Wunder geschehen morgen
Roman
Ginnys Ehe ist am Ende. Der Tod ihres Babys hat ihr Leben zerstört. Mit einer Reise in das Piemont versucht ihr Mann, die Beziehung zu retten. In einem kleinen italienischen Ferienort begegnet Ginny der fröhlichen Bea und deren großer...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
18.00 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Wunder geschehen morgen “
Ginnys Ehe ist am Ende. Der Tod ihres Babys hat ihr Leben zerstört. Mit einer Reise in das Piemont versucht ihr Mann, die Beziehung zu retten. In einem kleinen italienischen Ferienort begegnet Ginny der fröhlichen Bea und deren großer Familie. Die beiden Frauen fassen schnell Vertrauen zueinander und werden Freundinnen. Doch der Schein von Beas harmonischem Familienleben trügt. Ginny begreift: Jeder Mensch muss darum kämpfen, glücklich zu sein.
Klappentext zu „Wunder geschehen morgen “
'Ginnys Ehe ist am Ende. Der Tod ihres Babys hat ihr Leben zerstört. Mit einer Reise in das Piemont versucht ihr Mann, die Beziehung zu retten. In einem kleinen italienischen Ferienort begegnet Ginny der fröhlichen Bea und deren großer Familie. Die beiden Frauen fassen schnell Vertrauen zueinander und werden Freundinnen. Doch der Schein von Beas harmonischem Familienleben trügt. Ginny begreift: Jeder Mensch muss darum kämpfen, glücklich zu sein.
Lese-Probe zu „Wunder geschehen morgen “
Wunder geschehen morgen von Louise CandlishKapitel 1
Samstag
... mehr
Später konnte Ginny kaum glauben, dass ihr an diesem ersten Tag nicht aufgefallen war, wie schön der See war. Und die Lage ihres Häuschens dort, direkt am Ufer, mit der Insel San Giulio malerisch zur Linken. Die Aussicht war fast zu perfekt, um echt zu sein, eher wie eine Gemäldekomposition, in der der Künstler die einzelnen Elemente so zusammengestellt hatte, dass sie seinen persönlichen Gesetzen der Perspektive folgten.
Es sei ein kleines Stück Paradies, hatte Adam gesagt und damit den Reiseführer zitiert, den er im Flugzeug studiert hatte. Möglicherweise die perfekteste Aussicht in ganz Italien - und bedeutete das nicht automatisch auch die perfekteste Aussicht auf der ganzen Welt? Doch Ginny interessierte diese Überlegung nicht, genauso wenig wie sie diese Aussicht interessieren konnte. Zudem ging sie nicht davon aus, dass vierzehn Tage irgendeinen Unterschied machen würden.
Ihr Ferienhaus hatte einen eigenen kleinen Garten zum See hin, mit einem Steintisch und vier Hockern, die grob in Form von Fliegenpilzen behauen waren. Es gab außerdem zwei niedrige, bauchige Korbliegen, die in einem so intimen Winkel zueinander aufgestellt waren, als ob sie ausdrücklich für Rekonvaleszenten gedacht wären. Von ihrem Standpunkt am oberen Fenster aus schätzte Ginny, dass man sich vermutlich nahe genug am Wasser befand, um es mit den Fingerspitzen berühren zu können, wenn man diese Stühle bis ganz an den Rand des Rasens zog und sich ein Stück vorbeugte. Eigentlich könnte man auch gleich ganz untertauchen. Nichts würde einen davon abhalten, sich direkt vom Stuhl ins kühle Nass zu rollen. Alternativ konnte man es natürlich auch richtig angehen: auf den Steinvorsprung der Uferbegrenzung steigen, die Arme gen Himmel recken und einen Kopfsprung in den See wagen. Quer durch den Rahmen dieses berühmten Stückchens Paradies zur Insel hinüberschwimmen.
Ginny war sich allerdings ziemlich sicher, dass sie gar nicht die Energie dafür besaß. Und selbst wenn, fehlte ihr jegliches Bedürfnis dazu.
»Na, was sagst du?« Adam gesellte sich an einem der zwei bodentiefen Fenster im Wohnzimmer zu ihr. Zusammen mit dem übergroßen Kamin ließen sie den Raum vornehmer erscheinen, als er tatsächlich war. Ginny wusste, dass Adam zufrieden, ja sogar dankbar für das war, was sie vorgefunden hatten, als sie die Tür aufgeschlossen und die Stufen hinaufgegangen waren. Ferienhäuser waren immer Glückssache, und seine Suche nach dem richtigen Ort für sie war diesmal besonders gründlich gewesen. (Da er dem Internet nicht vertraute, war er persönlich zu einem Reisebüro im Westen Londons gegangen, das sich auf diese Art von Urlaub spezialisiert hatte: Geheimes Italien nannte sich das.) Obwohl Ginny sicher war, dass sie sich an jedem anderen Ort ganz genauso gefühlt hätte wie jetzt, hätte Adam die Enttäuschung über eine verbaute Aussicht oder über verrottende Einrichtung nicht ertragen. Er mochte als der Stärkere von ihnen beiden wirken - was er ja auch war -, aber das bedeutete nicht, dass er auf seine Art nicht auch zerbrechlich war.
»Es ist hübsch«, meinte sie und bemühte sich, ein bisschen Interesse zu zeigen. »Ich habe noch nie in einem Bootshaus gewohnt. Es fühlt sich ... friedlich an.«
»Genau das ist der Sinn der Sache. Italien ohne die Massen. Keine Warteschlangen, keine Kreuzfahrtschiffe, keine Reisegruppen ...« Er sah sich um, auf der Suche nach weiteren Dingen, die offensichtlich fehlten. »Kein Computer, kein Fernseher ...«
Keine Kinder.
Aber das sprach keiner von beiden aus.
Er machte sich daran, die Fenster zu öffnen - »Lassen wir etwas Luft herein!« -, und die sanfte Brise, die ins Zimmer wehte, war viel wärmer als das Innere des Hauses. Die milde Luft hatte nach dem kalten Londoner Regen etwas Unwirkliches.
»Ich kann nicht fassen, dass die Anreise hierher so schnell ging«, sagte Ginny.
Adam sah aus, als sei er anderer Meinung, aber sie hatte sich daran gewöhnt, ihrem eigenen Urteil nicht mehr zu vertrauen, und so beharrte sie nicht darauf. Auto, Flugzeug, Taxi. All das Gepäckschleppen, das Schlangestehen ... möglicherweise war es eine mühsame Reise gewesen, was ihr bloß nicht aufgefallen war. Dieser Tage vergingen die Stunden, ohne dass sie es recht bemerkte. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass sie nicht wollte, dass die Zeit verging. Sie wollte sie anhalten, bevor sie sich zu weit von jenem Tag entfernte, den sie als ihren glücklichsten betrachtete. Der Tag, bevor sie Schiffbruch erlitten hatten. Der fünfte April. Und sie waren mehr als glücklich gewesen: geradezu euphorisch.
Manchmal dachte Ginny, es wäre besser gewesen, wenn die Welt an diesem Tag untergegangen wäre oder vielleicht in der Nacht, während sie schliefen, ahnungslos für immer.
»Sollen wir dann mal auspacken?«, fragte Adam munter. Als er ihre Miene sah, fügte er schnell hinzu: »Ich kann das übernehmen, falls du dich ausruhen willst?«
»Nein, schon gut, ich helfe dir.«
Sie folgte ihm ins Schlafzimmer des Bootshauses, das noch kleiner war als das Wohnzimmer, da es sich seine Hälfte der Grundfl äche mit einem Flur teilen musste, von dem aus man über die Außentreppe direkt in den Garten gelangte (der richtige Eingang befand sich auf der anderen Seite des Gebäudes, am öffentlichen Weg). Auch dieser Raum hatte eine niedrige Decke und mit Holz verkleidete Wände. Die einzige künstliche Lichtquelle bestand aus einer kleinen Lampe mit Schirm. Vielleicht wurde ja erwartet, dass man mit Kerzenlicht auskam (oder damit auskommen wollte), denn das Zimmer war ganz offensichtlich für Romantiker eingerichtet worden: Es gab weiche weiße Laken auf dem polierten Holzbett, frische Blumen in einem blauen Krug auf dem Tisch und am Fenster nur einen leichten, durchsichtigen Baumwollvorhang, der sich wie schwerelos ohne merklichen Luftzug zu bewegen schien. Trotzdem handelte es sich eindeutig um Italien, denn das Bad entlockte Ginny ein Stirnrunzeln, da es keine Badewanne besaß, kaum mehr als einen Duschkopf, ein Bidet und eine Toilette. Nicht einmal eine kleine Sitzbadewanne gab es, wie man sie manchmal in Hotels vorfand. Zu Hause hatte Ginny sich angewöhnt, Stunden in der Wanne zu verbringen. Oft ließ sie das Wasser bis auf Kinnhöhe ein, und das Plätschern des Überlaufs zu ihren Füßen reichte aus, um sie in den Schlaf zu wiegen. Wenn sie es gut erwischte, konnte sie aufstehen, einen Bademantel überziehen und ins Bett schlüpfen, ohne wieder voll zu Bewusstsein zu kommen. Es ärgerte sie, dass dieser Trick hier nicht funktionieren würde.
