das peinlich. Das mach' ich nie wieder! Da ist es noch besser, man schläft.« Sie steht auf, öffnet das Fach über unseren Köpfen, zieht ein Kissen und eine Decke heraus und marschiert den Gang hinunter.
Ich weiß, was Martha meint, wenn sie von alten Briefen spricht. Es war an einem dieser regnerischen Nachmittage - meine Tochter war in der Schule -, als ich in den Keller ging und eine arg mitgenommene Schachtel mit alten Liebesbriefen hervorholte. Ich trug sie hinauf ins Schlafzimmer und leerte den Inhalt aufs Bett. Ich erinnere mich, dass ich diese alte rote Strickweste anzog, die am Ellbogen schon ganz durchgewetzt war - es war kühl -, mich hinsetzte und die Briefe las. Jeden einzelnen: zärtliche Notizen voller Fehler, die mir Tom Winchell am Morgen danach an den Badezimmerspiegel geklebt hatte; mit Tinte geschriebene Briefe von Tim Stanley, der später Theologie studierte, und ich weiß, warum: damit er auf der Kanzel stehen und reden, reden, reden konnte. Ich habe Dinge gelesen, die mich noch einmal im tiefsten Innersten berührten, die mich gedankenverloren aus dem Fenster starren und laut seufzen ließen. Ich verlor mich in meinen Tagträumen; noch Stunden nachdem ich die Briefe gelesen hatte, war ich nicht von dieser Welt. Beinahe hätte ich einen meiner alten Freunde angerufen, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie das Gespräch verlaufen wäre. Ich hätte meinen Gefühlen freien Lauf gelassen: »Weißt du, das hat eigentlich nichts zu bedeuten, aber erinnerst du dich, erinnerst du dich, wie sehr wir uns geliebt haben, erinnerst du dich, wie wir die ganze Nacht aufgeblieben sind, um ja nicht den Sonnenaufgang über dem Fluss zu verpassen, und wie du mir deine Jacke über die Schultern gelegt hast und ich eine aufgesprungene Lippe hatte und du mich so zärtlich geküsst hast, dass ich dachte, ich könnte dich nie, nie verlassen?« Ungefähr so hätte ich geredet, und Larry Drever, dessen Haar inzwischen schütter geworden ist und der seit langem Lebensversicherungen verkauft, hätte gesagt: »Wer spricht dort?«
Ich weiß also, dass es gefährlich ist, in die Vergangenheit einzutauchen. Vor allem, wenn einem Dinge so klar vor Augen stehen wie mir. Ich kann mich mühelos an alles erinnern, eine Gabe, die ich schon als kleines Kind hatte. Ich brauche lediglich ein anschauliches Detail, und schon setze ich eine komplette Szene zusammen. Sagt jemand beispielsweise »Eisdiele«, erinnere ich mich an eine Nacht, als ich mit mehreren Freunden in der Highschool war und Joe Antillos Kopf von einem Schwarm Mücken umkreist wurde und er den Arm hob, um sie zu verscheuchen und dabei sein Malzbier über sich und Trudy Jameson vergoss, die eine blaue Bluse mit Schleife trug und dazu Jeans, an der eine Gesäßtasche fehlte, und ein silbernes Armband und nach »Intimate« duftete. Sie hatte an jenem Abend eine leichte Erkältung. Ein paar Tage vorher war ihr achtjähriger Bruder Kevin vom Fahrrad gestürzt und hatte sich dabei so stark am Knie verletzt, dass es mit sieben Stichen genäht werden musste, von denen er später die Hälfte mit der Nagelschere seiner Schwester entfernte. »Ich wollte nur sehen, was passiert«, erklärte er seinen entsetzten Eltern, als sie ihn ins Krankenhaus zurückfuhren. »Wie kannst du dich bloß an all diese Einzelheiten erinnern?«, werde ich immer wieder gefragt. Wie, weiß ich auch nicht. Ich erinnere mich einfach. Ein Bild führt zum anderen, und das wiederum zum nächsten, als wären sie alle an einem Faden aufgereiht. Und in der Person, die ich damals war - ich fühle das Wetter, ich fühle alles. Die Person, die ich jetzt bin, verliert sich ganz in dem anderen, jüngeren Selbst.
