Tödliches Puzzle (ePub)
Es beginnt an einem ganz normalen Morgen im Aufzug eines ganz normalen Bürogebäudes, als die Sekretärin Lena Hargreaves einen entsetzlichen Fund macht: Auf dem Boden liegt ein menschlicher Finger. Die Polizei glaubt an einen üblen Scherz, bis ein neuer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tödliches Puzzle (ePub)“
Es beginnt an einem ganz normalen Morgen im Aufzug eines ganz normalen Bürogebäudes, als die Sekretärin Lena Hargreaves einen entsetzlichen Fund macht: Auf dem Boden liegt ein menschlicher Finger. Die Polizei glaubt an einen üblen Scherz, bis ein neuer Fund, wieder in einem Aufzug, zeigt, dass man es nicht mit einem Witzbold zu tun hat, sondern mit einem eiskalten Mörder. Und das ist erst der Anfang...
Lese-Probe zu „Tödliches Puzzle (ePub)“
Tödliches Puzzle von Graeme Hague LESEPROBE Lena Hargreaves hatte keinen Grund zu glauben, dass es kein ganz normaler Tag werden würde. Alles war wie sonst. Sie war gekleidet wie immer, sie sah aus wie eine professionelle Sekretärin in ihrem engen Rock mit passendem Kostümjackett, dunkler Strumpfhose und schwarzen Schuhen; die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie trug hochhackige Schuhe, allerdings keine Stilettos. Ihre Lesebrille war modisch, aber auch praktisch, mit einem kräftigen Rahmen und einem Band daran, sodass sie sie um den Hals hängen konnte. Als sie den Flur in Richtung des Empfangsbereiches der Firma im 21. Stock durchschritt, trug sie die Brille allerdings auf der Nase. Jedes Mal, wenn sie an einem Büro vorbeiging, schaute sie schnell hinein. Sie war bereit, jedem, der schon da war, zuzunicken und ihn anzulächeln.
In Wirklichkeit konnte Lena wegen der starken Brillengläser praktisch niemanden erkennen. Lediglich verschwommene Formen verrieten ihr, ob jemand in dem jeweiligen Büro saß. Doch sie wusste, dass die Brille sie geschäftig wirken ließ, also behielt sie sie auf und tastete sich eben durch eine Welt schwammiger Umrisse und unscharfer Grenzen.
... mehr
Ihr Arbeitgeber belegte ein ganzes Stockwerk mit Büroräumen. Vor Kurzem hatte man versucht, in der Etage darüber noch etwas anzumieten, um ein Archiv anzulegen. Stattdessen hatte die Verwaltung ihnen zu einem sehr guten Preis einen Raum im obersten Stockwerk angeboten, dem zweiunddreißigsten, und sie hatten ihn genommen. Dort lagerten die alten Ordner und das Archivmaterial zentral, damit die Mitarbeiter nicht so viel Zeit damit verschwendeten, irgendetwas zu suchen. Das Management hatte sich gedacht, wenn die Leute schon den Fahrstuhl benutzen mussten, war es im Grunde egal, wie viele Stockwerke sie fuhren. Aber nach den ersten paar Wochen waren die Mitarbeiter nicht sonderlich zufrieden mit dem neuen System. Man brauchte die »alten« Akten häufig, und diejenigen, die nach oben fahren mussten, beschwerten sich, dass sie im Foyer ewig auf die Fahrstühle warten mussten. Und selbst wenn es nur eine Minute dauerte, die richtige Akte zu ziehen, war der Fahrstuhl, wenn sie oben ins Foyer zurückkehrten, immer schon irgendwo anders hingefahren, sodass es zu einer weiteren nervtötenden Verzögerung kam.
