Die gefühlte Moral
Warum wir Gut und Böse unterscheiden können
'Jüngste Erkenntnisse der Neurobiologie bergen sozial Brisantes: Moralisches Handeln ist kein Produkt des Verstandes, sondern Teil der Evolution. Es gibt keine universelle Moral. Was aber ist dann die Grundlage unserer Werte?
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
19.90 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die gefühlte Moral “
'Jüngste Erkenntnisse der Neurobiologie bergen sozial Brisantes: Moralisches Handeln ist kein Produkt des Verstandes, sondern Teil der Evolution. Es gibt keine universelle Moral. Was aber ist dann die Grundlage unserer Werte?
Klappentext zu „Die gefühlte Moral “
'Spätestens seit Freud wissen wir, dass das Unbewusste ein gewichtiges Wort mitredet. Die moderne Hirnforschung hat nun eine neue kopernikanische Wende eingeleitet: Alles, was wir tun und lassen, wird durch komplexe Prozesse im Gehirn entschieden, bevor es uns bewusst wird. Wir urteilen und handeln gefühlsmäßig. Der Verstand erläutert und rechtfertigt allenfalls nachträglich. In ständiger Wechselwirkung mit unserer biologischen Natur leitet uns die Kultur, in der wir leben zum Guten oder Bösen. Was bedeutet das für unser Werte- und Rechtssystem? Anhand aktueller Studien beschreibt Frank Ochmann die neurobiologische Krise der Moral und ihre Bedeutung für Philosophie und Religion. Er zeigt, wie riskant es für eine Gesellschaft ist, wenn die moralisch bindenden Kräfte schwinden, und sagt, auf welche Grundlage wir unsere Werte stellen müssen, um dieser Gefahr zu entkommen.
Lese-Probe zu „Die gefühlte Moral “
Die gefühlte Moral von Frank Ochmann LESEPROBE Wo die Geborgenheit, da das Glück
Beim Beispiel der Integration geht es schon von der Zahl her vor allem um Jugendliche. Ob sie aus der Türkei stammen oder aus Deutschland, macht vor dem Hintergrund des dargestellten Verständnisses menschlicher Moral keinen großen Unterschied, da sie als Mitglieder derselben Spezies in dieser Hinsicht gleich »ticken«. Und darum gilt für beide, dass sie ihr Verhalten dahin führen wird, wo sie sich wohlfühlen, wo das Glück oder die Lust als maximal und der Schmerz als minimal empfunden werden. Prosoziales Verhalten macht Lust. Im Normalfall menschlichen Umgangs jedenfalls, und darum wird es implizit und meist auch explizit, also bewusst, erwartet. Nicht immer aber wird die Erwartung erfüllt, oder sie wird anderswo eher und besser erfüllt als da, wo die Gesellschaft junge Menschen gern haben möchte. In ihrer Mitte nämlich und loyal zu den für alle geltenden Regeln. Für die Jugendlichen stellt sich aber die (unbewusste) Frage, welche (innere) Belohnung sie erwarten können, wenn sie sich an die Regeln halten. Was fühlt sich so gut an, macht Lust auf mehr, wenn ich zu dieser konkreten Gesellschaft gehöre und ihre Normen beachte?
... mehr
Es würde zu weit führen, hier alle mit diesen Fragen in Zusammenhang stehenden Phänomene von jugendlichen Subkulturen bis zum Generationenkonflikt zu diskutieren. Aber das Verständnis der Moral und ihrer Funktion, das wir beim Blick auf viele neuere Forschungsarbeiten aus unterschiedlichen Disziplinen gewinnen konnten, lässt auch für diese traditionelle Problemzone zwischen Jung und Älter einige Schlussfolgerungen zu.