Sie kann schmerzlich sein, die Erinnerung - der Schock des Wiedereintauchens, die leichte Verwirrung, die Traurigkeit, die jedes Bild der Vergangenheit begleitet. Aber trotzdem will ich jetzt, während ich aus dem Fenster auf das weit unter mir liegende Land schaue und mir bewusst werde, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wo ich mich befinde, nichts anderes tun als genau das. Ich will zu dem Punkt zurückkehren, an dem ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, meine Mutter zu verlieren, und nach Hinweisen suchen, die mir das Wie und das Warum erklären. Wahrscheinlich ist die Zeit dafür reif. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und beginne.
Angefangen hat alles im Jahr 1958 in dem kleinen Städtchen Clear Falls, Wisconsin, wo ich aufgewachsen bin. Es war der Sommer, in dem ich zwölf wurde, das Jahr, in dem meine dreizehnjährige Schwester Sharla und ich uns zum ersten Mal nachts aus dem Haus schlichen, um draußen im Garten zu schlafen. Es war ein schrecklich heißer und schwüler Sommer; die Hitze raubte uns beinahe den Atem. Die Bettlaken fühlten sich auf der nackten Haut so kratzig an wie Armeedecken, und der alte Ventilator in unserem Zimmer machte alles nur noch schlimmer; er blies uns abgestandene, warme Luft ins Gesicht, die sich, wie meine Schwester meinte, genauso anfühlte wie der Atem von Onkel Roy, wenn er versuchte, uns zu küssen. Das probierte der furchtbar übergewichtige Bruder meiner Mutter ohne Unterlass, wenn er an Thanksgiving aus Raleigh zu Besuch kam, zum Glück jedoch nur in Gegenwart anderer, sodass wir eher wütend waren als verängstigt. »Ihr seid doch meine Freundinnen, oder nicht?«, sagte er für gewöhnlich mit lauter Stimme, und wir antworteten immer: »Nein, sind wir nicht.« »Klar, seid ihr!«, gab er dann zurück, und wir rollten die Augen und waren so unfreundlich wie wir in Gegenwart unserer Eltern nur irgend sein konnten.
Weil wir sicher waren, unsere Eltern würden es nicht gutheißen, dass wir im Freien schliefen, fragten wir sie erst gar nicht um Erlaubnis. Stattdessen warteten wir, bis die Standuhr im Erdgeschoss laut und vernehmlich Mitternacht schlug, um auf Zehenspitzen hinauszuschleichen - so mucksmäuschenstill wie ein Indianer nur sein konnte. Indianer waren für uns das Größte. Mit Kaffee färbten wir Bettlaken und machten daraus Kleider mit fransigen Säumen, die wir mit einer Perlenschnur in der Taille zusammenbanden. Wir steckten uns die Federn ins Haar, die unser Wellensittich Lucky verloren hatte, und schlüpften in die Mokassins, die wir nach langem Bitten und Betteln zu Weihnachten bekommen hatten, auch wenn sie unindianisch pinkfarben waren. Wir trugen Steine zusammen und schichteten sie im Kreis für ein Lagerfeuer auf, jagten nach Eichund Backenhörnchen, um uns mit den Tiergeistern zu verständigen, und wickelten farbige Beeren in Blätter, eine Kreation, die wir zum Abendessen servierten.
Aber in erster Linie übten wir uns darin, lautlos durch den Wald hinter dem Haus zu schleichen. Es war nicht ganz einfach. Mir kam die Idee, dass es am besten zu bewerkstelligen wäre, wenn man sich vorstellte, federleicht zu sein, und erahnte, wo die Zweige lagen - denn wenn man nach ihnen Ausschau hielt, musste man unweigerlich stolpern.
Unsere Eltern gingen früh zu Bett, so wie alle anderen in der Nachbarschaft auch. Zweifellos hätten wir uns schon um zehn aus dem Haus schleichen können, aber Mitternacht war nicht nur romantischer, sondern auch aufregender. Außerdem wandelten wir gern wie Geister zwischen den Zeiten, wenn ein Tag nahtlos in den anderen überging. Wenn es eine Zeit für das Außergewöhnliche gab, dann musste es unserer Meinung nach Mitternacht sein. Und wir sehnten uns nach dem Außergewöhnlichen. Vielen Menschen, die auf der sicheren Seite des Lebens stehen, geht es ebenso.