»Na, dann komm«, tönte Adams Stimme hinter dem Kofferdeckel. »Es wird nicht lange dauern, und später werden wir froh sein, dass wir schon richtig ausgepackt haben.«
Sie verstauten ihre Kleidungsstücke im Schrank und den Schubladen. Danach fand Adam einen Garderobenschrank bei der Eingangstür, in den die leeren Koffer passten. Er war in letzter Zeit auffallend gründlich in allem geworden - ja nahezu besessen -, so dass er praktische Aufgaben so lange wie möglich ausdehnte und oft schon im Voraus die nächste plante, um nicht mit einer zu langen Konzentrationspause konfrontiert zu werden. Ginny war das genaue Gegenteil: Während sie früher die Organisierte der beiden war, war es ihr inzwischen egal, was sich wo befand oder wie etwas aussah. Zwei Wochen lang aus dem Koffer leben, jeden Tag dieselben Kleidungsstücke tragen, jedes Mal über ein Paar Schuhe stolpern, wenn man das Zimmer betrat: Was machte das schon aus? Es änderte gar nichts.
Obwohl sie mit dem Auspacken fertig waren, ging Adam weiterhin mit kurzen, zurückhaltenden Schritten im Zimmer umher, wie eine Katze, die ein neues Heim abmisst. Ginny beobachtete ihn vom Bett aus und fragte sich, ob die kajütenähnliche Intimität, die diese Unterkunft so romantisch machte, in ihrem speziellen Fall nicht eher klaustrophobisch wirken würde.
Schließlich richtete er den Blick auf sie, als ließe es sich nicht länger vermeiden. »Ich glaube, ich werde ein bisschen das Dorf erkunden. Wenn man direkt am Seeufer entlanggeht, braucht man schätzungsweise nur zehn Minuten. Willst du mitkommen?«
Mühsam erhob sich Ginny, zog den dünnen Vorhang zur Seite und betrachtete erneut den kleinen Garten und die Sanatoriums-Korbstühle. »Ich denke, ich bleibe hier und lese ein Weilchen. Aber lass uns doch später zum Abendessen ausgehen, ja?«
»So machen wir es.« Adam nickte, offensichtlich erfreut über dieses Zeichen von Initiative ihrerseits. »Und ich schau mir unterwegs schon mal ein paar Restaurants an. Ich bin mir fast sicher, dass irgendjemand mir erzählt hat, dass sie hier in den Bergen Eselfl eisch essen ... was heißt eigentlich Esel auf Italienisch?«
Sie hatte keine Ahnung und antwortete nicht - auch das war etwas, das ihr abhandengekommen war: die Fähigkeit, eine Unterhaltung über den nötigen Informationsaustausch hinweg am Laufen zu halten. Da Adam inzwischen daran gewöhnt war, küsste er sie bloß zum Abschied. Sie stand reglos da, blinzelte kaum. Erst nachdem sie seine Schritte auf der Holztreppe und das Schließen der unteren Tür gehört hatte, erlaubte sie ihrem Körper wieder, sich zu bewegen, als hätte sie darauf gewartet, dass ein Eindringling das Gelände verließ, ehe sie es wagte, ihr Versteck zu verlassen.
Verrücktes Verhalten. Unbegreifl ich.
Das Taschenbuch, das Adam am Flughafen für sie ausgesucht hatte, reizte sie nicht. Stattdessen griff sie nach der Informationsmappe auf der Frühstückstheke in der Küche. Sie ließ sich in einem der Gartenstühle nieder und kniff die Augen zusammen, weil die glänzend weißen Seiten die Sonne refl ektierten:
Willkommen im Bootshaus der Villa Isola, Ortas arabischer Attraktion - Ihr Aufenthalt hier wird ein glücklicher sein! Lago d'Orta ist vermutlich der am wenigsten bekannte der italienischen Seen, der kleine Bruder der berühmteren Garda, Maggiore und Como ...
Ginny schaffte gerade mal zwei Sätze, ehe sie die Mappe wieder zuklappte. Zurzeit tat Lesen ihren Augen weh, als müsse sie die richtige Technik erst noch lernen und als überfordere die Anstrengung ihr Gehirn. Erstaunlich, welche Kraft die Sonne hier hatte! Es fühlte sich an wie am Äquator. Vermutlich erklärte das auch die dunklen Köpfe, die sie am gegenüberliegenden Ufer neben etwas Hellem, Funkelndem in kleinen Grüppchen über der Wasseroberfl äche schaukeln sah. Adam hatte ihren Badeanzug eingepackt, auch wenn sie nicht vorhatte, ihn anzuziehen. Ihren Körper so ausgeleiert und unförmig zu sehen war daheim schon unerträglich genug, da musste sie ihn nicht auch noch vor anderen Menschen zur Schau stellen.
Sie schaute nicht mehr in Ganzkörperspiegel und auch ihr Gesicht sah sie selten an, außer morgens, um sicherzugehen, dass sie sich nicht mit Zahnpasta bekleckert hatte. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass ihre einst kunstvoll geschnittenen und gesträhnten Haare vor Monaten durch ein schlecht gemachtes Nest ersetzt worden waren - was eigentlich ganz gut zu den Krähenfüßen um ihre Augen herum passte. Ihre Augen waren fremde Objekte, ohne jedes Funkeln. Das Blau hatte sich in einen blasseren Ton verwandelt und die Fenster zur Seele verdunkelt.
Da Ginny plötzlich ihre Überlegung von zuvor wieder einfi el, streckte sie den Arm zum See hin aus. Ihre Vermutung war richtig gewesen: Man konnte vom Stuhl aus ins Wasser fassen. Sie brachte ihr Gesicht so dicht an die Wasseroberfl äche wie nur möglich, ohne dabei aus dem Stuhl zu kippen. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde sie von einem Schwindel erfasst, und einige Sekunden lang konnte sie nichts mehr sehen. Das war jedoch kein Grund zur Sorge, denn Schwindel gehörte zu den bekannten Symptomen. Inzwischen war sie mit der kompletten Liste vertraut, und auch mit der Reihenfolge, in der sie zu erwarten waren. Was einem die Fachleute jedoch nicht sagten, war, dass man manchmal alle Symptome auf einmal erlebte - ein einziges chemisches Rauschen, das einen völlig umhaute. In solchen Momenten brauchte man dann das warme Bad bis zum Hals und die gnädige Schmerzlinderung, die es mit sich brachte. Es war der Zustand, der dem Nichtsfühlen am nächsten kam.
Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie zwei weiße Schmetterlinge bei ihrem Tanz über dem hohen Schilfgras auf der anderen Seite des Bootshauses. Die durchschnittliche Lebensdauer eines erwachsenen Schmetterlings beträgt zwei Wochen. Sie konnte nicht sagen, woher dieser Gedanke plötzlich gekommen war, aber vermutlich von Adam. Stimmte das? Es gab ein Tier mit einer noch kürzeren natürlichen Lebensspanne, auch wenn sie sich an den Namen nicht erinnern konnte. Etwas ganz Einfaches, das im Wasser lebte. Vielleicht war da draußen im See eines, das genau in diesem Moment umherschwamm und sich der Kürze des eigenen Daseins gar nicht bewusst war.
Das war das einzig Tröstliche in allem, was passiert war, dachte sie: Man konnte nie wissen.