Eine für Jugendliche vermutlich unpopuläre zuerst: Die Hirnforschung der letzten Jahre hat zweifellos gezeigt, dass das adoleszente Gehirn noch nicht »fertig« ist. Wenn aber wichtige Areale des »Exekutivapparates« im Frontalhirn wirklich erst irgendwann in der Mitte des dritten Lebensjahrzehntes ausgereift sind, dann muss das sowohl bezüglich der Pflichten Jugendlicher berücksichtigt werden wie auch in Hinsicht auf ihre gesellschaftlich eingeräumten Rechte. Generationen früherer Epochen wurde nachträglich manchmal der Vorwurf gemacht, sie hätten Kinder nicht wie Kinder, sondern wie kleine Erwachsene behandelt und damit überfordert. Etwas Vergleichbares müssen wir auch für die folgenden Lebensjahre bedenken. Dabei können Jugendliche sowohl über- wie auch unterfordert werden. Am sozialen Ziel des Heranwachsens jedenfalls kann es keinen Zweifel geben: Jugendliche sollen die Regeln der Gemeinschaft lernen und achten, in der sie leben. Dazu sind sie normalerweise auch in der Lage. Voraussetzung ist aber, dass der Vermittlungsprozess weitgehend reibungslos in Gang kommt.
Wenn zwischen denen, die solche Regeln vermitteln, und denen, die sie lernen sollen, kein Vertrauen, kein altruistisch geprägtes Gefühl der Zusammengehörigkeit besteht, kann das soziale Lernen kaum gelingen. Entsprechend schlimme Folgen haben darum familiäre Verhältnisse, in denen kein oder nur ein sehr geringes Vertrauen herrscht oder in denen prosoziales Verhalten – in diesem Fall also zugunsten der Familie – nicht hinreichend geachtet wird. Bleibt Anerkennung, die »Belohnung« aus und folgt auf eigenes Bemühen nur dumpfe Gleichgültigkeit, verändern sich die im Hirn gebildeten Repräsentationen der anderen – der Eltern, Lehrer, Chefs, aber auch der Altersgenossen und Freunde. Aufgrund der negativ empfundenen Erfahrungen entwickeln sie sich vom zuvor vielleicht sogar bestehenden Vertrauensverhältnis weg. Das soziale Kapital der Familie, Schule, Clique wird so Schritt für Schritt vermindert, was zu einer entsprechend schwächeren Bindung innerhalb der Gruppe führt. Im schlimmsten Fall bedeutet das, die entsprechende Gemeinschaft löst sich allmählich auf. Darum ist es so wichtig, ob Jugendliche für ihr Engagement gelobt werden. Nur so lassen sie sich auch anspornen und vielleicht ja sogar begeistern, so weiterzumachen wie zuvor und sich für die Gruppe – und ihre Werte – einzusetzen. Nur so fühlen sie sich auch dazugehörig und verantwortlich. Daran müssen Eltern, Lehrer und Politiker im Umgang mit den Jugendlichen gleichermaßen denken, wenn sie nicht erleben wollen, dass die Bindungen und schließlich auch Verbindungen schwächer werden. Wer keinen Respekt zollt, darf auch keinen erwarten.
Eine natürliche Reaktion – da von dem Verlangen nach Belohnung geleitet – ist in einem solchen Fall die Suche nach einer anderen Gruppe, die zu geben weiß, was andere verweigert oder schlicht versäumt haben: Anerkennung und Zuwendung.
In solchen Fällen muss es einen nicht mehr wundern, wenn Jugendliche am Ende »auf die schiefe Bahn geraten«, wie es oft heißt. Sieht man genau hin, ist dieser Ausdruck grundfalsch. Denn eigentlich »geraten« sie nicht auf die schiefe Bahn, als sei das ein Zufall oder allein ihr Verschulden. Vielmehr werden sie mit jeder verweigerten Zuwendung auf diese schiefe Bahn geschoben. Abgeschoben.
Auch Strafe muss sein
Es soll also wohl nur noch gelobt und gekuschelt werden, denken nun vielleicht grollend manche Eltern oder Lehrer.