Lena drückte einen Stapel Aktenmappen an ihre Brust, als sie zum Fahrstuhl ging. Die vier Fahrstuhlschächte befanden sich in einer kleinen Nische, die vom Empfangsbereich aus nicht einsehbar war. Mit der Brille auf der Nase fiel es ihr leicht, den »Aufwärts«-Knopf zu sehen - Lena konnte nah genug herantreten, dass er in ihr Schärfefeld geriet. Sie drückte darauf und trat einen Schritt zurück. Im Warten sah sie sich um; sie versuchte, durch die Verschwommenheit ihrer Brille etwas auszumachen. Aber niemand war in der Nähe, und die Rezeptionistin am Schreibtisch hatte den Kopf gesenkt, sie hatte zu tun. Zufrieden, dass niemand sie beobachtete, schaute Lena hoch zu den Zahlen über der Fahrstuhltür. Sie waren ein wenig verschwommen, aber sie konnte sie lesen. Wenn sie jedoch nur ein paar kleine Schritte zurücktrat, wurden die Zahlen immer unschärfer, und Lena wusste, dass sie sich selbst in die Tasche log, wenn sie behauptete, sie dann immer noch lesen zu können. Mit einem Seufzen und nach einem weiteren schnellen Blick, um sicher zu sein, dass niemand sie beobachtete, schob Lena die Brille hoch auf ihre Stirn. Nach einem Augenblick der Verwirrung stellten sich ihre Augen auf die neue Situation ein, und die elektronischen Ziffern erschienen scharf und klar. Sie schaute kurz hinunter auf die Mappen, die sie an die Brust
drückte, und ließ sie nach hinten kippen, sodass sie die Beschriftungen sah. Aber obwohl diese in großer, fetter Schrift vorgenommen worden waren, erschienen die Buchstaben nun verschwommen und unleserlich. Lena schnalzte enttäuscht mit ihrer Zunge. Sie ärgerte sich über ihre schlechten Augen, wo doch alles andere so gut lief.
Ein Klingelton zeigte an, dass der Fahrstuhl gekommen war, und Lena ließ ihre Brille herunterkippen, aber als die Türen sich öffneten, sah sie, dass die Kabine leer war. Sie ging schnell hinein und unterdrückte einen kleinen Schauder, als sie durch die Türen trat. Lena hasste Fahrstühle, und das begann mit der Angst, zwischen den sich schließenden Türen eingequetscht zu werden. Obwohl sie wusste, dass sie sich sofort wieder öffnen würden, sahen sie zumindest so aus, als könnten sie einen zerdrücken, und sie erschrak jedes Mal, wenn sie sich zu schließen begannen, bevor sie ganz drin war.
Als der Fahrstuhl seine geschmeidige Aufwärtsfahrt begann, machte sie sich sorgenvoll Gedanken über die gesamte Mechanik. Soweit Lena wusste, befand sie sich jetzt in einer Stahlschachtel, die an einem erschreckend dünnen Kabel hing. Sie hatte zu viele Filme gesehen, in denen Fahrstuhlfahrer durch ein zerfasertes, fast schon zerrissenes Kabel in Gefahr gerieten. Natürlich konnten sich im Film alle gerade rechtzeitig retten, und die Zuschauer sahen bloß entsetzt, wie die leere Kabine durch den Fahrstuhlschacht ihrer Zerstörung entgegenstürzte, das durchtrennte Kabel nutzlos hinter sich herziehend. Aber Lena konnte sich lebhaft vorstellen, wie es war, darin gefangen zu sein. Sie erschauerte wieder und sah besorgt die Wände um sich herum an. Der Fahrstuhl zuckte, und sie hielt verängstigt den Atem an, aber dann erreichte er das oberste Stockwerk. Die Türen glitten auf, und sie sah, dass die Fahrstuhlnische auch hier menschenleer war.
Das oberste Stockwerk war unbenutzt; hier gab es nur die Archivräume ihrer eigenen Firma. Die Einrichtung war noch so wie nach Fertigstellung der Bauarbeiten, mit schlichten, billigen Teppichen und Pastellfarben an den Wänden. Es roch neu und ein wenig nach Chemikalien, Farben, Klebstoffen. Die Klimaanlage auf diesem Stockwerk hatte man abgestellt, um Energie zu sparen. Die Archivräume waren durch eine unbeschriftete Tür vom Flur aus erreichbar. Lena hatte einen eigenen Schlüssel - genau genommen hatten viele Leute einen Schlüssel, denn eine Menge Mitarbeiter mussten hierher kommen. Was die Sicherheit anging, war die Sache ein Witz. Es war eines dieser Managementprobleme, das Lena sofort in Ordnung gebracht hätte, wenn man sie nur gelassen hätte. Sie fantasierte oft davon, wie sie dies oder das lösen würde, wenn sie befördert würde. Sie schwang die Tür weit auf und schob eine kleine Kiste davor, damit sie nicht wieder zufiel.
