Die Suche nach dem Drachenring
Der dreizehnjährige Phil freut sich auf seine „Arbeit" am Nachmittag, dann darf er das neueste Computerspiel seiner Eltern testen. Aber was für ein Schock, als er in der Computerfirma seiner Eltern feststellt, dass Sie verschwunden sind?...
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Produktinformationen zu „Die Suche nach dem Drachenring “
Der dreizehnjährige Phil freut sich auf seine „Arbeit" am Nachmittag, dann darf er das neueste Computerspiel seiner Eltern testen. Aber was für ein Schock, als er in der Computerfirma seiner Eltern feststellt, dass Sie verschwunden sind? Obendrein folgt ihm ein eifriger junger Polizist überall hin und fragt ihn zu dem neuen Spiel „der Drachenring" aus. Allerdings stellt sich dieser Politzist schnell als falsch heraus. Und was hat Leo, Phils Klassenkamerad in der Computerfirma gesehen? Die beiden geraten in ein Drachenabenteuer, wie sie es vorher nie gedacht hätten; Phil muss um seine Eltern kämpfen und Leo um seinen Mut.
Lese-Probe zu „Die Suche nach dem Drachenring “
Die Suche nach dem DrachenringDer Schock
Wie jeden Freitag Nachmittag betrat Phil Marten, verschwitzt und durstig
vom Basketballtraining, das Haus in der Birkenallee. Seine Sporttasche
landete schwungvoll auf dem Dielenboden.
„Guten Tag, Phil", sagte jemand hinter ihm. Ein blasser junger Mann mit
kurzen Haaren und großen dunkelblauen Augen bückte sich nach der Tasche.
„Dir auch, Lu", grüßte Phil zurück und war schon auf dem Weg in die Küche,
die nur auf den ersten Blick so harmlos und gemütlich wirkte wie irgendeine
beliebige Küche. In Wirklichkeit steckte sie voller Computertechnik
und damit verbundenen Überraschungen. Phils Eltern hatten beinahe
jedes Küchengerät nachträglich programmiert - mit dem Erfolg, dass einige
von ihnen nicht immer das machten, was man von ihnen erwarten durfte.
So hatten sie den Kühlschrank mit einem Ernährungsberatungsprogramm
ausgestattet. Seitdem fühlte er sich für die Gesundheit der Familie verantwortlich.
Es kam vor, dass er so lange Alarm schlug, bis Phil sein klebriges
Eisgetränk wieder herausnahm oder dass er im Minutentakt mit monotoner
Stimme darauf hinwies, dass ihm die Milch ausgegangen war.
Als Phil die Kühlschranktür öffnete, wurde er von den eingebauten Sensoren
erfasst. Anschließend empfahl ihm der Kühlschrank einen Obstsalat
mit Nüssen, der sich im obersten Fach befand. Phil lehnte den Vorschlag
ab und griff stattdessen nach einer Flasche Mineralwasser, ohne das blinkende
Warnlämpchen des Kühlschranks zu beachten. „Betreffende Person
weist erhöhte Körpertemperatur auf. Empfehle dringend Vitamin-C-Zufuhr."
Die Schublade des Gemüsefachs sprang auf. Tomaten und Paprika leuchteten
Phil entgegen. „Vorschlag abgelehnt", sagte der und tippte mit einer
Hand leicht gegen die Schublade, die sich sofort wieder schloss.
... mehr
Mit der
anderen Hand setzte Phil die Wasserflasche an den Mund.
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Der Kühlschrank gab sich jedoch nicht so schnell geschlagen: „Suche
nach Alternativen." Das hektische Flackern einiger Kontrollleuchten war ein
Zeichen dafür, dass sein elektronisches Gehirn auf Hochtouren arbeitete.
Da Phil keine Lust hatte, sich sämtliche Vorschläge für eine vitaminreiche
Kost anzuhören, beendete er kurzerhand das Ernährungsberatungsprogramm.
„Was gibt es heute Abend zu essen?", fragte er.
„Auskunft unmöglich", schnarrte der Kühlschrank.
„Komm schon, Herbert! Verrate mir wenigstens das aktuelle Passwort von
deinem Geheimfach! Dann kann ich selbst nachsehen. Keiner merkt was."
„Auskunft unmöglich. Bitte Tür schließen. Muss Solltemperatur wieder einstellen."
Bevor Phil die einzelnen Fächer nach dem Rest Schokoladenpudding
vom Vortag durchstöbern konnte, ertönte ein Warnsignal. „Bitte von
der Tür entfernen. Tür wird automatisch geschlossen."
Mit einem Knall flog die schwere Tür zu, deren Display neben der Belegung
der einzelnen Fächer (in der Spalte für das Geheimfach stand „Überraschung")
nun außerdem anzeigte, dass sich nur noch eine Flasche Mineralwasser
im Kühlschrank befand.
Enttäuscht stellte Phil fest, dass der Schokoladenpudding aus der Liste
verschwunden war. „Du könntest ruhig ein bisschen netter sein." Er warf
dem Kühlschrank einen vorwurfsvollen Blick zu. „Nimm dir ein Beispiel an
Lu!"
Phil steckte den Kopf durch die Küchentür und rief: "Lu, was gibt's heute
Abend?"
„Tut mir leid, Phil, aber Ihre Mutter hat mich gebeten, nichts zu verraten.
Auch das Passwort von Herberts Geheimfach nicht." Lu wirbelte mit einem
Staubwedel über den Garderobenständer.
„Na schön, dann eben nicht", seufzte Phil und machte sich auf den Weg
ins Badezimmer.
Zumeist überließ Phils Mutter die Zubereitung der Mahlzeiten Lu, doch ab
und zu überraschte sie ihre Familie mit Gerichten, deren Zutaten man nach
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Phils Ansicht nur in einer Zoohandlung erwerben konnte (zum Beispiel Hirse
oder getrocknete Algen).
Zum Glück hatte vor gut einem Jahr ganz in der Nähe ihres Hauses Bertoli's
Pizzeria eröffnet. Nach einer großen Salamipizza würde Phil dem Überraschungsessen
seiner Mutter gelassener entgegen sehen.
Anna Marten behauptete von sich, als Hausfrau unbegabt zu sein. Es war
nicht so, dass sie sich keine Mühe gab, doch es kam häufig vor, dass sie
plötzlich alles stehen und liegen ließ und an ihren Laptop stürzte. Phils Vater
hatte daher den Vorschlag gemacht, die Hausarbeit jemand anderem
zu überlassen, nachdem er innerhalb eines Monats zwei seiner Lieblingsshirts
in der Mülltonne entdeckt hatte - mit einem dunkelbraunen Abdruck
des Bügeleisens.
Lu bewohnte ein kleines Zimmer gleich neben dem Eingang und gehörte
praktisch zur Familie. Er kümmerte sich um alles, und Phils Eltern hatten
mehr Zeit, sich ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen - dem Programmieren.
Anna und Thomas Marten beherrschten alle Arten von Programmiersprachen.
Das machte das Leben im Haus nicht immer einfach, aber
zweifellos aufregend.
Die Dusche mit automatischer Temperatureinstellung, unter der Phil momentan
stand, wollte zum Beispiel partout nicht einsehen, dass er nicht
daran dachte, kalt zu duschen, obwohl es doch „ungemein den Kreislauf
belebt und die Abwehrkräfte steigert", wie ihm eine zischelnde Stimme
mehrmals versicherte.
Der Kleiderschrank gab es irgendwann auf, Phil das dunkelgrüne T-Shirt
zur blauen Jeans auszureden. Immerhin verriet er, in welcher Schublade
sich Phils Lieblingssocken befanden.
Auch der mannshohe Spiegel in der Diele regte sich über Phils T-Shirt auf,
das seiner Meinung nach viel zu weit war und in die Hose gesteckt gehörte.
Mit der Frisur war er ebenfalls unzufrieden. „Wie kannst du nur so liederlich
herumlaufen. Wenigstens kämmen solltest du dich", nörgelte der
Spiegel.
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Phil fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte schwarze Haar. Für ihn
war die Sache damit erledigt.
Phil war für einen Dreizehnjährigen auffallend groß und muskulös. Er hatte
ein schmales Gesicht und leuchtende graublaue Augen. Viele Mädchen in
der Schule schwärmten heimlich für ihn, aber Phil kümmerte sich nicht
darum. Das einzige Mädchen, das ihm gefiel, hieß Elisa May und ging
nicht auf seine Schule. Er kannte sie nur aus dem Fernsehen, wo sie an
jedem Freitag Nachmittag eine Musiksendung für junge Leute moderierte.
Elisa war wortgewandt und witzig. Wenn sie lachte, blitzten hinter ihren
vollen Lippen makellose weiße Zähne und ihre Augen, deren Farbe Phil an
das helle Grün von klarem Meerwasser erinnerte, strahlten.
Nur selten verpasste Phil ihre Sendung, doch an diesem Freitag hatte er
etwas Wichtigeres vor - er wollte seine Eltern in der Firma besuchen, genau
genommen musste er dort arbeiten.
Phil hatte einen Schülerjob bei Sanders' Playworld, einem Hersteller von
Computerspielen. Anna und Thomas Marten waren dort für die Programmierung
neuer Spiele verantwortlich. Meistens schrieben sie das Drehbuch
für die Handlung selbst. Grafiker, Designer und 3D-Animatoren halfen ihnen
bei der Umsetzung ihrer Ideen. Waren die Bewegungsabläufe zu
kompliziert, wurden Schauspieler eingesetzt. Phil hatte einmal zugesehen,
wie ein Mann in einem Spezialanzug, der mit sogenannten Messpunkten
ausgestattet war, fast eine Stunde lang an einem Reck turnen musste. Eine
Kamera filmte ihn dabei und lieferte die Daten an einen Computer. Hinterher
schaute Phil zu, wie die Bewegungen des Schauspielers in die eines
Affen übersetzt wurden, der sich von Baum zu Baum hangelte.
Er durfte - abgesehen von den engsten Mitarbeitern seiner Eltern - jedes
Spiel als Erster austesten und bewerten. Viele beneideten ihn darum, und
dass nicht nur, weil Phil die begehrten Computerspiele besaß, lange bevor
man sie kaufen konnte. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Inhaber
von Sanders' Playworld - Alfred Sanders - alle, die für ihn arbeiteten,
großzügig bezahlte.
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Über das neue Spiel hatten Phils Eltern wie üblich kaum etwas verraten.
Sie hatten sogar auf jede Hilfe verzichtet, ihre Mitarbeiter bereiteten ein
anderes Spiel vor. Es war nur bekannt, dass sie einen Minisender entwickelt
hatten, der es möglich machte, die Spielfiguren durch Zurufen oder -
mit etwas Übung - durch Gedankenübertragung zu steuern. Diesen Minisender
wollten sie in ein hübsches Amulett einbauen lassen.
Phil hatte sich einen goldenen Drachen gewünscht. Seine Eltern wollten
sehen, was sich machen lässt - schließlich hatte Phil bald Geburtstag.