Bislang haben wir aber nur einen Aspekt der gruppenbildenden Funktion der Moral betrachtet. Zum Zuckerbrot kommt nun also die Peitsche. Der Einsatz für die anderen zu eigenen Lasten, aber um des größeren Ganzen willen, der Altruismus, funktioniert in den Simulationsmodellen der sozial oder auch ökonomisch interessierten Spieltheoretiker nämlich nur dann auch auf längere Sicht und führt zu stabilem kooperativen Verhalten, wenn er durch ein Zusatzinstrument gestärkt wird: das Strafen. In einer Gemeinschaft, die unter bestimmten Regeln lebt, die für alle gelten, muss bestraft werden, wer diese Regeln bricht und sich somit antisozial verhält.17
Die »altruistische Bestrafung« ist ein Phänomen, das inzwischen nicht nur unter Laborbedingungen untersucht worden ist, sondern auch durch die direkte Beobachtung des Verhaltens von Menschen in unterschiedlichen Kulturen.18 Ausnahmslos bestätigte sich die theoretisch gewonnene Vermutung, dass Menschen bereit sind, es sich sogar etwas kosten zu lassen, um Missetäter bestraft zu sehen. Hierin zeigt sich übrigens ein Zug von Moralität, der so nur beim Menschen zu beobachten ist: Wir mischen uns ständig – innerlich oder auch ausdrücklich – in moralische Angelegenheiten ein, die uns im Grunde gar nichts angehen, weil wir nicht direkt betroffen sind. Anders wäre zum Beispiel der Erfolg von Gerichtsshows im Nachmittagsprogramm des Fernsehens kaum zu erklären. Und auch die Lust an Krimis hat natürlich etwas damit zu tun, dass wir es genießen, das Gute siegen und das Böse untergehen zu sehen. Die Empathieexperimente von Tania Singer haben zumindest für Männer bereits zeigen können, wie belohnt sich das Gehirn fühlt, wenn es die bestraft sieht, die sich unfair verhalten haben. Schadenfreude ist ein weiteres Gefühl, das vom Gehirn wie eine Belohnung empfunden wird.19 Neurobiologisch gesehen kommt der Strafe jedenfalls eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des Sozialverhaltens zu.20
Auch so also erfahren wir eine Gemeinschaft als eine, in der es sich zu leben lohnt, weil das mit angenehmen Gefühlen verbunden ist: wenn Regeln nicht nur hohle Phrasen sind, sondern ihre Achtung und Befolgung eingefordert und ihr Bruch geahndet wird.
Vor dem Hintergrund immer wiederkehrender öffentlicher Diskussionen über den Sinn von Strafe in einer Gesellschaft wie der unseren ist diese vor allem aus den Neurowissenschaften stammende Einsicht ein bedeutender Beitrag. Normalerweise dreht sich die öffentliche Debatte um die Frage, ob Strafe resozialisieren, Sühne oder Abschreckung sein soll. Vor allem der Sühnecharakter einer Strafe wird nicht selten entschieden abgelehnt, weil sich ein damit verbundener Rachegedanke nicht mit einer modernen Gesellschaftsordnung vertrage. Die Ergebnisse aus den genannten Studien der vergangenen Jahre zeigen allerdings, dass wir als soziale Wesen die Bestrafung antisozialen Verhaltens, des Bruchs der Regeln also, innerlich und unbewusst ebenso erwarten wie die Belohnung einer prosozialen Haltung. Beides empfindet das Gehirn als ausgesprochen wohltuend. Und darum stärkt beides auch den Willen, zu einer Gemeinschaft zu gehören, in der das Gute gefördert und das Schlechte unterbunden wird. So wird soziales Kapital vermehrt.
