652 km nach Berlin, m. Audio-CD
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Mit untrüglichem Gespür für die Nuancen der kleinbürgerlichen Welt erzählt Silvia Szymanski von Busfahrten, Familienfeiern, Freibadbesuchen, Wanduhren und vom Muff vergangen geglaubter Tage, der in seinen - nicht immer schönen - Farben und Tönen heraufbeschworen wird. Als die Erzählerin den Flohmarkt-Spezialisten Amir kennen und ein bisschen lieben lernt (mit nahezu durchgehaltener Dezenz, wie gesagt), macht sie sich mit ihm auf, die konkreten Abgründe der Welt in Streifenfeld und Finkenrath zu erforschen - im Haus des alten Kulessa, das die beiden ausmisten.
652 km von Berlin entfernt spielt diese bizarre Familiengeschichte, vorgetragen in einem Tonf all, der zu Silvia Szymanskis Markenzeichen geworden ist. Und weil sie, wie man früher sagte, zu den künstlerischen Doppelbegabungen zählt, ist dem Roman eine nicht minder gelungene CD beigegeben - mit Best-of-Szymanski-Texten und Aufnahmen ihrer Band.
652 kmnach Berlin von Silvia Szymanski
LESEPROBE
Die Sonne brannte. Der trockene Rasen stach durch meinFrotteetuch, eine Ameise ätzte mir ihr Pipi in die Poren; verständlich, ich warja auch gefährlich achtlos gegenüber ihr und ihren Leuten. Ich lag imSchwimmbad Streifenfeld und hatte auch noch andre Gründe, von der Welt wiederverschwinden zu wollen.
»Welt«, das ist ja nur ein Deckname. Ihrer wahren Identitätkommt man nur schwer auf die Spur, und ich bin von Dummheit benommen. Halbblind, wie eine Glasscheibe, die immer wieder beschlägt, bewege ich mich inder Fortsetzungsgeschichte, in die uns unsere Ahnenreihe gespuckt hat, und esgibt kein Geld fürs Mitmachen, im Gegenteil, man muß noch zahlen.
Manche Leute freuen sich, im Film zu sein. Andere wärenlieber aus dem Schneider.
»Vierzig ist ein angenehmes Alter«, hörte ich den Mann aufder Decke rechts neben mir zu seinem Kollegen sagen. »Die Anpassung istvollzogen. Es war gut, das Kind zu haben. Es ist jetzt zehn.
Wenn es aus dem Haus ist, schaff ich mir 'nen Hund an.«
Er meinte das nicht so. Hätte ich ihn darauf angesprochen,hätte er es bestimmt relativiert.
»Bleim wir noch en bißchen? Hol ich noch en FläschjenBier«, sagte der Mann zu seinem Freund und watschelte zum Büdchen.
Ich hatte eine Frauenzeitschrift dabei und machte denPsychotest darin, dann glaubte ich ihn halb und kriegte schlechte Laune. Aberalle Charaktertypen, in die sie die Leute sortierten, bestanden aus schlechtenEigenschaften, egal, was man angekreuzt hatte.
Ich dachte an die hohen Meereswellen heute nacht im Traum,vor denen alle fliehen mußten.
Auf der Decke links versuchte eine ältere Frau, ihre Bekanntein ein Gespräch zu verwickeln. »Daß so viele Kinder heut im Schwimmbad sind!« sagtesie. »Ach, ich weiß, es gab bestimmt heut Ferien. Die sind in diesem Jahr sehrfrüh.« Der andern fiel dazu nichts ein. Die Rednerin wartete, dann konnte sienicht länger schweigen. »Ich hatte mich schon die ganze Zeit gewundert, daß soviele Kinder draußen sind! « wiederholte sie nachdrücklich. »Es ist anscheinendwirklich Ferienanfang! Der soll in diesem Jahr sehr früh sein!« Auch beidiesem Anlauf stieß sie nicht auf Resonanz.
Ich habe Fotos gesehen von einem zoologischen Museum, mitSchränken voller präparierter Affen und Schubladen voller toter Papageien. Ichhab geträumt, 'wie Leute einen lebenden Hahn in rote Farbe tauchten, um ihrWappentier aus ihm zu machen.
Im Traum schrie ich sie an. Doch manchmal denk ich auch:Bald ist's vorbei. Steh's einfach kommentarlos durch.
Meine Oma Finkenrath dachte so zum Schluß. Aber für mich istdas nicht das Richtige.
Der Mann von der Nebendecke kam zurück, mit Bier undZeitung. Er sprach von »Greueln«. »Man kann da nicht mehr wegschauen!« sagteer. Er hatte sich mit der Mehrheit der Leute auf einen Blick eingeschossen undschaute dafür von andren Sachen weg.