Außerdem sollte es noch eine Überraschung geben, „die dich vom Hocker
haut", wie Thomas Marten seinem Sohn versprochen hatte. Dabei hatten
sich seine Eltern geheimnisvoll zugezwinkert.
Im Bus zum Firmengelände klopfte Phil die verräterischen Mehlspuren von
seinem T-Shirt. Bertoli hatte ihn mit einem kräftigen Schulterklopfen begrüßt.
Sein mit Mehl bestäubter Schnauzbart hatte gezittert, als er Phil
fragte: „Mamas Experimente in der Küche treffen wohl wieder einmal nicht
deinen Geschmack?" Phil war nach der Eröffnung der Pizzeria der erste
Gast gewesen. Seitdem hatte ihn der rundliche Bertoli ins Herz geschlossen.
Der Fahrer hielt genau vor dem großen schmiedeeisernen Tor zu Sanders'
Playworld. Neben dem Tor standen drei Polizeiwagen. Außerhalb und innerhalb
des kugelsicheren Wachhäuschens standen Polizisten. Phil wurde
nach seinem Namen gefragt. Er zeigte seinen Firmenausweis (ohne solch
einen Ausweis konnte sich niemand in der Firma bewegen, ohne Alarm
auszulösen). Nach einem kurzen Wortwechsel mit den firmeneigenen Sicherheitsleuten,
dessen Inhalt Phil trotz angestrengten Lauschens nicht
mitbekam, durfte er passieren. Bildete er sich das nur ein, oder sahen ihn
die Männer mitleidig an?
Auf dem Weg zur Abteilung Forschung und Entwicklung kamen Phil zwei
aufgeregt miteinander diskutierende Angestellte entgegen. Einer von ihnen
deutete mit dem Kopf in Richtung Fenster. Phil verstand nicht, was sie
sagten; als sie ihn erblickten, verstummten sie schlagartig. „Hallo, Phil",
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grüßten sie kurz im Vorbeigehen. Phil warf einen flüchtigen Blick nach
draußen. Auf dem eigentlich immer streng bewachten Firmengelände
wimmelte es von Polizisten und Einsatzfahrzeugen. Auch der für die Forschungsabteilung
zuständige Wachmann hatte Verstärkung durch die Polizei
erhalten.
Während Phil seinen Ausweis vorlegte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl.
Dieses Gefühl verstärkte sich, als er die Tür zum Büro seiner Eltern verschlossen
und mit einem Siegel versehen vorfand.
Ein schmächtiger Polizist, den Phil bisher nicht bemerkt hatte, kam langsam
auf ihn zu. „Guten Tag, mein Junge. Wen suchen wir denn?", fragte er
mit zusammengekniffenen Augen.
„Ich bin mit meinen Eltern verabredet. Sie arbeiten hier." Phil bemühte
sich, das aufkommende Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Der
Mann musterte ihn: „Dann musst du Phil Marten sein."
Auf Phils Nicken hin machte er eine einladende Bewegung mit seinem
rechten Arm. „Bitte folge mir in das Büro von Herrn Sanders."
Sie passierten die Wachposten und nahmen die Treppe nach oben. Phil
wusste, dass sich das Büro des Geschäftsführers unmittelbar über der
Forschungsabteilung befand, auch wenn er die Chefetage noch nie betreten
hatte.
Nach scheinbar endlosen Stufen hatten sie das oberste Stockwerk erreicht
und standen vor einer Stahlplatte, deren polierte Oberfläche eine eigenartige
Kälte ausstrahlte. Der Polizist drückte auf einen Klingelknopf. „Ja, bitte?",
ertönte eine Frauenstimme aus der Sprechanlage.
„Ich bringe Phil Marten", verkündete der Polizist.
Die Stahlplatte verschwand in der Wand, und sie betraten einen kurzen
Flur. Nachdem der Eingang in Sekundenschnelle wieder verschlossen war,
öffnete sich eine Stahlplatte am anderen Ende. Phil hatte es sehr eilig, aus
dem engen Flur herauszukommen, doch dann blieb er überrascht stehen.
Sie mussten sich unter der goldfarben schimmernden Kuppel befinden, die
dem Gebäude das Aussehen einer Moschee verlieh. Von innen war das
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Kuppeldach durchsichtig wie Glas. Ohne das Metallgerüst, das dem Netz
aus Längen- und Breitengraden auf der oberen Hälfte eines Globusses
ähnelte, hätte man das Gefühl haben können, unter freiem Himmel zu stehen.
Sonne durchflutete eine weiträumige runde Halle, die eine Landschaft
darstellte.
Staunend betrachtete Phil einen rauschenden Wasserfall, der aus einem
Felsen hervorquoll und sich in einen kristallklaren See ergoss, dessen Untergrund
aus glattem tiefblauen und türkisfarbenen Gestein bestand. Im
Wasser spiegelten sich ein paar verlorene weiße Wolken. Auf dem hellen
feinen Sand um den See herum waren zwischen hohen Palmengewächsen
einige Liegestühle und kleine Tische aufgestellt. Auf der rechten Seite
der Halle führte eine gläserne Schiebetür zu einer Dachterrasse, die mit
exotischen Gewächsen bepflanzt war. Noch während Phil Bananenstauden
und goldgelbe Ananasfrüchte bewunderte, schob ihn der Polizist auf
eine geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu. Eine auffallend
hübsche junge Frau erwartete sie.
„Guten Tag! Bitte folgen Sie mir!", säuselte sie und trippelte auf halsbrecherisch
hohen Pumps durch das Vorzimmer. Vor einer weiteren Tür blieb
sie stehen und klopfte. Nach einem deutlich vernehmbaren „Herein!" betraten
Phil und sein Begleiter das Büro des Geschäftsführers, während die
junge Frau geräuschlos die Tür hinter ihnen schloss.
Herr Sanders verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch und kam ihnen
entgegen.
Er war um einiges größer und breiter als Phil und hatte wachsame stahlgraue
Augen. Zur Begrüßung streckte er ihnen die Hand entgegen. Dabei
fiel Phil ein breiter Goldring in Form einer Schlange auf, die jedoch Flügel
und einen stachligen Schwanz besaß und ihn aus zwei kleinen blitzenden
Rubinen anstarrte. Der Kopf ähnelte mehr dem eines Drachen und von
den Augen ging eine seltsame Energie aus, die Phil Unbehagen bereitete.
Er war deshalb froh, als Herr Sanders seine beiden Besucher bat, Platz zu
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nehmen, worauf jeder von ihnen in einem der weichen Sessel versank, die
um einen ovalen Couchtisch gruppiert waren.
Herr Sanders saß Phil gegenüber. „Ich habe die traurige Pflicht", begann
er ohne Umschweife, „dir mitzuteilen, dass deine Eltern heute spurlos verschwunden
sind. Den genauen Zeitpunkt kennen wir nicht. Die Polizei
vermutet einen Fall von Entführung, allerdings gibt es bis jetzt keinerlei
Anhaltspunkte. Zurzeit dauern die Untersuchungen in der Firma noch an.
Wir alle hoffen, dass wir deine Eltern bald unversehrt wiederfinden, Phil."
Phil brauchte eine Weile, um die Worte zu begreifen. Ihm wurde schwindlig
- als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Er spürte,
wie das Blut aus seinem Gesicht wich und sich gleichzeitig eine
furchtbare Leere in seinem Kopf breit machte. Wie durch einen dichten
Nebel vernahm er erneut die Stimme von Herrn Sanders: „Geht's dir nicht
gut, mein Junge?"
Phil klammerte sich an der Tischplatte fest.
„Natürlich nicht - was für eine Frage!" Herr Sanders stemmte sich aus seinem
Sessel hoch und eilte zu der Schrankwand hinter seinem Schreibtisch.
Wenig später stellte er Phil ein Kristallglas mit sprudelndem Mineralwasser
hin.
Mechanisch nahm Phil das schwere Glas, doch seine Hand zitterte so heftig,
dass er einen Teil des Wassers verschüttete. Schnell stellte Phil das
Glas wieder hin.
Herr Sanders beugte sich zu ihm vor. „Ich weiß, dass es ein ziemlicher
Schock für dich sein muss. Aber ich muss dich trotzdem fragen: Haben
sich deine Eltern über irgendetwas Sorgen gemacht oder ist dir etwas Ungewöhnliches
aufgefallen?" Phil gelang es, vorsichtig den Kopf zu schütteln.
Er hatte einen Kloß im Hals, der ihm das Sprechen unmöglich machte.
„Ist dir bekannt, woran deine Eltern zuletzt gearbeitet haben?" Herr Sanders
sprach leise, ohne den Blick von Phil zu wenden. Phil schluckte ein
paar Mal. „Sollte heute neues Spiel testen mit dem Amulett", murmelte er
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mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. Doch Herr Sanders hatte
ihn offenbar verstanden. „Haben sie dir etwas über dieses Spiel erzählt -
hast du vielleicht schon einmal eine Kopie davon gesehen?", fragte er eindringlich.
Phil schüttelte wiederum den Kopf. Warum interessierte ihn das? Für Phil
war das Spiel vollkommen unwichtig geworden, er wollte nur seine Eltern
wiederhaben.
Herr Sanders schien seine Gedanken zu erraten - er sah zu dem Polizisten
hinüber und nickte kurz. Daraufhin stand dieser auf. Auch Herr Sanders
erhob sich.
„Man wird dich jetzt nach Hause bringen, Phil. Wenn du Hilfe brauchst
oder dir etwas Wichtiges einfällt - hier hast du sämtliche Nummern und
Adressen, unter denen du mich erreichst. Du kannst mich jederzeit anrufen."
Bei diesen Worten reichte Herr Sanders Phil eine Visitenkarte. Phil
steckte sie in die Hosentasche und ließ sich von dem Polizisten hinausführen.
In dem engen Flur zwischen den stählernen Schiebetüren drückte der
Mann auf einen Knopf neben einer dritten Metalltür, die Phil erst jetzt bemerkte.
Lautlos öffnete sich eine Fahrstuhltür. Phil war froh, dass ihm die
Treppen erspart blieben. Er fühlte sich schwach, seine Knie zitterten.
Kurze Zeit später saß Phil neben dem Polizisten in einem dunkelblauen
VW. Während der Fahrt sprach niemand ein Wort.
Vor dem Haus der Martens stiegen sie aus. Als Phil sich verabschieden
wollte, hielt ihn der Polizist fest. „Hör zu, ähm, ich bin für deine Sicherheit
zuständig. Das heißt, dass ich ab jetzt Tag und Nacht jeden deiner Schritte
überwachen werde. Du weißt, was das bedeutet?" Ohne jede Regung wartete
Phil auf die Erklärung. „Nun, ich werde bei dir wohnen müssen."