Das ist ein wichtiger Aspekt, der nun nicht mehr nur den jeweiligen Täter in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, sondern auch die Gemeinschaft um ihn herum. Nicht nur wie es dem ergeht, der angeklagt wird und dann einer möglichen Verurteilung entgegensieht, ist ein wichtiger Aspekt der Frage, wie wir mit antisozialem Verhalten bei uns umgehen wollen. Soll nicht einfach beiseitegeschoben werden, was die Naturwissenschaften inzwischen beigetragen haben, so muss auch berücksichtigt werden, wie sich etwa der staatliche Umgang mit Gewalt und Verbrechen in der Gesellschaft »anfühlt«, die davon betroffen ist. Auch soziologische Untersuchungen zeigen inzwischen einen klaren Zusammenhang:21 Wenn Regelverstöße nicht geahndet werden, nimmt das Vertrauen – die gefühlte Sicherheit, könnten wir hier sagen – ab. Und in dem Maße, wie das soziale Kapital sinkt, steigt die Missachtung der geltenden Regeln. Das muss sich nicht gleich durch eine Zunahme schwerer Verbrechen zeigen. Aber das gesellschaftliche Klima verändert sich.
Die Erfahrungen prägen die Repräsentation der »Autoritäten« oder »Normgeber« im Gehirn, haben wir gesehen. Diese Repräsentationen sind es, die wiederum unser Verhaltensrepertoire einengen oder erweitern, und wir haben die Summe solcher impliziten, also unbewussten Prozesse »Gewissen« genannt. Als Gruppe oder Gemeinschaft verstehen wir hier jeden Sozialverband, der durch parochial altruistisches Verhalten seiner Mitglieder zusammengehalten wird, von der kleinen Familie oder Clique bis hin zur großen Gesellschaft. Wenn wir in einer solchen Gruppe nun zunehmend erleben, dass Regelverstöße folgenlos bleiben oder gar denen zugute kommen, die sie begehen, wie wird das wohl auf uns selbst wirken? Sicher nicht in dem Sinne, dass wir uns dann nur noch genauer an die Normen halten. Warum sollten wir das auch tun, wenn Regeln offenbar nicht ernst gemeint sind? Werden aber die Normen einer Gruppe oder einer Gesellschaft aufgeweicht, ist das gesamte Gefüge in Gefahr.
© Ullstein Verlag
Eine für Jugendliche vermutlich unpopuläre zuerst: Die Hirnforschung der letzten Jahre hat zweifellos gezeigt, dass das adoleszente Gehirn noch nicht »fertig« ist. Wenn aber wichtige Areale des »Exekutivapparates« im Frontalhirn wirklich erst irgendwann in der Mitte des dritten Lebensjahrzehntes ausgereift sind, dann muss das sowohl bezüglich der Pflichten Jugendlicher berücksichtigt werden wie auch in Hinsicht auf ihre gesellschaftlich eingeräumten Rechte. Generationen früherer Epochen wurde nachträglich manchmal der Vorwurf gemacht, sie hätten Kinder nicht wie Kinder, sondern wie kleine Erwachsene behandelt und damit überfordert. Etwas Vergleichbares müssen wir auch für die folgenden Lebensjahre bedenken. Dabei können Jugendliche sowohl über- wie auch unterfordert werden. Am sozialen Ziel des Heranwachsens jedenfalls kann es keinen Zweifel geben: Jugendliche sollen die Regeln der Gemeinschaft lernen und achten, in der sie leben. Dazu sind sie normalerweise auch in der Lage. Voraussetzung ist aber, dass der Vermittlungsprozess weitgehend reibungslos in Gang kommt.
