Der Turm der Könige
Historischer Roman
Ein Schachspiel über Jahrhunderte um ein architektonisches Meisterwerk, das Christen und Muslime verbindet
Sevilla 1248: Axataf, der maurische Herrscher der Stadt, ergibt sich König Fernando III. von Kastilien. Der Stolz der...
Sevilla 1248: Axataf, der maurische Herrscher der Stadt, ergibt sich König Fernando III. von Kastilien. Der Stolz der...
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Produktinformationen zu „Der Turm der Könige “
Ein Schachspiel über Jahrhunderte um ein architektonisches Meisterwerk, das Christen und Muslime verbindet
Sevilla 1248: Axataf, der maurische Herrscher der Stadt, ergibt sich König Fernando III. von Kastilien. Der Stolz der Muslime aber, die Giralda - das wunderschöne Minarett der Moschee von Sevilla - soll nicht in Christenhände fallen. Doch der christliche König gewinnt Axataf für einen Pakt: Ein Schachturnier soll über das Schicksal des gewaltigen Turms entscheiden. Fünfhundert Jahre später steht noch immer kein Sieger fest. Doch es gibt einen geheimnisvollen Auserwählten, der die letzte Partie für die Christen spielen soll. Und es gibt jene, die dies verhindern wollen.
"Unvergessliche Figuren, deren Schicksale sich kreuzen durch einen alten und geheimnisvollen Pakt zwischen einem christlichen und einem maurischen König. Ein großartiges Epochenbild des historischen Sevillas und seiner Kathedrale."
Ildefonso Falcones, Autor von "Die Kathedrale des Meeres"
Sevilla 1248: Axataf, der maurische Herrscher der Stadt, ergibt sich König Fernando III. von Kastilien. Der Stolz der Muslime aber, die Giralda - das wunderschöne Minarett der Moschee von Sevilla - soll nicht in Christenhände fallen. Doch der christliche König gewinnt Axataf für einen Pakt: Ein Schachturnier soll über das Schicksal des gewaltigen Turms entscheiden. Fünfhundert Jahre später steht noch immer kein Sieger fest. Doch es gibt einen geheimnisvollen Auserwählten, der die letzte Partie für die Christen spielen soll. Und es gibt jene, die dies verhindern wollen.
"Unvergessliche Figuren, deren Schicksale sich kreuzen durch einen alten und geheimnisvollen Pakt zwischen einem christlichen und einem maurischen König. Ein großartiges Epochenbild des historischen Sevillas und seiner Kathedrale."
Ildefonso Falcones, Autor von "Die Kathedrale des Meeres"
Klappentext zu „Der Turm der Könige “
Ein Schachspiel über Jahrhunderte um ein architektonisches Meisterwerk, das Christen und Muslime verbindetSevilla 1248: Axataf, der maurische Herrscher der Stadt, ergibt sich König Fernando III. von Kastilien. Der Stolz der Muslime aber, die Giralda das wunderschöne Minarett der Moschee von Sevilla soll nicht in Christenhände fallen. Doch der christliche König gewinnt Axataf für einen Pakt: Ein Schachturnier soll über das Schicksal des gewaltigen Turms entscheiden.
Fünfhundert Jahre später steht noch immer kein Sieger fest. Doch es gibt einen geheimnisvollen Auserwählten, der die letzte Partie für die Christen spielen soll. Und es gibt jene, die dies verhindern wollen
"Unvergessliche Figuren, deren Schicksale sich kreuzen durch einen alten und geheimnisvollen Pakt zwischen einem christlichen und einem maurischen König. Ein großartiges Epochenbild des historischen Sevillas und seiner Kathedrale."
Ildefonso Falcones,
Autor von "Die Kathedrale des Meeres"
Lese-Probe zu „Der Turm der Könige “
Der Turm der Könige von Nerea RiescoProlog
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Schon lange saßen sie da und spielten Schach. Das Schlagen der Glocken und der Duft von heißer Milch und frisch geröstetem Brot erinnerte sie daran, dass es Morgen war und sie seit Beginn der Partie nichts gegessen hatten. Der Ort wirkte ebenso geheimnisvoll wie die alten römischen Katakomben. Auf den langen Tischen ringsum befanden sich ohne offensichtliche Ordnung Aktenbündel, Bücher, Mappen, Notizen und eine Reihe von Schachbrettern, die ungeduldig darauf warteten, sich wieder in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Die dicken steinernen Mauern waren mit Fresken geschmückt, die weltliche Szenen zeigten: unterschiedliche Darstellungen der Giralda im Laufe der Zeit, Schiffe, die gegen Stürme ankämpften, Ritter, die mit erhobenem Schwert auf den Gegner einrannten, belagerte Zinnen ... Vielleicht war das der Grund, warum die Ordensbrüder diesen Raum den »Krak des Chevaliers« nannten.
Die beiden Gegner maßen sich mit Blicken. Der weiße König war in Gefahr. Bedroht von der unerschrockenen schwarzen Dame, verschanzte er sich hinter zwei Bauern und einem Springer, aber der Angriff war zermürbend, und er wusste nicht, wie lange er der Belagerung noch standhalten konnte. Der jüngere Spieler seufzte und bezähmte seine Ungeduld. Ganz behutsam nahm er seinen schwarzen Läufer zwischen Daumen und Zeigefinger und schob ihn auf das richtige Feld. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein jugendliches Gesicht. Jetzt stand es fest: Sein Gegner hatte keinen Ausweg mehr.
»Schach«, verkündete er langsam, bemüht, in seiner Genugtuung nicht die Sünde des Stolzes zu begehen. »Kein Zweifel, Bruder«, sagte der Ordenskomtur. »Ihr habt alle Partien gewonnen. Ihr seid der Bessere.« »Danke für das Kompliment«, antwortete der junge Mann. »Nein, es ist kein Kompliment: Es ist die Wahrheit. Ihr habt ein außergewöhnliches Talent zum Schachspiel. Ich habe Euch beobachtet, seit Ihr ein Kind wart. Meine Mission lautete, den Besten zu finden, und Ihr seid der Beste. Wir brauchen den Besten, um gewinnen zu können ... Und meine Wahl ist auf Euch gefallen.«
»Wann? Wo? Wer wird mein Gegner sein?« »Nur die Ruhe«, flüsterte der Komtur und legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Noch gibt es keine Antworten auf diese Fragen. Nur eines ist sicher: Irgendwann müsst Ihr diese Partie spielen ... Und wir müssen sie gewinnen.«
Eröffnung
1
Der Tag des Erdbebens
Ein Läufer ist jede Lippe, die sich berührt; ein Pferd jeder geschenkte Kuss; Türme sind die Zähne, von der Zeit versteinert; die Zunge das süße, unerwartete Schach. - Enrique González
Das Erdbeben kam an Allerheiligen. Wie jedes Jahr entstaubten die Sevillaner an diesem Tag ihre Samtjacketts und Spitzenmantillen und kleideten sich ganz in Schwarz, vom Hut bis in die Tiefen ihrer Seele, auf dass sich ihr Kummer über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens im Straßenbild widerspiegele. An diesem Tag war es üblich, den Verstorbenen Blumen zu bringen und mit ihnen Zwiesprache zu halten, sie über die jüngsten Vorkommnisse in der Familie und der Gesellschaft in Kenntnis zu setzen und seine Demut durch den Besuch der Messe zu bezeugen. Dann blieb nur noch, auf den nachmittäglichen Imbiss zu warten, bei dem die Sterblichen luftige Windbeutel und Mandelmarzipan verzehrten, Heiligenknochen genannt, die ihrem Namen alle Ehre machten, gefüllt mit zuckrigem Eischnee.
Am Morgen hing ein leichter Nebel in der Luft. Die Menschen tauchten wie Schatten aus dem Dunst auf und gingen schweigend ihrer Wege, um nicht zu viel von der kalten Herbstluft einzuatmen. Sie schienen einem vorgezeichneten Weg zu folgen, einer einstudierten Choreographie, die sie in Gruppen aufteilte: Die einen gingen zum Friedhof am Prado de San Sebastián, andere zum Armenfriedhof, wieder andere zum Kanonikerfriedhof, die Übrigen zum Friedhof von San José in Triana. Doña Julia, die junge Witwe de Haro, machte da keine Ausnahme. Gegen halb zehn am Morgen verließ sie ihr Haus, die Druckerei in der Calle Génova. Sie ging am Arm von Mamita Lula, der schwarzen Dienerin, die im Dienste ihrer Familie stand, seit sie denken konnte. An diesem Tag war Lula mit unruhigem Herzen aufgestanden. »Heute geht die Welt unter«, hatte sie in aller Herrgottsfrühe mit resigniertem Seufzen verkündet, während sie, mit ihrem ausladenden Hinterteil wackelnd, das Frühstückstablett ans Bett der Herrin gebracht hatte.
