Weil die Sehnsucht ewig lebt
Nach einem Schicksalsschlag begleitet Jess ihren Mann auf einen Forschungsaufenthalt in Queensland. Sie findet die Tagebücher einer Frau, die um 1870 dort gelebt hat und erkennt, dass ihre Schicksale sich erstaunlich ähneln.
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Produktinformationen zu „Weil die Sehnsucht ewig lebt “
Nach einem Schicksalsschlag begleitet Jess ihren Mann auf einen Forschungsaufenthalt in Queensland. Sie findet die Tagebücher einer Frau, die um 1870 dort gelebt hat und erkennt, dass ihre Schicksale sich erstaunlich ähneln.
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Weil die Sehnsucht ewig lebt von Robyn Lee BurrwosKAPITEL 1
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Jess, ich bin zu Hause.« Die Haustür schlägt zu, und Brads Stimme dringt durch den Flur bis zu mir herüber. Ich schüttle den Kopf und versuche, meine Gedanken von der Vergangenheit zu lösen - von all dem, was hätte sein können. Eine leichte Brise weht durch das offene Fenster, trägt Brads Stimme davon und bringt stattdessen den süßen Duft nach Rosen mit sich. Ich höre das spätnachmittägliche Keckern einer Elster am Haus.
Ich bin in der Küche im hinteren Teil des Gebäudes und starre in den Garten. Einen schrecklichen Augenblick lang kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie lange ich hier schon stehe oder weshalb ich überhaupt in die Küche gekommen bin. Wollte ich nur ein Glas Wasser trinken oder mit den ersten Vorbereitungen fürs Abendessen anfangen? Obwohl die Sonne, wie ich benommen feststelle, schon tief am Himmel steht, zeigt die Uhr jedoch noch nicht die Zeit an, zu der Brad normalerweise nach Hause kommt. Brad - seit vier Jahren mein Ehemann und seit sehr viel längerer Zeit mein Geliebter - ist einunddreißig, zwei Jahre älter als ich.
Er ist Biologe, Experte für Fauna und Flora im Wasser, und arbeitet für die EPA, die Environmental Protection Agency, in Brisbane. Er untersucht Gewässer. Creeks und Flüsse, Sümpfe und Lagunen, alles, wo Wasser zu finden ist und sich die verschiedensten Lebensformen gebildet haben. Im Laufe der Jahre habe ich mich an die Tiere und Muster gewöhnt, die er mit nach Hause bringt, und das Fenstersims über der Küchenspüle steht gewöhnlich voll von Überbleibseln seiner Arbeit. Die Sauberkeitsfanatikerin in mir hat gelernt, das zu ignorieren und die Augen vor der Ansammlung von Gläsern und Flaschen, Pipetten und Etiketten zu verschließen.
Außerdem ist es mir gelungen, den Inhalt der Gläser und Flaschen nicht genauer in Augenschein zu nehmen - meistens sind es in verdünntem Alkohol konservierte Schnecken, Krebse, Käfer oder winzige Fische. Wie aufs Stichwort taucht Brad plötzlich hinter mir auf und schlingt die Arme um mich. Für einen kurzen Augenblick werde ich steif und wehre mich gegen die Umarmung, dann lehne ich mich an ihn. Er riecht leicht nach Aftershave und Konservierungsmittel. »Jess«, beginnt er vorsichtig. Ich löse mich aus seinem Griff. Der Tonfall fordert meine ganze Aufmerksamkeit. »Was ist los?« »Nichts! Zur Abwechslung läuft alles mal ganz gut.« Er breitet die Arme aus, als wolle er den ganzen Raum umfassen. Ein Haarbüschel fällt ihm in die Stirn, und ich bekämpfe den Drang, es zurückzustreichen.Die alte Jess hätte es unbewusst getan, aber ich bin nicht mehr dieselbe Frau wie vor einem Jahr.
»Erinnerst du dich noch an die Beihilfe für das Forschungsprojekt, die ich beantragt habe? Für die Erforschung des Diamantina Rivers?«
»Ja«, entgegne ich zögernd. »Nun, wir bekommen Gelder für sechs Wochen.« Sechs Wochen, denke ich benommen. Er wird sechs Wochen weg sein. Zweiundvierzig Tage ganz für mich, meine endlosen Gedanken und all die zerklüfteten Erinnerungen, die ich mittlerweile sicher schon glatt geschliffen habe. Zweiundvierzig schlaflose Nächte. »Ab wann ...?« Ich dränge meine Überlegungen zurück auf die Unterhaltung und versuche vergeblich, Enthusiasmus in meine Stimme zu legen, um seiner offensichtlichen Begeisterung gerecht zu werden. Aber die Frage steht unvollendet im Raum. »Die Regenzeit rückt immer näher, in drei Monaten beginnt sie. Wenn ich das jetzt nicht in Angriff nehme, wird es Ewigkeiten dauern, bis ich wieder die Chance habe, da hinaufzufahren.« Ich starre ihn fassungslos an und bemühe mich, seinen Worten einen Sinn zu geben, aber sie wirbeln völlig ungeordnet in meinem Kopf herum. Im Geiste zähle ich die Tage. Jetzt. Brad will jetzt weg. Der Gedanke, dass er vielleicht bald abwesend sein wird - insbesondere zu dieser Jahreszeit - ist grauenvoll. Das bedeutet, er ist nicht da, wenn ... »Komm doch mit!« Ich sehe auf. Er meint es ernst, und mir kommt plötzlich in den Sinn, dass wir ein ganz normales Paar sein könnten, das über den nächsten Urlaub diskutiert. Er spricht die Einladung aus und beobachtet mich besorgt, aber mit einem stetigen Blick aus blauen Augen. Ich schüttle den Kopf, unfähig, eine Antwort zu formulieren. »Jess!« Nackte Qual schwingt in seiner Stimme mit. Sein Mund verzieht sich. Er neigt sich vor und nimmt meine Hand in seine. »Bitte!« Ich bekämpfe das Bedürfnis, ihm meine Hand zu entziehen und hinauszulaufen. Die Vergangenheit springt fast auf mich, rüde und erschreckend, und für einen Augenblick fällt mir das Atmen schwer. Die Erinnerungen sind wie ein unendlicher böser Traum, ein Albtraum, aus dem ich bestimmt nie wieder erwachen werde. Die Bilder begleiten mich jede Stunde, jeden Tag. Wieder schüttle ich den Kopf.
»Ich kann doch nicht«, flüstere ich und schließe dabei die Augen, um die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht wahrnehmen zu müssen.
»Es ist viel zu früh.« Brad senkt den Blick, als könne er es nicht mehr ertragen, mich anzusehen. Sein Adamsapfel bewegt sich auf und ab, als er heftig schluckt. Und als er schließlich das Wort ergreift, spricht er gemessen und beherrscht.