Wenn zwischen denen, die solche Regeln vermitteln, und denen, die sie lernen sollen, kein Vertrauen, kein altruistisch geprägtes Gefühl der Zusammengehörigkeit besteht, kann das soziale Lernen kaum gelingen. Entsprechend schlimme Folgen haben darum familiäre Verhältnisse, in denen kein oder nur ein sehr geringes Vertrauen herrscht oder in denen prosoziales Verhalten – in diesem Fall also zugunsten der Familie – nicht hinreichend geachtet wird. Bleibt Anerkennung, die »Belohnung« aus und folgt auf eigenes Bemühen nur dumpfe Gleichgültigkeit, verändern sich die im Hirn gebildeten Repräsentationen der anderen – der Eltern, Lehrer, Chefs, aber auch der Altersgenossen und Freunde. Aufgrund der negativ empfundenen Erfahrungen entwickeln sie sich vom zuvor vielleicht sogar bestehenden Vertrauensverhältnis weg. Das soziale Kapital der Familie, Schule, Clique wird so Schritt für Schritt vermindert, was zu einer entsprechend schwächeren Bindung innerhalb der Gruppe führt. Im schlimmsten Fall bedeutet das, die entsprechende Gemeinschaft löst sich allmählich auf. Darum ist es so wichtig, ob Jugendliche für ihr Engagement gelobt werden. Nur so lassen sie sich auch anspornen und vielleicht ja sogar begeistern, so weiterzumachen wie zuvor und sich für die Gruppe – und ihre Werte – einzusetzen. Nur so fühlen sie sich auch dazugehörig und verantwortlich. Daran müssen Eltern, Lehrer und Politiker im Umgang mit den Jugendlichen gleichermaßen denken, wenn sie nicht erleben wollen, dass die Bindungen und schließlich auch Verbindungen schwächer werden. Wer keinen Respekt zollt, darf auch keinen erwarten.
Eine natürliche Reaktion – da von dem Verlangen nach Belohnung geleitet – ist in einem solchen Fall die Suche nach einer anderen Gruppe, die zu geben weiß, was andere verweigert oder schlicht versäumt haben: Anerkennung und Zuwendung.
In solchen Fällen muss es einen nicht mehr wundern, wenn Jugendliche am Ende »auf die schiefe Bahn geraten«, wie es oft heißt. Sieht man genau hin, ist dieser Ausdruck grundfalsch. Denn eigentlich »geraten« sie nicht auf die schiefe Bahn, als sei das ein Zufall oder allein ihr Verschulden. Vielmehr werden sie mit jeder verweigerten Zuwendung auf diese schiefe Bahn geschoben. Abgeschoben.
Auch Strafe muss sein
Es soll also wohl nur noch gelobt und gekuschelt werden, denken nun vielleicht grollend manche Eltern oder Lehrer.
Bislang haben wir aber nur einen Aspekt der gruppenbildenden Funktion der Moral betrachtet. Zum Zuckerbrot kommt nun also die Peitsche. Der Einsatz für die anderen zu eigenen Lasten, aber um des größeren Ganzen willen, der Altruismus, funktioniert in den Simulationsmodellen der sozial oder auch ökonomisch interessierten Spieltheoretiker nämlich nur dann auch auf längere Sicht und führt zu stabilem kooperativen Verhalten, wenn er durch ein Zusatzinstrument gestärkt wird: das Strafen. In einer Gemeinschaft, die unter bestimmten Regeln lebt, die für alle gelten, muss bestraft werden, wer diese Regeln bricht und sich somit antisozial verhält.17
Die »altruistische Bestrafung« ist ein Phänomen, das inzwischen nicht nur unter Laborbedingungen untersucht worden ist, sondern auch durch die direkte Beobachtung des Verhaltens von Menschen in unterschiedlichen Kulturen.18 Ausnahmslos bestätigte sich die theoretisch gewonnene Vermutung, dass Menschen bereit sind, es sich sogar etwas kosten zu lassen, um Missetäter bestraft zu sehen. Hierin zeigt sich übrigens ein Zug von Moralität, der so nur beim Menschen zu beobachten ist: Wir mischen uns ständig – innerlich oder auch ausdrücklich – in moralische Angelegenheiten ein, die uns im Grunde gar nichts angehen, weil wir nicht direkt betroffen sind. Anders wäre zum Beispiel der Erfolg von Gerichtsshows im Nachmittagsprogramm des Fernsehens kaum zu erklären. Und auch die Lust an Krimis hat natürlich etwas damit zu tun, dass wir es genießen, das Gute siegen und das Böse untergehen zu sehen. Die Empathieexperimente von Tania Singer haben zumindest für Männer bereits zeigen können, wie belohnt sich das Gehirn fühlt, wenn es die bestraft sieht, die sich unfair verhalten haben. Schadenfreude ist ein weiteres Gefühl, das vom Gehirn wie eine Belohnung empfunden wird.19 Neurobiologisch gesehen kommt der Strafe jedenfalls eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des Sozialverhaltens zu.20
Auch so also erfahren wir eine Gemeinschaft als eine, in der es sich zu leben lohnt, weil das mit angenehmen Gefühlen verbunden ist: wenn Regeln nicht nur hohle Phrasen sind, sondern ihre Achtung und Befolgung eingefordert und ihr Bruch geahndet wird.