»Solche Bemerkungen sind der Grund dafür, dass die Leute dir aus dem Weg gehen«, hatte Julia geantwortet, bevor sie lustlos in ihr Brot biss. Den Gerüchten zufolge war Mamita Lula auf einem Sklavenschiff, das nach Elfenbein und Tyrannei roch, nach Sevilla gekommen, eine Angehörige des afrikanischen Stamms der Yoruba, der als Wiege des Voodoo galt. Dünn sei sie gewesen, in ihrem geflochtenen Haar hausten die Flöhe, sie habe eitrige Pusteln an Augen und Lippen gehabt und Laute ausgestoßen wie ein wildes Tier. Doña Julias Vater, der angesehene Apotheker Juan Nepomuceno Gil de la Sierpe, hatte sie auf einem seiner Spaziergänge durch den Hafen entdeckt. Dort hatte er auf die Ankunft eines Schiffes aus Neuspanien gewartet, das endlich ein Wundermittel mitbrächte, um das Sumpffieber zu kurieren, das sich in der Stadt allmählich zu einer Seuche entwickelte. Juan Nepomuceno kannte sich mit Pflanzen aus und war überzeugt, dass es in Übersee Heilkräuter gab, welche die Krankheiten des europäischen Kontinents ausrotten konnten. »Hätte ich keine Familie, die auf mich angewiesen ist, ich würde mich einschiffen und mit Heilmitteln gegen sämtliche Krankheiten zurückkehren. Die Burschen, die in dieses gelobte Land ziehen, sind unkultivierte Esel, die nichts weiter zustande bringen, als sich mit den bedauernswerten Indianern herumzuschlagen«, erklärte er. »Was für eine Verschwendung! Dabei heißt es, dass da drüben sogar unter den Steinen Heilkräuter wachsen! Wir sind völlig auf dem Holzweg. Da schaffen wir Gold und Silber herbei, wo doch die Gesundheit das einzig wahre Gut ist. Was nützt einem alles Geld, wenn man nicht gesund ist?«, sagte er zu seinen Freunden, die lächelnd zu seinen Predigten nickten, allerdings mehr aus Sympathie als aus Überzeugung.
Señor Gil de la Sierpe fühlte sich zum Humanismus hingezogen; die Nächstenliebe war sein oberstes Gebot. Und so erbarmte er sich, als er das schwarze Mädchen in sich zusammengesunken auf einer Kiste stehen sah. Ihre Blöße bedeckte sie mit einem schmutzigen Fetzen Stoff, um den Hals ein rostiges Halseisen, das mit Hand- und Fußfesseln verbunden war, während der Sklavenhändler ihre Vorzüge anpries, als ginge es um einen Sack Gerste. Señor Gil de la Sierpe bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken den geforderten Preis und nahm sie mit nach Hause. Den Protest seiner Frau ignorierte er. Als das Mädchen sauber und neu eingekleidet war, konnten sie feststellen, dass es sich um eine etwa Vierzehnjährige handelte, die nicht einmal ansatzweise mit Messer und Gabel umzugehen wusste. Das einzige Wort, das sie einigermaßen deutlich ein ums andere Mal wiederholte, war »Lula«. Julia, die damals knapp fünf Jahre alt war, war hingerissen von der neuen Mitbewohnerin. Sie nahm sie bei der Hand, und die beiden verschwanden die Treppe hinauf. Zweieinhalb Stunden sah und hörte man nichts mehr von ihnen. Die anderen riefen nach ihnen, suchten sie unter den Betten, auf dem Dachboden, in der Vorratskammer. Doña Julias Mutter warf ihrem Mann vor, er habe eine Menschenfresserin ins Haus geholt, die kleine weiße Kinder verspeise. Bis der Gärtner eine Kleiderspur entdeckte, die von der Küche in den Hinterhof führte. Dort fanden sie die beiden Mädchen, nackt, wie Gott sie erschaffen hatte, lachend, in einem unverständlichen Kauderwelsch plappernd und bis zu den Ohren mit Dreck beschmiert. »Da siehst du, was du mit deinem krankhaften Mitleid angerichtet hast«, herrschte Julias Mutter ihren Mann an, während sie ihre Tochter am Arm wegzerrte und mit ihrem Umschlagtuch bedeckte. »Wir müssen uns diese Brut vom Hals schaffen ... Sie wird eine Wilde aus dem Mädchen machen. Ich will, dass sie unverzüglich dieses Haus verlässt!«
Die Entschlossenheit seiner Frau schien Juan Nepomuceno zu überzeugen. Doch als die kleine Julia sah, dass man sie von ihrer neuen Freundin trennen wollte, bekam sie einen Tobsuchtsanfall. Sie wurde knallrot, warf sich auf den Boden und biss und trat jeden, der sich ihr näherte. Während sie kreischte, schluchzte und lautstark die Nase hochzog, war nur zu verstehen, dass sie in den Fluss springen werde, wenn Lula wegginge.
Im Laufe der Jahre lernte Mamita Lula, mit andalusischem Akzent zu sprechen, und wurde eine treue Dienerin Unserer lieben Frau von den Engeln, der Schutzheiligen der Bruderschaft der armen Neger. Niemand bereitete eine so gute Gazpacho zu wie sie, wobei sie dem Gericht mit Bitterorangen eine eigene Note gab. Allmählich handhabte sie Messer und Gabel gut genug, dass sie keine Gefahr mehr für sich und andere darstellte. Aber die Leute betrachteten sie mit Argwohn, auch wegen der Dinge, die Julias Mutter bei gesellschaftlichen Anlässen erzählte. Sie behauptete, ihre schwarze Dienerin habe unter dem Bett eine mit Nadeln gespickte Puppe versteckt, mit der sie Leuten, die sie nicht mochte, Bauchweh anhexen könne. Mamita Lula war eine gute Beobachterin. Seit über einer Woche hatte sie bemerkt, dass sich die Hunde sonderbar verhielten und nachts den Mond anheulten. Die Vögel, die hoch droben in den Kirchtürmen nisteten, hatten das Weite gesucht und ihre Jungen zurückgelassen, die mit weitaufgerissenen Schnäbeln um Nahrung bettelten. Die Pferde rollten mit den Augen und traten aus, wenn man ihnen die Trense anlegen wollte. Sogar Juan, der alte Bettler, hatte gestern den Verstand verloren. Er kniete mitten auf der Calle Génova, flehte angstvoll den Himmel an und zupfte die vorübergehenden Frauen an den Röcken, während er verkündete, dass Tausende von Menschen den Tod finden würden. Er hörte nicht eher auf, bis die Stadtbüttel kamen. Sie verpassten ihm zwei Ohrfeigen, und als er nicht zu beruhigen war, warfen sie ihn schließlich in den Kerker von Triana, bis der Anfall vorüber war. »Heute geht die Welt unter«, wiederholte Mamita Lula hartnäckig, als sie mit ihrer Herrin zur Kathedrale ging, um an der Allerheiligenmesse teilzunehmen. »Ich weiß es, weil sich die Tiere seltsam verhalten. Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen wie verrückt ...« »Was du nicht sagst!«, entgegnete Julia und fasste sich theatralisch mit der linken Hand an die Wange. »Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen? Wie außergewöhnlich! Da ist Vorsicht geboten ...« »Die Stare sind verschwunden. Seit drei Tagen ist keiner mehr zu sehen. Und ...« »Herrgott, genug jetzt! Diese irren Phantasien machen mich noch wahnsinnig. Wenn du weiter solchen Blödsinn redest, stecke ich dich ins Hospital San Cosme y San Damián - angeblich kümmert man sich dort um Dienstboten wie dich, die den Verstand verloren haben.«
Mamita Lula beschloss, sich auf die Zunge zu beißen, aber die Unruhe brodelte in ihr. Schweigend ging sie weiter, und während sie die Kirchentreppe hinaufstieg, betrachtete sie aus dem Augenwinkel ihre verärgerte Herrin. Vor dem Eingangsportal angekommen, ging Doña Julia voran, um einen Türflügel aufzustoßen. Mamita Lula wartete, während sie mit verschränkten Händen, gerunzelter Stirn und vorgeschobener Unterlippe ihren Weidenkorb umklammerte. »Ja, ja ... nenn mich verrückt«, murmelte sie vor sich hin, als sie über die Schwelle trat, »aber heute geht die Welt unter.« Mamita Lula hasste es, nicht das letzte Wort zu haben, wenn sie doch wusste, dass sie recht hatte. Unter den prüfenden Blicken der Statuen der Heiligen Petrus und Paulus betraten sie die Kathedrale durch das Portal der Gnade. Petrus stand mit düsterer Miene und wirrem Haar zur Linken, die Himmelsschlüssel in der Hand. Direkt daneben befand sich das Gitterfensterchen, durch das man den Pfarrer zur letzten Ölung rief, wenn ein Gläubiger zu einem ungelegenen Zeitpunkt beschlossen hatte, diese Welt zu verlassen. Paulus hielt ein Schwert in seiner Rechten, die Linke hatte er wie ein verwegener Fechter hinter seinem Rücken verborgen. Aber das Auffälligste an ihm war, dass sich diese Hand, die in den Falten seines Gewandes verschwand, auf wundersame Weise zu strecken schien, um unter der Figur wieder aufzutauchen und den Sockel zu tragen. Die beiden Apostel sowie der Erzengel Gabriel, Mariä Verkündigung und das darüberliegende Hochrelief mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel - im klaren Widerspruch zu der weitverbreiteten Tradition, die Stufen der Kathedrale als städtische Warenbörse zu nutzen - waren der christliche Rahmen, der dieses Portal, das das älteste der Kirche war, zusammenhielt. Mit dem Überschreiten der Schwelle betrat man eine fremde Welt, einen Patio mit Orangenbäumen, ehemals der Vorhof der Moschee, wo die Gläubigen an einem Becken, das einmal zu einer antiken römischen Thermenanlage gehört hatte und das immer noch in der Mitte des Patios stand, ihre Waschungen vorgenommen hatten. Im Orangenhof von Sevilla liefen die Wege der Zivilisationen des Mare Nostrum zusammen. Die beiden Frauen überquerten den Hof und wichen den heruntergefallenen Orangen aus, bis sie die Puerta del Lagarto erreichten, die Echsenpforte, wo Mamita Lula unweigerlich nach oben blickte.