Danach musste sie eingedöst sein. Als Adam zurückkam, war seinem ganzen Wesen die Begeisterung über seine Expedition anzumerken. Er wippte beim Sprechen auf den Fußballen und gestikulierte mit den Händen, als er die Piazza, die steilen Kopfsteinpfl asterstraßen und die kleinen Kapellen auf dem Hügel beschrieb. Er lächelte sogar. »Dieser Ort ist unglaublich, Ginny! Und weißt du was? Ich glaube, wir wohnen im Bootshaus von dieser lustigen Villa, die wir von der Straße aus gesehen haben. Erinnerst du dich an dieses grünrosa Ding mit dem Aussichtsturm? Mir war gar nicht klar, dass die beiden Gebäude zusammengehören, weil wir separate Einfahrten haben, aber die Villa liegt direkt hier hinter den Bäumen. Jetzt ergibt das auch einen Sinn, was der Mann im Reisebüro übers Teilen des Stegs gesagt hat.«
Ginny zeigte auf die Informationsmappe. »Da steht das mit der Villa drin ...«, sagte sie, doch Adam war bereits an ihr vorbeigegangen und redete weiter.
»Da muss dieses Tor dort hinführen. Ich habe mich schon gefragt, wozu es da ist ...« Und schon war er hindurchgegangen und schloss es sorgfältig hinter sich - eine typische Angewohnheit, die er stets gehabt und auch nicht abgelegt hatte: das Bestreben, ein braver Bürger zu sein. Nun konnte sie nur noch den oberen Teil seines Körpers sehen. Während er ihr voller Begeisterung berichtete, was er sah, gestikulierte er immer noch lebhaft mit den Armen.
Er benimmt sich, als sei ich blind, dachte Ginny, oder behindert. Er ist mein Pfl eger. Sie erhob sich aus dem Stuhl und betrachtete im Stehen die breite Rasenfl äche hinter ihm, die direkt am Ufer in eine Reihe Kastanienbäume mündete, deren Äste ein langgezogenes, einladendes Stück Schatten schufen. Es gab auch einen Privatsteg von bescheidener Größe, aber gut in Schuss. Die Villa selbst konnte sie nicht sehen, doch dem Besitzer - wer auch immer das sein mochte - gehörte ein parkähnliches Stück Uferland, von welchem dem Bootshaus nur ein winziges Eckchen zustand.
Adam blieb mit dem Rücken zum See und erhobenem Kopf stehen. »Wow! Sieh dir das an! Das ist kein Haus, das ist ein Palast! Wirkt aber, als würde es leer stehen, was sich ja gut trifft, weil wir schließlich allein sein wollen, nicht wahr? Sollen wir mal hinschleichen und uns ein bisschen umsehen?«
Erst als er hinzufügte, »Ach, Ginny«, und durchs Tor zu ihr zurücklief, merkte sie, dass sie sich wieder in ihren Stuhl hatte sinken lassen und angefangen hatte zu weinen. Sofort kniete er auf dem Boden neben ihr nieder und presste ungeschickt ihren rechten Arm gegen die harte Weidenkante, während er sie linkisch an sich drückte.
»Wir stehen das durch«, murmelte er. »Ich verspreche es dir. Hierherzukommen war eindeutig die richtige Entscheidung.«
Er hielt sie noch ein Weilchen fest und versicherte ihr, dass er sie liebte. Was Ginny hörte, war, ich liebe dich, mit kummervoller Betonung auf dem ich, als würde er bloß bestätigen, was sie ohnehin schon wusste: dass alle anderen auf der Welt sie verlassen hatten.
Kapitel 2
Sonntag
»Alles klar? Seid ihr alle angeschnallt? Dann mal los. Andiamo!«
Bea beobachtete, wie ihr Mann nach dem Schaltknüppel griff wie nach der Hand eines alten Freundes. Er sprühte förmlich vor guter Laune und steuerte den riesigen Mietwagen auf die Flughafenausfahrt zu, als würde er nichts auf der Welt lieber tun, als unter den weltweit gefährlichsten Wahnsinnigen auf der falschen Straßenseite zu fahren. Hätte sie das tun müssen, dann hätte sie das Lenkrad mit gekreuzten Fingern umklammert und sich vor jeder Ampel verneigt. Aber Marty war ganz anders. Er gehörte zu den Leuten, die Autofahren rein sportlich sahen. Es bereitete ihm ähnliches Vergnügen wie Skifahren, Segeln oder Sex. Für ihn bargen die Straßen Italiens keinen Schrecken: diese engen Sträßchen, wo es oft um Haaresbreite ging, das plötzliche Eintauchen in dunkle Tunnel, gefolgt vom Herausschießen in grelles Sonnenlicht, und dann noch das Mautsystem der Autostrada, bei dem die Fahrzeuge sich einreihen mussten wie Windhunde in ihren Startkäfigen - all das genoss er.
Natürlich hatte er die Kinder mit seiner Energie angesteckt. Das war auch früher im Urlaub schon so gewesen, als sie noch ganz klein waren. Von dem Moment an, wo sie sich zuvor alle in Gatwick versammelt hatten, hatte Marty sich wie ein Irrer aufgeführt. Er hatte Rücken geklopft, Schultern gedrückt und High Fives eingefordert. Er hatte Pippi sogar über seinen Kopf gehoben und mit ihr eine Art Eiskunstlauf vollführt (obwohl sie schwerer war als Esther, aber sie war schließlich Papas Liebling). Seine Mimik war extrem lebhaft, so wie die Fotografen es liebten - Das war phantastisch, aber könnten alle bitte noch viel aufgeregter aussehen! -, ganz so, als ob ihre Reise für den neuen Katalog aufgenommen würde. Beim Einchecken drehten sich die Passagiere an den anderen Schaltern nach ihm um, überzeugt, dass er jemand Besonderes war.
Und das war er.
Auch nach über zwanzig gemeinsamen Jahren war Bea noch nicht völlig immun gegen seine Ausstrahlung. Sie zwang sich, den Blick von seinem markanten Profi l loszureißen, und lächelte über die Schulter hinweg ihren beiden Töchtern auf dem Rücksitz zu. Wenn man sie so sah, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass Esther drei Jahre älter war, was zum Teil an ihrer Kleidung lag, vor allem aber daran, wie ihre jüngere Schwester sich kleidete. Esther war immer so angezogen, dass sie jederzeit an einem Selbstverteidigungskurs teilnehmen könnte (obwohl sie das - soweit Bea wusste - nie getan hatte). Das hieß, sie hatte sich für enge Laufhosen, T-Shirt und eine Fleecejacke Modell »Velocity« entschieden, wie Bea wusste. Pippi dagegen war der Meinung, dass es nur selten ein so großes, wenn auch unfreiwilliges Publikum wie auf einem internationalen Flughafen gab. Daher hatte sie ein schmales, schmeichelndes kleines Schwarzes sowie High Heels im Römersandalen-Look gewählt (falls das nicht ein Widerspruch in sich war) und so viel Silberschmuck, dass sie damit in der Schlange vor dem Sicherheitscheck hörbares Murren auslöste. Dom saß alleine auf der hintersten Bank, in einem Durcheinander aus Koffern, Kleiderbügeln und - das war Martys Idee gewesen, nicht Beas - einem riesigen Sonnenschirm mit firmeneigenem Logo. Sie hatte während der ganzen Reise noch keinen richtigen Blickkontakt mit Dom gehabt. Trotzdem wusste sie ganz genau, dass er derjenige von den drei Geschwistern war, den der heutige Auftritt seines Vaters am wenigsten beeindruckte und der am wenigsten bereit war, einen auf glückliche Familie zu machen. Sie konnten von Glück sagen, dass er überhaupt mitgekommen war, und die Wahrscheinlichkeit, dass er zurück nach London fl oh, war noch größer als bei Marty (und das hieß einiges, denn wenn man die Statistik bemühen wollte, waren vier der letzten fünf Urlaube auf diese Weise unterbrochen worden). Aber Bea würde nicht darüber nachgrübeln, nicht jetzt, noch ehe sie überhaupt ihr Hotel erreicht hatten. Sie würde erst einmal abwarten, bis sie ihr Zimmer mit Aussicht gesehen hatte, bevor sie ihre Sorgen wieder zulassen würde. Sie würde erst die Qualität der Matratzen testen, ehe sie die nächsten schlafl osen Nächte erwartete. Und, wer wusste das schon, vielleicht würde ja doch noch alles gut werden. Möglicherweise würde sie in diesem Urlaub einen Weg finden, wie sie mit ihrem Sohn sprechen und ihn überreden konnte, seine Ängste von ihr besänftigen zu lassen.