Die eine Seite des Hauses wurde von ausladenden Fliederbüschen gesäumt, und darin versteckten wir unsere Bettdecken, einen alten Quilt, der früher für Picknicks benutzt wurde, nachdem er jahrelang auf Betten gelegen hatte. Die Farben - verschiedene Rots, Gelbs, Grüns - waren fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst; sie erinnerten an die verlaufenden Ränder von Wasserfarben, und der Stoff war so dünn, dass man das Gefühl hatte, ins Leere zu greifen. Bestickt war der Quilt mit einem Motiv, das einen Korb voller Blumen zeigte, und die Person, die es angefertigt hatte, hatte über eine der Rosen eine surrende Biene gestickt. Der Gedanke machte mich froh, dass vor einhundert Jahren jemand so entzückt vom Anblick einer Biene und einer Blume gewesen war, dass er ihn auf diese stille Weise verewigt hatte. Auch ich liebte die Natur. Und die Naturwissenschaften - alles, was ich darüber las, faszinierte mich, obwohl ich von dem Gelesenen meist nichts begriff. Mir waren die Schulfächer am liebsten, mit denen ich die größten Schwierigkeiten hatte. Für gewöhnlich starrte ich auf die Formeln und bewunderte ihre schlichte Schönheit, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, was sie bedeuteten. Die Tatsache, dass sie jemandem ein höheres Gesetz erklärten, genügte mir. Es beruhigte mich.
Sharla und ich breiteten die Quiltdecke im Garten hinter dem Haus aus, um uns dann wohlig darauf zu räkeln. Meist unterhielten wir uns eine Weile über die Sternenkonstellationen und zählten abwechselnd die Namen der Sterne auf, die wir schon kannten. Unserer Meinung nach war das etwas typisch Indianisches. Außerdem mussten wir uns dabei auf den dunklen Himmel konzentrieren. Im schwachen Licht des Mondes hatte das Gras eine dunkelblaue Färbung angenommen und roch angenehm würzig. Gelegentlich hörten wir das Surren einer Schnake, das schon allein deswegen aufregend war, weil wir das Insekt nicht sahen und es in unserer Vorstellung deshalb mindestens so groß war wie ein kleines Flugzeug. Wir trugen ärmellose TShirts und taillenhohe Unterhosen, die weiße Baumwolluniform der Flachbrüstigen.
Wenn sich kurz vor Sonnenaufgang am Horizont der hoffnungsvolle graurosa Streifen abzuzeichnen begann, schlichen wir zurück ins Haus. Jetzt freuten wir uns auf unsere Betten, wir zogen die Rollos herunter und schliefen meist bis zehn. Nach dem Aufstehen taumelten wir mit zerzausten Haaren und blinzelnd in die Küche, wo uns stets ein Frühstück, bestehend aus Erdnussbuttertoast und Orangensaft, erwartete. Ausgenommen die wenigen Male, wenn unsere Mutter nicht zu Hause war - wenn sie die Handschuhe übergestreift, den Hut aufgesetzt und mit dem Bus, sagen wir, zum Zahnarzt gefahren war. An solchen Tagen verköstigten wir uns mit Vanilleeis in Cola, das wir aus dünnstieligen, zarten Champagnerflöten tranken, die unsere Eltern im Küchenschrank über dem Kühlschrank aufbewahrten.
In diesem Sommer dachten wir zum ersten Mal über das Leben nach: Es war ein angenehmes, träg dahinplätscherndes Etwas und so bequem wie ausgelatschte Pantoffeln. Es war wohltuend berechenbar und überaus sicher. Obwohl wir nicht genau wussten, was die Zukunft für uns bereithielt, glaubten wir zu wissen, wie man darauf zumarschierte. Richtig war richtig. Falsch war falsch. Den Unterschied zu erkennen, bedurfte es keiner großen Anstrengung.
