Vollkommenheit / Transformationen der Antike Bd.13 (PDF)
Die Frage nach der Vollkommenheit ist seit der Antike grundlegend für Kunst und Literatur. Als Ideal, das seine Unerreichbarkeit stets mitthematisiert, entfaltet Vollkommenheit eine produktive Dynamik und eröffnet den Künsten Möglichkeiten...
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Die Frage nach der Vollkommenheit ist seit der Antike grundlegend für Kunst und Literatur. Als Ideal, das seine Unerreichbarkeit stets mitthematisiert, entfaltet Vollkommenheit eine produktive Dynamik und eröffnet den Künsten Möglichkeiten ästhetischer Reflexion sowie einen symbolischen Raum für die Aufnahme und Verwandlung philosophischer Ideen.
Die Beiträge des Bandes aus den Fächern Anglistik, Romanistik, Germanistik und Theologie betrachten dieses Zusammenwirken philosophisch-religiöser Vorstellungen des Vollkommenen mit seinen Figurationen in der Literatur - von den Kirchenvätern über Gottfried von Straßburg, Dante, Petrarca und Shakespeare bis hin zu Andrew Marvell -, und sie fragen nach den Transformationen, die Vollkommenheitskonzepte wie Kunstwerke dabei erfahren. Der Band untersucht, wie Perfektion und Perfektibilität Literatur und Kunst bestimmen, wie sie ihrerseits von ihren Realisierungen bestimmt werden und welche Rolle das Bewußtsein der Kunst von ihrer eigenen Unvollkommenheit dabei spielt. Zur Diskussion steht nicht zuletzt, wie sich das transzendente Vollkommenheitsideal zur poetischen Diesseitigkeit der Texte und deren Strukturen verhält. Wie also wird der ontologisch-theologische Begriff des Vollkommenen in eine kunstimmanente Figur umgesetzt und übersetzt und wie verändert er sich dabei?
KATHARINA MÜNCHBERG (Trier)
Dantes Commedia, zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstanden, steht noch ganz im Horizont des mittelalterlichen Wissens: Dante fügt Elemente aus der platonischneuplatonischen, aristotelischen und arabischen Philosophie und der scholastischen und mystischen Theologie zu einer vielschichtigen konzeptuellen Einheit zusammen. Dennoch ist Dantes Commedia kein philosophisches Kompendium, sondern ein bis zum Äußersten durchdachtes und durchgestaltetes Kunstwerk, in dem das Wissen immer auf die Materialität des poetischen Textes und seine imaginäre Welt zurückgeführt werden kann. Dantes Reflexion auf eine mögliche Vollkommenheit des Kunstwerks ist hierfür ein grundlegendes Beispiel.
In der platonisch-neuplatonischen Philosophie, die Dante über die Vermittlung des Dionysius Areopagita kannte, ist das Vollkommene ein Prädikat, das allein dem Göttlichen zukommt und dem Menschen in der Mangelhaftigkeit der materiellen Welt versagt ist. Die Hochscholastik schließt an diese Traditionslinie an: In seiner Summa theologiae bestimmt Thomas von Aquin das göttliche Sein durch das Prädikat des Vollkommenen, indem er präzisiert, dass es sich selbst in seinem Sein konstituiert. Die irdischen Dinge dagegen sind durch einen Mangel an Sein geprägt und unvollkommen. Aus dieser ontologischen Vorordnung des Vollkommenen ergibt sich, dass die irdischen Dinge nur eine partikulare und graduelle Teilhabe am Sein erreichen können. Auch in Dantes Commedia ist die hierarchische Ordnung des Seins das grundlegende Gestaltungsprinzip der imaginären Welt. Vom Gipfelpunkt des Empyreum herab verteilt sich die göttliche Kraft in den Himmeln und ihren Engelscharen, die aus Gott hervorgegangen sind und dorthin zurückstreben. Was für Thomas von Aquin fast schon einen theologischen
Dantes Suche nach einem poetischen Kunstwerk, in dem Vollkommenheit nicht allein eine theologische, sondern vielmehr ästhetische Reflexionsfigur ist, macht ihn zu einem Dichter der beginnenden Neuzeit. Bei Dante wird Vollkommenheit in den drei Horizonten des Wissens, der religiösen und ethischen Erfahrung und der ästhetischen Erfahrung reflektiert. In der Textstruktur der Commedia werden diese Horizonte zu einer Synthese zusammengeführt. Durch die Perfektionierung der poetischen Techniken, die das Wissen einhüllen, gewinnt die Commedia eine eindringliche imaginäre Bildlichkeit und sinnliche Präsenz. Dante schöpft die Potentiale des poetischen Werks ganz aus, um sein Werk der göttlichen Vollkommenheit anzunähern, und hält dabei doch die Differenz zwischen dem menschlichen Werk und dem göttlichen Sein offen. Denn wie kann Dantes ästhetischer Perfektionismus gelingen, wenn er dem Kunstwerk nicht eine ästhetische Immanenz zugesteht, die unabhängig ist von der ursprünglichen Vollkommenheit des Göttlichen, zu der sie hinaustreibt?
Verena Lobsien und Claudia Olk, Humboldt-Universität zu Berlin; Katharina Münchberg, Universität Trier.
- 2010, 1. Auflage, 250 Seiten, Deutsch
- Herausgegeben: Verena Lobsien, Claudia Olk, Katharina Münchberg
- Verlag: Walter de Gruyter
- ISBN-10: 311022237X
- ISBN-13: 9783110222371
- Erscheinungsdatum: 27.05.2010
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