»Also gut, ich denke, es ist an der Zeit, euch einen kleinen Hinweis zu geben«, verkündete Marty und sah seine Frau an (Bea hätte den Blick nicht einfach so von der Straße nehmen können). Sein breites, verwegenes Grinsen war noch intensiver als sonst. Es war eine ganze Weile her, seit sie ihn das letzte Mal so entspannt erlebt hatte, und trotz allem merkte sie, wie ihr Herz ihm entgegenflog. Reine Gewohnheit, sagte sie sich, sonst nichts.
»Echt? Na, dann mach schon! Erlöse uns von unserem Leiden!«
Er gluckste bei ihrer Wortwahl, dann sah er in den Rückspiegel. »Du auch, Esther!«
Esther lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne. »Was soll ich auch?«
»Was soll ich auch?« Marty ahmte ihren argwöhnischen Tonfall nach, als gäbe es nichts Interessanteres (er gehörte nicht zu den Männern, die ihre Familie weniger charmant behandelten als irgendwelche Fremde; ihnen allen wurde sein volles Charisma zuteil). »Also gut, hier kommt euer Hinweis: Dort, wo wir gerade hinfahren, werdet ihr zwei eine ganze Menge kochen müssen.«
»Kochen? Ehrlich? Oh!« Esther lehnte sich mit verschlossener Miene zurück, bevor sie sich wieder vorbeugte und stöhnte: »Also echt, Dad. Sag jetzt bloß nicht, dass wir dabei gefi lmt werden, wie wir in einer Frühstückspension oder irgend so was Schrecklichem arbeiten!«
»Ich werde auf gar keinen Fall für irgendwelche Idioten Cappuccino machen«, mischte sich Pippi mit scharfem Tonfall ein. »Und eine Einverständniserklärung werde ich auch in keinem Fall unterschreiben, das sag ich dir gleich.«
Marty lachte schallend. »Wer hat denn überhaupt von dir geredet, Pipkins? Ihr seid ja echt lustig! Wieso sollte ich euch mit nach Italien nehmen, damit ihr dort eine Frühstückspension führt? Ich hab euch doch versprochen, dass das ein Traumurlaub wird. Außerdem wisst ihr genau, dass wir diesen Reality-TV-Mist nicht mitmachen. Seht ruhig nach, ob Melissa hinter uns herfährt.«
Automatisch drehten sich die drei Frauen um, als sei es tatsächlich denkbar, dass Melissas schwarzer Mini hinter ihnen auf der Überholspur der Autostrada dahinschnurrte. Melissa war die PR-Chefin bei Martys Firma Sale und Bea schätzte sie sowohl wegen ihres mangelnden Sex- Appeals als auch wegen ihrer absoluten Professionalität. Aber selbstverständlich fuhr nicht sie hinter ihnen her, sondern ein junger Mann mit hochgestylten Haaren in einem äußerst flachen Alfa Romeo, der sie offensichtlich überholen wollte.
»Also, wirklich! Wenn ihr so wenig erwartet ...!« Marty schenkte Bea ein verschmitztes Lächeln. »Wisst ihr was, dann kann ich euch auch noch eine Weile schmoren lassen ...«
»Komm schon, Marty, das ist nicht fair. Immerhin sind wir jetzt hier, da kannst du es uns auch einfach sagen.«
»Nein, ihr werdet kein Sterbenswörtchen mehr aus mir herausbringen.«
»Ich halt das nicht aus«, stöhnte Pippi. »Ich muss unbedingt wissen, wo wir hinfahren, damit ich mein Handy laden kann. Sind wir bald da, Dad?«
Ihr Vater brach erneut in schallendes Gelächter aus. »Sie hat es gesagt! Hast du das gehört, Bea? Pipster hat es wirklich gesagt! Jetzt kann ich mich endlich entspannen. Kein Familienurlaub ohne die entscheidende Frage!«
Die höchstwahrscheinlich in der nächsten Frühling/ Sommer-Anzeige auftauchen würde. Aber das musste Bea ihm lassen: Nicht einmal ihr hatte er seine große Überraschung verraten. Erst beim Check-in hatte sie erfahren, dass sie nach Italien fliegen würden, während die Kinder wenigstens das gewusst zu haben schienen. Bis dahin hatte er ihre Fragen schlichtweg vom Tisch gewischt: »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich ums Packen!« oder »Vertrau mir einfach!« (das war nun wirklich viel verlangt, aber unter diesen Umständen verzichtete sie darauf, ihn extra darauf hinzuweisen). Und was auch immer in diesem Sommer noch passieren würde, sie konnte ihm - und sich selbst - das Vergnügen eines Urlaubs zu fünft nicht verwehren, der vermutlich, nein, sicherlich der letzte gemeinsame Familienurlaub sein würde. Die vergangenen drei Jahre hatten sie so etwas organisatorisch nicht mehr hinbekommen, jedenfalls nicht mehr, seit Dom zum Studieren weggezogen war, im selben Jahr, als Esther ihr Übergangsjahr in der Schule hatte, und auch nicht mehr, seit Martys Terminkalender beinahe so vollgepackt war wie der des Außenministers. Nein, die Vorstellung, dass alle Sales zusammen in einem Auto saßen, mit gepackten Koffern, freigeschaufelten Terminkalendern und vertrösteten Freunden und Partnern, das schien Bea beinahe ein Wunder des Herrn zu sein (oder ein Wunder von Marty Sale - es war wohl verzeihlich, die beiden gleichzusetzen).
Nachdem sie die Autobahn verlassen hatten und so schnell durch einige kleine Städtchen gefahren waren, dass Bea deren Namen gar nicht mitbekommen hatte, kamen sie schließlich an eine Linksabbiegung mit dem Wegweiser »Lago d'Orta«. Mit schierer Willenskraft versuchte sie Marty dazu zu bewegen, den Blinker zu setzen und diese Richtung einzuschlagen. Stattdessen bog er nach rechts auf eine schmale Straße ab, die sich durch ein Waldgebiet auf einen Ort zuschlängelte, von dem sie noch nie gehört hatte. Als sie merkte, dass er ihr einen raschen Blick zuwarf, bemühte sie sich um einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck. Wie schade! Seit sie erfahren hatte, dass sie nach Mailand fliegen würden, hatte sie gehofft, ihr Ziel würde der Ortasee sein. Vor ein paar Jahren waren sie am benachbarten Comer See gewesen, in einer schicken Villa mit eigenem Boot, Kajaks und einem dieser schmalen Pools, in denen man per Knopfdruck eine Strömung einschalten konnte. Innerhalb kürzester Zeit hatte Marty die Kinder - und dazu noch einige einheimische Kinder, die er in seine Spiele mit einbezogen hatte - dazu gebracht, irgendwelche Wettbewerbe zu veranstalten, bei denen es um Hundertstelsekunden und Medaillen ging.
Nach Orta hatte es sie damals eher zufällig verschlagen, bei einem Tagesausflug gegen Ende des Urlaubs, als die diversen Wassersportarten ihren Reiz verloren hatten. Bea hatte sich auf Anhieb gewünscht, sie hätten die ganzen zwei Wochen hier verbracht. Es war klein und grün und ruhig dort und erinnerte eher an den englischen Lake District als an das glamouröse, dramatische Como. Außerdem strahlte der See eine gewisse Melancholie aus, von der sie bis dahin gar nicht gewusst hatte, dass sie sie so sehr mochte. Es war das Gefühl, das einen an Orten überkam, die von allen vergessen wurden - bis auf ein paar Touristen. Sie hatten in der Stadt geparkt, die eigentlich nur ein größeres Dorf war, und waren übers Wasser zu der kleinen Insel gefahren, wo sie das Kloster besichtigt hatten, in dem bis heute Nonnen lebten. Dort hatten sie auf einer Terrasse, die in den See hinausragte, etwas getrunken.