Ehe er etwas erwidern konnte, fuchtelte der Polizist mit einem Blatt Papier
vor seinem Gesicht herum. Phil versuchte, den Text zu lesen, aber das
Einzige, was er wirklich wahrnahm, war das Wort Personenschutz in
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schwarz glänzenden Großbuchstaben über einigen klein gedruckten Zeilen
sowie die krakelige Unterschrift des Einsatzleiters der SOKO Marten.
Stirnrunzelnd blickte Phil auf: „SOKO Marten?"
„Sonderkommission Marten", sagte der Polizist und faltete das Blatt wieder
zusammen.
Ein flaues Gefühl breitete sich von Phils Magen her über seinen ganzen
Körper aus. Als ob die Ungewissheit über das Schicksal seiner Eltern nicht
schon schlimm genug war, wurde er noch dazu bewacht wie ein Schwerverbrecher.
„Ist nur zu deinem Besten", versicherte ihm der Mann.
Wortlos drehte sich Phil um und schloss die Tür auf. Der Polizist folgte
ihm.
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Einquartierung
Sobald der Polizist die Diele betrat, surrte in der Nähe eine Kamera. „Unbekannte
männliche Person im Eingangsbereich. Bitte um Identifizierung!",
forderte eine Stimme, die an einen heiseren Ziegenbock erinnerte.
„Ist schon gut, das hier ist ..." Phil wandte sich zu dem jungen Polizisten.
„Wie heißen Sie eigentlich?"
„Oh, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen", entschuldigte sich dieser,
nervös nach dem Ursprung der Stimme suchend, „mein Name ist Skibinski."
Als nächstes ließ sich der Spiegel vernehmen: „Guten Tag, Herr Skibinski,
bitte lassen Sie sich ansehen!"
Irritiert blickte Herr Skibinski in den Spiegel. „Die Bügelfalten sind exzellent,
nur die Farbzusammenstellung finde ich etwas ungewöhnlich", urteilte
der Spiegel. „Das ist eine Uniform, er ist Polizist", klärte Phil ihn auf. „Ach
so, dann können Sie ja nichts dafür." Der Spiegel verzichtete auf weitere
Bemerkungen.
Herr Skibinski zupfte mit seinen Fingern an den Bügelfalten der Uniformhose
herum - offensichtlich fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Als Lu
plötzlich vor ihm stand und ihn mit einer leichten Verbeugung höflich begrüßte,
zuckte er zusammen. „Euer Haus steckt ja voller Überraschungen",
sagte er und lachte, doch es klang nicht fröhlich.
Herr Skibinski ließ sich sämtliche Räume des Hauses zeigen. Besonders
interessierte er sich für das Arbeitszimmer der Martens, das mit modernster
Bürotechnik ausgestattet war. Die beiden Laptops hatte Phils Vater
von der letzten Messe mitgebracht. Er tauschte die Geräte jedes Jahr aus
- „damit sie kein Moos ansetzen".
Der Blick von Herrn Skibinski blieb an der Telefonanlage hängen.
„Ihr habt zwei Anrufe erhalten", stellte er fest.
Phil drückte die Wiedergabetaste. Der erste Anrufer war Herr Sanders. Er
bat Phil, sofort in die Firma zu kommen. Er hatte angerufen, nachdem Phil
das Haus verlassen hatte.
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Lu nahm grundsätzlich keine Anrufe entgegen, solange niemand der Familie
Marten zugegen war - so lautete seine Anweisung, und die pflegte er,
wie jede andere auch, gewissenhaft auszuführen.
Der zweite Anrufer hatte nicht auf das Band gesprochen. Anscheinend hatte
er einen Augenblick lang überlegt, denn für einige Sekunden war deutlich
ein Atemgeräusch zu hören, bevor der Hörer aufgelegt wurde.
„Öffentliche Telefonzelle am Theaterplatz", las Phil laut vor.
Herr Skibinski starrte argwöhnisch auf das Telefon. „Ich wusste gar nicht,
dass neuerdings sogar die Nummern von öffentlichen Telefonzellen übertragen
werden."
„Werden sie normalerweise auch nicht. Mein Vater hat ein bisschen herumgetüftelt
- seitdem wird jede Telefonnummer angezeigt."
„Interessant. Weißt du, wer das gewesen sein könnte? Kennst du jemanden,
der dort in der Nähe wohnt?" In der Stimme von Herrn Skibinski lag
ein seltsames Lauern.
Phil beschlich das unangenehme Gefühl, dass er verhört wurde. Er dachte
nach, doch sosehr er sich anstrengte, es wollte ihm beim besten Willen
niemand einfallen. Er hob die Schultern hoch. Da durchzuckte ihn ein Gedanke
- Herr Kissing wohnte am Theaterplatz.
Daniel Kissing arbeitete ebenfalls für Sanders' Playworld, allerdings im
Vertrieb. Er sorgte dafür, dass die neu entwickelten Spiele zum richtigen
Zeitpunkt, zum Beispiel vor Weihnachten oder Ostern, in die Geschäfte
kamen. Sein Sohn Leo ging in Phils Klasse.
Aber warum sollte ausgerechnet Herr Kissing bei ihm anrufen? Und dann
auch noch von einer Telefonzelle aus, wo er doch sein Handy niemals aus
der Hand legte - das behauptete Leo jedenfalls. Trotzdem hielt es Phil für
ratsam, Herrn Skibinski davon zu erzählen.
Herr Skibinski kniff die Augen zusammen. „Wir werden ihn überprüfen." Er
wandte sich den Laptops zu. „Könnte da das Programm für das neue Spiel
drauf sein?"
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„Das weiß ich nicht", antwortete Phil. Für die Programme hatte er sich bisher
nie interessiert. Wichtig war für ihn ausschließlich, dass die Spiele auf
seinem Computer liefen.
„Ich darf doch", sagte Herr Skibinski und startete bereits die gesamte
Computertechnik.
„Das wird Ihnen wenig nützen - ich kenne die Passwörter nicht", warf Phil
ein.
Herr Skibinski überhörte die Bemerkung. In Windeseile ließ er seine
schlanken Finger über die Tastatur des ersten Laptops huschen. Nach etwa
einer halben Stunde machte sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem
Gesicht breit. Er war im Datenverzeichnis und suchte nach einer bestimmten
Datei. Da Herr Skibinski die Buchstaben mit unglaublicher Geschwindigkeit
eingab, konnte Phil nur den ersten Teil des Namens lesen, bevor
die Datei gelöscht war - Die Suche nach ...
„Warum haben Sie das getan?", fragte er entsetzt.
„Wir vermuten, dass das Verschwinden deiner Eltern im Zusammenhang
mit dem Spiel steht, an dem sie zuletzt gearbeitet haben. Es darf auf keinen
Fall in die falschen Hände gelangen", antwortete Herr Skibinski, während
er noch einige weitere Dateien entfernte. Nachdem er auf dem zweiten
Laptop ganze Datenverzeichnisse gelöscht hatte, öffnete Herr Skibinski
die CD-Laufwerke, doch sie waren leer. „Hätte mich auch gewundert",
murmelte er.
„Wie heißt das Spiel?" Phil war es nicht gelungen, den Namen herauszufinden.
„Je weniger du weißt, desto besser für dich."
„Und was ist, wenn die Entführer meine Eltern gegen das Programm eintauschen
wollen?" In Phils Schläfen begann es unangenehm zu pochen -
dieser Polizist behandelte ihn wie einen kleinen Jungen.
Herr Skibinski ließ die Geräte wieder herunterfahren und sagte, ohne sich
umzudrehen: „Die Datei existiert auch in der Firma. Dort ist sie besser auf14
gehoben. Herr Sanders wird entscheiden, was weiter damit geschehen
wird."
„Aber es geht um meine Eltern!", rief Phil wütend.
„Herr Sanders weiß, was er tut", versicherte Herr Skibinski, der unterdessen
das CD-Regal gründlich untersuchte. „Gibt es noch andere Plätze, an
denen deine Eltern CDs oder DVDs aufbewahren?"
„Im Wohnzimmer sind Musik-CDs und Filme."
Herr Skibinski winkte ab. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Eltern
keine Sicherheitskopie im Haus deponiert haben."
„Sieht aber ganz danach aus", sagte Phil gereizt und ließ sich auf einen
der Bürostühle fallen. „Und wie geht es jetzt weiter, was wird die Polizei
unternehmen?"
Herr Skibinski schaute auf seine Uhr und hatte es plötzlich eilig. „Das erfährst
du später. Ich muss noch meine Sachen holen. Hab leider meine
Tasche zu Hause stehen lassen. Du fürchtest dich doch nicht, wenn ich
dich jetzt für eine halbe Stunde allein lasse, oder?"
„Nein, ich bin vollkommen entspannt", erwiderte Phil eine Spur trotziger,
als er beabsichtigt hatte. Herr Skibinski hastete aus dem Zimmer.
Einen Augenblick später hörte Phil die Haustür zufallen.
Lu klopfte an. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber was wollte der
Mann hier? Wo bleiben Ihre Eltern, Phil? Ich dachte, Sie kommen gemeinsam
nach Hause."
„Meine Eltern sind verschwunden - die Polizei sucht nach ihnen."
Phil raffte sich auf. „Wenn du mir 'ne große Tasse heißen Kakao machst,
erkläre ich dir alles."
Er hatte sich gerade auf die gepolsterte Sitzbank in der Küche gesetzt, als
es läutete. Der Skibinski ist aber schnell, dachte Phil enttäuscht. Da Lu am
Herd klapperte, öffnete Phil die Haustür.
Vor ihm stand ein junger Mann mit braunem Lockenkopf und lachenden
wässrig blauen Augen, neben sich eine prall gefüllte Sporttasche.
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„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Skibinski, Arne Skibinski. Ich bin
ab heute auf unbestimmte Zeit für deine Sicherheit zuständig. Ich werde
sozusagen dein Schutzengel sein", sagte er, als sei dies das Normalste
auf der Welt. „Eigentlich sollte ich dich von der Firma abholen und dich
nach Hause bringen, aber irgendjemand hat alle vier Reifen meines
Dienstwagens zerstochen. Ich musste die Pannenhilfe rufen. Die Polizei
verfügt leider nicht über genügend zivile Fahrzeuge und mit einem Streifenwagen
wollte ich hier unter keinen Umständen aufkreuzen, das lockt
nur die Nachbarn an. Meine Kollegen, die den Eingang zu Sanders' Playworld
kontrollieren, sagten mir, ein Polizist hätte dich mitgenommen. Da
bin ich sofort hierher gefahren."
Phil starrte ihn an wie eine Erscheinung. „Herr Skibinski hat mich hergebracht."
Er löste kurz den Blick von dem Mann und wies auf den dunkelblauen VW,
der vor der Auffahrt stand - „in dem Wagen dort".
Der junge Mann sah ihn besorgt an. „Hör mal - was heute passiert ist,
muss ein furchtbarer Schock für dich sein, aber dieser VW war für mehr als
zwei Stunden vollkommen außer Gefecht gesetzt. Ich habe ihn die ganze
Zeit bewacht, damit keiner der Monteure zwischendurch Kaffee holen geht.