Der Archivraum war ursprünglich als mittelgroßer Konferenzsaal geplant worden. Jetzt wurde er unschön durch große Buchregale unterteilt, durch metallene Aktenschränke und stapelweise Pappkisten, in denen sich muffige Akten befanden, mit denen sich Lena dankenswerterweise noch nicht hatte beschäftigen müssen. Der Raum war unordentlich und nur mit Hilfe von hastig per Hand beschrifteten Schildern organisiert. Im Grunde genommen stand einfach alles da, wo gerade Platz war. Man musste suchen, bis man den Bereich fand, den man brauchte; erst dann ergab sich eine Art Ordnung. Der einzige strukturierte Bereich war ein Schreibtisch hinter der Tür, wo alle notieren sollten, wer sie waren, welche Akten sie mitnahmen, und sie später wieder aus dem Register streichen sollten, wenn sie zurückkamen. Auszubildende wurden häufig hochgeschickt, um Unterlagen wieder einzuordnen, die auf den Schreibtischen verblieben waren. Lena war eine der privilegierten Sekretärinnen, die diese ungeliebte Aufgabe nicht erledigen mussten. Sie packte ihre eigenen Akten einfach auf den Tisch, damit sich jemand anders darum kümmerte, und strich mit einem Bleistift, der mit
einem Stück Seil an dem Register festgeknotet war, die Akten durch, die sie zurückgebracht hatte. Dann zog sie einen Zettel aus der Tasche und las nach, welche neuen Mappen sie brauchte.
Lena schloss die Tür zum Archiv nie ganz, wenn sie allein hier heraufkam. Es war unnatürlich ruhig im Vergleich zu den Büros unten, und es gab haufenweise kleine Ecken und Verstecke, wo sich jemand verbergen konnte. Wenn noch jemand anders Akten holte, war der Raum eine Oase im Vergleich zu der Arbeit unten, und man konnte ein bisschen plaudern oder sogar tratschen. Manche Mitarbeiter, das wusste Lena, rauchten hier auch, obwohl es verboten war.
Aber wenn sie allein im Raum war, wie jetzt, fand sie es ein wenig beängstigend.
Nervös schritt Lena durch das Labyrinth aus Regalen und Aktenschränken. Sie wusste, dass sie sich anstellte, konnte aber nicht anders. Die beste Antwort auf dieses Gefühl war, die Akten ausfindig zu machen, so schnell sie konnte, und dann wieder abzuhauen. Sie wünschte sich jetzt, dass sie einen der Auszubildenden gebeten hätte, es für sie zu erledigen. Genau genommen durfte sie das nicht, weil sie nicht hochrangig genug war. Aber ein paar der jüngeren Männer mussten nicht lange überredet werden, wenn Lena freundlich lächelte.
Die erste Akte fand sie leicht. Die zweite war nicht aufzutreiben, und sie ging zurück zum Verzeichnis und stellte fest, dass jemand anders sie schon bei sich hatte. Lena stieß ein verärgertes Geräusch aus, weil sie nicht darauf gekommen war, gleich zu Anfang ihre Liste mit dem Ausleihverzeichnis abzugleichen. Das tat sie jetzt und stellte fest, dass die anderen beiden Akten, die sie suchte, immer noch irgendwo hier oben waren.
Zwischen den Aktenregalen hörte Lena, dass jemand anders ins Zimmer kam. Sie war einerseits erleichtert, dass jemand hier war, und hoffte andererseits, dass es sich um jemanden handelte, denn sie kannte und mochte, deswegen rief sie:
»Hallo? Wer ist da?«
Sie versuchte, freundlich zu klingen, nicht ängstlich.