»Ich muss die Forschungsgelder ja nicht annehmen. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, Jess, und ich lehne ab. Es werden bestimmt noch andere Gelegenheiten kommen. «
Ich bemühe mich, die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht wahrzunehmen. So ist Brad. Er denkt immer an die anderen und stellt die Bedürfnisse aller über seine eigenen. Das ist eine der Eigenschaften, deretwegen ich mich anfangs, vor all den Jahren zu ihm hingezogen gefühlt habe. »Selbstverständlich musst du die Unterstützung annehmen! « Diese Reaktion kam schnell und automatisch. Er muss an den Diamantina fahren, gar keine Frage. Brad hat sich das so sehr gewünscht. Wochenlang hat er die Grund lagen dieser Forschungen erarbeitet, und die Ergebnisse würden Teil seiner Dissertation sein, die er im nächsten Jahr abgeben muss. Ich zögere und denke, mit einem flüchtigen Blick zum Kühlschrank, an die Zubereitung einer weiteren Mahlzeit, auf die ich keinen Appetit habe. »Sechs Wochen«, sage ich matt.
Dieses Mal schüttelt Brad den Kopf. »Nein. Ich werde die ganze Idee verwerfen. Vielleicht fahre ich im nächsten Jahr hin, wenn sich die Dinge beruhigt haben. Außerdem will ich nicht, dass du hier allein ...« Er bricht ab. Ich ergänze den Satz im Stillen: dass du hier am Jahrestag allein bist. »Wo genau ist der Diamantina River?«, frage ich. »Wohin würden wir fahren?« Warum habe ich das gesagt? Wir, nicht du. Dadurch, dass ich mich mit einschließe, schüre ich eine Hoffnung, obschon ich im tiefsten Herzen fühle, dass es keine gibt. »Der Teil, für den ich mich interessiere, ist im Central- Queensland. Bis vor ein paar Jahren wurde nur wenig in diesem Gebiet geforscht.« »Und warum?« Ich betreibe Smalltalk, um die unerträgliche Kluft zwischen uns zu füllen. Ich habe im vergangenen Jahr ein ganz gutes Geschick darin entwickelt, hier und da ein Wort oder einen Satz zu äußern, ohne der Antwort echte Beachtung zu schenken. Merkt Brad das?, überlege ich. Spürt er, dass ich Theater spiele und ihn dorthin führe, wohin er meiner Meinung nach will? »Nun, zum einen ist die Region sehr abgelegen. Außerdem ist es schwer, die finanzielle Unterstützung mit der Regenzeit in Einklang zu bringen. Damit sind viele kleine Exkursionen verbunden, und du würdest trotz allem manchmal allein sein, wenn du mitkommst.
Doch zumindest könnten wir uns öfter sehen.« »Und wieso kann ich an diesen Exkursionen nicht teilnehmen? « Die Frage scheint ihn zu überraschen. »Es spricht eigentlich nichts dagegen. Ich dachte nur, du interessierst dich nicht dafür - das ist alles.« Innerhalb einer Minute hat der Tenor der Unterhaltung von »unmöglich« zu »wahrscheinlich« gewechselt. Plötzlich gebe ich ihm Grund zur Hoffnung. »Wo würden wir wohnen?« »Es gibt eine Unterkunft auf einem der Landbesitze. Sie ist ziemlich bescheiden, aber ...« Meine Gedanken driften davon, genau wie seine Worte, und das Gespräch bleibt offen. Ich beschäftige mich, indem ich die Spülmaschine ausräume und Kartoffeln fürs Abendessen schäle. Brad öffnet eine Flasche Rotwein - Cabernet Shiraz, unseren Lieblingswein - und schenkt zwei Gläser großzügig ein. Im Geiste erforsche ich meine Gefühle. Warum genau will ich nicht weg?
Die letzten zwölf Monate sind für mich und Brad schwierig gewesen, und zwar aus verschiedenen Gründen, über die ich im Augenblick nicht nachdenken kann - es wäre unerträglich. Es genügt, wenn ich sage, dass unsere Beziehung auf die Probe gestellt worden ist und sich als unzureichend erwiesen hat. Ich trinke meinen Wein, koche und verfolge halbherzig einen Dokumentarfilm über afrikanische Löwen. Schneide Tomaten und Gurken und zerzupfe grüne Salatblätter. Meine Konzentration gerät ins Wanken.
Im Laufe des Abends reden wir um den heißen Brei herum und weichen dem Thema Forschungsprojekt aus. Komm doch mit, hat er gesagt und mich damit in seine geheime Welt eingeladen. Er will, dass ich wieder ein Teil von ihm werde. Tief im Inneren, im Kern meines Selbst frage ich mich, ob die Dinge zwischen uns jemals wieder so sein können wie früher. Und sechs Wochen allein mit meinem Mann erscheint mir wie etwas, was ich erdulden muss, nicht genießen kann. Später, als ich frisch geduscht und nackt durch den dunklen Flur zu unserem Schlafzimmer gehe, bleibe ich vor der geschlossenen gegenüberliegenden Tür stehen. Und obwohl ich es nicht fertig bringe, diese Tür zu öffnen und das Zimmer dahinter zu betreten, kann ich mich auch nicht einfach wegdrehen.
Ich stehe dort wie angewurzelt und weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich auf einmal leer, wie eine Betrügerin, als ob ich andere Pflichten vernachlässigen würde, wenn ich mit Brad zu diesem fernen Ort gehe - zum Diamantina. Meine Atemzüge sind unregelmäßig; die Brust wird eng. Ich schließe die Augen, schlucke die Tränen hinunter und zwinge mich zur Ruhe. Behutsam lege ich die Stirn an die Wand und spüre den kühlen Putz. Erinnerungen, kurz aufblitzende Bilder aus glücklicheren Zeiten jagen durch mein Bewusstsein. Ich verdränge sie - ich will mich nicht an sie erinnern. Sich erinnern bedeutet Schmerzen. Hinter mir bewegt sich etwas. Ich vernehme Schritte auf den Holzdielen und spüre einen warmen Luftzug. Es ist Brad.