Und dann zog Jasmine Johnson im Haus nebenan ein und löste eine Unruhe in unseren Köpfen und Herzen aus, die uns nachhaltiger beeinflussen sollte als alles, was davor und danach geschah.
Ich sah den Umzugswagen als Erste. Eines Dienstagmorgens ging ich früh nach unten, um ein »Taunest« zu suchen. Meine Schwester behauptete, dort hause frühmorgens die heilige ägyptische Juwelenspinne, ein zartes Geschöpf mit vielfarbigem Muster auf dem Rücken und tausendmal schöner als eine gewöhnliche Spinne. Außerdem konnte sie Wünsche wahr werden lassen. Gehörte man zu den Glücklichen, die eine Juwelenspinne morgens im Nest fanden, musste man die Hand darüberlegen, sich etwas wünschen, seine Fingerspitzen küssen, und - Abrakadabra - am Ende des Tages würde der Wunsch erfüllt sein. Ganz egal, was es war. Irgendwie ahnte ich, dass die Geschichte nur eine der fantasievollen Schwindeleien meiner Schwester war - sie glaubte an milde Formen der Folter -, trotzdem stand ich früh auf, um mich zu vergewissern. Meine Mutter stand in der Küche und machte Frühstück, das Radio spielte leise, um ihr »Gesellschaft zu leisten«. Perry Como sang eines seiner schmalzigen Lieder, und meine Mutter summte schüchtern mit. Sie schwärmte für Perry Como. Sagte sie. Das war in Ordnung; mein Vater schwärmte für Dinah Shore.
Meine Mutter trug ihren wunderschönen gelben Hausmantel, dessen exakt gebundene Schleife sich genau in der Mitte ihrer Taille befand. Dafür stand ihr kastanienbraunes Haar am Hinterkopf ab, und das nicht zum ersten Mal. Wie immer hasste ich den Anblick, da er in meinen Augen ein Ausdruck von Unvollkommenheit war. Es handelte sich um eine widerspenstige Haarlocke, die kaum zu bändigen war - das wusste ich, weil ich genau die gleiche widerspenstige Haarlocke besaß, doch dass meine Mutter eine solche hatte, war unverzeihlich. Sie passte nicht zu ihrem Äußeren: zu ihren dunkelblauen Augen, ihrer schmalen, schön geschwungenen Nase, ihren hohen Wangenknochen, ihrer weißen, zarten Haut - alles Anzeichen dafür, dessen war ich mir sicher, dass blaues Blut in ihren Adern floss. Sie weigerte sich, meiner Ahnung nachzugehen; ich nahm mir vor, dass ich es später für sie tun würde. »Da!«, würde ich eines Tages sagen, wenn ich ihr die Papiere mit dem goldenen Siegel unter die Nase hielt. »Du meine Güte!«, würde sie dann hauchen, während sie die Papiere mit einer Mischung aus wilder Freude und großer Zartheit durchblätterte. »Ich danke dir, Ginny! Es tut mir so leid, dass ich dir damals nicht geglaubt habe. Ich danke dir!«
»Schon gut«, würde ich sagen und ihr die Tränen vom runzligen Gesicht wischen. »Wenigstens hast du jetzt Gewissheit. «
Inzwischen sah meine Mutter von der elektrischen Bratpfanne auf und fragte: »Wo willst du denn hin?«
»Deine Haare stehen zu Berge«, antwortete ich.
»Ich weiß«, gab sie zurück, obwohl sie es nicht gewusst hatte. Hätte sie es nämlich gewusst, hätte sie die Locke irgendwie gebändigt. Sie legte die Hand an den Kopf, drückte die Locke nach unten. An der Röte, die ihr ins Gesicht stieg, merkte ich, dass es ihr peinlich war. Das berührte mich, und ich überlegte, ob ich nicht auf sie zugehen und die Arme um ihre Taille schlingen sollte. Dabei hätte ich ihren locker am Finger sitzenden Ehering auf meinem Hinterkopf gespürt, aber nein, schließlich war ich kein Kind mehr. Und außerdem hatte ich zu tun. Ich musste die Spinne in ihrem Nest finden, wenn der Zauber wirken sollte.