Du musst wissen, dass ich noch niemals mit dem Schutz einer Person beauftragt
war. Wollte es nicht gleich am ersten Tag vermasseln."
Er zog etwas aus der Brusttasche seiner Jeansjacke und hielt es Phil unter
die Nase. „Hier ist meine Dienstmarke." Phil betrachtete sie aufmerksam.
„Der andere Skibinski hatte einen Zettel dabei, wo etwas von Personenschutz
und SOKO Marten draufstand"‚ bemerkte er.
„So? Das ist eigentlich nicht üblich. Hat er dir auch seinen Dienstausweis
oder - wenn er von der Kripo war - seine Dienstmarke gezeigt?"
Phil dachte an das Gespräch mit dem Polizisten vor dem Haus. Er musste
zugeben, dass er nichts dergleichen zu sehen bekommen hatte.
„Jeder anständige Polizist weist sich unaufgefordert aus. Der Zettel, den er
bei sich hatte, ist wertlos - den kann jeder geschrieben haben. Wahr16
scheinlich ist er ein Betrüger - ich hoffe, er hat keinen Schaden angerichtet",
belehrte ihn der Mann.
Phil durchfuhr es siedend heiß. „Er hat das Programm gelöscht, an dem
meine Eltern zuletzt gearbeitet haben. Er sagte, es sei besser, wenn nur
Herr Sanders eine Kopie besitzt."
Der Mann pfiff durch die Zähne. „Wie ich sehe, gibt es gleich richtig Arbeit
für mich." Seine blauen Augen blickten Phil erwartungsvoll an.
Phil fühlte sich vollkommen überrumpelt. In seinem Kopf herrschte ein heilloses
Durcheinander. Was wurde hier gespielt? Hatte der Mann in Uniform
etwas mit dem Verschwinden seiner Eltern zu tun? Und was war mit diesem
Mann. Konnte er ihm vertrauen oder war es klüger, ihm die Tür vor
der Nase zuzuschlagen und sich mit Lu im Haus zu verschanzen?
„Falls du an meiner Identität zweifelst, werde ich meinen Chef und noch
ein paar Kollegen hierher beordern. Sie können bestätigen, dass alles seine
Richtigkeit hat. So lange werde ich draußen warten", schlug der Mann
vor, als könnte er Phils Gedanken erraten.
Noch mehr Polizisten - das war das Letzte, was Phil sich momentan
wünschte. Außerdem wirkte der Mann ehrlich. Trotzdem beschloss Phil,
dieses Mal wachsamer zu sein.
„Kommen Sie rein", sagte er und tat einen Schritt zur Seite.
Erleichtert trat der Mann ein. Ehe sich die Kamera meldete, rief Phil laut
„das ist Herr Skibinski" in die Diele. Ein kurzes Surren war zu hören.
Dann sprang plötzlich ein Garderobenständer herbei und stellte sich Herrn
Skibinski in den Weg, zwei metallische Arme drohend erhoben, in der einen
Hand ein Stoppschild. Die Sprungfedern seiner Metallfüße wippten.
„Eisenherz, was ist los?", rief Phil erschrocken.
„Eindeutige Identifizierung ausgeschlossen. Bild stimmt nicht überein", bellte
der Garderobenständer.
Herr Skibinski hatte beim ersten Geräusch seine rechte Hand unter die
Jeansjacke gleiten lassen. Gespannt musterte er den Garderobenständer.
Unter einem Strohhut war eine Kamera versteckt, die auf ihn gerichtet war.
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Der Ständer sah nicht aus, als ob er ohne Weiteres weichen würde. Phil
dachte nach. „Speichere dieses Bild unter Arne Skibinski und den Mann in Uniform
unter Falscher Skibinski", entschied er.
Nach einem leisen Summton hüpfte der Garderobenständer auf seinen
Platz zurück und drehte das Schild in seiner Metallhand um. Herzlich willkommen,
war jetzt darauf zu lesen. „Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?",
ertönte die heisere Stimme. „Nein, vielen Dank", antwortete Herr Skibinski.
„Das wollte ich auch gerade fragen", meldete sich Lu, der angelockt durch
den Lärm mit einem Nudelholz bewaffnet in der Küchentür stand.
Herr Skibinski war beim Klang von Lu's Stimme herumgeschnellt, die Hand
noch immer unter der Jeansjacke.
„Alles in Ordnung, Lu", rief Phil schnell. „Er ist Polizist."
Als Lu zu einer Frage ansetzen wollte, winkte er ab. „Nicht wundern, ich
erkläre dir gleich alles."
Lu nickte und verschwand wieder in der Küche, wo ihm die Herdplatte mit
einer hellen Frauenstimme verkündete, dass sie durch rechtzeitiges Abschalten
das Überkochen der Milch verhindert hat.
„Tut mir leid, aber bei uns ist manches anders als bei anderen. Daran werden
Sie sich gewöhnen müssen", entschuldigte sich Phil.
Herr Skibinski schmunzelte: „Solange der Garderobenständer nicht gleich
das Feuer eröffnet, geht es ja."
"Schießen kann er zwar nicht, aber Karate. Außerdem ist er kugelsicher."
Phil schaute belustigt auf die Hand von Herrn Skibinski, die noch immer
unter der Jacke steckte. Daraufhin schob Herr Skibinski beide Hände in die
Taschen seiner Jeans.
„Das sollten Sie Schneewittchen lieber nicht sehen lassen", warnte Phil.
„Wer ist Schneewittchen?"
„Der Spiegel."
Herr Skibinski stellte sich neugierig vor den Spiegel. Dieser hatte offensichtlich
von der Aufregung nichts mitbekommen, zumindest tat er erstaunt:
„Sie sehen ohne Uniform ganz anders aus. Du meine Güte, hatten
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Sie all diese Locken unter der Mütze versteckt? Und nehmen Sie doch bitte
die Hände aus den Taschen. Nein, diese jungen Leute heutzutage."
Herr Skibinski gehorchte und ging rasch außer Sichtweite des Spiegels,
bevor dieser sich über seine an manchen Stellen ausgefranste Jeans auslassen
konnte.
Lu hatte inzwischen eine Tasse mit dampfendem Kakao auf den Tisch gestellt.
Als Phil mit dem neuen Gast in der Tür erschien, verbeugte er sich
leicht und fragte Herrn Skibinski, ob er heißen Kakao wünsche.
Dieser nickte erfreut. „Das könnte ich jetzt wirklich gut vertragen, danke.
Ich bin übrigens Arne Skibinski." Mit einer unbeholfenen Verbeugung
streckte er Lu seine Hand entgegen, der sie daraufhin mit leichtem Druck
schüttelte.
„Noch ein Herr Skibinski. Das ist interessant", bemerkte Lu, während er eine
zweite Tasse mit Kakao füllte. „Ist meine Anwesenheit weiterhin erwünscht?"
Phil nickte. Lu setzte sich zu ihnen und sah Phil mit seinen großen dunkelblauen
Augen an. Herr Skibinski trommelte lautlos mit den Fingerkuppen
gegen seine Tasse.
Obwohl es ihn große Überwindung kostete, erzählte Phil, was er an diesem
Nachmittag erlebt hatte. Nur den Besuch bei Bertoli verschwieg er,
weil Lu den Standpunkt seiner Mutter vertrat: man kann alles probieren,
wenigstens einmal.
Als Phil von dem merkwürdigen Verhalten des Mannes in Uniform berichtet
hatte, bat Herr Skibinski um Papier, Bleistift und Radiergummi. Anschließend
musste Phil den Mann so genau wie möglich beschreiben. Dabei begann
Herr Skibinski, ein Phantombild zu entwerfen. Immer wieder fragte er
Phil nach Einzelheiten des Kopfes - Augen, Nase, Mund. Am besten konnte
sich Phil an die langen schlanken Finger erinnern, aber die gehörten
nicht auf das Bild.
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Herr Skibinski malte sehr schnell und genau. Fasziniert beobachtete Phil,
wie auf dem Papier tatsächlich der Kopf des Mannes entstand, der sich als
Polizist ausgegeben hatte.
„Und - ist er das?" Herr Skibinski hielt das Blatt hoch.
„Besser hätte ihn ein Schwarz-Weiß-Foto auch nicht treffen können", sagte
Phil anerkennend. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand auf die
Stirn und stürzte davon.
Herr Skibinski sah ihm nach. „Was hat er denn?"
„Bedaure, aber das weiß ich nicht", antwortete Lu.
Nach einigen Minuten kam Phil mit zwei farbig bedruckten Blättern zurück.
Das eine zeigte ein Ganzkörperbild von dem „falschen Skibinski", auf dem
anderen war sein stark vergrößertes Gesicht zu sehen. Die Kamera des
Garderobenständers hatte die Aufnahmen gemacht.
„Ihr Foto ist übrigens auch ganz gut geworden."
„Kein Wunder bei dem Original." Herr Skibinski grinste, wurde allerdings
gleich wieder ernst. „Wir müssen unbedingt meine Dienststelle und Herrn
Sanders informieren." Er deutete auf das ausgedruckte Bild mit dem Kopf
des Polizisten. „Hast du einen Computer, mit dem du das hier per E-Mail
verschicken kannst?"
„Klar", erwiderte Phil stolz.
Herr Skibinski gab ihm die Adresse seiner Dienststelle. Während Phil das
Bild versendete, telefonierte Herr Skibinski mit seinem Chef. Anschließend
rief Phil in der Firma an.
Herr Sanders war außer sich. „Das darf doch nicht war sein", tobte er am
anderen Ende der Leitung. „Ist denn die Polizei nicht einmal in der Lage,
einen Jungen zu beschützen? Ich werde mich sofort mit dem Polizeipräsidenten
in Verbindung setzen ..."
Phil musste den Hörer ein Stück von seinem Ohr weg halten. Herr Sanders
brüllte so laut, dass Herr Skibinski, der etwas entfernt stand, jedes Wort
mithörte. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. „Gestattest du?" Er streckte
die Hand aus. Erleichtert gab Phil den Hörer ab.
20
„Guten Tag, Herr Sanders." Herr Skibinski betonte jedes Wort. „Hier ist
Kommissar Skibinski. Ich bin für die Sicherheit von Phil Marten verantwortlich
und werde ihn nach diesem bedauerlichen Zwischenfall nicht mehr aus
den Augen lassen." Er stellte auf Lautsprecher um, obwohl das unnötig
war.
„Einen bedauerlichen Zwischenfall nennen Sie das? Haben Sie schon darüber
nachgedacht, was alles hätte passieren können?", donnerte Herr
Sanders.
„Ich denke an nichts anderes, das können Sie mir glauben. Hier war offensichtlich
ein Profi am Werk. Haben Sie sich von dem Mann Dienstausweis
oder -marke zeigen lassen?", fragte Herr Skibinski beiläufig. Am anderen
Ende der Leitung wurde es still. „Daran kann ich mich nicht so genau erinnern,
aber ich bin davon ausgegangen, dass alles seine Richtigkeit hat,
wenn so viele Leute in Uniform herumlaufen", antwortete Herr Sanders
schließlich, nicht mehr ganz so laut.