Aber am eindrücklichsten war ihr ein Gebäude in Erinnerung geblieben, das sie auf der Rückfahrt über den See entdeckt hatte. Es war nur vom Wasser aus und auch dann nur für einige wenige Augenblicke sichtbar. Dabei handelte es sich um die Miniaturausgabe eines orientalischen Palastes in Grün und Pink. Zwischen all den klassischen Villen in zarten Pastelltönen mit ihren - immer geschmackvoll abgestimmten - kontrastierenden Fensterläden stach es heraus wie eine lustige Grimasse unter all den anmutigen Gesichtern. Als würde es einem die Zunge herausstrecken.
...
Später konnte Ginny kaum glauben, dass ihr an diesem ersten Tag nicht aufgefallen war, wie schön der See war. Und die Lage ihres Häuschens dort, direkt am Ufer, mit der Insel San Giulio malerisch zur Linken. Die Aussicht war fast zu perfekt, um echt zu sein, eher wie eine Gemäldekomposition, in der der Künstler die einzelnen Elemente so zusammengestellt hatte, dass sie seinen persönlichen Gesetzen der Perspektive folgten.
Es sei ein kleines Stück Paradies, hatte Adam gesagt und damit den Reiseführer zitiert, den er im Flugzeug studiert hatte. Möglicherweise die perfekteste Aussicht in ganz Italien - und bedeutete das nicht automatisch auch die perfekteste Aussicht auf der ganzen Welt? Doch Ginny interessierte diese Überlegung nicht, genauso wenig wie sie diese Aussicht interessieren konnte. Zudem ging sie nicht davon aus, dass vierzehn Tage irgendeinen Unterschied machen würden.
Ihr Ferienhaus hatte einen eigenen kleinen Garten zum See hin, mit einem Steintisch und vier Hockern, die grob in Form von Fliegenpilzen behauen waren. Es gab außerdem zwei niedrige, bauchige Korbliegen, die in einem so intimen Winkel zueinander aufgestellt waren, als ob sie ausdrücklich für Rekonvaleszenten gedacht wären. Von ihrem Standpunkt am oberen Fenster aus schätzte Ginny, dass man sich vermutlich nahe genug am Wasser befand, um es mit den Fingerspitzen berühren zu können, wenn man diese Stühle bis ganz an den Rand des Rasens zog und sich ein Stück vorbeugte. Eigentlich könnte man auch gleich ganz untertauchen. Nichts würde einen davon abhalten, sich direkt vom Stuhl ins kühle Nass zu rollen. Alternativ konnte man es natürlich auch richtig angehen: auf den Steinvorsprung der Uferbegrenzung steigen, die Arme gen Himmel recken und einen Kopfsprung in den See wagen. Quer durch den Rahmen dieses berühmten Stückchens Paradies zur Insel hinüberschwimmen.
Ginny war sich allerdings ziemlich sicher, dass sie gar nicht die Energie dafür besaß. Und selbst wenn, fehlte ihr jegliches Bedürfnis dazu.
»Na, was sagst du?« Adam gesellte sich an einem der zwei bodentiefen Fenster im Wohnzimmer zu ihr. Zusammen mit dem übergroßen Kamin ließen sie den Raum vornehmer erscheinen, als er tatsächlich war. Ginny wusste, dass Adam zufrieden, ja sogar dankbar für das war, was sie vorgefunden hatten, als sie die Tür aufgeschlossen und die Stufen hinaufgegangen waren. Ferienhäuser waren immer Glückssache, und seine Suche nach dem richtigen Ort für sie war diesmal besonders gründlich gewesen. (Da er dem Internet nicht vertraute, war er persönlich zu einem Reisebüro im Westen Londons gegangen, das sich auf diese Art von Urlaub spezialisiert hatte: Geheimes Italien nannte sich das.) Obwohl Ginny sicher war, dass sie sich an jedem anderen Ort ganz genauso gefühlt hätte wie jetzt, hätte Adam die Enttäuschung über eine verbaute Aussicht oder über verrottende Einrichtung nicht ertragen. Er mochte als der Stärkere von ihnen beiden wirken - was er ja auch war -, aber das bedeutete nicht, dass er auf seine Art nicht auch zerbrechlich war.
»Es ist hübsch«, meinte sie und bemühte sich, ein bisschen Interesse zu zeigen. »Ich habe noch nie in einem Bootshaus gewohnt. Es fühlt sich ... friedlich an.«
»Genau das ist der Sinn der Sache. Italien ohne die Massen. Keine Warteschlangen, keine Kreuzfahrtschiffe, keine Reisegruppen ...« Er sah sich um, auf der Suche nach weiteren Dingen, die offensichtlich fehlten. »Kein Computer, kein Fernseher ...«
Keine Kinder.
Aber das sprach keiner von beiden aus.
Er machte sich daran, die Fenster zu öffnen - »Lassen wir etwas Luft herein!« -, und die sanfte Brise, die ins Zimmer wehte, war viel wärmer als das Innere des Hauses. Die milde Luft hatte nach dem kalten Londoner Regen etwas Unwirkliches.
»Ich kann nicht fassen, dass die Anreise hierher so schnell ging«, sagte Ginny.
Adam sah aus, als sei er anderer Meinung, aber sie hatte sich daran gewöhnt, ihrem eigenen Urteil nicht mehr zu vertrauen, und so beharrte sie nicht darauf. Auto, Flugzeug, Taxi. All das Gepäckschleppen, das Schlangestehen ... möglicherweise war es eine mühsame Reise gewesen, was ihr bloß nicht aufgefallen war. Dieser Tage vergingen die Stunden, ohne dass sie es recht bemerkte. Sie fragte sich, ob es daran lag, dass sie nicht wollte, dass die Zeit verging. Sie wollte sie anhalten, bevor sie sich zu weit von jenem Tag entfernte, den sie als ihren glücklichsten betrachtete. Der Tag, bevor sie Schiffbruch erlitten hatten. Der fünfte April. Und sie waren mehr als glücklich gewesen: geradezu euphorisch.
Manchmal dachte Ginny, es wäre besser gewesen, wenn die Welt an diesem Tag untergegangen wäre oder vielleicht in der Nacht, während sie schliefen, ahnungslos für immer.
»Sollen wir dann mal auspacken?«, fragte Adam munter. Als er ihre Miene sah, fügte er schnell hinzu: »Ich kann das übernehmen, falls du dich ausruhen willst?«
»Nein, schon gut, ich helfe dir.«
Sie folgte ihm ins Schlafzimmer des Bootshauses, das noch kleiner war als das Wohnzimmer, da es sich seine Hälfte der Grundfl äche mit einem Flur teilen musste, von dem aus man über die Außentreppe direkt in den Garten gelangte (der richtige Eingang befand sich auf der anderen Seite des Gebäudes, am öffentlichen Weg). Auch dieser Raum hatte eine niedrige Decke und mit Holz verkleidete Wände. Die einzige künstliche Lichtquelle bestand aus einer kleinen Lampe mit Schirm. Vielleicht wurde ja erwartet, dass man mit Kerzenlicht auskam (oder damit auskommen wollte), denn das Zimmer war ganz offensichtlich für Romantiker eingerichtet worden: Es gab weiche weiße Laken auf dem polierten Holzbett, frische Blumen in einem blauen Krug auf dem Tisch und am Fenster nur einen leichten, durchsichtigen Baumwollvorhang, der sich wie schwerelos ohne merklichen Luftzug zu bewegen schien. Trotzdem handelte es sich eindeutig um Italien, denn das Bad entlockte Ginny ein Stirnrunzeln, da es keine Badewanne besaß, kaum mehr als einen Duschkopf, ein Bidet und eine Toilette. Nicht einmal eine kleine Sitzbadewanne gab es, wie man sie manchmal in Hotels vorfand. Zu Hause hatte Ginny sich angewöhnt, Stunden in der Wanne zu verbringen. Oft ließ sie das Wasser bis auf Kinnhöhe ein, und das Plätschern des Überlaufs zu ihren Füßen reichte aus, um sie in den Schlaf zu wiegen. Wenn sie es gut erwischte, konnte sie aufstehen, einen Bademantel überziehen und ins Bett schlüpfen, ohne wieder voll zu Bewusstsein zu kommen. Es ärgerte sie, dass dieser Trick hier nicht funktionieren würde.