Instinktiv drehe ich mich zu ihm und schmiege meine nasse Wange an sein Hemd. »Nicht weinen, Jess«, sagt er und streicht mir liebevoll übers Haar. Seine Stimme klingt brüchig, erstickt. »Es wird wieder gut. Alles wird gut. Es braucht nur seine Zeit. Das ist alles.« Ich strecke ihm auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit meinen Mund entgegen. »Küss mich!«, sage ich heiser, dann lasse ich meine Zunge über seine Lippen gleiten. »Jess.« »Schsch! Nicht reden. Ich brauche dich. Jetzt.« Brads Mund ist schmiegsam und weich. Er stöhnt leise und liebkost mit der Hand erst meine Schulter, dann eine Brust. Ich schiebe die Hand weiter nach unten zu dem dunklen, behaarten Dreieck. Seine Liebkosungen werden intensiver, ich zittere vor Ungeduld und umfasse sein hartes Glied. »Jetzt«, wiederhole ich und erkenne meine eigene Stimme kaum wieder. »Hier?« Wir tun es auf dem Flur. Mein Rücken ist an die Wand gepresst, und ich nehme Brads Stöße wie aus großer Entfernung wahr. Selbst in diesem intimen Augenblick fühle ich mich isoliert, losgelöst von allem. Es scheint keine echte spirituelle Verbindung zwischen uns mehr zu geben, keinen besonderen Ort, an dem wir beide zur selben Zeit sind. Ich könnte auch mit einem Fremden Sex haben, denke ich. Mein Bewusstsein gleitet ab. Was will ich? Was bedeutet dieser wilde, verzweifelte Sex?
Bin ich auf der Suche nach den vertrauten Emotionen, weil ich möchte, dass alles wieder so wird wie irgendwann in vergangenen Zeiten? Trauer und Verlangen fließen ineinander über, bis sich beides nicht mehr voneinander unterscheidet. Ich höre von weit weg Brads Wonneschrei. Er klingt unharmonisch, entfernt wie ein Ächzen des Windes in den Pinienbäumen. Unbefriedigt sinke ich in mich zusammen. Ich bin leer. Hohl.
Ohne jedes Gefühl, irgendwie unvollständig. Nie zuvor habe ich mich so allein gefühlt. Seit Monaten habe ich einen Traum. Einmal in der Woche. Manchmal zweimal. Es ist nie exakt derselbe Traum, aber ein ähnlicher. Mit einem ähnlichen Thema. Einer ähnlichen lähmenden Angst und einem ähnlichen Ende. Nur der mittlere Teil variiert, verändert sich und führt mich über trügerische Pfade. Wenn Sie daran glauben, dass Träume eine Bedeutung haben oder einem subtilen Zweck dienen, wie beurteilen Sie dann meinen? Es ist Nacht - immer Nacht - und ich laufe. Renne durch dunkle Straßen in einer Stadt, die mir bekannt und unbekannt zugleich ist.
Es ist eine Kleinstadt, deren Straßen im rechten Winkel zueinander verlaufen. Die Landschaft ist flach. Alle Fenster sind unbeleuchtet. Kein Hund bellt. Alles ist still bis auf meine donnernden Schritte und mein Keuchen. Und die Schritte hinter mir ... Immer ist jemand hinter mir. Die Jäger, so nenne ich sie. Sie sind beinah lautlos, verstohlen und bedrohlich. Wie viele sind es? Das weiß ich nie. Im Traum habe ich zu große Angst, um den Kopf zu drehen und zu zählen. Ich renne, von Panik ergriffen. Die Muskeln schmerzen höllisch. Die Schritte kommen immer näher. Ich bekomme Seitenstechen, zwinge mich jedoch, weiterzulaufen und die Beine noch schneller zu bewegen. Vielleicht - und das ist eine fast trügerische Hoffnung - kann ich sie abhängen, mit den langen Schatten, die die schwachen Straßenlaternen werfen. Doch ich spüre ihren Atem in meinem Nacken und den Luftzug, als ihre Arme nach mir greifen. Erschöpft erreiche ich einen Fluss.
Es gibt keine Brücke, keine Furt. Um den Fluss zu überqueren, muss ich schwimmen. Einen unsäglich langen Augenblick starre ich aufs Wasser. Es wirbelt dunkel und ölig an mir vorbei. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Dann hole ich tief Luft und wappne mich innerlich gegen die Kälte, bevor ich springe und in das Wasser eintauche. An diesem Punkt wache ich auf. Mein Herz rast, und ich ringe um Atem. Die Angst ballt sich wie ein fester Knoten in meinem Bauch zusammen. Ich bin schweißgebadet. Dann setze ich mich auf, presse die Hände an die Schläfen und versuche, die Anspannung zu mindern, die sich dort angesammelt hat. Sobald ich wieder zu Atem komme, werfe ich einen Blick auf Brad.
Das Schlafzimmer wird von der Straßenlaterne draußen schwach erleuchtet. Er liegt neben mir; seine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus des Schlafs. Sein Haar ist zerzaust, sein Gesicht entspannt. Bestimmt habe ich im Schlaf mit mir selbst geredet, denke ich, oder sogar geschrien. Wie kann er von all dem nichts bemerkt haben? Ich habe dieses Haus von meinen Großeltern geerbt. Es ist ein »Arbeiter-Cottage« - der neueste Schrei bei den Stadt-Yuppies. Meistens sind diese Häuser heruntergekommen und winzig, dennoch bezahlen die Leute heutzutage horrende Preise dafür. Normalerweise haben diese Cottages einen langen Gang in der Mitte, von dem die anderen Räume abgehen: Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, Bad, Esszimmer. Im Laufe der Jahre haben Brad und ich viel Zeit und Geld investiert, um unser Zuhause zu renovieren.
Jetzt ist es hell und praktisch, funktionell und ohne Schnickschnack eingerichtet, mit polierten Holzböden und Wänden in der Farbe von goldener Butter. Vor zwei Jahren haben wir an den rückwärtigen Teil angebaut, um eine anständige Küche und einen gemütlichen Wohnraum zu bekommen. Schiebetüren aus Glas führen auf eine sonnenbeschienene, mit Terrakottaplatten gepflasterte Terrasse. In Blumenkästen blühen üppige Geranien, und im Garten dahinter befinden sich ein kleiner Pool, eine winzige quadratische Rasenfläche und ein großer Maulbeerbaum, dessen Früchte schon mein Vater als Kind gepflückt haben muss. Mein Heim sieht wirklich so aus wie die Häuser in den Hochglanzmagazinen, überlege ich stolz. Aber jetzt muss ich in diesem Haus zu viele leere Stunden verbringen. Zu viel Energie wird damit vergeudet, Ursachen und Gründe für das zu finden, was geschehen ist. Und ich verbringe zu viele Nächte mit Weinen, obwohl ich spüre, dass Tränen diesen tiefen Schmerz niemals auslöschen können.