„Sehen Sie, allen anderen ging es genauso", hakte Herr Skibinski nach.
„Besitzen Sie eine Kopie des Spiels, an dem Phils Eltern zuletzt gearbeitet
haben?"
Herr Sanders schwieg einen Augenblick. „Die sollte ich erst am Montag erhalten.
Ich muss auch ehrlich zugeben, dass ich über dieses Spiel wenig
informiert bin. Mir ist lediglich bekannt, dass Anna und Thomas einen Minisender
für die Steuerung entwickelt haben. Am kommenden Montag wollten
sie mir ihre Erfindung zusammen mit dem Spiel vorstellen."
Herr Skibinski zog die Augenbrauen hoch. „Das überrascht mich jetzt, Herr
Sanders - also mein Chef verlangt über jeden meiner Schritte einen ausführlichen
Bericht - am besten schriftlich."
„Nun, ich war in letzter Zeit geschäftlich viel unterwegs. Außerdem genießt
das Ehepaar Marten mein vollstes Vertrauen. Eine Kontrolle ihrer Arbeit ist
von meiner Seite aus absolut überflüssig - sie haben freie Hand", unterbrach
ihn Herr Sanders ungeduldig.
anderen Hand setzte Phil die Wasserflasche an den Mund.
2
Der Kühlschrank gab sich jedoch nicht so schnell geschlagen: „Suche
nach Alternativen." Das hektische Flackern einiger Kontrollleuchten war ein
Zeichen dafür, dass sein elektronisches Gehirn auf Hochtouren arbeitete.
Da Phil keine Lust hatte, sich sämtliche Vorschläge für eine vitaminreiche
Kost anzuhören, beendete er kurzerhand das Ernährungsberatungsprogramm.
„Was gibt es heute Abend zu essen?", fragte er.
„Auskunft unmöglich", schnarrte der Kühlschrank.
„Komm schon, Herbert! Verrate mir wenigstens das aktuelle Passwort von
deinem Geheimfach! Dann kann ich selbst nachsehen. Keiner merkt was."
„Auskunft unmöglich. Bitte Tür schließen. Muss Solltemperatur wieder einstellen."
Bevor Phil die einzelnen Fächer nach dem Rest Schokoladenpudding
vom Vortag durchstöbern konnte, ertönte ein Warnsignal. „Bitte von
der Tür entfernen. Tür wird automatisch geschlossen."
Mit einem Knall flog die schwere Tür zu, deren Display neben der Belegung
der einzelnen Fächer (in der Spalte für das Geheimfach stand „Überraschung")
nun außerdem anzeigte, dass sich nur noch eine Flasche Mineralwasser
im Kühlschrank befand.
Enttäuscht stellte Phil fest, dass der Schokoladenpudding aus der Liste
verschwunden war. „Du könntest ruhig ein bisschen netter sein." Er warf
dem Kühlschrank einen vorwurfsvollen Blick zu. „Nimm dir ein Beispiel an
Lu!"
Phil steckte den Kopf durch die Küchentür und rief: "Lu, was gibt's heute
Abend?"
„Tut mir leid, Phil, aber Ihre Mutter hat mich gebeten, nichts zu verraten.
Auch das Passwort von Herberts Geheimfach nicht." Lu wirbelte mit einem
Staubwedel über den Garderobenständer.
„Na schön, dann eben nicht", seufzte Phil und machte sich auf den Weg
ins Badezimmer.
Zumeist überließ Phils Mutter die Zubereitung der Mahlzeiten Lu, doch ab
und zu überraschte sie ihre Familie mit Gerichten, deren Zutaten man nach
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Phils Ansicht nur in einer Zoohandlung erwerben konnte (zum Beispiel Hirse
oder getrocknete Algen).
Zum Glück hatte vor gut einem Jahr ganz in der Nähe ihres Hauses Bertoli's
Pizzeria eröffnet. Nach einer großen Salamipizza würde Phil dem Überraschungsessen
seiner Mutter gelassener entgegen sehen.
Anna Marten behauptete von sich, als Hausfrau unbegabt zu sein. Es war
nicht so, dass sie sich keine Mühe gab, doch es kam häufig vor, dass sie
plötzlich alles stehen und liegen ließ und an ihren Laptop stürzte. Phils Vater
hatte daher den Vorschlag gemacht, die Hausarbeit jemand anderem
zu überlassen, nachdem er innerhalb eines Monats zwei seiner Lieblingsshirts
in der Mülltonne entdeckt hatte - mit einem dunkelbraunen Abdruck
des Bügeleisens.
Lu bewohnte ein kleines Zimmer gleich neben dem Eingang und gehörte
praktisch zur Familie. Er kümmerte sich um alles, und Phils Eltern hatten
mehr Zeit, sich ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen - dem Programmieren.
Anna und Thomas Marten beherrschten alle Arten von Programmiersprachen.
Das machte das Leben im Haus nicht immer einfach, aber
zweifellos aufregend.
Die Dusche mit automatischer Temperatureinstellung, unter der Phil momentan
stand, wollte zum Beispiel partout nicht einsehen, dass er nicht
daran dachte, kalt zu duschen, obwohl es doch „ungemein den Kreislauf
belebt und die Abwehrkräfte steigert", wie ihm eine zischelnde Stimme
mehrmals versicherte.
Der Kleiderschrank gab es irgendwann auf, Phil das dunkelgrüne T-Shirt
zur blauen Jeans auszureden. Immerhin verriet er, in welcher Schublade
sich Phils Lieblingssocken befanden.
Auch der mannshohe Spiegel in der Diele regte sich über Phils T-Shirt auf,
das seiner Meinung nach viel zu weit war und in die Hose gesteckt gehörte.
Mit der Frisur war er ebenfalls unzufrieden. „Wie kannst du nur so liederlich
herumlaufen. Wenigstens kämmen solltest du dich", nörgelte der
Spiegel.
4
Phil fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte schwarze Haar. Für ihn
war die Sache damit erledigt.
Phil war für einen Dreizehnjährigen auffallend groß und muskulös. Er hatte
ein schmales Gesicht und leuchtende graublaue Augen. Viele Mädchen in
der Schule schwärmten heimlich für ihn, aber Phil kümmerte sich nicht
darum. Das einzige Mädchen, das ihm gefiel, hieß Elisa May und ging
nicht auf seine Schule. Er kannte sie nur aus dem Fernsehen, wo sie an
jedem Freitag Nachmittag eine Musiksendung für junge Leute moderierte.
Elisa war wortgewandt und witzig. Wenn sie lachte, blitzten hinter ihren
vollen Lippen makellose weiße Zähne und ihre Augen, deren Farbe Phil an
das helle Grün von klarem Meerwasser erinnerte, strahlten.
Nur selten verpasste Phil ihre Sendung, doch an diesem Freitag hatte er
etwas Wichtigeres vor - er wollte seine Eltern in der Firma besuchen, genau
genommen musste er dort arbeiten.
Phil hatte einen Schülerjob bei Sanders' Playworld, einem Hersteller von
Computerspielen. Anna und Thomas Marten waren dort für die Programmierung
neuer Spiele verantwortlich. Meistens schrieben sie das Drehbuch
für die Handlung selbst. Grafiker, Designer und 3D-Animatoren halfen ihnen
bei der Umsetzung ihrer Ideen. Waren die Bewegungsabläufe zu
kompliziert, wurden Schauspieler eingesetzt. Phil hatte einmal zugesehen,
wie ein Mann in einem Spezialanzug, der mit sogenannten Messpunkten
ausgestattet war, fast eine Stunde lang an einem Reck turnen musste. Eine
Kamera filmte ihn dabei und lieferte die Daten an einen Computer. Hinterher
schaute Phil zu, wie die Bewegungen des Schauspielers in die eines
Affen übersetzt wurden, der sich von Baum zu Baum hangelte.
Er durfte - abgesehen von den engsten Mitarbeitern seiner Eltern - jedes
Spiel als Erster austesten und bewerten. Viele beneideten ihn darum, und
dass nicht nur, weil Phil die begehrten Computerspiele besaß, lange bevor
man sie kaufen konnte. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Inhaber
von Sanders' Playworld - Alfred Sanders - alle, die für ihn arbeiteten,
großzügig bezahlte.
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Über das neue Spiel hatten Phils Eltern wie üblich kaum etwas verraten.
Sie hatten sogar auf jede Hilfe verzichtet, ihre Mitarbeiter bereiteten ein
anderes Spiel vor. Es war nur bekannt, dass sie einen Minisender entwickelt
hatten, der es möglich machte, die Spielfiguren durch Zurufen oder -
mit etwas Übung - durch Gedankenübertragung zu steuern. Diesen Minisender
wollten sie in ein hübsches Amulett einbauen lassen.
Phil hatte sich einen goldenen Drachen gewünscht. Seine Eltern wollten
sehen, was sich machen lässt - schließlich hatte Phil bald Geburtstag.
Außerdem sollte es noch eine Überraschung geben, „die dich vom Hocker
haut", wie Thomas Marten seinem Sohn versprochen hatte. Dabei hatten
sich seine Eltern geheimnisvoll zugezwinkert.
Im Bus zum Firmengelände klopfte Phil die verräterischen Mehlspuren von
seinem T-Shirt. Bertoli hatte ihn mit einem kräftigen Schulterklopfen begrüßt.
Sein mit Mehl bestäubter Schnauzbart hatte gezittert, als er Phil
fragte: „Mamas Experimente in der Küche treffen wohl wieder einmal nicht
deinen Geschmack?" Phil war nach der Eröffnung der Pizzeria der erste
Gast gewesen. Seitdem hatte ihn der rundliche Bertoli ins Herz geschlossen.
Der Fahrer hielt genau vor dem großen schmiedeeisernen Tor zu Sanders'
Playworld. Neben dem Tor standen drei Polizeiwagen. Außerhalb und innerhalb
des kugelsicheren Wachhäuschens standen Polizisten. Phil wurde
nach seinem Namen gefragt. Er zeigte seinen Firmenausweis (ohne solch
einen Ausweis konnte sich niemand in der Firma bewegen, ohne Alarm
auszulösen). Nach einem kurzen Wortwechsel mit den firmeneigenen Sicherheitsleuten,
dessen Inhalt Phil trotz angestrengten Lauschens nicht
mitbekam, durfte er passieren. Bildete er sich das nur ein, oder sahen ihn
die Männer mitleidig an?