»Na, dann komm«, tönte Adams Stimme hinter dem Kofferdeckel. »Es wird nicht lange dauern, und später werden wir froh sein, dass wir schon richtig ausgepackt haben.«
Sie verstauten ihre Kleidungsstücke im Schrank und den Schubladen. Danach fand Adam einen Garderobenschrank bei der Eingangstür, in den die leeren Koffer passten. Er war in letzter Zeit auffallend gründlich in allem geworden - ja nahezu besessen -, so dass er praktische Aufgaben so lange wie möglich ausdehnte und oft schon im Voraus die nächste plante, um nicht mit einer zu langen Konzentrationspause konfrontiert zu werden. Ginny war das genaue Gegenteil: Während sie früher die Organisierte der beiden war, war es ihr inzwischen egal, was sich wo befand oder wie etwas aussah. Zwei Wochen lang aus dem Koffer leben, jeden Tag dieselben Kleidungsstücke tragen, jedes Mal über ein Paar Schuhe stolpern, wenn man das Zimmer betrat: Was machte das schon aus? Es änderte gar nichts.
Obwohl sie mit dem Auspacken fertig waren, ging Adam weiterhin mit kurzen, zurückhaltenden Schritten im Zimmer umher, wie eine Katze, die ein neues Heim abmisst. Ginny beobachtete ihn vom Bett aus und fragte sich, ob die kajütenähnliche Intimität, die diese Unterkunft so romantisch machte, in ihrem speziellen Fall nicht eher klaustrophobisch wirken würde.
Schließlich richtete er den Blick auf sie, als ließe es sich nicht länger vermeiden. »Ich glaube, ich werde ein bisschen das Dorf erkunden. Wenn man direkt am Seeufer entlanggeht, braucht man schätzungsweise nur zehn Minuten. Willst du mitkommen?«
Mühsam erhob sich Ginny, zog den dünnen Vorhang zur Seite und betrachtete erneut den kleinen Garten und die Sanatoriums-Korbstühle. »Ich denke, ich bleibe hier und lese ein Weilchen. Aber lass uns doch später zum Abendessen ausgehen, ja?«
»So machen wir es.« Adam nickte, offensichtlich erfreut über dieses Zeichen von Initiative ihrerseits. »Und ich schau mir unterwegs schon mal ein paar Restaurants an. Ich bin mir fast sicher, dass irgendjemand mir erzählt hat, dass sie hier in den Bergen Eselfl eisch essen ... was heißt eigentlich Esel auf Italienisch?«
Sie hatte keine Ahnung und antwortete nicht - auch das war etwas, das ihr abhandengekommen war: die Fähigkeit, eine Unterhaltung über den nötigen Informationsaustausch hinweg am Laufen zu halten. Da Adam inzwischen daran gewöhnt war, küsste er sie bloß zum Abschied. Sie stand reglos da, blinzelte kaum. Erst nachdem sie seine Schritte auf der Holztreppe und das Schließen der unteren Tür gehört hatte, erlaubte sie ihrem Körper wieder, sich zu bewegen, als hätte sie darauf gewartet, dass ein Eindringling das Gelände verließ, ehe sie es wagte, ihr Versteck zu verlassen.
Verrücktes Verhalten. Unbegreifl ich.
Das Taschenbuch, das Adam am Flughafen für sie ausgesucht hatte, reizte sie nicht. Stattdessen griff sie nach der Informationsmappe auf der Frühstückstheke in der Küche. Sie ließ sich in einem der Gartenstühle nieder und kniff die Augen zusammen, weil die glänzend weißen Seiten die Sonne refl ektierten:
Willkommen im Bootshaus der Villa Isola, Ortas arabischer Attraktion - Ihr Aufenthalt hier wird ein glücklicher sein! Lago d'Orta ist vermutlich der am wenigsten bekannte der italienischen Seen, der kleine Bruder der berühmteren Garda, Maggiore und Como ...
Ginny schaffte gerade mal zwei Sätze, ehe sie die Mappe wieder zuklappte. Zurzeit tat Lesen ihren Augen weh, als müsse sie die richtige Technik erst noch lernen und als überfordere die Anstrengung ihr Gehirn. Erstaunlich, welche Kraft die Sonne hier hatte! Es fühlte sich an wie am Äquator. Vermutlich erklärte das auch die dunklen Köpfe, die sie am gegenüberliegenden Ufer neben etwas Hellem, Funkelndem in kleinen Grüppchen über der Wasseroberfl äche schaukeln sah. Adam hatte ihren Badeanzug eingepackt, auch wenn sie nicht vorhatte, ihn anzuziehen. Ihren Körper so ausgeleiert und unförmig zu sehen war daheim schon unerträglich genug, da musste sie ihn nicht auch noch vor anderen Menschen zur Schau stellen.
Sie schaute nicht mehr in Ganzkörperspiegel und auch ihr Gesicht sah sie selten an, außer morgens, um sicherzugehen, dass sie sich nicht mit Zahnpasta bekleckert hatte. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass ihre einst kunstvoll geschnittenen und gesträhnten Haare vor Monaten durch ein schlecht gemachtes Nest ersetzt worden waren - was eigentlich ganz gut zu den Krähenfüßen um ihre Augen herum passte. Ihre Augen waren fremde Objekte, ohne jedes Funkeln. Das Blau hatte sich in einen blasseren Ton verwandelt und die Fenster zur Seele verdunkelt.
Da Ginny plötzlich ihre Überlegung von zuvor wieder einfi el, streckte sie den Arm zum See hin aus. Ihre Vermutung war richtig gewesen: Man konnte vom Stuhl aus ins Wasser fassen. Sie brachte ihr Gesicht so dicht an die Wasseroberfl äche wie nur möglich, ohne dabei aus dem Stuhl zu kippen. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde sie von einem Schwindel erfasst, und einige Sekunden lang konnte sie nichts mehr sehen. Das war jedoch kein Grund zur Sorge, denn Schwindel gehörte zu den bekannten Symptomen. Inzwischen war sie mit der kompletten Liste vertraut, und auch mit der Reihenfolge, in der sie zu erwarten waren. Was einem die Fachleute jedoch nicht sagten, war, dass man manchmal alle Symptome auf einmal erlebte - ein einziges chemisches Rauschen, das einen völlig umhaute. In solchen Momenten brauchte man dann das warme Bad bis zum Hals und die gnädige Schmerzlinderung, die es mit sich brachte. Es war der Zustand, der dem Nichtsfühlen am nächsten kam.
Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie zwei weiße Schmetterlinge bei ihrem Tanz über dem hohen Schilfgras auf der anderen Seite des Bootshauses. Die durchschnittliche Lebensdauer eines erwachsenen Schmetterlings beträgt zwei Wochen. Sie konnte nicht sagen, woher dieser Gedanke plötzlich gekommen war, aber vermutlich von Adam. Stimmte das? Es gab ein Tier mit einer noch kürzeren natürlichen Lebensspanne, auch wenn sie sich an den Namen nicht erinnern konnte. Etwas ganz Einfaches, das im Wasser lebte. Vielleicht war da draußen im See eines, das genau in diesem Moment umherschwamm und sich der Kürze des eigenen Daseins gar nicht bewusst war.
Das war das einzig Tröstliche in allem, was passiert war, dachte sie: Man konnte nie wissen.
Danach musste sie eingedöst sein. Als Adam zurückkam, war seinem ganzen Wesen die Begeisterung über seine Expedition anzumerken. Er wippte beim Sprechen auf den Fußballen und gestikulierte mit den Händen, als er die Piazza, die steilen Kopfsteinpfl asterstraßen und die kleinen Kapellen auf dem Hügel beschrieb. Er lächelte sogar. »Dieser Ort ist unglaublich, Ginny! Und weißt du was? Ich glaube, wir wohnen im Bootshaus von dieser lustigen Villa, die wir von der Straße aus gesehen haben. Erinnerst du dich an dieses grünrosa Ding mit dem Aussichtsturm? Mir war gar nicht klar, dass die beiden Gebäude zusammengehören, weil wir separate Einfahrten haben, aber die Villa liegt direkt hier hinter den Bäumen. Jetzt ergibt das auch einen Sinn, was der Mann im Reisebüro übers Teilen des Stegs gesagt hat.«
Ginny zeigte auf die Informationsmappe. »Da steht das mit der Villa drin ...«, sagte sie, doch Adam war bereits an ihr vorbeigegangen und redete weiter.