Sie erhielt keine Antwort.
»Ist jemand da? Hier ist Lena aus der Buchhaltung.«
Immer noch antwortete niemand.
Mit gerunzelter Stirn ging sie zurück zum Verzeichnis. Es war niemand da. Lena schob ihre Brille hinunter auf die Nasenspitze. So sah sie zehn Jahre älter aus, das wusste sie, aber im Augenblick war ihr das egal. Der Rest des Raumes war nun erkennbar, und Lena schaute sich besorgt um. Es sah so aus, als wäre sie immer noch allein.
»Ist hier nun jemand, oder nicht? «, fragte sie, innerlich gespalten zwischen dem Gefühl, sich lächerlich zu machen, und ihrer Angst.
Es war still im Raum.
Spontan trat sie aus dem Archiv hinaus und schaute den Flur entlang. Die Brille immer noch hinuntergeschoben, konnte sie sehen, dass einer der Fahrstühle in diesem Stockwerk stand; die Türen waren offen und warteten darauf, dass jemand ihn zu sich rief. Entweder das, oder jemand war gerade aus dem Lift rausgekommen.
Aber Lena befand sich, wenn sie dem Schweigen glaubte, das auf ihre Fragen folgte, immer noch allein im zweiunddreißigsten Stock.
Vielleicht war es einer der Reinigungsleute, und er ist in einen anderen Bereich des Stockwerks gegangen, dachte sie und versuchte, die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern zu ignorieren. Das Geräusch des ankommenden Fahrstuhls musste das gewesen sein, was sie eben gehört hatte.
Plötzlich aber erschienen ihr die geöffneten Fahrstuhltüren ausgesprochen verlockend - und Lena fühlte sich hier nicht mehr wohl. Sie hatte schon eine Akte, was hieß, dass sie den Weg nicht umsonst gemacht hatte. Sie kümmerte sich nicht
weiter darum, dass sie die Akte in das Verzeichnis hätte eintragen müssen, und zog einfach die Tür zu, wobei sie die Kiste, die sie offenhielt, zur Seite schob. Sie wartete gerade lange genug, um die Tür zuklicken zu hören, dann lief sie durch den Flur in Richtung der Fahrstühle. Jetzt hoffte sie plötzlich, dass der Fahrstuhl lange genug auf ihrem Stockwerk hielt, um ihn noch erwischen zu können. Lena starrte die offenstehende Tür an und ging schnell; sie hoffte, dass die Türen so blieben. Sie war in der Versuchung, loszulaufen, riss sich aber zusammen.
Die Fahrstuhltüren begannen sich zu schließen, und sie hechtete gerade noch rechtzeitig hindurch, woraufhin die Türen wieder aufsprangen. Ihre Brille begann, von ihrer Nasenspitze zu rutschen, und in einer geübten Reflexbewegung schob sie sie wieder ganz hoch, sodass die Welt um sie herum sofort verschwamm. Verblüfft murmelte sie: »Mist!«, und schaute durch die Türen hinaus. Der Raum draußen schien leer zu sein, ebenso wie der Flur, der in die entgegengesetzte Richtung führte. Mit einem erleichterten Seufzer drückte Lena den Knopf mit der Nummer 21 und lehnte sich an die Rückwand des Fahrstuhls. Sie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Wie immer schienen die Fahrstuhltüren ewig zu brauchen, um sich zu schließen.