»Ich muss draußen was suchen«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder da.«
»Willst du Eier?«, rief meine Mutter mir nach. »Und Speck?«
»Nein«, rief ich, »ich gehe wieder ins Bett.« Doch als ich ins Freie hinaustrat, war ich kein bisschen mehr müde. Die frühmorgendliche Luft belebte mich auch heute; es war ihre klare und erwartungsvolle Frische.
Hinter mir schlug die Fliegengittertür zu. Ich reckte mich, suchte den hinteren Garten ab, fand nichts. Als Nächstes machte ich mich auf den Weg in den Vorgarten, obwohl ich bezweifelte, dass die Spinne einen so leicht zugänglichen Ort für ihr Nest wählen würde, und da sah ich ihn, den riesigen orangefarbenen Umzugswagen, dessen Hinterräder auf dem Rasen vor der Haustür des Nachbarhauses standen.
Neben uns wohnte Mrs. O'Donnell, und soviel ich wusste, würde sich daran auch nichts ändern. Sie war eine Witwe unbestimmten Alters und wackelig auf den Beinen, aber sie ging nicht am Stock; sie war einfach, aber nicht großmütterlich gekleidet; ihre Stimme war zart, aber nicht zittrig. Sie trug eine dicke bifokale Brille mit blassblauer Fassung, ein Bügel war - offensichtlich dauerhaft - mit einer winzigen goldenen Sicherheitsnadel repariert. Im Frühjahr machte sie sich immer selbst eine Dauerwelle - eine unfreiwillige Werbung gegen Dauerwellen: Ihr stahlgraues Haar erinnerte mich an Scheuerwolle, der das Aufregende des darin versteckten Schaums fehlte. Sie trug einen dunklen Lippenstift, der von der Mitte ihres Mundes nach außen verlief und sich dort verklebte, und eine Unmenge von Rouge, das meine Mutter an jeder anderen Frau unanständig gefunden hätte. Mit Ausnahme des alljährlichen Austauschs von Weihnachtsplätzchen und des halbherzigen Rituals des Sichzuwinkens, wenn man einander kommen und gehen sah, lebte sie mehr oder weniger für sich. Nie habe ich jemanden zu Besuch kommen sehen, außer ihren Neffen Leroy, der von Beruf Polizist war. In unregelmäßigen Abständen fuhr er in seinem protzigen Dienstwagen vor und stellte das Auto in einer Weise vor dem Haus ab, die stets äußerste Dringlichkeit signalisierte. Das Aussteigen bereitete ihm Mühe, sein Bauch war ihm im Weg. Hin und wieder kam er mit einer sorgfältig verschlossenen braunen Einkaufstüte wieder heraus. Ich hatte keine Ahnung, was sie enthielt, aber ich stellte mir gern vor, sie enthielte in Alufolie eingewickeltes gebratenes Hähnchen. Eine Keule und eine Brust, die er verspeiste, wenn er in seinem Wagen saß, auf Raser wartete und sich einen Salzstreuer wünschte.
Im letzten Sommer war ich ein paar aufregende Wochen lang im Topflappengeschäft tätig, das heißt, ich stellte sie her und verkaufte sie. Mrs. O'Donnell war meine erste Kundin. Sie kaufte ein paar der rosagrünen - sie gefielen auch mir am besten - und lud mich dann zu Reiscrispies ein. Nachdem sie mich zu meiner Überraschung durchs ganze Haus geführt hatte, setzten wir uns an den Küchentisch. Schon nach kurzer Zeit war uns beiden klar, dass wir keinen gemeinsamen Gesprächsstoff hatten. Ich bemerkte blassbraune Flecken auf ihrem Tischtuch, direkt neben dem gestickten Bild von drei Kätzchen in einem Korb, die mich aus ihren blauen Augen traurig anblickten.
»Na, ja«, sagte Mrs. O'Donnell schließlich leise und hob den Blick. Ich sah, dass ihre Augen feucht waren, und das eine Auge schien etwas entzündet zu sein.
Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Reiscrispies. Im letzten Frühjahr waren auf unerklärliche Weise fast alle in meiner Schule an Bindehautentzündung erkrankt. Ich war eine der wenigen gewesen, die verschont geblieben waren, und ich wollte mein Glück nicht noch einmal herausfordern. Ich sah mich um und hoffte, dass sie mein Unwohlsein nicht bemerkte. Schließlich sagte ich etwas über die Uhr, die an der Küchenwand hing. Es handelte sich um einen schwarzen Hahn mit schlapp herabhängenden Schwanzfedern und zu einem staubigen Rosa verblassten Kamm und Kehllappen. In seinem Innern war für immer das runde Gehäuse einer Uhr gefangen - er würde nie Hühner verführen oder lauthals den neuen Morgen mit seinem Kikeriki begrüßen. Obwohl ich genau wusste, dass er aus Plastik war und ohnehin nie in die Verlegenheit kommen konnte, dergleichen zu tun, bedauerte ich ihn. Die Uhr zeigte ein Uhr siebenundvierzig, in Wirklichkeit war es jedoch ungefähr zehn Uhr dreißig.
»Die ist wirklich hübsch«, sagte ich, lächelnd und mit einem Nicken in Richtung des Hahns.
»Was ist hübsch?«
Ich deutete hinter sie, und als sie sich umdrehte, stopfte ich die Reiscrispies in die Tasche meiner Bluse.
»Möchtest du die Uhr denn haben?«, fragte Mrs. O'Donnell.
»Oh!«, sagte ich. »O nein, vielen Dank. Sie gehört doch Ihnen. Die könnte ich nie annehmen.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich die Uhr ganz vergessen. Du kannst sie wirklich gerne haben.«
»Oh«, sagte ich. Dann, nach einer Pause: »Huh«, und endlich: »Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber wirklich ...« Eigentlich wollte ich die Uhr überhaupt nicht. Ich wusste, dass sie mit einem Fettfilm überzogen war, dass ich nichts mit ihr anfangen, sie nicht einmal auseinandernehmen konnte, um ihr Innenleben zu studieren. In diesem Sommer gab es nichts Schöneres für mich, als Dinge auseinanderzunehmen. Ich zerschlug Steine mit dem Hammer meines Vaters, trocknete vorsichtig das feuchte Innere von Schalen und Hülsen, die ich von Bäumen pflückte, zupfte Blätter von Knospen, um die jungfräuliche Blüte im Innern zu betrachten. Mit einem Steakmesser, das einen perlmuttbesetzten Griff besaß, zersägte ich die Pfennigabsätze von Schuhen, die meine Mutter ausrangiert hatte, und eines Tages, als niemand zu Hause war, wagte ich sogar einen Blick ins Innere des Küchenradios. Mehrere Minuten lang starrte ich staunend und bewundernd auf die Röhren und Kupferdrähte, bevor ich das Radio abwechselnd laut und leise stellte, um herauszufinden, wodurch dies bewirkt wurde.
Inzwischen blickte ich noch immer auf die Hahnuhr und versuchte mir vorzustellen, ob es irgendetwas in ihrem Innern gab, was für mich von Wert und Interesse sein konnte. Ich hatte gehört, dass sich im Innern von Uhren Juwelen befinden konnten, aber bei dieser Uhr schien mir das ziemlich unwahrscheinlich; ich wusste, wenn ich sie aufmachte, bekäme ich nichts zu sehen außer aufgewirbeltem, feinem Staub. Wie gern hätte ich Mrs. O'Donnell gesagt, dass ich die Uhr nicht wollte, aber ihre Gefühle verletzen, das wollte ich auch nicht. Ich blieb stumm, während die Sekunden langsam dahinschlichen. Mein Magen verkrampfte sich; ich krümmte meine Zehen in meinen neuen Pantoletten und streckte sie wieder, krümmte und streckte sie. Irgendwann verzog sich Mrs. O'Donnells geschlossener Mund zu einem traurigen Lächeln. Ich lächelte zurück. Sie nickte; ich wartete, dann nickte ich ebenfalls. Schließlich sagte sie: »Weißt du, du kannst so viele Reiscrispies nehmen, wie du willst, aber lass sie mich einpacken. Wenn du sie so in deine Tasche stopfst, machen sie nur Flecken.«