»Da muss dieses Tor dort hinführen. Ich habe mich schon gefragt, wozu es da ist ...« Und schon war er hindurchgegangen und schloss es sorgfältig hinter sich - eine typische Angewohnheit, die er stets gehabt und auch nicht abgelegt hatte: das Bestreben, ein braver Bürger zu sein. Nun konnte sie nur noch den oberen Teil seines Körpers sehen. Während er ihr voller Begeisterung berichtete, was er sah, gestikulierte er immer noch lebhaft mit den Armen.
Er benimmt sich, als sei ich blind, dachte Ginny, oder behindert. Er ist mein Pfl eger. Sie erhob sich aus dem Stuhl und betrachtete im Stehen die breite Rasenfl äche hinter ihm, die direkt am Ufer in eine Reihe Kastanienbäume mündete, deren Äste ein langgezogenes, einladendes Stück Schatten schufen. Es gab auch einen Privatsteg von bescheidener Größe, aber gut in Schuss. Die Villa selbst konnte sie nicht sehen, doch dem Besitzer - wer auch immer das sein mochte - gehörte ein parkähnliches Stück Uferland, von welchem dem Bootshaus nur ein winziges Eckchen zustand.
Adam blieb mit dem Rücken zum See und erhobenem Kopf stehen. »Wow! Sieh dir das an! Das ist kein Haus, das ist ein Palast! Wirkt aber, als würde es leer stehen, was sich ja gut trifft, weil wir schließlich allein sein wollen, nicht wahr? Sollen wir mal hinschleichen und uns ein bisschen umsehen?«
Erst als er hinzufügte, »Ach, Ginny«, und durchs Tor zu ihr zurücklief, merkte sie, dass sie sich wieder in ihren Stuhl hatte sinken lassen und angefangen hatte zu weinen. Sofort kniete er auf dem Boden neben ihr nieder und presste ungeschickt ihren rechten Arm gegen die harte Weidenkante, während er sie linkisch an sich drückte.
»Wir stehen das durch«, murmelte er. »Ich verspreche es dir. Hierherzukommen war eindeutig die richtige Entscheidung.«
Er hielt sie noch ein Weilchen fest und versicherte ihr, dass er sie liebte. Was Ginny hörte, war, ich liebe dich, mit kummervoller Betonung auf dem ich, als würde er bloß bestätigen, was sie ohnehin schon wusste: dass alle anderen auf der Welt sie verlassen hatten.
Kapitel 2
Sonntag
»Alles klar? Seid ihr alle angeschnallt? Dann mal los. Andiamo!«
Bea beobachtete, wie ihr Mann nach dem Schaltknüppel griff wie nach der Hand eines alten Freundes. Er sprühte förmlich vor guter Laune und steuerte den riesigen Mietwagen auf die Flughafenausfahrt zu, als würde er nichts auf der Welt lieber tun, als unter den weltweit gefährlichsten Wahnsinnigen auf der falschen Straßenseite zu fahren. Hätte sie das tun müssen, dann hätte sie das Lenkrad mit gekreuzten Fingern umklammert und sich vor jeder Ampel verneigt. Aber Marty war ganz anders. Er gehörte zu den Leuten, die Autofahren rein sportlich sahen. Es bereitete ihm ähnliches Vergnügen wie Skifahren, Segeln oder Sex. Für ihn bargen die Straßen Italiens keinen Schrecken: diese engen Sträßchen, wo es oft um Haaresbreite ging, das plötzliche Eintauchen in dunkle Tunnel, gefolgt vom Herausschießen in grelles Sonnenlicht, und dann noch das Mautsystem der Autostrada, bei dem die Fahrzeuge sich einreihen mussten wie Windhunde in ihren Startkäfigen - all das genoss er.
Natürlich hatte er die Kinder mit seiner Energie angesteckt. Das war auch früher im Urlaub schon so gewesen, als sie noch ganz klein waren. Von dem Moment an, wo sie sich zuvor alle in Gatwick versammelt hatten, hatte Marty sich wie ein Irrer aufgeführt. Er hatte Rücken geklopft, Schultern gedrückt und High Fives eingefordert. Er hatte Pippi sogar über seinen Kopf gehoben und mit ihr eine Art Eiskunstlauf vollführt (obwohl sie schwerer war als Esther, aber sie war schließlich Papas Liebling). Seine Mimik war extrem lebhaft, so wie die Fotografen es liebten - Das war phantastisch, aber könnten alle bitte noch viel aufgeregter aussehen! -, ganz so, als ob ihre Reise für den neuen Katalog aufgenommen würde. Beim Einchecken drehten sich die Passagiere an den anderen Schaltern nach ihm um, überzeugt, dass er jemand Besonderes war.
Und das war er.
Auch nach über zwanzig gemeinsamen Jahren war Bea noch nicht völlig immun gegen seine Ausstrahlung. Sie zwang sich, den Blick von seinem markanten Profi l loszureißen, und lächelte über die Schulter hinweg ihren beiden Töchtern auf dem Rücksitz zu. Wenn man sie so sah, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass Esther drei Jahre älter war, was zum Teil an ihrer Kleidung lag, vor allem aber daran, wie ihre jüngere Schwester sich kleidete. Esther war immer so angezogen, dass sie jederzeit an einem Selbstverteidigungskurs teilnehmen könnte (obwohl sie das - soweit Bea wusste - nie getan hatte). Das hieß, sie hatte sich für enge Laufhosen, T-Shirt und eine Fleecejacke Modell »Velocity« entschieden, wie Bea wusste. Pippi dagegen war der Meinung, dass es nur selten ein so großes, wenn auch unfreiwilliges Publikum wie auf einem internationalen Flughafen gab. Daher hatte sie ein schmales, schmeichelndes kleines Schwarzes sowie High Heels im Römersandalen-Look gewählt (falls das nicht ein Widerspruch in sich war) und so viel Silberschmuck, dass sie damit in der Schlange vor dem Sicherheitscheck hörbares Murren auslöste. Dom saß alleine auf der hintersten Bank, in einem Durcheinander aus Koffern, Kleiderbügeln und - das war Martys Idee gewesen, nicht Beas - einem riesigen Sonnenschirm mit firmeneigenem Logo. Sie hatte während der ganzen Reise noch keinen richtigen Blickkontakt mit Dom gehabt. Trotzdem wusste sie ganz genau, dass er derjenige von den drei Geschwistern war, den der heutige Auftritt seines Vaters am wenigsten beeindruckte und der am wenigsten bereit war, einen auf glückliche Familie zu machen. Sie konnten von Glück sagen, dass er überhaupt mitgekommen war, und die Wahrscheinlichkeit, dass er zurück nach London fl oh, war noch größer als bei Marty (und das hieß einiges, denn wenn man die Statistik bemühen wollte, waren vier der letzten fünf Urlaube auf diese Weise unterbrochen worden). Aber Bea würde nicht darüber nachgrübeln, nicht jetzt, noch ehe sie überhaupt ihr Hotel erreicht hatten. Sie würde erst einmal abwarten, bis sie ihr Zimmer mit Aussicht gesehen hatte, bevor sie ihre Sorgen wieder zulassen würde. Sie würde erst die Qualität der Matratzen testen, ehe sie die nächsten schlafl osen Nächte erwartete. Und, wer wusste das schon, vielleicht würde ja doch noch alles gut werden. Möglicherweise würde sie in diesem Urlaub einen Weg finden, wie sie mit ihrem Sohn sprechen und ihn überreden konnte, seine Ängste von ihr besänftigen zu lassen.
»Also gut, ich denke, es ist an der Zeit, euch einen kleinen Hinweis zu geben«, verkündete Marty und sah seine Frau an (Bea hätte den Blick nicht einfach so von der Straße nehmen können). Sein breites, verwegenes Grinsen war noch intensiver als sonst. Es war eine ganze Weile her, seit sie ihn das letzte Mal so entspannt erlebt hatte, und trotz allem merkte sie, wie ihr Herz ihm entgegenflog. Reine Gewohnheit, sagte sie sich, sonst nichts.