Vor dem Hintergrund immer wiederkehrender öffentlicher Diskussionen über den Sinn von Strafe in einer Gesellschaft wie der unseren ist diese vor allem aus den Neurowissenschaften stammende Einsicht ein bedeutender Beitrag. Normalerweise dreht sich die öffentliche Debatte um die Frage, ob Strafe resozialisieren, Sühne oder Abschreckung sein soll. Vor allem der Sühnecharakter einer Strafe wird nicht selten entschieden abgelehnt, weil sich ein damit verbundener Rachegedanke nicht mit einer modernen Gesellschaftsordnung vertrage. Die Ergebnisse aus den genannten Studien der vergangenen Jahre zeigen allerdings, dass wir als soziale Wesen die Bestrafung antisozialen Verhaltens, des Bruchs der Regeln also, innerlich und unbewusst ebenso erwarten wie die Belohnung einer prosozialen Haltung. Beides empfindet das Gehirn als ausgesprochen wohltuend. Und darum stärkt beides auch den Willen, zu einer Gemeinschaft zu gehören, in der das Gute gefördert und das Schlechte unterbunden wird. So wird soziales Kapital vermehrt.
Das ist ein wichtiger Aspekt, der nun nicht mehr nur den jeweiligen Täter in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, sondern auch die Gemeinschaft um ihn herum. Nicht nur wie es dem ergeht, der angeklagt wird und dann einer möglichen Verurteilung entgegensieht, ist ein wichtiger Aspekt der Frage, wie wir mit antisozialem Verhalten bei uns umgehen wollen. Soll nicht einfach beiseitegeschoben werden, was die Naturwissenschaften inzwischen beigetragen haben, so muss auch berücksichtigt werden, wie sich etwa der staatliche Umgang mit Gewalt und Verbrechen in der Gesellschaft »anfühlt«, die davon betroffen ist. Auch soziologische Untersuchungen zeigen inzwischen einen klaren Zusammenhang:21 Wenn Regelverstöße nicht geahndet werden, nimmt das Vertrauen – die gefühlte Sicherheit, könnten wir hier sagen – ab. Und in dem Maße, wie das soziale Kapital sinkt, steigt die Missachtung der geltenden Regeln. Das muss sich nicht gleich durch eine Zunahme schwerer Verbrechen zeigen. Aber das gesellschaftliche Klima verändert sich.
Die Erfahrungen prägen die Repräsentation der »Autoritäten« oder »Normgeber« im Gehirn, haben wir gesehen. Diese Repräsentationen sind es, die wiederum unser Verhaltensrepertoire einengen oder erweitern, und wir haben die Summe solcher impliziten, also unbewussten Prozesse »Gewissen« genannt. Als Gruppe oder Gemeinschaft verstehen wir hier jeden Sozialverband, der durch parochial altruistisches Verhalten seiner Mitglieder zusammengehalten wird, von der kleinen Familie oder Clique bis hin zur großen Gesellschaft. Wenn wir in einer solchen Gruppe nun zunehmend erleben, dass Regelverstöße folgenlos bleiben oder gar denen zugute kommen, die sie begehen, wie wird das wohl auf uns selbst wirken? Sicher nicht in dem Sinne, dass wir uns dann nur noch genauer an die Normen halten. Warum sollten wir das auch tun, wenn Regeln offenbar nicht ernst gemeint sind? Werden aber die Normen einer Gruppe oder einer Gesellschaft aufgeweicht, ist das gesamte Gefüge in Gefahr.