Es wird Zeit, dass ich wieder arbeite. In meinem früheren Alltag habe ich Recherchen für den lokalen Fernsehsender gemacht. Ich habe meinen Job geliebt und Spaß dabei gehabt, Nachforschungen anzustellen und einzelne Informationen für die aktuelle Sendung zusammenzufügen, die allabendlich ausgestrahlt wird. Und ich war gut. Als ich ging, hat mir der Geschäftsführer des Senders ein exzellentes Zeugnis ausgestellt. Arbeit!, denke ich mutlos und gefangen zwischen dem Bedürfnis, gebraucht zu werden, und dem Gefühl der Unzulänglichkeit. Die Vorstellung, am Morgen aufzustehen, mich ordentlich anzuziehen und Make-up aufzulegen, Emotionen vorzutäuschen, die ich nie wieder empfinden kann, deprimiert mich. Wie kann ich mich im Beisein anderer Menschen normal benehmen, wenn mein Herz entzweigebrochen ist? Wie kann ich weitermachen, als wäre alles in Ordnung, während mein Leben ein einziges Gefühlschaos ist? Also stelle ich die Überlegung, wieder zu arbeiten, zurück. Morgen, nehme ich mir vor. Morgen werde ich eine Entscheidung treffen, mein Leben ändern. Nach vorn schauen. Immer wieder morgen ... Am folgenden Nachmittag komme ich vom Einkaufen nach Hause und schleppe lustlos die Plastiktüten mit den Lebensmitteln durch den Flur in die Küche. Brad ist schon daheim und hat ein Buch aufgeschlagen vor sich liegen. Das Buch - er zeigt es mir später - enthält hauptsächlich Fotografien, Luftaufnahmen von großen, schlammigen Wasserlöchern und ausgetrockneten, von Bäumen gesäumten Flussläufen, die sich teilen und wieder zusammenkommen und sich ziellos durch eine, wie es scheint, ebene Landschaft schlängeln. »Der Diamantina River hat einen Hauptarm«, sagt Brad und fährt mit dem Finger über ein Foto, auf dem ein Wasserloch abgebildet ist. »Und wenn es regnet, teilt sich das Wasser in Dutzende, manchmal auch in Hunderte Kanäle, von denen manche Meilen breit sind.« Ich schaue mir die Fotografie noch einmal an. Von meinem Blickwinkel aus erscheinen die Flussläufe wie ein filigranes Spitzengewebe, ein kompliziertes Muster aus Farben und Linien. »Und was geschieht bei Überschwemmungen? «, frage ich. »Dann ist dort ein einziger großer See. Da die Landschaft ganz flach ist, dauert es dann Ewigkeiten, bis das Wasser wieder abfließt oder wenigstens versickert.« Er breitet eine große Karte von Queensland auf dem Tisch aus und deutet auf die blauen Flusslinien, die sich weit verzweigen. »Sieh mal!«, fordert er mich eifrig auf; diese Begeisterung habe ich schon Monate nicht mehr bei ihm erlebt. »Es gibt drei Flusssysteme - den Georgina River, den Diamantina River und den Coppers Creek.Alle münden letztendlich in den Lake Eyre.« »In Südaustralien?« Mein Geografie-Unterricht liegt schon eine Weile zurück, aber einiges vergisst man nie. Ich betrachte sorgfältig die Karte und lasse den Blick über die Eintragungen schweifen. Ich suche nach der nächsten größeren Stadt in dem, wie mir scheint, ziemlich unwirtlichen Teil des Outbacks.
»Das ist hübsch«, füge ich hinzu, trete zurück und ziehe meine High-Heels aus. Meine Füße schmerzen. Brad ist immer noch über die Karte gebeugt. »Wenn wir diese Richtung einschlagen«, überlegt er laut und fährt mit dem Finger eine Linie, die wie ein größerer Highway aussieht, entlang, »hier abzweigen und diesen Weg weiterfahren. Das wäre die schnellste Route.« Ich halte verständnislos inne, habe meine hochhackigen Schuhe in der einen Hand und stemme die andere in die Hüfte. »Die schnellste Route?«, wiederhole ich begriffsstutzig. »Zum Diamantina. Du kommst doch mit, Jess?« »Nein«, antworte ich entschieden. »Und dieser Weg, von dem du sprichst, muss mehr als zweihundert Kilometer lang sein.« »Dreihundertfünfzig«, entgegnet er grinsend und wirft mir einen Blick zu, der mich um Jahre zurückversetzt und mich denken lässt: Wenn ich nicht so verdammt müde wäre, könnte man mich überreden, auf das Dinner zu verzichten und es gegen hedonistischere Beschäftigungen einzutauschen. »Hast du nicht manchmal das Gefühl, irgendwie festzustecken? Willst du denn niemals die Flucht ergreifen?«, fragt Brad unvermittelt und lehnt sich zurück. »Die Flucht ergreifen? Wohin sollte ich fliehen?« Brad zuckt mit den Schultern und reibt sich die Augen vor Müdigkeit. »Irgendwohin. Nur weg von all dem. Irgendwohin, wo das Leben einfacher, langsamer verläuft. « »Weg von meinen Erinnerungen?«
Dieses Wort fällt ungebeten, aber ich muss diese Frage stellen. Ich muss wissen, was diesen Mann antreibt. »Ja«, antwortet er schlicht. »Ich könnte die Erinnerungen nie hinter mir lassen. Sie sind alles, was mir geblieben ist.« Ich schüttle den Kopf. Eine Flucht habe ich nie in Erwägung gezogen, nicht einmal ernsthaft über mögliche Alternativen nachgedacht. Wohin sollten wir denn gehen? In irgendeine Vorstadt? In eine Kleinstadt? Zum Diamantina? Das Buch liegt etliche Tage auf der Küchenbank. Von Zeit zu Zeit fällt mein Blick darauf, und ich habe mir vorgenommen, es durchzublättern und den Text zu lesen. Brad hat gesagt, dass in dem Buch eine Zusammenfassung der Geschichte dieser Region stehe. »Du weißt schon«, meinte er beiläufig, »da wird von den ersten Pionieren und Siedlern erzählt, von solchen Dingen.« Er versucht, mein Interesse zu wecken, mich neugierig zu machen. Die alten Forscherinstinkte zu wecken, die in den letzten Jahren im Verborgenen geschlummert haben. Ich schlage zögerlich die erste Seite auf, dann schiebe ich das Buch weg. Nein, warnt mich eine innere Stimme.
Sieh nicht hin! Lass dich nicht vereinnahmen! Doch der Name - Diamantina - geht mir nicht mehr aus dem Kopf und blitzt in den seltsamsten Augenblicken auf. Diamantina. Diamantina. Diamantina. Ich spreche es leise aus, mehrmals, und mit einem Mal ist da eine Kadenz, ein Rhythmus. Es klingt fast melodisch und ist eine Wohltat für das Ohr. Weshalb, überlege ich, bleiben uns manche Namen sofort im Gedächtnis haften? Warum können sie nicht verblassen und in der Versenkung verschwinden? Am Sonntagnachmittag nehme ich mir schließlich das Buch vor und setze mich in einen Liegestuhl unter dem Maulbeerbaum. Das Laub bewegt sich und wirft seltsame Muster auf den Rasen, meine Hände, das Buch. Für einen kurzen Augenblick schließe ich die Augen und fühle die Wärme auf meinem Gesicht. Dann atme ich tief durch, schlage das Buch auf und blättere, bis ich das entsprechende Kapitel finde. »Das Gebiet des Diamantina rund um Winston«, lese ich laut, »wurde erst in den frühen siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts besiedelt. Einer der ersten Schafzüchter, Adam O'Loughlin, wurde in Newtownlimavady in Londonderry, Irland, geboren ...«
© 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Jess, ich bin zu Hause.« Die Haustür schlägt zu, und Brads Stimme dringt durch den Flur bis zu mir herüber. Ich schüttle den Kopf und versuche, meine Gedanken von der Vergangenheit zu lösen - von all dem, was hätte sein können. Eine leichte Brise weht durch das offene Fenster, trägt Brads Stimme davon und bringt stattdessen den süßen Duft nach Rosen mit sich. Ich höre das spätnachmittägliche Keckern einer Elster am Haus.