Auf dem Weg zur Abteilung Forschung und Entwicklung kamen Phil zwei
aufgeregt miteinander diskutierende Angestellte entgegen. Einer von ihnen
deutete mit dem Kopf in Richtung Fenster. Phil verstand nicht, was sie
sagten; als sie ihn erblickten, verstummten sie schlagartig. „Hallo, Phil",
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grüßten sie kurz im Vorbeigehen. Phil warf einen flüchtigen Blick nach
draußen. Auf dem eigentlich immer streng bewachten Firmengelände
wimmelte es von Polizisten und Einsatzfahrzeugen. Auch der für die Forschungsabteilung
zuständige Wachmann hatte Verstärkung durch die Polizei
erhalten.
Während Phil seinen Ausweis vorlegte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl.
Dieses Gefühl verstärkte sich, als er die Tür zum Büro seiner Eltern verschlossen
und mit einem Siegel versehen vorfand.
Ein schmächtiger Polizist, den Phil bisher nicht bemerkt hatte, kam langsam
auf ihn zu. „Guten Tag, mein Junge. Wen suchen wir denn?", fragte er
mit zusammengekniffenen Augen.
„Ich bin mit meinen Eltern verabredet. Sie arbeiten hier." Phil bemühte
sich, das aufkommende Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. Der
Mann musterte ihn: „Dann musst du Phil Marten sein."
Auf Phils Nicken hin machte er eine einladende Bewegung mit seinem
rechten Arm. „Bitte folge mir in das Büro von Herrn Sanders."
Sie passierten die Wachposten und nahmen die Treppe nach oben. Phil
wusste, dass sich das Büro des Geschäftsführers unmittelbar über der
Forschungsabteilung befand, auch wenn er die Chefetage noch nie betreten
hatte.
Nach scheinbar endlosen Stufen hatten sie das oberste Stockwerk erreicht
und standen vor einer Stahlplatte, deren polierte Oberfläche eine eigenartige
Kälte ausstrahlte. Der Polizist drückte auf einen Klingelknopf. „Ja, bitte?",
ertönte eine Frauenstimme aus der Sprechanlage.
„Ich bringe Phil Marten", verkündete der Polizist.
Die Stahlplatte verschwand in der Wand, und sie betraten einen kurzen
Flur. Nachdem der Eingang in Sekundenschnelle wieder verschlossen war,
öffnete sich eine Stahlplatte am anderen Ende. Phil hatte es sehr eilig, aus
dem engen Flur herauszukommen, doch dann blieb er überrascht stehen.
Sie mussten sich unter der goldfarben schimmernden Kuppel befinden, die
dem Gebäude das Aussehen einer Moschee verlieh. Von innen war das
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Kuppeldach durchsichtig wie Glas. Ohne das Metallgerüst, das dem Netz
aus Längen- und Breitengraden auf der oberen Hälfte eines Globusses
ähnelte, hätte man das Gefühl haben können, unter freiem Himmel zu stehen.
Sonne durchflutete eine weiträumige runde Halle, die eine Landschaft
darstellte.
Staunend betrachtete Phil einen rauschenden Wasserfall, der aus einem
Felsen hervorquoll und sich in einen kristallklaren See ergoss, dessen Untergrund
aus glattem tiefblauen und türkisfarbenen Gestein bestand. Im
Wasser spiegelten sich ein paar verlorene weiße Wolken. Auf dem hellen
feinen Sand um den See herum waren zwischen hohen Palmengewächsen
einige Liegestühle und kleine Tische aufgestellt. Auf der rechten Seite
der Halle führte eine gläserne Schiebetür zu einer Dachterrasse, die mit
exotischen Gewächsen bepflanzt war. Noch während Phil Bananenstauden
und goldgelbe Ananasfrüchte bewunderte, schob ihn der Polizist auf
eine geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite zu. Eine auffallend
hübsche junge Frau erwartete sie.
„Guten Tag! Bitte folgen Sie mir!", säuselte sie und trippelte auf halsbrecherisch
hohen Pumps durch das Vorzimmer. Vor einer weiteren Tür blieb
sie stehen und klopfte. Nach einem deutlich vernehmbaren „Herein!" betraten
Phil und sein Begleiter das Büro des Geschäftsführers, während die
junge Frau geräuschlos die Tür hinter ihnen schloss.
Herr Sanders verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch und kam ihnen
entgegen.
Er war um einiges größer und breiter als Phil und hatte wachsame stahlgraue
Augen. Zur Begrüßung streckte er ihnen die Hand entgegen. Dabei
fiel Phil ein breiter Goldring in Form einer Schlange auf, die jedoch Flügel
und einen stachligen Schwanz besaß und ihn aus zwei kleinen blitzenden
Rubinen anstarrte. Der Kopf ähnelte mehr dem eines Drachen und von
den Augen ging eine seltsame Energie aus, die Phil Unbehagen bereitete.
Er war deshalb froh, als Herr Sanders seine beiden Besucher bat, Platz zu
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nehmen, worauf jeder von ihnen in einem der weichen Sessel versank, die
um einen ovalen Couchtisch gruppiert waren.
Herr Sanders saß Phil gegenüber. „Ich habe die traurige Pflicht", begann
er ohne Umschweife, „dir mitzuteilen, dass deine Eltern heute spurlos verschwunden
sind. Den genauen Zeitpunkt kennen wir nicht. Die Polizei
vermutet einen Fall von Entführung, allerdings gibt es bis jetzt keinerlei
Anhaltspunkte. Zurzeit dauern die Untersuchungen in der Firma noch an.
Wir alle hoffen, dass wir deine Eltern bald unversehrt wiederfinden, Phil."
Phil brauchte eine Weile, um die Worte zu begreifen. Ihm wurde schwindlig
- als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Er spürte,
wie das Blut aus seinem Gesicht wich und sich gleichzeitig eine
furchtbare Leere in seinem Kopf breit machte. Wie durch einen dichten
Nebel vernahm er erneut die Stimme von Herrn Sanders: „Geht's dir nicht
gut, mein Junge?"
Phil klammerte sich an der Tischplatte fest.
„Natürlich nicht - was für eine Frage!" Herr Sanders stemmte sich aus seinem
Sessel hoch und eilte zu der Schrankwand hinter seinem Schreibtisch.
Wenig später stellte er Phil ein Kristallglas mit sprudelndem Mineralwasser
hin.
Mechanisch nahm Phil das schwere Glas, doch seine Hand zitterte so heftig,
dass er einen Teil des Wassers verschüttete. Schnell stellte Phil das
Glas wieder hin.
Herr Sanders beugte sich zu ihm vor. „Ich weiß, dass es ein ziemlicher
Schock für dich sein muss. Aber ich muss dich trotzdem fragen: Haben
sich deine Eltern über irgendetwas Sorgen gemacht oder ist dir etwas Ungewöhnliches
aufgefallen?" Phil gelang es, vorsichtig den Kopf zu schütteln.
Er hatte einen Kloß im Hals, der ihm das Sprechen unmöglich machte.
„Ist dir bekannt, woran deine Eltern zuletzt gearbeitet haben?" Herr Sanders
sprach leise, ohne den Blick von Phil zu wenden. Phil schluckte ein
paar Mal. „Sollte heute neues Spiel testen mit dem Amulett", murmelte er
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mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. Doch Herr Sanders hatte
ihn offenbar verstanden. „Haben sie dir etwas über dieses Spiel erzählt -
hast du vielleicht schon einmal eine Kopie davon gesehen?", fragte er eindringlich.
Phil schüttelte wiederum den Kopf. Warum interessierte ihn das? Für Phil
war das Spiel vollkommen unwichtig geworden, er wollte nur seine Eltern
wiederhaben.
Herr Sanders schien seine Gedanken zu erraten - er sah zu dem Polizisten
hinüber und nickte kurz. Daraufhin stand dieser auf. Auch Herr Sanders
erhob sich.
„Man wird dich jetzt nach Hause bringen, Phil. Wenn du Hilfe brauchst
oder dir etwas Wichtiges einfällt - hier hast du sämtliche Nummern und
Adressen, unter denen du mich erreichst. Du kannst mich jederzeit anrufen."
Bei diesen Worten reichte Herr Sanders Phil eine Visitenkarte. Phil
steckte sie in die Hosentasche und ließ sich von dem Polizisten hinausführen.
In dem engen Flur zwischen den stählernen Schiebetüren drückte der
Mann auf einen Knopf neben einer dritten Metalltür, die Phil erst jetzt bemerkte.
Lautlos öffnete sich eine Fahrstuhltür. Phil war froh, dass ihm die
Treppen erspart blieben. Er fühlte sich schwach, seine Knie zitterten.
Kurze Zeit später saß Phil neben dem Polizisten in einem dunkelblauen
VW. Während der Fahrt sprach niemand ein Wort.
Vor dem Haus der Martens stiegen sie aus. Als Phil sich verabschieden
wollte, hielt ihn der Polizist fest. „Hör zu, ähm, ich bin für deine Sicherheit
zuständig. Das heißt, dass ich ab jetzt Tag und Nacht jeden deiner Schritte
überwachen werde. Du weißt, was das bedeutet?" Ohne jede Regung wartete
Phil auf die Erklärung. „Nun, ich werde bei dir wohnen müssen."
Ehe er etwas erwidern konnte, fuchtelte der Polizist mit einem Blatt Papier
vor seinem Gesicht herum. Phil versuchte, den Text zu lesen, aber das
Einzige, was er wirklich wahrnahm, war das Wort Personenschutz in
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schwarz glänzenden Großbuchstaben über einigen klein gedruckten Zeilen
sowie die krakelige Unterschrift des Einsatzleiters der SOKO Marten.
Stirnrunzelnd blickte Phil auf: „SOKO Marten?"
„Sonderkommission Marten", sagte der Polizist und faltete das Blatt wieder
zusammen.
Ein flaues Gefühl breitete sich von Phils Magen her über seinen ganzen
Körper aus. Als ob die Ungewissheit über das Schicksal seiner Eltern nicht
schon schlimm genug war, wurde er noch dazu bewacht wie ein Schwerverbrecher.
„Ist nur zu deinem Besten", versicherte ihm der Mann.
Wortlos drehte sich Phil um und schloss die Tür auf. Der Polizist folgte
ihm.
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Einquartierung
Sobald der Polizist die Diele betrat, surrte in der Nähe eine Kamera. „Unbekannte
männliche Person im Eingangsbereich. Bitte um Identifizierung!",
forderte eine Stimme, die an einen heiseren Ziegenbock erinnerte.
„Ist schon gut, das hier ist ..." Phil wandte sich zu dem jungen Polizisten.
„Wie heißen Sie eigentlich?"
„Oh, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen", entschuldigte sich dieser,
nervös nach dem Ursprung der Stimme suchend, „mein Name ist Skibinski."
Als nächstes ließ sich der Spiegel vernehmen: „Guten Tag, Herr Skibinski,
bitte lassen Sie sich ansehen!"
Irritiert blickte Herr Skibinski in den Spiegel. „Die Bügelfalten sind exzellent,
nur die Farbzusammenstellung finde ich etwas ungewöhnlich", urteilte
der Spiegel. „Das ist eine Uniform, er ist Polizist", klärte Phil ihn auf. „Ach
so, dann können Sie ja nichts dafür." Der Spiegel verzichtete auf weitere
Bemerkungen.