»Echse, Echse ...«, sagte sie, während sie mit Zeigefinger und kleinem Finger der rechten Hand ihren Kopf berührte. Die Ärmste war furchtbar abergläubisch. Sie fand es ganz und gar fehl am Platz, dass seit ewigen Zeiten ein ausgestopftes Krokodil von der Decke der Kathedrale hing, das der Sultan von Ägypten König Alfons X. zum Geschenk gemacht hatte, als er um die Hand von dessen Tochter Berenguela anhielt. Der weise König lehnte den Heiratsantrag ab, behielt jedoch das Krokodil, das durch den Duft der Orangenblüten und die sommerliche Hitze nach wenigen Wochen träge und faul wurde. Es lernte, seinen Wächtern aus der Hand zu fressen, und döste unter einem schattigen Baum in der friedlichen Abendstille des königlichen Alcázars vor sich hin. Einige Chroniken versicherten gar, es habe wie ein Schoßhündchen mit seinem gewaltigen Reptilienschwanz gewedelt, wenn es den König herannahen sah. Schließlich hatte man es so liebgewonnen, dass man ihm nach seinem Tod die Innereien entfernte, es mit Stroh ausstopfte und als Glücksbringer in der Kathedrale aufhängte. Durch die Puerta del Lagarto betraten sie die bläuliche Dunkelheit der Kirche, die nur schwach von dem trüben Licht erhellt wurde, das durch die Fenster hineinfiel. Sie gingen über den schwarz-weißen Marmorfußboden, vorbei am Portal der Giralda, der Puerta de los Palos, der Petruskapelle und der königlichen Kapelle. Direkt hinter der Capilla Mayor befand sich die Grabkapelle der Familie López de Haro. Doña Julia löste sich von Mamita Lulas Arm, drückte ihr den Strauß rosafarbener Begonien in die Hand, den sie zu Hause im Patio geschnitten hatten, und nahm den Schlüssel aus der Rocktasche, um das Gitter zu öffnen.
Bevor sie aufschloss, fiel ihr Blick auf die glänzenden, gläsernen Augen des Evangelisten Johannes, Jesu Lieblingsjünger, der mit entrücktem Gesicht auf dem Altar thronte. Ihr verstorbener Gatte hatte ihn sehr verehrt, nicht nur, weil er als Verfasser des vierten Evangeliums der Schutzpatron der Drucker war. Er hatte ihn auch bewundert, weil er es mit heldenhaftem Gleichmut ertragen hatte, als ihn der römische Kaiser Domitian mit einem Krug kochenden Öls übergoss. In den Augen Señor de Haros war dies der Beweis dafür, dass die Drucker selbstlose Märtyrer waren, die seit den Anfängen der Christenheit verfolgt wurden, weil sie unbequeme Wahrheiten schriftlich festhielten. Aber trotz der guten Referenzen des Heiligen fühlte sich Doña Julia beim Anblick dieser in roten Samt gekleideten Steinfigur mit dem langen Echthaar, dem Schmuck aus farbigem Glas und den schamlos roten, mit einer dicken Lackschicht überzogenen Lippen jedes Mal an die Frauen mit dem losen Lebenswandel erinnert, die in den Bordellen am Hafen lebten.
Sie wandte den Blick ab, um sich wieder auf das Schloss zu konzentrieren, und drehte den Schlüssel um. Just in dem Moment, als das Gitter nachgab, begann der Fußboden der Kathedrale zu schwanken wie ein Floß auf einem See aus Öl. Julia wurde schwindlig, und sie klammerte sich an die Gitterstäbe der Tür.
»Gott erbarme dich unser und vergib uns unsere Sünden! Amen!« Mamita Lula bekreuzigte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit. Die Erschütterung dauerte nur einige Sekunden, aber die darauffolgende Stille hielt eine ganze Weile an. Die Besucher der Kathedrale sahen sich fragend an, in der Hoffnung, jemand hätte eine logische Erklärung für das, was soeben vorgefallen war. Doch niemand sagte ein Wort. Als das Schwindelgefühl nachließ, gingen die Gläubigen wieder ihren Beschäftigungen nach, zweifelnd, ob sich der Boden wirklich bewegt hatte.
Doña Julia stieß das Gitter der Kapelle auf, und sie traten ein. Sie nahmen einige Lappen und eine Flasche mit Seifenlauge aus dem Korb, den Mamita Lula trug, und die beiden begannen mit demselben Eifer, mit dem sie zu Hause den Staub von der Anrichte wischten, die Steinplatte zu schrubben, die das Grab des verstorbenen Señor de Haros bedeckte. Als sie sauber war, entfernte Julia die verwelkten Blumen aus den Vasen, die vor dem Bildnis des heiligen Johannes standen, und ersetzte sie durch die, die Mamita Lula ihr reichte. Sie ordnete sie, und als sie fand, dass sie ansehnlich genug aussahen, seufzte sie zufrieden auf. Dann drehte sie sich um und betrachtete die Inschrift auf dem Stein. Sie wollte ihre Gedanken mit frommen Bildern füllen, mit etwas, das mit dem Verstorbenen und seinen irdischen Tugenden zu tun hatte, und wünschte, dass ihr ein Gebet in den Sinn käme. Doch sie konnte an nichts anderes denken als an das, was sie heute noch alles zu erledigen hatte. Trotzdem blieb sie still und reglos vor dem Grab stehen. Sie wollte nicht, dass jemand sah, wie sie allzu eilig den Ort verließ, an dem ihr Gatte seine ewige Ruhe gefunden hatte, und das ausgerechnet an einem solchen Feiertag. Nach einer Zeitspanne, die ihr angemessen erschien, bekreuzigte sie sich, ging mit Mamita Lula hinaus und schloss hinter sich ab. Sie hakten sich wieder unter und gingen zur Capilla Mayor, um sich einen guten Platz zu suchen. Da es ein besonderer Tag war, würde Pater Zacarías die Messe lesen, der blinde Poet, der für seine flammenden Predigten berühmt war. Der Prediger besaß eine große Anzahl von Anhängern, die ihm folgten, als wäre er der Messias. Gewisse Kreise in der Stadt behaupteten, durch seine Blindheit könne er mit den Augen der Seele sehen und tausendmal mehr wahrnehmen als andere Sterbliche. Ihm eilte ein solcher Ruf voraus, dass Doña Julia einen jungen Kopisten anstellte, der sich in die erste Kirchenbank setzte, um seine schönsten Predigten mitzuschreiben. Danach wurden sie in der Druckerei als geheftete Bögen herausgegeben, damit diejenigen, die des Lesens mächtig waren, sie erwerben, studieren, ergründen und in der Stille ihrer Schlafzimmer verinnerlichen konnten. Es machte nichts, wenn jemand die letzte Predigt des dichtenden Paters verpasste, denn dank der Schriften, die Julia de Haro vertrieb, konnte man sie bald, von Musik begleitet, an den Straßenecken der Stadt hören. An diesem Samstag stieg Pater Zacarías mit resignierter Miene auf die Kanzel. »Brüder und Schwestern«, begann er mit wehleidiger Stimme.
»Gerne würde ich euch versichern, dass sich alle Seelen, die dieses Jammertal verlassen haben, im Himmel befinden.« Er machte eine Pause. Dann änderte sich sein Ton. Ein Mann in der dritten Reihe, dem der Kopf auf die Brust gesunken war, schreckte mit angstgeweiteten Augen aus dem Schlaf hoch, als er brüllte: »Aber das kann ich nicht! Der Mensch ist eitel, hochmütig und böse ... Deshalb gibt es die Verdammnis. Die Hölle!«, wetterte er mit erhobener Faust.