»Die jungen Leute wollen nicht mehr arbeiten. Sie liegenlieber andern auf der Tasche«, kam es kiebig von den älteren Frauen zu mirrüber. »Ich halte es da mit der Bibel: Wer nicht arbeitet, soll auch nichtessen«, sprach die andre fromm. Ich merkte, wie ich begann, die beiden zu verfluchen.
»Ich geh 'ne Runde schwümmen«, sprach die eine. VielVergnügen und sauf ab, flüsterte ich und rieb mir die Hände wie eineStubenfliege. »Ich bleib hier und iß mich noch ön Brötchen«, sprach die andereMadame.
Auf daß es dir im Halse stecken bleibe.
Zum Glück trotzten die beiden meinen Verwünschungen undüberlebten; ich hatte ja auch keinen Bock, wegen ihnen für den Rest meinesLebens mit Schuldgefühlen rumzulaufen.
»SF3 «, meinBus, kam zur Haltestelle.
Ich hätte auch den » SF 1 « nehmen können, der gerade gegenüber hielt undseinen Kreis in anderer Richtung fuhr, um gleichzeitig mit »SF3« vor dem Bahnhof inStreifenfeld anzukommen. Aber in »S F1 « saß der Busfahrer, der immer mit mir flirten wollte.Ich hoffte, daß er mich nicht sah und nicht verletzt war, weil ich in daskonkurrierende Fahrzeug stieg. Ich überschätze höchstwahrscheinlich meineWichtigkeit für ihn; ich wollte nur mal wieder zwanghaft alles richtig machen.
Wir fuhren los, und ich sah aus dem Fenster, beschränktzufrieden wie ein Hund.
Die Gegend, durch die »SF3« mich fuhr, ist von Geburt an mein Zuhause, und mirist, als könnte mir nichts Schlimmes blühen, als hätte ich ein absolutes Recht,hier zu leben. Und doch hab ich das nicht. Leute müssen oft von ihren Plätzenweg für etwas oder jemanden. Als unser Kater Pussow zum Beispiel bei uns Asylfand, war das erste, was er machte, unsere Katze Minka zu terrorisieren, bissie in die Wälder floh und nie mehr wiederkam. Vielen Dank von rechts fürdieses Beispiel, Sophia Sowa!
Sophia Sowa ist mein Name. Er wird das erste sein, das ichvergesse, wenn ich, wie Papa, Alzheimer kriege.
Ein hundegroßer Elefant aus grauer Steinmasse sprühte ineinem Vorgarten, den » SF3 « passierte, aus seinem Rüssel Leitungswasser in ein kleines Becken. Erwar vor einem Bauernhof installiert, in dem die Schweine Leib an Leib stehenmüssen, sie dürfen sich nicht mehr bewegen, und so schlafen sie, soviel siekönnen, mit Riemen um den Leib, weil ihr Gewicht ihnen die Bauchdecke sonstzerreißt.
»Die sind bekloppt geworden!« wandte sich der Busfahrerärgerlich seiner Bekannten zu, die bei ihm vorne mitfuhr. »Stell dir vor, wassie mir geschrieben haben: Ich soll zum Idiotentest! Jedem achtzehnjährigenWixer stecken sie den Lappen in den Arsch, und ich, ich soll zum Idiotentest. «Er war sich sicher, daß sie seine Empörung teilte, doch seine Bekannte blättertenur ungerührt in einem Buch mit neuen Fahrplänen und Regeln. »Hier steht:>Tiere dürfen nur in hierzu geeigneten Behältern transportiert werden!«<berichtete sie. »Ja, Fische nur in Dosen!« lästerte der Fahrer. Er grüßtewürdevoll den Fahrer eines anderen Busses, der entgegenkam, und ließ ihm dieVorfahrt um eine der seepockenhaften Verkehrsbehinderungen, die die Streckenallerorts zu einem Legoland-Parcours werden lassen. Im Innern der Pocke wuchsenwinterharte Pflanzen, drumrum war der Rand aus Stein schon ganz abgefahren.
© 2002 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Autoren-Porträt von Sylvia Szymanski
Silvia Szymanski, geboren 1958 in Merkstein, lebt heute ineinem kleinen Dorf in der Nähe von Aachen. Sie ist Sängerin der Band"Tortuga Jazz". Nach ihrem vielbeachteten Debütroman "ChemischeReinigung" (1998) folgten ihr erotischer Erzählungsband "Kein Sex mitMike" (1999) und der Roman "Agnes Sobierajski" (2000).
- Autor: Silvia Szymanski
- 2002, 207 Seiten, Maße: 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455076009
- ISBN-13: 9783455076004
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