Herr Skibinski zupfte mit seinen Fingern an den Bügelfalten der Uniformhose
herum - offensichtlich fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Als Lu
plötzlich vor ihm stand und ihn mit einer leichten Verbeugung höflich begrüßte,
zuckte er zusammen. „Euer Haus steckt ja voller Überraschungen",
sagte er und lachte, doch es klang nicht fröhlich.
Herr Skibinski ließ sich sämtliche Räume des Hauses zeigen. Besonders
interessierte er sich für das Arbeitszimmer der Martens, das mit modernster
Bürotechnik ausgestattet war. Die beiden Laptops hatte Phils Vater
von der letzten Messe mitgebracht. Er tauschte die Geräte jedes Jahr aus
- „damit sie kein Moos ansetzen".
Der Blick von Herrn Skibinski blieb an der Telefonanlage hängen.
„Ihr habt zwei Anrufe erhalten", stellte er fest.
Phil drückte die Wiedergabetaste. Der erste Anrufer war Herr Sanders. Er
bat Phil, sofort in die Firma zu kommen. Er hatte angerufen, nachdem Phil
das Haus verlassen hatte.
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Lu nahm grundsätzlich keine Anrufe entgegen, solange niemand der Familie
Marten zugegen war - so lautete seine Anweisung, und die pflegte er,
wie jede andere auch, gewissenhaft auszuführen.
Der zweite Anrufer hatte nicht auf das Band gesprochen. Anscheinend hatte
er einen Augenblick lang überlegt, denn für einige Sekunden war deutlich
ein Atemgeräusch zu hören, bevor der Hörer aufgelegt wurde.
„Öffentliche Telefonzelle am Theaterplatz", las Phil laut vor.
Herr Skibinski starrte argwöhnisch auf das Telefon. „Ich wusste gar nicht,
dass neuerdings sogar die Nummern von öffentlichen Telefonzellen übertragen
werden."
„Werden sie normalerweise auch nicht. Mein Vater hat ein bisschen herumgetüftelt
- seitdem wird jede Telefonnummer angezeigt."
„Interessant. Weißt du, wer das gewesen sein könnte? Kennst du jemanden,
der dort in der Nähe wohnt?" In der Stimme von Herrn Skibinski lag
ein seltsames Lauern.
Phil beschlich das unangenehme Gefühl, dass er verhört wurde. Er dachte
nach, doch sosehr er sich anstrengte, es wollte ihm beim besten Willen
niemand einfallen. Er hob die Schultern hoch. Da durchzuckte ihn ein Gedanke
- Herr Kissing wohnte am Theaterplatz.
Daniel Kissing arbeitete ebenfalls für Sanders' Playworld, allerdings im
Vertrieb. Er sorgte dafür, dass die neu entwickelten Spiele zum richtigen
Zeitpunkt, zum Beispiel vor Weihnachten oder Ostern, in die Geschäfte
kamen. Sein Sohn Leo ging in Phils Klasse.
Aber warum sollte ausgerechnet Herr Kissing bei ihm anrufen? Und dann
auch noch von einer Telefonzelle aus, wo er doch sein Handy niemals aus
der Hand legte - das behauptete Leo jedenfalls. Trotzdem hielt es Phil für
ratsam, Herrn Skibinski davon zu erzählen.
Herr Skibinski kniff die Augen zusammen. „Wir werden ihn überprüfen." Er
wandte sich den Laptops zu. „Könnte da das Programm für das neue Spiel
drauf sein?"
13
„Das weiß ich nicht", antwortete Phil. Für die Programme hatte er sich bisher
nie interessiert. Wichtig war für ihn ausschließlich, dass die Spiele auf
seinem Computer liefen.
„Ich darf doch", sagte Herr Skibinski und startete bereits die gesamte
Computertechnik.
„Das wird Ihnen wenig nützen - ich kenne die Passwörter nicht", warf Phil
ein.
Herr Skibinski überhörte die Bemerkung. In Windeseile ließ er seine
schlanken Finger über die Tastatur des ersten Laptops huschen. Nach etwa
einer halben Stunde machte sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem
Gesicht breit. Er war im Datenverzeichnis und suchte nach einer bestimmten
Datei. Da Herr Skibinski die Buchstaben mit unglaublicher Geschwindigkeit
eingab, konnte Phil nur den ersten Teil des Namens lesen, bevor
die Datei gelöscht war - Die Suche nach ...
„Warum haben Sie das getan?", fragte er entsetzt.
„Wir vermuten, dass das Verschwinden deiner Eltern im Zusammenhang
mit dem Spiel steht, an dem sie zuletzt gearbeitet haben. Es darf auf keinen
Fall in die falschen Hände gelangen", antwortete Herr Skibinski, während
er noch einige weitere Dateien entfernte. Nachdem er auf dem zweiten
Laptop ganze Datenverzeichnisse gelöscht hatte, öffnete Herr Skibinski
die CD-Laufwerke, doch sie waren leer. „Hätte mich auch gewundert",
murmelte er.
„Wie heißt das Spiel?" Phil war es nicht gelungen, den Namen herauszufinden.
„Je weniger du weißt, desto besser für dich."
„Und was ist, wenn die Entführer meine Eltern gegen das Programm eintauschen
wollen?" In Phils Schläfen begann es unangenehm zu pochen -
dieser Polizist behandelte ihn wie einen kleinen Jungen.
Herr Skibinski ließ die Geräte wieder herunterfahren und sagte, ohne sich
umzudrehen: „Die Datei existiert auch in der Firma. Dort ist sie besser auf14
gehoben. Herr Sanders wird entscheiden, was weiter damit geschehen
wird."
„Aber es geht um meine Eltern!", rief Phil wütend.
„Herr Sanders weiß, was er tut", versicherte Herr Skibinski, der unterdessen
das CD-Regal gründlich untersuchte. „Gibt es noch andere Plätze, an
denen deine Eltern CDs oder DVDs aufbewahren?"
„Im Wohnzimmer sind Musik-CDs und Filme."
Herr Skibinski winkte ab. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Eltern
keine Sicherheitskopie im Haus deponiert haben."
„Sieht aber ganz danach aus", sagte Phil gereizt und ließ sich auf einen
der Bürostühle fallen. „Und wie geht es jetzt weiter, was wird die Polizei
unternehmen?"
Herr Skibinski schaute auf seine Uhr und hatte es plötzlich eilig. „Das erfährst
du später. Ich muss noch meine Sachen holen. Hab leider meine
Tasche zu Hause stehen lassen. Du fürchtest dich doch nicht, wenn ich
dich jetzt für eine halbe Stunde allein lasse, oder?"
„Nein, ich bin vollkommen entspannt", erwiderte Phil eine Spur trotziger,
als er beabsichtigt hatte. Herr Skibinski hastete aus dem Zimmer.
Einen Augenblick später hörte Phil die Haustür zufallen.
Lu klopfte an. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber was wollte der
Mann hier? Wo bleiben Ihre Eltern, Phil? Ich dachte, Sie kommen gemeinsam
nach Hause."
„Meine Eltern sind verschwunden - die Polizei sucht nach ihnen."
Phil raffte sich auf. „Wenn du mir 'ne große Tasse heißen Kakao machst,
erkläre ich dir alles."
Er hatte sich gerade auf die gepolsterte Sitzbank in der Küche gesetzt, als
es läutete. Der Skibinski ist aber schnell, dachte Phil enttäuscht. Da Lu am
Herd klapperte, öffnete Phil die Haustür.
Vor ihm stand ein junger Mann mit braunem Lockenkopf und lachenden
wässrig blauen Augen, neben sich eine prall gefüllte Sporttasche.
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„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Skibinski, Arne Skibinski. Ich bin
ab heute auf unbestimmte Zeit für deine Sicherheit zuständig. Ich werde
sozusagen dein Schutzengel sein", sagte er, als sei dies das Normalste
auf der Welt. „Eigentlich sollte ich dich von der Firma abholen und dich
nach Hause bringen, aber irgendjemand hat alle vier Reifen meines
Dienstwagens zerstochen. Ich musste die Pannenhilfe rufen. Die Polizei
verfügt leider nicht über genügend zivile Fahrzeuge und mit einem Streifenwagen
wollte ich hier unter keinen Umständen aufkreuzen, das lockt
nur die Nachbarn an. Meine Kollegen, die den Eingang zu Sanders' Playworld
kontrollieren, sagten mir, ein Polizist hätte dich mitgenommen. Da
bin ich sofort hierher gefahren."
Phil starrte ihn an wie eine Erscheinung. „Herr Skibinski hat mich hergebracht."
Er löste kurz den Blick von dem Mann und wies auf den dunkelblauen VW,
der vor der Auffahrt stand - „in dem Wagen dort".
Der junge Mann sah ihn besorgt an. „Hör mal - was heute passiert ist,
muss ein furchtbarer Schock für dich sein, aber dieser VW war für mehr als
zwei Stunden vollkommen außer Gefecht gesetzt. Ich habe ihn die ganze
Zeit bewacht, damit keiner der Monteure zwischendurch Kaffee holen geht.
Du musst wissen, dass ich noch niemals mit dem Schutz einer Person beauftragt
war. Wollte es nicht gleich am ersten Tag vermasseln."
Er zog etwas aus der Brusttasche seiner Jeansjacke und hielt es Phil unter
die Nase. „Hier ist meine Dienstmarke." Phil betrachtete sie aufmerksam.
„Der andere Skibinski hatte einen Zettel dabei, wo etwas von Personenschutz
und SOKO Marten draufstand"‚ bemerkte er.
„So? Das ist eigentlich nicht üblich. Hat er dir auch seinen Dienstausweis
oder - wenn er von der Kripo war - seine Dienstmarke gezeigt?"
Phil dachte an das Gespräch mit dem Polizisten vor dem Haus. Er musste
zugeben, dass er nichts dergleichen zu sehen bekommen hatte.
„Jeder anständige Polizist weist sich unaufgefordert aus. Der Zettel, den er
bei sich hatte, ist wertlos - den kann jeder geschrieben haben. Wahr16
scheinlich ist er ein Betrüger - ich hoffe, er hat keinen Schaden angerichtet",
belehrte ihn der Mann.
Phil durchfuhr es siedend heiß. „Er hat das Programm gelöscht, an dem
meine Eltern zuletzt gearbeitet haben. Er sagte, es sei besser, wenn nur
Herr Sanders eine Kopie besitzt."
Der Mann pfiff durch die Zähne. „Wie ich sehe, gibt es gleich richtig Arbeit
für mich." Seine blauen Augen blickten Phil erwartungsvoll an.
Phil fühlte sich vollkommen überrumpelt. In seinem Kopf herrschte ein heilloses
Durcheinander. Was wurde hier gespielt? Hatte der Mann in Uniform
etwas mit dem Verschwinden seiner Eltern zu tun? Und was war mit diesem
Mann. Konnte er ihm vertrauen oder war es klüger, ihm die Tür vor
der Nase zuzuschlagen und sich mit Lu im Haus zu verschanzen?