Den Frauen stockte der Atem, die Männer rissen die Augen auf und schlangen die Hände fest um die Knie. Aber die Predigten folgten einer einstudierten Abfolge von Strenge und Milde. Wenn Pater Zacarías merkte, dass sein Publikum fast verging vor Angst, wartete er ein wenig, zögerte diesen Moment wohligen Leidens heraus und legte dann seine düstere Miene ab, um zu beruhigen, dass es noch Anlass zur Hoffnung gebe.
Julia kannte den Ablauf der Predigten genau und ließ sich nicht beeindrucken. Sie war davon überzeugt, dass sie vor Gott eine bessere Christin war, wenn sie fünf Minuten am Tag persönliche Zwiesprache mit ihm hielt, statt stets gebannt zuzuhören, wenn von ihm geredet wurde. Doch da sie sicher war, dass nur wenige ihre Einstellung verstünden, setzte sie sich in die zweite Reihe, um gesehen zu werden. Hier war sie nur einen Steinwurf von dem Prediger entfernt, und die Leute in den Nachbarbänken wurden Zeuge ihrer ernsten Miene, die den Kummer um den Tod des Ehemannes widerspiegelte - die Ärmste, so jung, er hat
ihr keine Kinder hinterlassen, dafür aber ein so schwieriges Geschäft. Die zu spät Gekommenen, die in den hinteren Bänken saßen, konnten sie an dem tief sitzenden kastanienfarbenen Haarknoten ausmachen, der ihren schlanken Hals betonte. Doña Julia war selbst aus der Entfernung unverwechselbar. Stets in Schwarz gekleidet, groß, schlank, das Gesicht noch frisch und rosig, der Körper straff und wohlgeformt, der Rücken stets kerzengerade, Ausdruck ihres stolzen Wesens, so bescheiden sie sich auch in der Öffentlichkeit geben mochte. Als Pater Zacarías an die Stelle mit der Auferstehung der Toten
kam, musste sie gähnen. Sie versuchte es hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, aber dennoch entwischte ihr ein Geräusch, das wie das Maunzen einer Katze klang. Die Leute in der ersten Reihe drehten sich zu ihr um. Mamita Lula seufzte vernehmlich, um abzulenken, und tätschelte ihr die Schulter. Einige hielten die Laute der Frauen für ein frommes Schluchzen in Gedenken an den vor fünf Jahren verstorbenen Ehemann und bedachten
sie mit mitleidigen Blicken. Julia nickte dankbar. Sie wünschte, die Messe ginge zu Ende. In der Druckerei waren tausend Aufträge zu erledigen: eine Schilderung des Kampfs zwischen den Heeren König Ferdinands VI. und der mohammedanischen Sekte in Ceuta, eine Neuauflage der Zarzuela Das Urteil des Paris und Der Raub der Helena, der Brief des Grafen Nolegar Giatamor über die letzte Erhebung von Toren und Schwachköpfen ... Sie wäre gerne nach Hause gegangen, hätte die Schuhe abgestreift und sich in den Patio gesetzt, um den intensiven Duft der Geranien einzuatmen, der sie immer an den Geruch alter Bücher erinnerte. Von dort konnte sie problemlos beobachten, was in der Druckerei vor sich ging. Sie genoss das gleichmäßige Rattern der neuen Druckerpresse, die sie aus Genua hatte kommen lassen, eine wirklich moderne Maschine, wie sie bis dato in Sevilla unbekannt gewesen war. Sie war mit Federn versehen, damit sich die Platte rasch heben ließ, und konnte zweihundertfünfzig Exemplare pro Stunde herstellen. Durch sie würde die Druckerei die beste der ganzen Stadt sein.
Vor allem aber brannte Julia darauf, Leóns Gestalt zwischen den übrigen Angestellten zu sehen. Die Linie seines Kinns, seine meerblauen Augen, die straffe Muskulatur seiner Arme. Am Anfang hatte sie darauf geachtet, dass der junge Mann ihr Interesse nicht bemerkte, aber mittlerweile war es ihr egal, ob er ihren Blick im Nacken spürte und sich umdrehte. Wenn León sie dabei ertappte, wie sie mit dem strengen Gesichtsausdruck der Patronin, die die Arbeit ihres Personals überwachte, gebannt im Schatten saß und seine Wege und Handgriffe verfolgte, hielt er ebenfalls inne und erwiderte ihren Blick. Nicht herausfordernd, eher fragend. Julias Augen faszinierten ihn; bei diesem Messen mit Blicken blieb normalerweise sie die Siegerin. Er senkte dann verwirrt die Augen und setzte mit einem leisen Lächeln auf den Lippen seine Arbeit fort. Erst wenn León aufhörte, sie anzusehen, begann sie wieder zu atmen.
Keiner wusste, woher León gekommen war. Vor Monaten war er aus dem Nichts aufgetaucht, eingehüllt in den Schleier des Geheimnisvollen. Eines Tages war er um die Kathedrale herumgeschlendert wie ein Seemann auf Landurlaub. Er hatte langes, fast weißblondes Haar, wahrscheinlich gebleicht vom Salz und der sengenden Mittagssonne. Er war betörend schön. Die meisten, die sich mit ihm unterhielten, konnten dem Nachdruck seiner himmelblauen Augen nicht standhalten und sahen schließlich zu Boden. León war einer dieser Menschen, die man als Normalsterblicher nicht so schnell vergaß. Seine Gestalt einer griechischen Statue, sein Schweigen, seine langsamen, sicheren Bewegungen betonten nur noch diese Aura des Unergründlichen, welche die Ängstlichen bedrückte und die Unerschrockenen faszinierte. Böse Zungen behaupteten, León habe zur Besatzung eines Schiffes gehört, das unter der Flagge mit dem Totenkopf und den zwei gekreuzten Knochen fuhr und dem Befehl des Piraten Calico Jack unterstand. Die Männer von der Brigantine, mit der er nach Sevilla gekommen war, berichteten alkoholselig in einer Hafenkneipe, was er ihnen während der Überfahrt erzählt habe: Er behauptete, auf der Insel Malta geboren zu sein, wo ihn die Türken entführt und ihm den Namen Asad gegeben hätten, die arabische Entsprechung für León. Eine Geschichte, die den Schwarzsehern unter ihnen die Haare zu Berge stehen ließ. Die Erwähnung von Piratenschiffen, türkischen Soldaten und stürmischer See rief Erinnerungen an die Wikinger wach, die im Jahre 844 mit ihrem blonden Haar und ihrer ungestümen nordischen Art den Guadalquivir hinaufgekommen waren, um unter Ausnutzung des gutgläubigen Charakters der Sevillaner in weniger als einer Woche die Stadt zu verwüsten. »Dieser Junge ... der ist nicht von hier«, bemerkten die Älteren. »Auf den muss man ein Auge haben.«
Julia erinnerte sich noch genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Cristóbal Zapata, der Druckermeister, war ausgegangen, um einige Dinge zu erledigen, und sie war dageblieben, um die Geschäfte zu beaufsichtigen. Nie würde sie den Anblick dieses Bilderbuchkorsaren vergessen, der durch die Tür der Werkstatt gekommen war. Noch nie hatte sie die Schönheit eines Menschen so tief berührt. »Ich suche Don Diego de Haro«, stellte er sich vor, als er die Druckerei betrat. »Mein Name ist León. León de Montenegro.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Ihr kommt zu spät. Mein Mann ist vor fast fünf Jahren gestorben«, erklärte sie. »Kann ich Euch vielleicht helfen?« Er schien überrascht zu sein. Doch dann holte er tief Luft und sprach weiter. »Ich suche Arbeit.« »Das hier ist eine Druckerei«, sagte sie. »Kennst du dich in der Druckkunst aus?« »Ich kann es lernen.« Der Setzer, der schon immer für Señor de Haro gearbeitet
hatte, wurde langsam alt und begann, das Augenlicht zu verlieren. Er verwechselte das »l« mit dem »f« und dieses mit dem »j«, außerdem zitterten seine Hände, wenn er den Setzkasten benutzte. Während der Arbeit musste er sitzen, weil seine Knie nachgaben. Julia beobachtete ihn schon seit geraumer Zeit, überzeugt, dass sie früher oder später jemanden suchen musste, der seine Aufgaben übernahm. Aber um Setzer zu sein, brauchte man einige Übung und eine lange Ausbildung. Der Setzer war die Seele einer Druckerei. Er bestimmte den Stil der Werkstatt, er musste gute technische Kenntnisse besitzen und die Rechtschreibung perfekt beherrschen. Setzer waren Kopisten. Sie hatten die gleiche Aufgabe und die gleiche Verantwortung wie die Schreiber des Mittelalters. Zuerst mussten sie einen Ausschnitt des Originaltextes lesen, ihn auswendig lernen und dann niederschreiben. Der einzige Unterschied war, dass die einen dabei eine Feder benutzten und die anderen Lettern aus Metall. »Kannst du lesen und schreiben?«, wollte Julia von León wissen und sah ihn herablassend an. »In vier Sprachen«, antwortete er ohne Überheblichkeit. »Es muss Kastilisch sein, und zwar fehlerfrei.« »Kein Problem.« Julia nahm León als Setzerlehrling auf, ohne Referenzen von ihm zu verlangen, und ließ ihn unter dem Vorwand, dass rund um die Uhr ein Mann im Haus anwesend sein sollte, im Keller wohnen. Als Cristóbal Zapata zurückkehrte und von der Entscheidung erfuhr, die Doña Julia in seiner Abwesenheit getroffen hatte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Er betonte, dass es seit Señor de Haros Tod in seiner Verantwortung als Druckermeister liege, darüber zu entscheiden, wer angestellt wurde und wer nicht, sowie das Geschäft und die Herrin des Hauses wie ein Schießhund zu bewachen. Zudem wies er darauf hin, dass es dem Ansehen einer Frau - erst recht einer Witwe - nicht zugute kam, einen jungen Mann zweifelhafter Herkunft und mit dem Körper eines Adonis unter ihrem Dach aufzunehmen.