© Ullstein Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Frank Ochmann
Dr. Frank Ochmann, geboren 1956 in Marl, wandte sich nach der Promotion in Physik der katholischen Theologie zu und wurde in Münster zum Priester geweiht. Inzwischen verbindet er natur- und geisteswissenschaftliche Interessen außerhalb der Kirche als Journalist, Buchautor und Online-Kolumnist, schreibt seit vielen Jahren für den stern und lebt heute in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Frank Ochmann
- 2008, 320 Seiten, Maße: 14,4 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550086989
- ISBN-13: 9783550086984
Rezension zu „Die gefühlte Moral “
»Ochmann veranschaulicht - sehr klar formuliert - auch die Gefahren, in die eine Gesellschaft gerät, wenn die moralisch bindenden Kräfte schwinden.« SÜDWEST PRESSE / 09.05.08/st »Sein Werk ist klar formuliert, das Thema herausfordernd.« LEIPZIGER VOLKSZEITUNG / 09.05.08 »Nicht der Verstand, sondern Emotionen sind die wichtigste Lernhilfe beim Verinnerlichen von Normen: 'Es tut so gut, gut zu sein' - wie Forscher dieses Prinzip in Experimenten und Studien variieren, hat Unterhaltungs- und Erkenntniswert ...« Der Spiegel »... Den Fokus nicht auf das Gen, sondern die Seele gerichtet, nähert sich ein weiteres Buch der Frage, welche natürlichen Grundlagen unser moralisches Verhalten möglicherweise hat ... auch für Einsteiger gut zu lesen und anregend ...« Die Zeit » ... Frank Ochmann hat sich tief in die Forschungslage gedreht und gibt einen hervorragenden Überblick über den Erkenntnisstand, vor allem aus Sicht der Neuroethik. ... Wer dieses Buch liest, lernt viel über Moral.« Online-Magazin ChangeX vom 8.4.2008 » ... Frank Ochmann, Physiker, Theologe und Journalist, bemerkt in seiner gesellschaftskritischen Bestandsaufnahme über die "gefühlte Moral", dass moralisch bindende Kräfte bedrohlich schwinden. Er geht der Frage nach, was Hirnforscher heute darüber wissen, bringt seine Leser zügig und intelligent auf den Erkenntnisstand und denkt darüber nach, was zu tun sei. Fest steht, dass nicht nur zuerst das Fressen und dann die Moral kommt, sondern auch: Zuerst das Gefühl, dann die Moral. ... Zum Lesen empfohlen.« Hamburger Abendblatt »... Wir haben im buchstäblichen Sinn ein Gefühl für gute Taten. Aber wie konnte sich daraus eine ganze Moral entwickeln?Der Journalist Frank Ochmann hat die zahlreichen neuen Erkenntnisse der Wissenschaft zusammengetragen und zeichnet ein beeindruckendes Bild von dem Ort, an dem sich Biologie und Moral begegnen.« WDR 2, Radioquarks
... mehr
»Wie das menschliche Empfinden mit dem sozialen zusammenhängt, mit Einfühlung und Empathie, wie stark Emotionen in das moralische Urteilsvermögen hineinspielen und der Verstand eher im Nachhinein tätig wird, das zeigt Ochmann anschaulich auf, von der Sprache her gut verständlich, in der Sache anspruchsvoll.« NEUE PRESSE / 31.05.08/Evelyn Beyer »Um Gut's zu tun, braucht's keiner Überlegung' - ein Goethe-Wort, das wissenschaftlich durchaus haltbar zu sein scheint. Die moderne Hirnforschung beteiligt sich an der Suche nach Antworten auf wichtige philosophische und religiöse Fragen: Was ist die Grundlage unserer Werte? Ist moralisches Handeln ein Produkt des Verstandes oder der Evolution? Oder von beidem? Hirnforscher sagen: Die Kultur steht in ständiger Wechselwirkung mit unserer biologischen Natur, und so unterscheiden wir gefühlsmäßig Gut und Böse. Eine brisante These - und doch durch Ergebnisse neuer Studien nachvollziehbar. Der Theologe und Journalist Frank Ochmann hat sie zusammengetragen und erfrischend unpolemisch interpretiert. Herausgekommen ist ein höchst interessanter, gut verständlicher Blick auf den Stand der Forschung. Hier lernt man was.