© Verlagsgruppe Weltbild
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Lena drückte einen Stapel Aktenmappen an ihre Brust, als sie zum Fahrstuhl ging. Die vier Fahrstuhlschächte befanden sich in einer kleinen Nische, die vom Empfangsbereich aus nicht einsehbar war. Mit der Brille auf der Nase fiel es ihr leicht, den »Aufwärts«-Knopf zu sehen - Lena konnte nah genug herantreten, dass er in ihr Schärfefeld geriet. Sie drückte darauf und trat einen Schritt zurück. Im Warten sah sie sich um; sie versuchte, durch die Verschwommenheit ihrer Brille etwas auszumachen. Aber niemand war in der Nähe, und die Rezeptionistin am Schreibtisch hatte den Kopf gesenkt, sie hatte zu tun. Zufrieden, dass niemand sie beobachtete, schaute Lena hoch zu den Zahlen über der Fahrstuhltür. Sie waren ein wenig verschwommen, aber sie konnte sie lesen. Wenn sie jedoch nur ein paar kleine Schritte zurücktrat, wurden die Zahlen immer unschärfer, und Lena wusste, dass sie sich selbst in die Tasche log, wenn sie behauptete, sie dann immer noch lesen zu können. Mit einem Seufzen und nach einem weiteren schnellen Blick, um sicher zu sein, dass niemand sie beobachtete, schob Lena die Brille hoch auf ihre Stirn. Nach einem Augenblick der Verwirrung stellten sich ihre Augen auf die neue Situation ein, und die elektronischen Ziffern erschienen scharf und klar. Sie schaute kurz hinunter auf die Mappen, die sie an die Brust
drückte, und ließ sie nach hinten kippen, sodass sie die Beschriftungen sah. Aber obwohl diese in großer, fetter Schrift vorgenommen worden waren, erschienen die Buchstaben nun verschwommen und unleserlich. Lena schnalzte enttäuscht mit ihrer Zunge. Sie ärgerte sich über ihre schlechten Augen, wo doch alles andere so gut lief.
Ein Klingelton zeigte an, dass der Fahrstuhl gekommen war, und Lena ließ ihre Brille herunterkippen, aber als die Türen sich öffneten, sah sie, dass die Kabine leer war. Sie ging schnell hinein und unterdrückte einen kleinen Schauder, als sie durch die Türen trat. Lena hasste Fahrstühle, und das begann mit der Angst, zwischen den sich schließenden Türen eingequetscht zu werden. Obwohl sie wusste, dass sie sich sofort wieder öffnen würden, sahen sie zumindest so aus, als könnten sie einen zerdrücken, und sie erschrak jedes Mal, wenn sie sich zu schließen begannen, bevor sie ganz drin war.
Als der Fahrstuhl seine geschmeidige Aufwärtsfahrt begann, machte sie sich sorgenvoll Gedanken über die gesamte Mechanik. Soweit Lena wusste, befand sie sich jetzt in einer Stahlschachtel, die an einem erschreckend dünnen Kabel hing. Sie hatte zu viele Filme gesehen, in denen Fahrstuhlfahrer durch ein zerfasertes, fast schon zerrissenes Kabel in Gefahr gerieten. Natürlich konnten sich im Film alle gerade rechtzeitig retten, und die Zuschauer sahen bloß entsetzt, wie die leere Kabine durch den Fahrstuhlschacht ihrer Zerstörung entgegenstürzte, das durchtrennte Kabel nutzlos hinter sich herziehend. Aber Lena konnte sich lebhaft vorstellen, wie es war, darin gefangen zu sein. Sie erschauerte wieder und sah besorgt die Wände um sich herum an. Der Fahrstuhl zuckte, und sie hielt verängstigt den Atem an, aber dann erreichte er das oberste Stockwerk. Die Türen glitten auf, und sie sah, dass die Fahrstuhlnische auch hier menschenleer war.
Das oberste Stockwerk war unbenutzt; hier gab es nur die Archivräume ihrer eigenen Firma. Die Einrichtung war noch so wie nach Fertigstellung der Bauarbeiten, mit schlichten, billigen Teppichen und Pastellfarben an den Wänden. Es roch neu und ein wenig nach Chemikalien, Farben, Klebstoffen. Die Klimaanlage auf diesem Stockwerk hatte man abgestellt, um Energie zu sparen. Die Archivräume waren durch eine unbeschriftete Tür vom Flur aus erreichbar. Lena hatte einen eigenen Schlüssel - genau genommen hatten viele Leute einen Schlüssel, denn eine Menge Mitarbeiter mussten hierher kommen. Was die Sicherheit anging, war die Sache ein Witz. Es war eines dieser Managementprobleme, das Lena sofort in Ordnung gebracht hätte, wenn man sie nur gelassen hätte. Sie fantasierte oft davon, wie sie dies oder das lösen würde, wenn sie befördert würde. Sie schwang die Tür weit auf und schob eine kleine Kiste davor, damit sie nicht wieder zufiel.