»Ich bin die Chefin dieser Druckerei«, warf sie ihm entgegen, in den Augen eine Leidenschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, »und ich kann tun und lassen, wonach mir der Sinn steht.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Schon lange saßen sie da und spielten Schach. Das Schlagen der Glocken und der Duft von heißer Milch und frisch geröstetem Brot erinnerte sie daran, dass es Morgen war und sie seit Beginn der Partie nichts gegessen hatten. Der Ort wirkte ebenso geheimnisvoll wie die alten römischen Katakomben. Auf den langen Tischen ringsum befanden sich ohne offensichtliche Ordnung Aktenbündel, Bücher, Mappen, Notizen und eine Reihe von Schachbrettern, die ungeduldig darauf warteten, sich wieder in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Die dicken steinernen Mauern waren mit Fresken geschmückt, die weltliche Szenen zeigten: unterschiedliche Darstellungen der Giralda im Laufe der Zeit, Schiffe, die gegen Stürme ankämpften, Ritter, die mit erhobenem Schwert auf den Gegner einrannten, belagerte Zinnen ... Vielleicht war das der Grund, warum die Ordensbrüder diesen Raum den »Krak des Chevaliers« nannten.
Die beiden Gegner maßen sich mit Blicken. Der weiße König war in Gefahr. Bedroht von der unerschrockenen schwarzen Dame, verschanzte er sich hinter zwei Bauern und einem Springer, aber der Angriff war zermürbend, und er wusste nicht, wie lange er der Belagerung noch standhalten konnte. Der jüngere Spieler seufzte und bezähmte seine Ungeduld. Ganz behutsam nahm er seinen schwarzen Läufer zwischen Daumen und Zeigefinger und schob ihn auf das richtige Feld. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein jugendliches Gesicht. Jetzt stand es fest: Sein Gegner hatte keinen Ausweg mehr.
»Schach«, verkündete er langsam, bemüht, in seiner Genugtuung nicht die Sünde des Stolzes zu begehen. »Kein Zweifel, Bruder«, sagte der Ordenskomtur. »Ihr habt alle Partien gewonnen. Ihr seid der Bessere.« »Danke für das Kompliment«, antwortete der junge Mann. »Nein, es ist kein Kompliment: Es ist die Wahrheit. Ihr habt ein außergewöhnliches Talent zum Schachspiel. Ich habe Euch beobachtet, seit Ihr ein Kind wart. Meine Mission lautete, den Besten zu finden, und Ihr seid der Beste. Wir brauchen den Besten, um gewinnen zu können ... Und meine Wahl ist auf Euch gefallen.«
»Wann? Wo? Wer wird mein Gegner sein?« »Nur die Ruhe«, flüsterte der Komtur und legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Noch gibt es keine Antworten auf diese Fragen. Nur eines ist sicher: Irgendwann müsst Ihr diese Partie spielen ... Und wir müssen sie gewinnen.«
Eröffnung
1
Der Tag des Erdbebens
Ein Läufer ist jede Lippe, die sich berührt; ein Pferd jeder geschenkte Kuss; Türme sind die Zähne, von der Zeit versteinert; die Zunge das süße, unerwartete Schach. - Enrique González
Das Erdbeben kam an Allerheiligen. Wie jedes Jahr entstaubten die Sevillaner an diesem Tag ihre Samtjacketts und Spitzenmantillen und kleideten sich ganz in Schwarz, vom Hut bis in die Tiefen ihrer Seele, auf dass sich ihr Kummer über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens im Straßenbild widerspiegele. An diesem Tag war es üblich, den Verstorbenen Blumen zu bringen und mit ihnen Zwiesprache zu halten, sie über die jüngsten Vorkommnisse in der Familie und der Gesellschaft in Kenntnis zu setzen und seine Demut durch den Besuch der Messe zu bezeugen. Dann blieb nur noch, auf den nachmittäglichen Imbiss zu warten, bei dem die Sterblichen luftige Windbeutel und Mandelmarzipan verzehrten, Heiligenknochen genannt, die ihrem Namen alle Ehre machten, gefüllt mit zuckrigem Eischnee.
Am Morgen hing ein leichter Nebel in der Luft. Die Menschen tauchten wie Schatten aus dem Dunst auf und gingen schweigend ihrer Wege, um nicht zu viel von der kalten Herbstluft einzuatmen. Sie schienen einem vorgezeichneten Weg zu folgen, einer einstudierten Choreographie, die sie in Gruppen aufteilte: Die einen gingen zum Friedhof am Prado de San Sebastián, andere zum Armenfriedhof, wieder andere zum Kanonikerfriedhof, die Übrigen zum Friedhof von San José in Triana. Doña Julia, die junge Witwe de Haro, machte da keine Ausnahme. Gegen halb zehn am Morgen verließ sie ihr Haus, die Druckerei in der Calle Génova. Sie ging am Arm von Mamita Lula, der schwarzen Dienerin, die im Dienste ihrer Familie stand, seit sie denken konnte. An diesem Tag war Lula mit unruhigem Herzen aufgestanden. »Heute geht die Welt unter«, hatte sie in aller Herrgottsfrühe mit resigniertem Seufzen verkündet, während sie, mit ihrem ausladenden Hinterteil wackelnd, das Frühstückstablett ans Bett der Herrin gebracht hatte.
»Solche Bemerkungen sind der Grund dafür, dass die Leute dir aus dem Weg gehen«, hatte Julia geantwortet, bevor sie lustlos in ihr Brot biss. Den Gerüchten zufolge war Mamita Lula auf einem Sklavenschiff, das nach Elfenbein und Tyrannei roch, nach Sevilla gekommen, eine Angehörige des afrikanischen Stamms der Yoruba, der als Wiege des Voodoo galt. Dünn sei sie gewesen, in ihrem geflochtenen Haar hausten die Flöhe, sie habe eitrige Pusteln an Augen und Lippen gehabt und Laute ausgestoßen wie ein wildes Tier. Doña Julias Vater, der angesehene Apotheker Juan Nepomuceno Gil de la Sierpe, hatte sie auf einem seiner Spaziergänge durch den Hafen entdeckt. Dort hatte er auf die Ankunft eines Schiffes aus Neuspanien gewartet, das endlich ein Wundermittel mitbrächte, um das Sumpffieber zu kurieren, das sich in der Stadt allmählich zu einer Seuche entwickelte. Juan Nepomuceno kannte sich mit Pflanzen aus und war überzeugt, dass es in Übersee Heilkräuter gab, welche die Krankheiten des europäischen Kontinents ausrotten konnten. »Hätte ich keine Familie, die auf mich angewiesen ist, ich würde mich einschiffen und mit Heilmitteln gegen sämtliche Krankheiten zurückkehren. Die Burschen, die in dieses gelobte Land ziehen, sind unkultivierte Esel, die nichts weiter zustande bringen, als sich mit den bedauernswerten Indianern herumzuschlagen«, erklärte er. »Was für eine Verschwendung! Dabei heißt es, dass da drüben sogar unter den Steinen Heilkräuter wachsen! Wir sind völlig auf dem Holzweg. Da schaffen wir Gold und Silber herbei, wo doch die Gesundheit das einzig wahre Gut ist. Was nützt einem alles Geld, wenn man nicht gesund ist?«, sagte er zu seinen Freunden, die lächelnd zu seinen Predigten nickten, allerdings mehr aus Sympathie als aus Überzeugung.