Ich bin in der Küche im hinteren Teil des Gebäudes und starre in den Garten. Einen schrecklichen Augenblick lang kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie lange ich hier schon stehe oder weshalb ich überhaupt in die Küche gekommen bin. Wollte ich nur ein Glas Wasser trinken oder mit den ersten Vorbereitungen fürs Abendessen anfangen? Obwohl die Sonne, wie ich benommen feststelle, schon tief am Himmel steht, zeigt die Uhr jedoch noch nicht die Zeit an, zu der Brad normalerweise nach Hause kommt. Brad - seit vier Jahren mein Ehemann und seit sehr viel längerer Zeit mein Geliebter - ist einunddreißig, zwei Jahre älter als ich.
Er ist Biologe, Experte für Fauna und Flora im Wasser, und arbeitet für die EPA, die Environmental Protection Agency, in Brisbane. Er untersucht Gewässer. Creeks und Flüsse, Sümpfe und Lagunen, alles, wo Wasser zu finden ist und sich die verschiedensten Lebensformen gebildet haben. Im Laufe der Jahre habe ich mich an die Tiere und Muster gewöhnt, die er mit nach Hause bringt, und das Fenstersims über der Küchenspüle steht gewöhnlich voll von Überbleibseln seiner Arbeit. Die Sauberkeitsfanatikerin in mir hat gelernt, das zu ignorieren und die Augen vor der Ansammlung von Gläsern und Flaschen, Pipetten und Etiketten zu verschließen.
Außerdem ist es mir gelungen, den Inhalt der Gläser und Flaschen nicht genauer in Augenschein zu nehmen - meistens sind es in verdünntem Alkohol konservierte Schnecken, Krebse, Käfer oder winzige Fische. Wie aufs Stichwort taucht Brad plötzlich hinter mir auf und schlingt die Arme um mich. Für einen kurzen Augenblick werde ich steif und wehre mich gegen die Umarmung, dann lehne ich mich an ihn. Er riecht leicht nach Aftershave und Konservierungsmittel. »Jess«, beginnt er vorsichtig. Ich löse mich aus seinem Griff. Der Tonfall fordert meine ganze Aufmerksamkeit. »Was ist los?« »Nichts! Zur Abwechslung läuft alles mal ganz gut.« Er breitet die Arme aus, als wolle er den ganzen Raum umfassen. Ein Haarbüschel fällt ihm in die Stirn, und ich bekämpfe den Drang, es zurückzustreichen.Die alte Jess hätte es unbewusst getan, aber ich bin nicht mehr dieselbe Frau wie vor einem Jahr.
»Erinnerst du dich noch an die Beihilfe für das Forschungsprojekt, die ich beantragt habe? Für die Erforschung des Diamantina Rivers?«
»Ja«, entgegne ich zögernd. »Nun, wir bekommen Gelder für sechs Wochen.« Sechs Wochen, denke ich benommen. Er wird sechs Wochen weg sein. Zweiundvierzig Tage ganz für mich, meine endlosen Gedanken und all die zerklüfteten Erinnerungen, die ich mittlerweile sicher schon glatt geschliffen habe. Zweiundvierzig schlaflose Nächte. »Ab wann ...?« Ich dränge meine Überlegungen zurück auf die Unterhaltung und versuche vergeblich, Enthusiasmus in meine Stimme zu legen, um seiner offensichtlichen Begeisterung gerecht zu werden. Aber die Frage steht unvollendet im Raum. »Die Regenzeit rückt immer näher, in drei Monaten beginnt sie. Wenn ich das jetzt nicht in Angriff nehme, wird es Ewigkeiten dauern, bis ich wieder die Chance habe, da hinaufzufahren.« Ich starre ihn fassungslos an und bemühe mich, seinen Worten einen Sinn zu geben, aber sie wirbeln völlig ungeordnet in meinem Kopf herum. Im Geiste zähle ich die Tage. Jetzt. Brad will jetzt weg. Der Gedanke, dass er vielleicht bald abwesend sein wird - insbesondere zu dieser Jahreszeit - ist grauenvoll. Das bedeutet, er ist nicht da, wenn ... »Komm doch mit!« Ich sehe auf. Er meint es ernst, und mir kommt plötzlich in den Sinn, dass wir ein ganz normales Paar sein könnten, das über den nächsten Urlaub diskutiert. Er spricht die Einladung aus und beobachtet mich besorgt, aber mit einem stetigen Blick aus blauen Augen. Ich schüttle den Kopf, unfähig, eine Antwort zu formulieren. »Jess!« Nackte Qual schwingt in seiner Stimme mit. Sein Mund verzieht sich. Er neigt sich vor und nimmt meine Hand in seine. »Bitte!« Ich bekämpfe das Bedürfnis, ihm meine Hand zu entziehen und hinauszulaufen. Die Vergangenheit springt fast auf mich, rüde und erschreckend, und für einen Augenblick fällt mir das Atmen schwer. Die Erinnerungen sind wie ein unendlicher böser Traum, ein Albtraum, aus dem ich bestimmt nie wieder erwachen werde. Die Bilder begleiten mich jede Stunde, jeden Tag. Wieder schüttle ich den Kopf.
»Ich kann doch nicht«, flüstere ich und schließe dabei die Augen, um die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht wahrnehmen zu müssen.
»Es ist viel zu früh.« Brad senkt den Blick, als könne er es nicht mehr ertragen, mich anzusehen. Sein Adamsapfel bewegt sich auf und ab, als er heftig schluckt. Und als er schließlich das Wort ergreift, spricht er gemessen und beherrscht.
»Ich muss die Forschungsgelder ja nicht annehmen. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, Jess, und ich lehne ab. Es werden bestimmt noch andere Gelegenheiten kommen. «
Ich bemühe mich, die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht wahrzunehmen. So ist Brad. Er denkt immer an die anderen und stellt die Bedürfnisse aller über seine eigenen. Das ist eine der Eigenschaften, deretwegen ich mich anfangs, vor all den Jahren zu ihm hingezogen gefühlt habe. »Selbstverständlich musst du die Unterstützung annehmen! « Diese Reaktion kam schnell und automatisch. Er muss an den Diamantina fahren, gar keine Frage. Brad hat sich das so sehr gewünscht. Wochenlang hat er die Grund lagen dieser Forschungen erarbeitet, und die Ergebnisse würden Teil seiner Dissertation sein, die er im nächsten Jahr abgeben muss. Ich zögere und denke, mit einem flüchtigen Blick zum Kühlschrank, an die Zubereitung einer weiteren Mahlzeit, auf die ich keinen Appetit habe. »Sechs Wochen«, sage ich matt.