„Falls du an meiner Identität zweifelst, werde ich meinen Chef und noch
ein paar Kollegen hierher beordern. Sie können bestätigen, dass alles seine
Richtigkeit hat. So lange werde ich draußen warten", schlug der Mann
vor, als könnte er Phils Gedanken erraten.
Noch mehr Polizisten - das war das Letzte, was Phil sich momentan
wünschte. Außerdem wirkte der Mann ehrlich. Trotzdem beschloss Phil,
dieses Mal wachsamer zu sein.
„Kommen Sie rein", sagte er und tat einen Schritt zur Seite.
Erleichtert trat der Mann ein. Ehe sich die Kamera meldete, rief Phil laut
„das ist Herr Skibinski" in die Diele. Ein kurzes Surren war zu hören.
Dann sprang plötzlich ein Garderobenständer herbei und stellte sich Herrn
Skibinski in den Weg, zwei metallische Arme drohend erhoben, in der einen
Hand ein Stoppschild. Die Sprungfedern seiner Metallfüße wippten.
„Eisenherz, was ist los?", rief Phil erschrocken.
„Eindeutige Identifizierung ausgeschlossen. Bild stimmt nicht überein", bellte
der Garderobenständer.
Herr Skibinski hatte beim ersten Geräusch seine rechte Hand unter die
Jeansjacke gleiten lassen. Gespannt musterte er den Garderobenständer.
Unter einem Strohhut war eine Kamera versteckt, die auf ihn gerichtet war.
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Der Ständer sah nicht aus, als ob er ohne Weiteres weichen würde. Phil
dachte nach. „Speichere dieses Bild unter Arne Skibinski und den Mann in Uniform
unter Falscher Skibinski", entschied er.
Nach einem leisen Summton hüpfte der Garderobenständer auf seinen
Platz zurück und drehte das Schild in seiner Metallhand um. Herzlich willkommen,
war jetzt darauf zu lesen. „Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?",
ertönte die heisere Stimme. „Nein, vielen Dank", antwortete Herr Skibinski.
„Das wollte ich auch gerade fragen", meldete sich Lu, der angelockt durch
den Lärm mit einem Nudelholz bewaffnet in der Küchentür stand.
Herr Skibinski war beim Klang von Lu's Stimme herumgeschnellt, die Hand
noch immer unter der Jeansjacke.
„Alles in Ordnung, Lu", rief Phil schnell. „Er ist Polizist."
Als Lu zu einer Frage ansetzen wollte, winkte er ab. „Nicht wundern, ich
erkläre dir gleich alles."
Lu nickte und verschwand wieder in der Küche, wo ihm die Herdplatte mit
einer hellen Frauenstimme verkündete, dass sie durch rechtzeitiges Abschalten
das Überkochen der Milch verhindert hat.
„Tut mir leid, aber bei uns ist manches anders als bei anderen. Daran werden
Sie sich gewöhnen müssen", entschuldigte sich Phil.
Herr Skibinski schmunzelte: „Solange der Garderobenständer nicht gleich
das Feuer eröffnet, geht es ja."
"Schießen kann er zwar nicht, aber Karate. Außerdem ist er kugelsicher."
Phil schaute belustigt auf die Hand von Herrn Skibinski, die noch immer
unter der Jacke steckte. Daraufhin schob Herr Skibinski beide Hände in die
Taschen seiner Jeans.
„Das sollten Sie Schneewittchen lieber nicht sehen lassen", warnte Phil.
„Wer ist Schneewittchen?"
„Der Spiegel."
Herr Skibinski stellte sich neugierig vor den Spiegel. Dieser hatte offensichtlich
von der Aufregung nichts mitbekommen, zumindest tat er erstaunt:
„Sie sehen ohne Uniform ganz anders aus. Du meine Güte, hatten
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Sie all diese Locken unter der Mütze versteckt? Und nehmen Sie doch bitte
die Hände aus den Taschen. Nein, diese jungen Leute heutzutage."
Herr Skibinski gehorchte und ging rasch außer Sichtweite des Spiegels,
bevor dieser sich über seine an manchen Stellen ausgefranste Jeans auslassen
konnte.
Lu hatte inzwischen eine Tasse mit dampfendem Kakao auf den Tisch gestellt.
Als Phil mit dem neuen Gast in der Tür erschien, verbeugte er sich
leicht und fragte Herrn Skibinski, ob er heißen Kakao wünsche.
Dieser nickte erfreut. „Das könnte ich jetzt wirklich gut vertragen, danke.
Ich bin übrigens Arne Skibinski." Mit einer unbeholfenen Verbeugung
streckte er Lu seine Hand entgegen, der sie daraufhin mit leichtem Druck
schüttelte.
„Noch ein Herr Skibinski. Das ist interessant", bemerkte Lu, während er eine
zweite Tasse mit Kakao füllte. „Ist meine Anwesenheit weiterhin erwünscht?"
Phil nickte. Lu setzte sich zu ihnen und sah Phil mit seinen großen dunkelblauen
Augen an. Herr Skibinski trommelte lautlos mit den Fingerkuppen
gegen seine Tasse.
Obwohl es ihn große Überwindung kostete, erzählte Phil, was er an diesem
Nachmittag erlebt hatte. Nur den Besuch bei Bertoli verschwieg er,
weil Lu den Standpunkt seiner Mutter vertrat: man kann alles probieren,
wenigstens einmal.
Als Phil von dem merkwürdigen Verhalten des Mannes in Uniform berichtet
hatte, bat Herr Skibinski um Papier, Bleistift und Radiergummi. Anschließend
musste Phil den Mann so genau wie möglich beschreiben. Dabei begann
Herr Skibinski, ein Phantombild zu entwerfen. Immer wieder fragte er
Phil nach Einzelheiten des Kopfes - Augen, Nase, Mund. Am besten konnte
sich Phil an die langen schlanken Finger erinnern, aber die gehörten
nicht auf das Bild.
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Herr Skibinski malte sehr schnell und genau. Fasziniert beobachtete Phil,
wie auf dem Papier tatsächlich der Kopf des Mannes entstand, der sich als
Polizist ausgegeben hatte.
„Und - ist er das?" Herr Skibinski hielt das Blatt hoch.
„Besser hätte ihn ein Schwarz-Weiß-Foto auch nicht treffen können", sagte
Phil anerkennend. Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand auf die
Stirn und stürzte davon.
Herr Skibinski sah ihm nach. „Was hat er denn?"
„Bedaure, aber das weiß ich nicht", antwortete Lu.
Nach einigen Minuten kam Phil mit zwei farbig bedruckten Blättern zurück.
Das eine zeigte ein Ganzkörperbild von dem „falschen Skibinski", auf dem
anderen war sein stark vergrößertes Gesicht zu sehen. Die Kamera des
Garderobenständers hatte die Aufnahmen gemacht.
„Ihr Foto ist übrigens auch ganz gut geworden."
„Kein Wunder bei dem Original." Herr Skibinski grinste, wurde allerdings
gleich wieder ernst. „Wir müssen unbedingt meine Dienststelle und Herrn
Sanders informieren." Er deutete auf das ausgedruckte Bild mit dem Kopf
des Polizisten. „Hast du einen Computer, mit dem du das hier per E-Mail
verschicken kannst?"
„Klar", erwiderte Phil stolz.
Herr Skibinski gab ihm die Adresse seiner Dienststelle. Während Phil das
Bild versendete, telefonierte Herr Skibinski mit seinem Chef. Anschließend
rief Phil in der Firma an.
Herr Sanders war außer sich. „Das darf doch nicht war sein", tobte er am
anderen Ende der Leitung. „Ist denn die Polizei nicht einmal in der Lage,
einen Jungen zu beschützen? Ich werde mich sofort mit dem Polizeipräsidenten
in Verbindung setzen ..."
Phil musste den Hörer ein Stück von seinem Ohr weg halten. Herr Sanders
brüllte so laut, dass Herr Skibinski, der etwas entfernt stand, jedes Wort
mithörte. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. „Gestattest du?" Er streckte
die Hand aus. Erleichtert gab Phil den Hörer ab.
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„Guten Tag, Herr Sanders." Herr Skibinski betonte jedes Wort. „Hier ist
Kommissar Skibinski. Ich bin für die Sicherheit von Phil Marten verantwortlich
und werde ihn nach diesem bedauerlichen Zwischenfall nicht mehr aus
den Augen lassen." Er stellte auf Lautsprecher um, obwohl das unnötig
war.
„Einen bedauerlichen Zwischenfall nennen Sie das? Haben Sie schon darüber
nachgedacht, was alles hätte passieren können?", donnerte Herr
Sanders.
„Ich denke an nichts anderes, das können Sie mir glauben. Hier war offensichtlich
ein Profi am Werk. Haben Sie sich von dem Mann Dienstausweis
oder -marke zeigen lassen?", fragte Herr Skibinski beiläufig. Am anderen
Ende der Leitung wurde es still. „Daran kann ich mich nicht so genau erinnern,
aber ich bin davon ausgegangen, dass alles seine Richtigkeit hat,
wenn so viele Leute in Uniform herumlaufen", antwortete Herr Sanders
schließlich, nicht mehr ganz so laut.
„Sehen Sie, allen anderen ging es genauso", hakte Herr Skibinski nach.
„Besitzen Sie eine Kopie des Spiels, an dem Phils Eltern zuletzt gearbeitet
haben?"
Herr Sanders schwieg einen Augenblick. „Die sollte ich erst am Montag erhalten.
Ich muss auch ehrlich zugeben, dass ich über dieses Spiel wenig
informiert bin. Mir ist lediglich bekannt, dass Anna und Thomas einen Minisender
für die Steuerung entwickelt haben. Am kommenden Montag wollten
sie mir ihre Erfindung zusammen mit dem Spiel vorstellen."
Herr Skibinski zog die Augenbrauen hoch. „Das überrascht mich jetzt, Herr
Sanders - also mein Chef verlangt über jeden meiner Schritte einen ausführlichen
Bericht - am besten schriftlich."
„Nun, ich war in letzter Zeit geschäftlich viel unterwegs. Außerdem genießt
das Ehepaar Marten mein vollstes Vertrauen. Eine Kontrolle ihrer Arbeit ist
von meiner Seite aus absolut überflüssig - sie haben freie Hand", unterbrach
ihn Herr Sanders ungeduldig.
... weniger
Autoren-Porträt von Sylke Scheufler
Sylke Scheufler - Jahrgang 1967, verheiratet, 2 Kinder, studierte Lebensmitteltechnikerin, Mitglied des Wittenberger Literaturclubs federweise
Bibliographische Angaben
- Autor: Sylke Scheufler
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2008, Maße: 14,2 x 22,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Traumland Verlag
- ISBN-10: 3934555268
- ISBN-13: 9783934555266
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