Señor Gil de la Sierpe fühlte sich zum Humanismus hingezogen; die Nächstenliebe war sein oberstes Gebot. Und so erbarmte er sich, als er das schwarze Mädchen in sich zusammengesunken auf einer Kiste stehen sah. Ihre Blöße bedeckte sie mit einem schmutzigen Fetzen Stoff, um den Hals ein rostiges Halseisen, das mit Hand- und Fußfesseln verbunden war, während der Sklavenhändler ihre Vorzüge anpries, als ginge es um einen Sack Gerste. Señor Gil de la Sierpe bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken den geforderten Preis und nahm sie mit nach Hause. Den Protest seiner Frau ignorierte er. Als das Mädchen sauber und neu eingekleidet war, konnten sie feststellen, dass es sich um eine etwa Vierzehnjährige handelte, die nicht einmal ansatzweise mit Messer und Gabel umzugehen wusste. Das einzige Wort, das sie einigermaßen deutlich ein ums andere Mal wiederholte, war »Lula«. Julia, die damals knapp fünf Jahre alt war, war hingerissen von der neuen Mitbewohnerin. Sie nahm sie bei der Hand, und die beiden verschwanden die Treppe hinauf. Zweieinhalb Stunden sah und hörte man nichts mehr von ihnen. Die anderen riefen nach ihnen, suchten sie unter den Betten, auf dem Dachboden, in der Vorratskammer. Doña Julias Mutter warf ihrem Mann vor, er habe eine Menschenfresserin ins Haus geholt, die kleine weiße Kinder verspeise. Bis der Gärtner eine Kleiderspur entdeckte, die von der Küche in den Hinterhof führte. Dort fanden sie die beiden Mädchen, nackt, wie Gott sie erschaffen hatte, lachend, in einem unverständlichen Kauderwelsch plappernd und bis zu den Ohren mit Dreck beschmiert. »Da siehst du, was du mit deinem krankhaften Mitleid angerichtet hast«, herrschte Julias Mutter ihren Mann an, während sie ihre Tochter am Arm wegzerrte und mit ihrem Umschlagtuch bedeckte. »Wir müssen uns diese Brut vom Hals schaffen ... Sie wird eine Wilde aus dem Mädchen machen. Ich will, dass sie unverzüglich dieses Haus verlässt!«
Die Entschlossenheit seiner Frau schien Juan Nepomuceno zu überzeugen. Doch als die kleine Julia sah, dass man sie von ihrer neuen Freundin trennen wollte, bekam sie einen Tobsuchtsanfall. Sie wurde knallrot, warf sich auf den Boden und biss und trat jeden, der sich ihr näherte. Während sie kreischte, schluchzte und lautstark die Nase hochzog, war nur zu verstehen, dass sie in den Fluss springen werde, wenn Lula wegginge.
Im Laufe der Jahre lernte Mamita Lula, mit andalusischem Akzent zu sprechen, und wurde eine treue Dienerin Unserer lieben Frau von den Engeln, der Schutzheiligen der Bruderschaft der armen Neger. Niemand bereitete eine so gute Gazpacho zu wie sie, wobei sie dem Gericht mit Bitterorangen eine eigene Note gab. Allmählich handhabte sie Messer und Gabel gut genug, dass sie keine Gefahr mehr für sich und andere darstellte. Aber die Leute betrachteten sie mit Argwohn, auch wegen der Dinge, die Julias Mutter bei gesellschaftlichen Anlässen erzählte. Sie behauptete, ihre schwarze Dienerin habe unter dem Bett eine mit Nadeln gespickte Puppe versteckt, mit der sie Leuten, die sie nicht mochte, Bauchweh anhexen könne. Mamita Lula war eine gute Beobachterin. Seit über einer Woche hatte sie bemerkt, dass sich die Hunde sonderbar verhielten und nachts den Mond anheulten. Die Vögel, die hoch droben in den Kirchtürmen nisteten, hatten das Weite gesucht und ihre Jungen zurückgelassen, die mit weitaufgerissenen Schnäbeln um Nahrung bettelten. Die Pferde rollten mit den Augen und traten aus, wenn man ihnen die Trense anlegen wollte. Sogar Juan, der alte Bettler, hatte gestern den Verstand verloren. Er kniete mitten auf der Calle Génova, flehte angstvoll den Himmel an und zupfte die vorübergehenden Frauen an den Röcken, während er verkündete, dass Tausende von Menschen den Tod finden würden. Er hörte nicht eher auf, bis die Stadtbüttel kamen. Sie verpassten ihm zwei Ohrfeigen, und als er nicht zu beruhigen war, warfen sie ihn schließlich in den Kerker von Triana, bis der Anfall vorüber war. »Heute geht die Welt unter«, wiederholte Mamita Lula hartnäckig, als sie mit ihrer Herrin zur Kathedrale ging, um an der Allerheiligenmesse teilzunehmen. »Ich weiß es, weil sich die Tiere seltsam verhalten. Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen wie verrückt ...« »Was du nicht sagst!«, entgegnete Julia und fasste sich theatralisch mit der linken Hand an die Wange. »Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen? Wie außergewöhnlich! Da ist Vorsicht geboten ...« »Die Stare sind verschwunden. Seit drei Tagen ist keiner mehr zu sehen. Und ...« »Herrgott, genug jetzt! Diese irren Phantasien machen mich noch wahnsinnig. Wenn du weiter solchen Blödsinn redest, stecke ich dich ins Hospital San Cosme y San Damián - angeblich kümmert man sich dort um Dienstboten wie dich, die den Verstand verloren haben.«
Mamita Lula beschloss, sich auf die Zunge zu beißen, aber die Unruhe brodelte in ihr. Schweigend ging sie weiter, und während sie die Kirchentreppe hinaufstieg, betrachtete sie aus dem Augenwinkel ihre verärgerte Herrin. Vor dem Eingangsportal angekommen, ging Doña Julia voran, um einen Türflügel aufzustoßen. Mamita Lula wartete, während sie mit verschränkten Händen, gerunzelter Stirn und vorgeschobener Unterlippe ihren Weidenkorb umklammerte. »Ja, ja ... nenn mich verrückt«, murmelte sie vor sich hin, als sie über die Schwelle trat, »aber heute geht die Welt unter.« Mamita Lula hasste es, nicht das letzte Wort zu haben, wenn sie doch wusste, dass sie recht hatte. Unter den prüfenden Blicken der Statuen der Heiligen Petrus und Paulus betraten sie die Kathedrale durch das Portal der Gnade. Petrus stand mit düsterer Miene und wirrem Haar zur Linken, die Himmelsschlüssel in der Hand. Direkt daneben befand sich das Gitterfensterchen, durch das man den Pfarrer zur letzten Ölung rief, wenn ein Gläubiger zu einem ungelegenen Zeitpunkt beschlossen hatte, diese Welt zu verlassen. Paulus hielt ein Schwert in seiner Rechten, die Linke hatte er wie ein verwegener Fechter hinter seinem Rücken verborgen. Aber das Auffälligste an ihm war, dass sich diese Hand, die in den Falten seines Gewandes verschwand, auf wundersame Weise zu strecken schien, um unter der Figur wieder aufzutauchen und den Sockel zu tragen. Die beiden Apostel sowie der Erzengel Gabriel, Mariä Verkündigung und das darüberliegende Hochrelief mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel - im klaren Widerspruch zu der weitverbreiteten Tradition, die Stufen der Kathedrale als städtische Warenbörse zu nutzen - waren der christliche Rahmen, der dieses Portal, das das älteste der Kirche war, zusammenhielt. Mit dem Überschreiten der Schwelle betrat man eine fremde Welt, einen Patio mit Orangenbäumen, ehemals der Vorhof der Moschee, wo die Gläubigen an einem Becken, das einmal zu einer antiken römischen Thermenanlage gehört hatte und das immer noch in der Mitte des Patios stand, ihre Waschungen vorgenommen hatten. Im Orangenhof von Sevilla liefen die Wege der Zivilisationen des Mare Nostrum zusammen. Die beiden Frauen überquerten den Hof und wichen den heruntergefallenen Orangen aus, bis sie die Puerta del Lagarto erreichten, die Echsenpforte, wo Mamita Lula unweigerlich nach oben blickte.