Außer bei diesem einen Besuch habe ich eigentlich nie mit Mrs. O'Donnell geredet. Ihr Umzug ging mir nicht wirklich nahe. Ich begriff, dass dadurch alles möglich war; so konnte nebenan beispielsweise ein Mädchen in meinem Alter einziehen. Vielleicht ein Einzelkind, dessen beste Freundin ich werden könnte. Sollten seine Eltern es verwöhnen, würde vielleicht auch etwas für mich herausspringen. Dass wir Kinder in der Straße brauchten, war sonnenklar; Sharla und ich waren die einzigen unter sechzehn. Ich schaute gern zu, wenn sich die Teenager am Abend mit einem Kuss verabschiedeten, entweder im Auto vor dem Haus oder etwas züchtiger unter den gelben Verandalichtern; ich fand es aufregend, wenn die Jungs in der Nachbarschaft die Motoren aufheulen ließen, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren; ich bewunderte und beneidete die Mädchen um ihre Klamotten, wenn sie Arm in Arm auf dem Gehsteig schlenderten: um die hübschen Schlitze in ihren Dreiviertelhosen, um ihre Blusen mit den hochgestellten Kragen, ihre weißen, über der Schulter getragenen Lederhandtaschen, die Hasenpfoten, die an einer Kette baumelten. Diese Mädchen malten sich dicke schwarze Balken auf die Augenlider und trugen perlmuttschimmernden Lippenstift.
Ich beobachtete die Teenager auch gerne, wenn sie mit einer Tüte voller Schallplatten aus dem Plattenladen in der Stadt zurückkamen; ich stellte mir vor, dass sie wahrscheinlich im Drugstore gewesen waren, Vanillecola getrunken und Pommes gegessen und anschließend hinter dem Laden heimlich eine geraucht hatten. Aber all das hätte ich liebend gern eingetauscht für ein paar Kinder in unserem Alter. Wenn Sharla und ich den Mut gehabt hätten, ehrlich zu sein, hätten wir uns vielleicht eingestanden, dass wir einsam waren.
Sowie ich den Umzugswagen erspäht hatte, rannte ich ins Haus zurück und erzählte meiner Mutter, dass Mrs. O'Donnell auszog. »Ist es heute?«, fragte meine Mutter. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus.
»Tatsächlich. Armes Ding.« Sie kehrte an den Herd zurück, wendete den Speck, goss etwas Fett in einen leeren Milchkarton ab.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte ich. »Warum hast du's mir nicht erzählt?«
»Das hab' ich doch, da bin ich ganz sicher.«
»Nahah «, gab ich zurück. Dieses Wort war mein Lieblingsausdruck. Ein tolles Wort, wie ich fand. Mir fiel plötzlich ein, dass meine Mutter tatsächlich davon gesprochen hatte. Aber weil es an dem Tag geregnet hatte, hatte ich gelesen, und war fast am Ende eines Kapitels in einem NancyDrewBuch gewesen. Kein Mensch konnte ernsthaft erwarten, dass ich irgendetwas hörte, wenn sich ein Kissen auf Nancys Gesicht senkte.
»Warum hast du ›armes Ding‹ gesagt?«, wollte ich wissen.
»Ach, weißt du ...« Meine Mutter legte den Speck feinsäuberlich nebeneinander auf ein Haushaltstuch.
»Kann ich ein Stück haben, nur eins?« Jetzt bedauerte ich, dass ich das Frühstück ausgeschlagen hatte; der gebratene Speck roch mindestens so köstlich wie das Parfüm meiner Mutter.
»Ja, ich hab' welchen für dich mitgebraten.«
Ah, gerettet.
Ich nahm ein Stück Speck und setzte mich an den Küchentisch, um es genüsslich zu verspeisen, wobei ich die Beine übereinanderschlug und mit dem Fuß wippte und so den Genuss noch steigerte. »Warum hast du ›armes Ding‹ gesagt?«
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Autoren-Porträt von Elizabeth Berg
Elizabeth Berg war 36, als sie ihren Beruf als Krankenschwester aufgab und sich nur noch ihrer Familie und dem Schreiben widmete. Bisher veröffentlichte sie vier Romane, die in Amerika alle Bestseller waren. Die Autorin lebt in Massachusetts.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Berg
- 2012, 1, 320 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386365420X
- ISBN-13: 9783863654207
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