Dieses Mal schüttelt Brad den Kopf. »Nein. Ich werde die ganze Idee verwerfen. Vielleicht fahre ich im nächsten Jahr hin, wenn sich die Dinge beruhigt haben. Außerdem will ich nicht, dass du hier allein ...« Er bricht ab. Ich ergänze den Satz im Stillen: dass du hier am Jahrestag allein bist. »Wo genau ist der Diamantina River?«, frage ich. »Wohin würden wir fahren?« Warum habe ich das gesagt? Wir, nicht du. Dadurch, dass ich mich mit einschließe, schüre ich eine Hoffnung, obschon ich im tiefsten Herzen fühle, dass es keine gibt. »Der Teil, für den ich mich interessiere, ist im Central- Queensland. Bis vor ein paar Jahren wurde nur wenig in diesem Gebiet geforscht.« »Und warum?« Ich betreibe Smalltalk, um die unerträgliche Kluft zwischen uns zu füllen. Ich habe im vergangenen Jahr ein ganz gutes Geschick darin entwickelt, hier und da ein Wort oder einen Satz zu äußern, ohne der Antwort echte Beachtung zu schenken. Merkt Brad das?, überlege ich. Spürt er, dass ich Theater spiele und ihn dorthin führe, wohin er meiner Meinung nach will? »Nun, zum einen ist die Region sehr abgelegen. Außerdem ist es schwer, die finanzielle Unterstützung mit der Regenzeit in Einklang zu bringen. Damit sind viele kleine Exkursionen verbunden, und du würdest trotz allem manchmal allein sein, wenn du mitkommst.
Doch zumindest könnten wir uns öfter sehen.« »Und wieso kann ich an diesen Exkursionen nicht teilnehmen? « Die Frage scheint ihn zu überraschen. »Es spricht eigentlich nichts dagegen. Ich dachte nur, du interessierst dich nicht dafür - das ist alles.« Innerhalb einer Minute hat der Tenor der Unterhaltung von »unmöglich« zu »wahrscheinlich« gewechselt. Plötzlich gebe ich ihm Grund zur Hoffnung. »Wo würden wir wohnen?« »Es gibt eine Unterkunft auf einem der Landbesitze. Sie ist ziemlich bescheiden, aber ...« Meine Gedanken driften davon, genau wie seine Worte, und das Gespräch bleibt offen. Ich beschäftige mich, indem ich die Spülmaschine ausräume und Kartoffeln fürs Abendessen schäle. Brad öffnet eine Flasche Rotwein - Cabernet Shiraz, unseren Lieblingswein - und schenkt zwei Gläser großzügig ein. Im Geiste erforsche ich meine Gefühle. Warum genau will ich nicht weg?
Die letzten zwölf Monate sind für mich und Brad schwierig gewesen, und zwar aus verschiedenen Gründen, über die ich im Augenblick nicht nachdenken kann - es wäre unerträglich. Es genügt, wenn ich sage, dass unsere Beziehung auf die Probe gestellt worden ist und sich als unzureichend erwiesen hat. Ich trinke meinen Wein, koche und verfolge halbherzig einen Dokumentarfilm über afrikanische Löwen. Schneide Tomaten und Gurken und zerzupfe grüne Salatblätter. Meine Konzentration gerät ins Wanken.
Im Laufe des Abends reden wir um den heißen Brei herum und weichen dem Thema Forschungsprojekt aus. Komm doch mit, hat er gesagt und mich damit in seine geheime Welt eingeladen. Er will, dass ich wieder ein Teil von ihm werde. Tief im Inneren, im Kern meines Selbst frage ich mich, ob die Dinge zwischen uns jemals wieder so sein können wie früher. Und sechs Wochen allein mit meinem Mann erscheint mir wie etwas, was ich erdulden muss, nicht genießen kann. Später, als ich frisch geduscht und nackt durch den dunklen Flur zu unserem Schlafzimmer gehe, bleibe ich vor der geschlossenen gegenüberliegenden Tür stehen. Und obwohl ich es nicht fertig bringe, diese Tür zu öffnen und das Zimmer dahinter zu betreten, kann ich mich auch nicht einfach wegdrehen.
Ich stehe dort wie angewurzelt und weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich auf einmal leer, wie eine Betrügerin, als ob ich andere Pflichten vernachlässigen würde, wenn ich mit Brad zu diesem fernen Ort gehe - zum Diamantina. Meine Atemzüge sind unregelmäßig; die Brust wird eng. Ich schließe die Augen, schlucke die Tränen hinunter und zwinge mich zur Ruhe. Behutsam lege ich die Stirn an die Wand und spüre den kühlen Putz. Erinnerungen, kurz aufblitzende Bilder aus glücklicheren Zeiten jagen durch mein Bewusstsein. Ich verdränge sie - ich will mich nicht an sie erinnern. Sich erinnern bedeutet Schmerzen. Hinter mir bewegt sich etwas. Ich vernehme Schritte auf den Holzdielen und spüre einen warmen Luftzug. Es ist Brad.
Instinktiv drehe ich mich zu ihm und schmiege meine nasse Wange an sein Hemd. »Nicht weinen, Jess«, sagt er und streicht mir liebevoll übers Haar. Seine Stimme klingt brüchig, erstickt. »Es wird wieder gut. Alles wird gut. Es braucht nur seine Zeit. Das ist alles.« Ich strecke ihm auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit meinen Mund entgegen. »Küss mich!«, sage ich heiser, dann lasse ich meine Zunge über seine Lippen gleiten. »Jess.« »Schsch! Nicht reden. Ich brauche dich. Jetzt.« Brads Mund ist schmiegsam und weich. Er stöhnt leise und liebkost mit der Hand erst meine Schulter, dann eine Brust. Ich schiebe die Hand weiter nach unten zu dem dunklen, behaarten Dreieck. Seine Liebkosungen werden intensiver, ich zittere vor Ungeduld und umfasse sein hartes Glied. »Jetzt«, wiederhole ich und erkenne meine eigene Stimme kaum wieder. »Hier?« Wir tun es auf dem Flur. Mein Rücken ist an die Wand gepresst, und ich nehme Brads Stöße wie aus großer Entfernung wahr. Selbst in diesem intimen Augenblick fühle ich mich isoliert, losgelöst von allem. Es scheint keine echte spirituelle Verbindung zwischen uns mehr zu geben, keinen besonderen Ort, an dem wir beide zur selben Zeit sind. Ich könnte auch mit einem Fremden Sex haben, denke ich. Mein Bewusstsein gleitet ab. Was will ich? Was bedeutet dieser wilde, verzweifelte Sex?