Der Archivraum war ursprünglich als mittelgroßer Konferenzsaal geplant worden. Jetzt wurde er unschön durch große Buchregale unterteilt, durch metallene Aktenschränke und stapelweise Pappkisten, in denen sich muffige Akten befanden, mit denen sich Lena dankenswerterweise noch nicht hatte beschäftigen müssen. Der Raum war unordentlich und nur mit Hilfe von hastig per Hand beschrifteten Schildern organisiert. Im Grunde genommen stand einfach alles da, wo gerade Platz war. Man musste suchen, bis man den Bereich fand, den man brauchte; erst dann ergab sich eine Art Ordnung. Der einzige strukturierte Bereich war ein Schreibtisch hinter der Tür, wo alle notieren sollten, wer sie waren, welche Akten sie mitnahmen, und sie später wieder aus dem Register streichen sollten, wenn sie zurückkamen. Auszubildende wurden häufig hochgeschickt, um Unterlagen wieder einzuordnen, die auf den Schreibtischen verblieben waren. Lena war eine der privilegierten Sekretärinnen, die diese ungeliebte Aufgabe nicht erledigen mussten. Sie packte ihre eigenen Akten einfach auf den Tisch, damit sich jemand anders darum kümmerte, und strich mit einem Bleistift, der mit
einem Stück Seil an dem Register festgeknotet war, die Akten durch, die sie zurückgebracht hatte. Dann zog sie einen Zettel aus der Tasche und las nach, welche neuen Mappen sie brauchte.
Lena schloss die Tür zum Archiv nie ganz, wenn sie allein hier heraufkam. Es war unnatürlich ruhig im Vergleich zu den Büros unten, und es gab haufenweise kleine Ecken und Verstecke, wo sich jemand verbergen konnte. Wenn noch jemand anders Akten holte, war der Raum eine Oase im Vergleich zu der Arbeit unten, und man konnte ein bisschen plaudern oder sogar tratschen. Manche Mitarbeiter, das wusste Lena, rauchten hier auch, obwohl es verboten war.
Aber wenn sie allein im Raum war, wie jetzt, fand sie es ein wenig beängstigend.
Nervös schritt Lena durch das Labyrinth aus Regalen und Aktenschränken. Sie wusste, dass sie sich anstellte, konnte aber nicht anders. Die beste Antwort auf dieses Gefühl war, die Akten ausfindig zu machen, so schnell sie konnte, und dann wieder abzuhauen. Sie wünschte sich jetzt, dass sie einen der Auszubildenden gebeten hätte, es für sie zu erledigen. Genau genommen durfte sie das nicht, weil sie nicht hochrangig genug war. Aber ein paar der jüngeren Männer mussten nicht lange überredet werden, wenn Lena freundlich lächelte.
Die erste Akte fand sie leicht. Die zweite war nicht aufzutreiben, und sie ging zurück zum Verzeichnis und stellte fest, dass jemand anders sie schon bei sich hatte. Lena stieß ein verärgertes Geräusch aus, weil sie nicht darauf gekommen war, gleich zu Anfang ihre Liste mit dem Ausleihverzeichnis abzugleichen. Das tat sie jetzt und stellte fest, dass die anderen beiden Akten, die sie suchte, immer noch irgendwo hier oben waren.
Zwischen den Aktenregalen hörte Lena, dass jemand anders ins Zimmer kam. Sie war einerseits erleichtert, dass jemand hier war, und hoffte andererseits, dass es sich um jemanden handelte, denn sie kannte und mochte, deswegen rief sie:
»Hallo? Wer ist da?«
Sie versuchte, freundlich zu klingen, nicht ängstlich.