»Echse, Echse ...«, sagte sie, während sie mit Zeigefinger und kleinem Finger der rechten Hand ihren Kopf berührte. Die Ärmste war furchtbar abergläubisch. Sie fand es ganz und gar fehl am Platz, dass seit ewigen Zeiten ein ausgestopftes Krokodil von der Decke der Kathedrale hing, das der Sultan von Ägypten König Alfons X. zum Geschenk gemacht hatte, als er um die Hand von dessen Tochter Berenguela anhielt. Der weise König lehnte den Heiratsantrag ab, behielt jedoch das Krokodil, das durch den Duft der Orangenblüten und die sommerliche Hitze nach wenigen Wochen träge und faul wurde. Es lernte, seinen Wächtern aus der Hand zu fressen, und döste unter einem schattigen Baum in der friedlichen Abendstille des königlichen Alcázars vor sich hin. Einige Chroniken versicherten gar, es habe wie ein Schoßhündchen mit seinem gewaltigen Reptilienschwanz gewedelt, wenn es den König herannahen sah. Schließlich hatte man es so liebgewonnen, dass man ihm nach seinem Tod die Innereien entfernte, es mit Stroh ausstopfte und als Glücksbringer in der Kathedrale aufhängte. Durch die Puerta del Lagarto betraten sie die bläuliche Dunkelheit der Kirche, die nur schwach von dem trüben Licht erhellt wurde, das durch die Fenster hineinfiel. Sie gingen über den schwarz-weißen Marmorfußboden, vorbei am Portal der Giralda, der Puerta de los Palos, der Petruskapelle und der königlichen Kapelle. Direkt hinter der Capilla Mayor befand sich die Grabkapelle der Familie López de Haro. Doña Julia löste sich von Mamita Lulas Arm, drückte ihr den Strauß rosafarbener Begonien in die Hand, den sie zu Hause im Patio geschnitten hatten, und nahm den Schlüssel aus der Rocktasche, um das Gitter zu öffnen.
Bevor sie aufschloss, fiel ihr Blick auf die glänzenden, gläsernen Augen des Evangelisten Johannes, Jesu Lieblingsjünger, der mit entrücktem Gesicht auf dem Altar thronte. Ihr verstorbener Gatte hatte ihn sehr verehrt, nicht nur, weil er als Verfasser des vierten Evangeliums der Schutzpatron der Drucker war. Er hatte ihn auch bewundert, weil er es mit heldenhaftem Gleichmut ertragen hatte, als ihn der römische Kaiser Domitian mit einem Krug kochenden Öls übergoss. In den Augen Señor de Haros war dies der Beweis dafür, dass die Drucker selbstlose Märtyrer waren, die seit den Anfängen der Christenheit verfolgt wurden, weil sie unbequeme Wahrheiten schriftlich festhielten. Aber trotz der guten Referenzen des Heiligen fühlte sich Doña Julia beim Anblick dieser in roten Samt gekleideten Steinfigur mit dem langen Echthaar, dem Schmuck aus farbigem Glas und den schamlos roten, mit einer dicken Lackschicht überzogenen Lippen jedes Mal an die Frauen mit dem losen Lebenswandel erinnert, die in den Bordellen am Hafen lebten.
Sie wandte den Blick ab, um sich wieder auf das Schloss zu konzentrieren, und drehte den Schlüssel um. Just in dem Moment, als das Gitter nachgab, begann der Fußboden der Kathedrale zu schwanken wie ein Floß auf einem See aus Öl. Julia wurde schwindlig, und sie klammerte sich an die Gitterstäbe der Tür.
»Gott erbarme dich unser und vergib uns unsere Sünden! Amen!« Mamita Lula bekreuzigte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit. Die Erschütterung dauerte nur einige Sekunden, aber die darauffolgende Stille hielt eine ganze Weile an. Die Besucher der Kathedrale sahen sich fragend an, in der Hoffnung, jemand hätte eine logische Erklärung für das, was soeben vorgefallen war. Doch niemand sagte ein Wort. Als das Schwindelgefühl nachließ, gingen die Gläubigen wieder ihren Beschäftigungen nach, zweifelnd, ob sich der Boden wirklich bewegt hatte.
Doña Julia stieß das Gitter der Kapelle auf, und sie traten ein. Sie nahmen einige Lappen und eine Flasche mit Seifenlauge aus dem Korb, den Mamita Lula trug, und die beiden begannen mit demselben Eifer, mit dem sie zu Hause den Staub von der Anrichte wischten, die Steinplatte zu schrubben, die das Grab des verstorbenen Señor de Haros bedeckte. Als sie sauber war, entfernte Julia die verwelkten Blumen aus den Vasen, die vor dem Bildnis des heiligen Johannes standen, und ersetzte sie durch die, die Mamita Lula ihr reichte. Sie ordnete sie, und als sie fand, dass sie ansehnlich genug aussahen, seufzte sie zufrieden auf. Dann drehte sie sich um und betrachtete die Inschrift auf dem Stein. Sie wollte ihre Gedanken mit frommen Bildern füllen, mit etwas, das mit dem Verstorbenen und seinen irdischen Tugenden zu tun hatte, und wünschte, dass ihr ein Gebet in den Sinn käme. Doch sie konnte an nichts anderes denken als an das, was sie heute noch alles zu erledigen hatte. Trotzdem blieb sie still und reglos vor dem Grab stehen. Sie wollte nicht, dass jemand sah, wie sie allzu eilig den Ort verließ, an dem ihr Gatte seine ewige Ruhe gefunden hatte, und das ausgerechnet an einem solchen Feiertag. Nach einer Zeitspanne, die ihr angemessen erschien, bekreuzigte sie sich, ging mit Mamita Lula hinaus und schloss hinter sich ab. Sie hakten sich wieder unter und gingen zur Capilla Mayor, um sich einen guten Platz zu suchen. Da es ein besonderer Tag war, würde Pater Zacarías die Messe lesen, der blinde Poet, der für seine flammenden Predigten berühmt war. Der Prediger besaß eine große Anzahl von Anhängern, die ihm folgten, als wäre er der Messias. Gewisse Kreise in der Stadt behaupteten, durch seine Blindheit könne er mit den Augen der Seele sehen und tausendmal mehr wahrnehmen als andere Sterbliche. Ihm eilte ein solcher Ruf voraus, dass Doña Julia einen jungen Kopisten anstellte, der sich in die erste Kirchenbank setzte, um seine schönsten Predigten mitzuschreiben. Danach wurden sie in der Druckerei als geheftete Bögen herausgegeben, damit diejenigen, die des Lesens mächtig waren, sie erwerben, studieren, ergründen und in der Stille ihrer Schlafzimmer verinnerlichen konnten. Es machte nichts, wenn jemand die letzte Predigt des dichtenden Paters verpasste, denn dank der Schriften, die Julia de Haro vertrieb, konnte man sie bald, von Musik begleitet, an den Straßenecken der Stadt hören. An diesem Samstag stieg Pater Zacarías mit resignierter Miene auf die Kanzel. »Brüder und Schwestern«, begann er mit wehleidiger Stimme.
»Gerne würde ich euch versichern, dass sich alle Seelen, die dieses Jammertal verlassen haben, im Himmel befinden.« Er machte eine Pause. Dann änderte sich sein Ton. Ein Mann in der dritten Reihe, dem der Kopf auf die Brust gesunken war, schreckte mit angstgeweiteten Augen aus dem Schlaf hoch, als er brüllte: »Aber das kann ich nicht! Der Mensch ist eitel, hochmütig und böse ... Deshalb gibt es die Verdammnis. Die Hölle!«, wetterte er mit erhobener Faust.
Den Frauen stockte der Atem, die Männer rissen die Augen auf und schlangen die Hände fest um die Knie. Aber die Predigten folgten einer einstudierten Abfolge von Strenge und Milde. Wenn Pater Zacarías merkte, dass sein Publikum fast verging vor Angst, wartete er ein wenig, zögerte diesen Moment wohligen Leidens heraus und legte dann seine düstere Miene ab, um zu beruhigen, dass es noch Anlass zur Hoffnung gebe.
Julia kannte den Ablauf der Predigten genau und ließ sich nicht beeindrucken. Sie war davon überzeugt, dass sie vor Gott eine bessere Christin war, wenn sie fünf Minuten am Tag persönliche Zwiesprache mit ihm hielt, statt stets gebannt zuzuhören, wenn von ihm geredet wurde. Doch da sie sicher war, dass nur wenige ihre Einstellung verstünden, setzte sie sich in die zweite Reihe, um gesehen zu werden. Hier war sie nur einen Steinwurf von dem Prediger entfernt, und die Leute in den Nachbarbänken wurden Zeuge ihrer ernsten Miene, die den Kummer um den Tod des Ehemannes widerspiegelte - die Ärmste, so jung, er hat
ihr keine Kinder hinterlassen, dafür aber ein so schwieriges Geschäft. Die zu spät Gekommenen, die in den hinteren Bänken saßen, konnten sie an dem tief sitzenden kastanienfarbenen Haarknoten ausmachen, der ihren schlanken Hals betonte. Doña Julia war selbst aus der Entfernung unverwechselbar. Stets in Schwarz gekleidet, groß, schlank, das Gesicht noch frisch und rosig, der Körper straff und wohlgeformt, der Rücken stets kerzengerade, Ausdruck ihres stolzen Wesens, so bescheiden sie sich auch in der Öffentlichkeit geben mochte. Als Pater Zacarías an die Stelle mit der Auferstehung der Toten
kam, musste sie gähnen. Sie versuchte es hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, aber dennoch entwischte ihr ein Geräusch, das wie das Maunzen einer Katze klang. Die Leute in der ersten Reihe drehten sich zu ihr um. Mamita Lula seufzte vernehmlich, um abzulenken, und tätschelte ihr die Schulter. Einige hielten die Laute der Frauen für ein frommes Schluchzen in Gedenken an den vor fünf Jahren verstorbenen Ehemann und bedachten
sie mit mitleidigen Blicken. Julia nickte dankbar. Sie wünschte, die Messe ginge zu Ende. In der Druckerei waren tausend Aufträge zu erledigen: eine Schilderung des Kampfs zwischen den Heeren König Ferdinands VI. und der mohammedanischen Sekte in Ceuta, eine Neuauflage der Zarzuela Das Urteil des Paris und Der Raub der Helena, der Brief des Grafen Nolegar Giatamor über die letzte Erhebung von Toren und Schwachköpfen ... Sie wäre gerne nach Hause gegangen, hätte die Schuhe abgestreift und sich in den Patio gesetzt, um den intensiven Duft der Geranien einzuatmen, der sie immer an den Geruch alter Bücher erinnerte. Von dort konnte sie problemlos beobachten, was in der Druckerei vor sich ging. Sie genoss das gleichmäßige Rattern der neuen Druckerpresse, die sie aus Genua hatte kommen lassen, eine wirklich moderne Maschine, wie sie bis dato in Sevilla unbekannt gewesen war. Sie war mit Federn versehen, damit sich die Platte rasch heben ließ, und konnte zweihundertfünfzig Exemplare pro Stunde herstellen. Durch sie würde die Druckerei die beste der ganzen Stadt sein.