Bin ich auf der Suche nach den vertrauten Emotionen, weil ich möchte, dass alles wieder so wird wie irgendwann in vergangenen Zeiten? Trauer und Verlangen fließen ineinander über, bis sich beides nicht mehr voneinander unterscheidet. Ich höre von weit weg Brads Wonneschrei. Er klingt unharmonisch, entfernt wie ein Ächzen des Windes in den Pinienbäumen. Unbefriedigt sinke ich in mich zusammen. Ich bin leer. Hohl.
Ohne jedes Gefühl, irgendwie unvollständig. Nie zuvor habe ich mich so allein gefühlt. Seit Monaten habe ich einen Traum. Einmal in der Woche. Manchmal zweimal. Es ist nie exakt derselbe Traum, aber ein ähnlicher. Mit einem ähnlichen Thema. Einer ähnlichen lähmenden Angst und einem ähnlichen Ende. Nur der mittlere Teil variiert, verändert sich und führt mich über trügerische Pfade. Wenn Sie daran glauben, dass Träume eine Bedeutung haben oder einem subtilen Zweck dienen, wie beurteilen Sie dann meinen? Es ist Nacht - immer Nacht - und ich laufe. Renne durch dunkle Straßen in einer Stadt, die mir bekannt und unbekannt zugleich ist.
Es ist eine Kleinstadt, deren Straßen im rechten Winkel zueinander verlaufen. Die Landschaft ist flach. Alle Fenster sind unbeleuchtet. Kein Hund bellt. Alles ist still bis auf meine donnernden Schritte und mein Keuchen. Und die Schritte hinter mir ... Immer ist jemand hinter mir. Die Jäger, so nenne ich sie. Sie sind beinah lautlos, verstohlen und bedrohlich. Wie viele sind es? Das weiß ich nie. Im Traum habe ich zu große Angst, um den Kopf zu drehen und zu zählen. Ich renne, von Panik ergriffen. Die Muskeln schmerzen höllisch. Die Schritte kommen immer näher. Ich bekomme Seitenstechen, zwinge mich jedoch, weiterzulaufen und die Beine noch schneller zu bewegen. Vielleicht - und das ist eine fast trügerische Hoffnung - kann ich sie abhängen, mit den langen Schatten, die die schwachen Straßenlaternen werfen. Doch ich spüre ihren Atem in meinem Nacken und den Luftzug, als ihre Arme nach mir greifen. Erschöpft erreiche ich einen Fluss.
Es gibt keine Brücke, keine Furt. Um den Fluss zu überqueren, muss ich schwimmen. Einen unsäglich langen Augenblick starre ich aufs Wasser. Es wirbelt dunkel und ölig an mir vorbei. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Dann hole ich tief Luft und wappne mich innerlich gegen die Kälte, bevor ich springe und in das Wasser eintauche. An diesem Punkt wache ich auf. Mein Herz rast, und ich ringe um Atem. Die Angst ballt sich wie ein fester Knoten in meinem Bauch zusammen. Ich bin schweißgebadet. Dann setze ich mich auf, presse die Hände an die Schläfen und versuche, die Anspannung zu mindern, die sich dort angesammelt hat. Sobald ich wieder zu Atem komme, werfe ich einen Blick auf Brad.
Das Schlafzimmer wird von der Straßenlaterne draußen schwach erleuchtet. Er liegt neben mir; seine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus des Schlafs. Sein Haar ist zerzaust, sein Gesicht entspannt. Bestimmt habe ich im Schlaf mit mir selbst geredet, denke ich, oder sogar geschrien. Wie kann er von all dem nichts bemerkt haben? Ich habe dieses Haus von meinen Großeltern geerbt. Es ist ein »Arbeiter-Cottage« - der neueste Schrei bei den Stadt-Yuppies. Meistens sind diese Häuser heruntergekommen und winzig, dennoch bezahlen die Leute heutzutage horrende Preise dafür. Normalerweise haben diese Cottages einen langen Gang in der Mitte, von dem die anderen Räume abgehen: Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, Bad, Esszimmer. Im Laufe der Jahre haben Brad und ich viel Zeit und Geld investiert, um unser Zuhause zu renovieren.
Jetzt ist es hell und praktisch, funktionell und ohne Schnickschnack eingerichtet, mit polierten Holzböden und Wänden in der Farbe von goldener Butter. Vor zwei Jahren haben wir an den rückwärtigen Teil angebaut, um eine anständige Küche und einen gemütlichen Wohnraum zu bekommen. Schiebetüren aus Glas führen auf eine sonnenbeschienene, mit Terrakottaplatten gepflasterte Terrasse. In Blumenkästen blühen üppige Geranien, und im Garten dahinter befinden sich ein kleiner Pool, eine winzige quadratische Rasenfläche und ein großer Maulbeerbaum, dessen Früchte schon mein Vater als Kind gepflückt haben muss. Mein Heim sieht wirklich so aus wie die Häuser in den Hochglanzmagazinen, überlege ich stolz. Aber jetzt muss ich in diesem Haus zu viele leere Stunden verbringen. Zu viel Energie wird damit vergeudet, Ursachen und Gründe für das zu finden, was geschehen ist. Und ich verbringe zu viele Nächte mit Weinen, obwohl ich spüre, dass Tränen diesen tiefen Schmerz niemals auslöschen können.