Sie erhielt keine Antwort.
»Ist jemand da? Hier ist Lena aus der Buchhaltung.«
Immer noch antwortete niemand.
Mit gerunzelter Stirn ging sie zurück zum Verzeichnis. Es war niemand da. Lena schob ihre Brille hinunter auf die Nasenspitze. So sah sie zehn Jahre älter aus, das wusste sie, aber im Augenblick war ihr das egal. Der Rest des Raumes war nun erkennbar, und Lena schaute sich besorgt um. Es sah so aus, als wäre sie immer noch allein.
»Ist hier nun jemand, oder nicht? «, fragte sie, innerlich gespalten zwischen dem Gefühl, sich lächerlich zu machen, und ihrer Angst.
Es war still im Raum.
Spontan trat sie aus dem Archiv hinaus und schaute den Flur entlang. Die Brille immer noch hinuntergeschoben, konnte sie sehen, dass einer der Fahrstühle in diesem Stockwerk stand; die Türen waren offen und warteten darauf, dass jemand ihn zu sich rief. Entweder das, oder jemand war gerade aus dem Lift rausgekommen.
Aber Lena befand sich, wenn sie dem Schweigen glaubte, das auf ihre Fragen folgte, immer noch allein im zweiunddreißigsten Stock.
Vielleicht war es einer der Reinigungsleute, und er ist in einen anderen Bereich des Stockwerks gegangen, dachte sie und versuchte, die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern zu ignorieren. Das Geräusch des ankommenden Fahrstuhls musste das gewesen sein, was sie eben gehört hatte.
Plötzlich aber erschienen ihr die geöffneten Fahrstuhltüren ausgesprochen verlockend - und Lena fühlte sich hier nicht mehr wohl. Sie hatte schon eine Akte, was hieß, dass sie den Weg nicht umsonst gemacht hatte. Sie kümmerte sich nicht
weiter darum, dass sie die Akte in das Verzeichnis hätte eintragen müssen, und zog einfach die Tür zu, wobei sie die Kiste, die sie offenhielt, zur Seite schob. Sie wartete gerade lange genug, um die Tür zuklicken zu hören, dann lief sie durch den Flur in Richtung der Fahrstühle. Jetzt hoffte sie plötzlich, dass der Fahrstuhl lange genug auf ihrem Stockwerk hielt, um ihn noch erwischen zu können. Lena starrte die offenstehende Tür an und ging schnell; sie hoffte, dass die Türen so blieben. Sie war in der Versuchung, loszulaufen, riss sich aber zusammen.
Die Fahrstuhltüren begannen sich zu schließen, und sie hechtete gerade noch rechtzeitig hindurch, woraufhin die Türen wieder aufsprangen. Ihre Brille begann, von ihrer Nasenspitze zu rutschen, und in einer geübten Reflexbewegung schob sie sie wieder ganz hoch, sodass die Welt um sie herum sofort verschwamm. Verblüfft murmelte sie: »Mist!«, und schaute durch die Türen hinaus. Der Raum draußen schien leer zu sein, ebenso wie der Flur, der in die entgegengesetzte Richtung führte. Mit einem erleichterten Seufzer drückte Lena den Knopf mit der Nummer 21 und lehnte sich an die Rückwand des Fahrstuhls. Sie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Wie immer schienen die Fahrstuhltüren ewig zu brauchen, um sich zu schließen.
© Verlagsgruppe Weltbild
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
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Autoren-Porträt von Graeme Hague
Graeme Hague lebt mit seiner Frau Lisa und drei Hunden im südwestlichen Teil Westaustraliens. Wenn er nicht schreibt, komponiert er und produziert Aufnahmen seiner Musik. Er hat in Australien bereits sechs Romane veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Mehr über den Autor erfahren sie auf seiner Website www.graemehague.com.au.
Bibliographische Angaben
- Autor: Graeme Hague
- 2012, 398 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 386365000X
- ISBN-13: 9783863650001
- Erscheinungsdatum: 06.06.2012
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- Dateiformat: ePub
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