Vor allem aber brannte Julia darauf, Leóns Gestalt zwischen den übrigen Angestellten zu sehen. Die Linie seines Kinns, seine meerblauen Augen, die straffe Muskulatur seiner Arme. Am Anfang hatte sie darauf geachtet, dass der junge Mann ihr Interesse nicht bemerkte, aber mittlerweile war es ihr egal, ob er ihren Blick im Nacken spürte und sich umdrehte. Wenn León sie dabei ertappte, wie sie mit dem strengen Gesichtsausdruck der Patronin, die die Arbeit ihres Personals überwachte, gebannt im Schatten saß und seine Wege und Handgriffe verfolgte, hielt er ebenfalls inne und erwiderte ihren Blick. Nicht herausfordernd, eher fragend. Julias Augen faszinierten ihn; bei diesem Messen mit Blicken blieb normalerweise sie die Siegerin. Er senkte dann verwirrt die Augen und setzte mit einem leisen Lächeln auf den Lippen seine Arbeit fort. Erst wenn León aufhörte, sie anzusehen, begann sie wieder zu atmen.
Keiner wusste, woher León gekommen war. Vor Monaten war er aus dem Nichts aufgetaucht, eingehüllt in den Schleier des Geheimnisvollen. Eines Tages war er um die Kathedrale herumgeschlendert wie ein Seemann auf Landurlaub. Er hatte langes, fast weißblondes Haar, wahrscheinlich gebleicht vom Salz und der sengenden Mittagssonne. Er war betörend schön. Die meisten, die sich mit ihm unterhielten, konnten dem Nachdruck seiner himmelblauen Augen nicht standhalten und sahen schließlich zu Boden. León war einer dieser Menschen, die man als Normalsterblicher nicht so schnell vergaß. Seine Gestalt einer griechischen Statue, sein Schweigen, seine langsamen, sicheren Bewegungen betonten nur noch diese Aura des Unergründlichen, welche die Ängstlichen bedrückte und die Unerschrockenen faszinierte. Böse Zungen behaupteten, León habe zur Besatzung eines Schiffes gehört, das unter der Flagge mit dem Totenkopf und den zwei gekreuzten Knochen fuhr und dem Befehl des Piraten Calico Jack unterstand. Die Männer von der Brigantine, mit der er nach Sevilla gekommen war, berichteten alkoholselig in einer Hafenkneipe, was er ihnen während der Überfahrt erzählt habe: Er behauptete, auf der Insel Malta geboren zu sein, wo ihn die Türken entführt und ihm den Namen Asad gegeben hätten, die arabische Entsprechung für León. Eine Geschichte, die den Schwarzsehern unter ihnen die Haare zu Berge stehen ließ. Die Erwähnung von Piratenschiffen, türkischen Soldaten und stürmischer See rief Erinnerungen an die Wikinger wach, die im Jahre 844 mit ihrem blonden Haar und ihrer ungestümen nordischen Art den Guadalquivir hinaufgekommen waren, um unter Ausnutzung des gutgläubigen Charakters der Sevillaner in weniger als einer Woche die Stadt zu verwüsten. »Dieser Junge ... der ist nicht von hier«, bemerkten die Älteren. »Auf den muss man ein Auge haben.«
Julia erinnerte sich noch genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Cristóbal Zapata, der Druckermeister, war ausgegangen, um einige Dinge zu erledigen, und sie war dageblieben, um die Geschäfte zu beaufsichtigen. Nie würde sie den Anblick dieses Bilderbuchkorsaren vergessen, der durch die Tür der Werkstatt gekommen war. Noch nie hatte sie die Schönheit eines Menschen so tief berührt. »Ich suche Don Diego de Haro«, stellte er sich vor, als er die Druckerei betrat. »Mein Name ist León. León de Montenegro.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Ihr kommt zu spät. Mein Mann ist vor fast fünf Jahren gestorben«, erklärte sie. »Kann ich Euch vielleicht helfen?« Er schien überrascht zu sein. Doch dann holte er tief Luft und sprach weiter. »Ich suche Arbeit.« »Das hier ist eine Druckerei«, sagte sie. »Kennst du dich in der Druckkunst aus?« »Ich kann es lernen.« Der Setzer, der schon immer für Señor de Haro gearbeitet
hatte, wurde langsam alt und begann, das Augenlicht zu verlieren. Er verwechselte das »l« mit dem »f« und dieses mit dem »j«, außerdem zitterten seine Hände, wenn er den Setzkasten benutzte. Während der Arbeit musste er sitzen, weil seine Knie nachgaben. Julia beobachtete ihn schon seit geraumer Zeit, überzeugt, dass sie früher oder später jemanden suchen musste, der seine Aufgaben übernahm. Aber um Setzer zu sein, brauchte man einige Übung und eine lange Ausbildung. Der Setzer war die Seele einer Druckerei. Er bestimmte den Stil der Werkstatt, er musste gute technische Kenntnisse besitzen und die Rechtschreibung perfekt beherrschen. Setzer waren Kopisten. Sie hatten die gleiche Aufgabe und die gleiche Verantwortung wie die Schreiber des Mittelalters. Zuerst mussten sie einen Ausschnitt des Originaltextes lesen, ihn auswendig lernen und dann niederschreiben. Der einzige Unterschied war, dass die einen dabei eine Feder benutzten und die anderen Lettern aus Metall. »Kannst du lesen und schreiben?«, wollte Julia von León wissen und sah ihn herablassend an. »In vier Sprachen«, antwortete er ohne Überheblichkeit. »Es muss Kastilisch sein, und zwar fehlerfrei.« »Kein Problem.« Julia nahm León als Setzerlehrling auf, ohne Referenzen von ihm zu verlangen, und ließ ihn unter dem Vorwand, dass rund um die Uhr ein Mann im Haus anwesend sein sollte, im Keller wohnen. Als Cristóbal Zapata zurückkehrte und von der Entscheidung erfuhr, die Doña Julia in seiner Abwesenheit getroffen hatte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Er betonte, dass es seit Señor de Haros Tod in seiner Verantwortung als Druckermeister liege, darüber zu entscheiden, wer angestellt wurde und wer nicht, sowie das Geschäft und die Herrin des Hauses wie ein Schießhund zu bewachen. Zudem wies er darauf hin, dass es dem Ansehen einer Frau - erst recht einer Witwe - nicht zugute kam, einen jungen Mann zweifelhafter Herkunft und mit dem Körper eines Adonis unter ihrem Dach aufzunehmen.
»Ich bin die Chefin dieser Druckerei«, warf sie ihm entgegen, in den Augen eine Leidenschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, »und ich kann tun und lassen, wonach mir der Sinn steht.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Nerea Riesco
Nerea Riesco wurde 1974 im baskischen Bilbao geboren. Sie wuchs in Valladolid auf, später zog sie nach Sevilla und studierte dort Journalismus. Sie schreibt Kolumnen für die große spanische Zeitung »El País« und unterrichtet kreatives Schreiben an der Universität von Sevilla. Außerdem arbeitet sie für den spanisch-arabischen Radiosender »Wahatu al Andalus«.Lisa Grüneisen, 1967 geboren, arbeitet seit ihrem Studium der Romanistik, Germanistik und Geschichte als Übersetzerin. Sie übersetzte u.a. Carlos Fuentes, Miguel Delibes, Alberto Manguel und Frida Kahlo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nerea Riesco
- 2011, 535 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Grüneisen, Lisa
- Übersetzer: Lisa Grüneisen
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3502102260
- ISBN-13: 9783502102267
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