« Deutschlandradio Kultur - "Lesart" vom 22.6.2008 »Ochmann erweist sich als brillanter Analytiker, dem es gelingt, ein komplexes Thema in verständlicher Sprache zu behandeln. Sein Fazit ist so spannend wie brisant.« STERN/ 16.10.08 STIMMEN ZUM BUCH: »Frank Ochmann bietet einen fesselnden Blick auf die aktuelle Forschungsdebatte und untersucht, klar und verständlich geschrieben, die Beweise für eine Moral auf dem Fundament der Biologie.« Frans de Waal, Autor von Der Affe in uns »Frank Ochmann führt die neuen Entdeckungen an der Schnittstelle von Moral und Biologie zu einer durchdachten Gesamtsicht zusammen.« Antonio Damasio, Autor von Descartes Irrtum und Der Spinoza-Effekt »lhr Buch hat mich sehr angenehm überrascht. Vor allem bin ich sehr angetan von der Ruhe, mit der Sie die Themen entvvickeln und der Tatsache, dass Sie nicht der Versuchung erlegen sind, die schnelle Schlagzeile zu finden ... Kurz, lhr Buch hebt sich wohltuend von der Vielzahl der Schnellschüsse ab, die sich sonst auf dem Markt befinden. Nur die Klappentexte nennen die aktuellen Reizworte (das muss wohl aus Verkaufsgründen so sein) und bereiten auf die inhaltliche Fülle nicht wirklich vor. Denn das Buch enthält sehr viel mehr als nur Moral, es ist eine sehr schöne und lehrreiche Wanderung durch viele relevante und aktuelle Gebiete der Psychologie, zwar mit einem klaren Ziel, aber eben auch mit offenen Augen für den Weg dorthin. Also, ich habe lhr Buch sehr gern und mit großem Gewinn gelesen!« Prof. Hannelore Weber, Universität Greifswald »Es macht richtig Freude, in Ihrem Buch zu lesen. Wir könnten im deutschen Sprachraum sehr gut mehr Leute wie Sie gebrauchen, Menschen, die ein schwieriges Wissenschaftsthema so packend und anschaulich machen können.« Ernst Fehr, Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich »... Ich finde es interessant, wie Ihre Darstellung, die mit den neuesten Erkenntnissen der Neurobiologie ... beginnt, am Ende bei Putnams Konzeption sozialen Kapitals 'landet' ... Dieser Bogen ist nicht nur eine Stärke Ihrer Darstellung, die natur- und sozialwissenschaftliche Forschung gekonnt verbindet, sondern auch eine Botschaft an die Politik: Die Neurobiologie enthebt uns nicht der Notwendigkeit, über gemeinsame Werte nachzudenken, zu diskutieren - und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. ... vielen Dank für Ihr anregungsreiches, informiertes und informatives Buch!« Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend »Das Gute an dem Buch ist, dass wir die neuen sozio- und neurobiologischen Forschungsergebnisse und -experimente anschaulich präsentiert bekommen und somit umfassend informiert werden.« HANNOVERSCHE ALLGEMEINE/ 05.08.08/ Detlef Horster
... weniger
Kommentar zu "Die gefühlte Moral"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die gefühlte Moral“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die gefühlte Moral".
Kommentar verfassen