Es wird Zeit, dass ich wieder arbeite. In meinem früheren Alltag habe ich Recherchen für den lokalen Fernsehsender gemacht. Ich habe meinen Job geliebt und Spaß dabei gehabt, Nachforschungen anzustellen und einzelne Informationen für die aktuelle Sendung zusammenzufügen, die allabendlich ausgestrahlt wird. Und ich war gut. Als ich ging, hat mir der Geschäftsführer des Senders ein exzellentes Zeugnis ausgestellt. Arbeit!, denke ich mutlos und gefangen zwischen dem Bedürfnis, gebraucht zu werden, und dem Gefühl der Unzulänglichkeit. Die Vorstellung, am Morgen aufzustehen, mich ordentlich anzuziehen und Make-up aufzulegen, Emotionen vorzutäuschen, die ich nie wieder empfinden kann, deprimiert mich. Wie kann ich mich im Beisein anderer Menschen normal benehmen, wenn mein Herz entzweigebrochen ist? Wie kann ich weitermachen, als wäre alles in Ordnung, während mein Leben ein einziges Gefühlschaos ist? Also stelle ich die Überlegung, wieder zu arbeiten, zurück. Morgen, nehme ich mir vor. Morgen werde ich eine Entscheidung treffen, mein Leben ändern. Nach vorn schauen. Immer wieder morgen ... Am folgenden Nachmittag komme ich vom Einkaufen nach Hause und schleppe lustlos die Plastiktüten mit den Lebensmitteln durch den Flur in die Küche. Brad ist schon daheim und hat ein Buch aufgeschlagen vor sich liegen. Das Buch - er zeigt es mir später - enthält hauptsächlich Fotografien, Luftaufnahmen von großen, schlammigen Wasserlöchern und ausgetrockneten, von Bäumen gesäumten Flussläufen, die sich teilen und wieder zusammenkommen und sich ziellos durch eine, wie es scheint, ebene Landschaft schlängeln. »Der Diamantina River hat einen Hauptarm«, sagt Brad und fährt mit dem Finger über ein Foto, auf dem ein Wasserloch abgebildet ist. »Und wenn es regnet, teilt sich das Wasser in Dutzende, manchmal auch in Hunderte Kanäle, von denen manche Meilen breit sind.« Ich schaue mir die Fotografie noch einmal an. Von meinem Blickwinkel aus erscheinen die Flussläufe wie ein filigranes Spitzengewebe, ein kompliziertes Muster aus Farben und Linien. »Und was geschieht bei Überschwemmungen? «, frage ich. »Dann ist dort ein einziger großer See. Da die Landschaft ganz flach ist, dauert es dann Ewigkeiten, bis das Wasser wieder abfließt oder wenigstens versickert.« Er breitet eine große Karte von Queensland auf dem Tisch aus und deutet auf die blauen Flusslinien, die sich weit verzweigen. »Sieh mal!«, fordert er mich eifrig auf; diese Begeisterung habe ich schon Monate nicht mehr bei ihm erlebt. »Es gibt drei Flusssysteme - den Georgina River, den Diamantina River und den Coppers Creek.Alle münden letztendlich in den Lake Eyre.« »In Südaustralien?« Mein Geografie-Unterricht liegt schon eine Weile zurück, aber einiges vergisst man nie. Ich betrachte sorgfältig die Karte und lasse den Blick über die Eintragungen schweifen. Ich suche nach der nächsten größeren Stadt in dem, wie mir scheint, ziemlich unwirtlichen Teil des Outbacks.
»Das ist hübsch«, füge ich hinzu, trete zurück und ziehe meine High-Heels aus. Meine Füße schmerzen. Brad ist immer noch über die Karte gebeugt. »Wenn wir diese Richtung einschlagen«, überlegt er laut und fährt mit dem Finger eine Linie, die wie ein größerer Highway aussieht, entlang, »hier abzweigen und diesen Weg weiterfahren. Das wäre die schnellste Route.« Ich halte verständnislos inne, habe meine hochhackigen Schuhe in der einen Hand und stemme die andere in die Hüfte. »Die schnellste Route?«, wiederhole ich begriffsstutzig. »Zum Diamantina. Du kommst doch mit, Jess?« »Nein«, antworte ich entschieden. »Und dieser Weg, von dem du sprichst, muss mehr als zweihundert Kilometer lang sein.« »Dreihundertfünfzig«, entgegnet er grinsend und wirft mir einen Blick zu, der mich um Jahre zurückversetzt und mich denken lässt: Wenn ich nicht so verdammt müde wäre, könnte man mich überreden, auf das Dinner zu verzichten und es gegen hedonistischere Beschäftigungen einzutauschen. »Hast du nicht manchmal das Gefühl, irgendwie festzustecken? Willst du denn niemals die Flucht ergreifen?«, fragt Brad unvermittelt und lehnt sich zurück. »Die Flucht ergreifen? Wohin sollte ich fliehen?« Brad zuckt mit den Schultern und reibt sich die Augen vor Müdigkeit. »Irgendwohin. Nur weg von all dem. Irgendwohin, wo das Leben einfacher, langsamer verläuft. « »Weg von meinen Erinnerungen?«
Dieses Wort fällt ungebeten, aber ich muss diese Frage stellen. Ich muss wissen, was diesen Mann antreibt. »Ja«, antwortet er schlicht. »Ich könnte die Erinnerungen nie hinter mir lassen. Sie sind alles, was mir geblieben ist.« Ich schüttle den Kopf. Eine Flucht habe ich nie in Erwägung gezogen, nicht einmal ernsthaft über mögliche Alternativen nachgedacht. Wohin sollten wir denn gehen? In irgendeine Vorstadt? In eine Kleinstadt? Zum Diamantina? Das Buch liegt etliche Tage auf der Küchenbank. Von Zeit zu Zeit fällt mein Blick darauf, und ich habe mir vorgenommen, es durchzublättern und den Text zu lesen. Brad hat gesagt, dass in dem Buch eine Zusammenfassung der Geschichte dieser Region stehe. »Du weißt schon«, meinte er beiläufig, »da wird von den ersten Pionieren und Siedlern erzählt, von solchen Dingen.« Er versucht, mein Interesse zu wecken, mich neugierig zu machen. Die alten Forscherinstinkte zu wecken, die in den letzten Jahren im Verborgenen geschlummert haben. Ich schlage zögerlich die erste Seite auf, dann schiebe ich das Buch weg. Nein, warnt mich eine innere Stimme.
Sieh nicht hin! Lass dich nicht vereinnahmen! Doch der Name - Diamantina - geht mir nicht mehr aus dem Kopf und blitzt in den seltsamsten Augenblicken auf. Diamantina. Diamantina. Diamantina. Ich spreche es leise aus, mehrmals, und mit einem Mal ist da eine Kadenz, ein Rhythmus. Es klingt fast melodisch und ist eine Wohltat für das Ohr. Weshalb, überlege ich, bleiben uns manche Namen sofort im Gedächtnis haften? Warum können sie nicht verblassen und in der Versenkung verschwinden? Am Sonntagnachmittag nehme ich mir schließlich das Buch vor und setze mich in einen Liegestuhl unter dem Maulbeerbaum. Das Laub bewegt sich und wirft seltsame Muster auf den Rasen, meine Hände, das Buch. Für einen kurzen Augenblick schließe ich die Augen und fühle die Wärme auf meinem Gesicht. Dann atme ich tief durch, schlage das Buch auf und blättere, bis ich das entsprechende Kapitel finde. »Das Gebiet des Diamantina rund um Winston«, lese ich laut, »wurde erst in den frühen siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts besiedelt. Einer der ersten Schafzüchter, Adam O'Loughlin, wurde in Newtownlimavady in Londonderry, Irland, geboren ...«
© 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
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Autoren-Porträt von ROBYN LEE BURROWS
Robyn Lee Burrows lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen in der Stadt Gold Coast, Australien. Neben drei Sachbüchern hat sie in Australien schon mehrere historische Romane veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: ROBYN LEE BURROWS
- 560 Seiten, Taschenbuch
- ISBN-10: 3955691314
- ISBN-13: 9783955691318
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