»Echt? Na, dann mach schon! Erlöse uns von unserem Leiden!«
Er gluckste bei ihrer Wortwahl, dann sah er in den Rückspiegel. »Du auch, Esther!«
Esther lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne. »Was soll ich auch?«
»Was soll ich auch?« Marty ahmte ihren argwöhnischen Tonfall nach, als gäbe es nichts Interessanteres (er gehörte nicht zu den Männern, die ihre Familie weniger charmant behandelten als irgendwelche Fremde; ihnen allen wurde sein volles Charisma zuteil). »Also gut, hier kommt euer Hinweis: Dort, wo wir gerade hinfahren, werdet ihr zwei eine ganze Menge kochen müssen.«
»Kochen? Ehrlich? Oh!« Esther lehnte sich mit verschlossener Miene zurück, bevor sie sich wieder vorbeugte und stöhnte: »Also echt, Dad. Sag jetzt bloß nicht, dass wir dabei gefi lmt werden, wie wir in einer Frühstückspension oder irgend so was Schrecklichem arbeiten!«
»Ich werde auf gar keinen Fall für irgendwelche Idioten Cappuccino machen«, mischte sich Pippi mit scharfem Tonfall ein. »Und eine Einverständniserklärung werde ich auch in keinem Fall unterschreiben, das sag ich dir gleich.«
Marty lachte schallend. »Wer hat denn überhaupt von dir geredet, Pipkins? Ihr seid ja echt lustig! Wieso sollte ich euch mit nach Italien nehmen, damit ihr dort eine Frühstückspension führt? Ich hab euch doch versprochen, dass das ein Traumurlaub wird. Außerdem wisst ihr genau, dass wir diesen Reality-TV-Mist nicht mitmachen. Seht ruhig nach, ob Melissa hinter uns herfährt.«
Automatisch drehten sich die drei Frauen um, als sei es tatsächlich denkbar, dass Melissas schwarzer Mini hinter ihnen auf der Überholspur der Autostrada dahinschnurrte. Melissa war die PR-Chefin bei Martys Firma Sale und Bea schätzte sie sowohl wegen ihres mangelnden Sex- Appeals als auch wegen ihrer absoluten Professionalität. Aber selbstverständlich fuhr nicht sie hinter ihnen her, sondern ein junger Mann mit hochgestylten Haaren in einem äußerst flachen Alfa Romeo, der sie offensichtlich überholen wollte.
»Also, wirklich! Wenn ihr so wenig erwartet ...!« Marty schenkte Bea ein verschmitztes Lächeln. »Wisst ihr was, dann kann ich euch auch noch eine Weile schmoren lassen ...«
»Komm schon, Marty, das ist nicht fair. Immerhin sind wir jetzt hier, da kannst du es uns auch einfach sagen.«
»Nein, ihr werdet kein Sterbenswörtchen mehr aus mir herausbringen.«
»Ich halt das nicht aus«, stöhnte Pippi. »Ich muss unbedingt wissen, wo wir hinfahren, damit ich mein Handy laden kann. Sind wir bald da, Dad?«
Ihr Vater brach erneut in schallendes Gelächter aus. »Sie hat es gesagt! Hast du das gehört, Bea? Pipster hat es wirklich gesagt! Jetzt kann ich mich endlich entspannen. Kein Familienurlaub ohne die entscheidende Frage!«
Die höchstwahrscheinlich in der nächsten Frühling/ Sommer-Anzeige auftauchen würde. Aber das musste Bea ihm lassen: Nicht einmal ihr hatte er seine große Überraschung verraten. Erst beim Check-in hatte sie erfahren, dass sie nach Italien fliegen würden, während die Kinder wenigstens das gewusst zu haben schienen. Bis dahin hatte er ihre Fragen schlichtweg vom Tisch gewischt: »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich ums Packen!« oder »Vertrau mir einfach!« (das war nun wirklich viel verlangt, aber unter diesen Umständen verzichtete sie darauf, ihn extra darauf hinzuweisen). Und was auch immer in diesem Sommer noch passieren würde, sie konnte ihm - und sich selbst - das Vergnügen eines Urlaubs zu fünft nicht verwehren, der vermutlich, nein, sicherlich der letzte gemeinsame Familienurlaub sein würde. Die vergangenen drei Jahre hatten sie so etwas organisatorisch nicht mehr hinbekommen, jedenfalls nicht mehr, seit Dom zum Studieren weggezogen war, im selben Jahr, als Esther ihr Übergangsjahr in der Schule hatte, und auch nicht mehr, seit Martys Terminkalender beinahe so vollgepackt war wie der des Außenministers. Nein, die Vorstellung, dass alle Sales zusammen in einem Auto saßen, mit gepackten Koffern, freigeschaufelten Terminkalendern und vertrösteten Freunden und Partnern, das schien Bea beinahe ein Wunder des Herrn zu sein (oder ein Wunder von Marty Sale - es war wohl verzeihlich, die beiden gleichzusetzen).
Nachdem sie die Autobahn verlassen hatten und so schnell durch einige kleine Städtchen gefahren waren, dass Bea deren Namen gar nicht mitbekommen hatte, kamen sie schließlich an eine Linksabbiegung mit dem Wegweiser »Lago d'Orta«. Mit schierer Willenskraft versuchte sie Marty dazu zu bewegen, den Blinker zu setzen und diese Richtung einzuschlagen. Stattdessen bog er nach rechts auf eine schmale Straße ab, die sich durch ein Waldgebiet auf einen Ort zuschlängelte, von dem sie noch nie gehört hatte. Als sie merkte, dass er ihr einen raschen Blick zuwarf, bemühte sie sich um einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck. Wie schade! Seit sie erfahren hatte, dass sie nach Mailand fliegen würden, hatte sie gehofft, ihr Ziel würde der Ortasee sein. Vor ein paar Jahren waren sie am benachbarten Comer See gewesen, in einer schicken Villa mit eigenem Boot, Kajaks und einem dieser schmalen Pools, in denen man per Knopfdruck eine Strömung einschalten konnte. Innerhalb kürzester Zeit hatte Marty die Kinder - und dazu noch einige einheimische Kinder, die er in seine Spiele mit einbezogen hatte - dazu gebracht, irgendwelche Wettbewerbe zu veranstalten, bei denen es um Hundertstelsekunden und Medaillen ging.
Nach Orta hatte es sie damals eher zufällig verschlagen, bei einem Tagesausflug gegen Ende des Urlaubs, als die diversen Wassersportarten ihren Reiz verloren hatten. Bea hatte sich auf Anhieb gewünscht, sie hätten die ganzen zwei Wochen hier verbracht. Es war klein und grün und ruhig dort und erinnerte eher an den englischen Lake District als an das glamouröse, dramatische Como. Außerdem strahlte der See eine gewisse Melancholie aus, von der sie bis dahin gar nicht gewusst hatte, dass sie sie so sehr mochte. Es war das Gefühl, das einen an Orten überkam, die von allen vergessen wurden - bis auf ein paar Touristen. Sie hatten in der Stadt geparkt, die eigentlich nur ein größeres Dorf war, und waren übers Wasser zu der kleinen Insel gefahren, wo sie das Kloster besichtigt hatten, in dem bis heute Nonnen lebten. Dort hatten sie auf einer Terrasse, die in den See hinausragte, etwas getrunken.
Aber am eindrücklichsten war ihr ein Gebäude in Erinnerung geblieben, das sie auf der Rückfahrt über den See entdeckt hatte. Es war nur vom Wasser aus und auch dann nur für einige wenige Augenblicke sichtbar. Dabei handelte es sich um die Miniaturausgabe eines orientalischen Palastes in Grün und Pink. Zwischen all den klassischen Villen in zarten Pastelltönen mit ihren - immer geschmackvoll abgestimmten - kontrastierenden Fensterläden stach es heraus wie eine lustige Grimasse unter all den anmutigen Gesichtern. Als würde es einem die Zunge herausstrecken.
...
... weniger
Autoren-Porträt von Louise Candlish
Louise Candlish arbeitete nach ihrem Literaturstudium in verschiedenen Verlagen in London. Eines Tages kündigte sie spontan, flog nach Sizilien und schrieb dort ihr erstes Buch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Louise Candlish
- 2011, 475 Seiten, Maße: 12,9 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Julia Walther
- Übersetzer: Julia Walther
- Verlag: MARION VON SCHRÖDER
- ISBN-10: 3547711746
- ISBN-13: 9783547711745
Kommentare zu "Wunder geschehen morgen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Wunder geschehen morgen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Wunder geschehen morgen".
Kommentar verfassen